Kurdisches Leben in Rojava

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Kurdisches Leben in Rojava
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Kurdisches Leben in Rojava


von Ercan Ayboga / via marx21.de


Seit dem Angriff des IS auf die Stadt Kobanê ist der Name Rojava in aller Munde. Aber was ist das eigentlich und wie leben die Menschen dort? Marx21.de sprach mit Ercan Ayboga, der die Region im Sommer besucht hat.


marx21.de: Du warst im Sommer in der autonomen Region Rojava. Was ist das eigentlich, kurz gesagt?


Ercan Ayboga: Mit Rojava sind die mehrheitlich kurdisch besiedelten Regionen innerhalb des syrischen Staatsgebietes gemeint. Die Kurdinnen und Kurden bezeichnen dieses Land als Westkurdistan, wofür der Begriff Rojava steht. Rojava besteht aus den drei nicht zusammenhängenden Gebieten Kobanê, Cizîrê und Afrin, die auch als Kantone bezeichnet werden.

 


marx21.de: Konntest Du Rojava so einfach erreichen?


Ercan Ayboga: Ich bin mit einer Freundin und einem Freund von der Kampagne „Tatort Kurdistan“ über Südkurdistan, also den Nordirak eingereist, wofür wir uns zuvor mit den Rätestrukturen in Rojava in Verbindung gesetzt haben. Wir fuhren im Mai 2014 von Sulaimaniya kommend über Mossul nach Cizîrê in Rojava. Dafür benutzten wir den Grenzübergang Til Kocer (Rabia), was seit dem 2. Juni aufgrund der IS-Präsenz nicht mehr möglich ist. Unsere Einreise verlief aber noch weitgehend unproblematisch.

Während Cizîrê leicht zu erreichen ist, sieht es mit Afrin und Kobanê deutlich schwieriger aus. Denn da kann der Mensch nur über die Türkei. Diese hat die Grenzen dicht gemacht; es kommt de facto niemand durch. So bleibt nur die illegale Einreise.


marx21.de: Wie muss man sich den Alltag inmitten des syrischen Bürgerkriegs vorstellen?


Ercan Ayboga: Wir haben die größte der Regionen, nämlich Cizîrê, besucht. In der Region Cizîrê waren wir in fast allen Städten. Wir haben mit Dutzenden von Organisationen und Aktivistinnen und Aktivisten sprechen können. Zu beachten ist, dass es in den meisten Städten von Cizîrê keinen Krieg gab, außer in Serekaniye im Jahre 2013.


marx21.de: Was ist damals passiert?


Ercan Ayboga: Ende 2012 bis Anfang 2013 hat die Al-Qaida Organisation al-Nusra hauptsächlich von der Türkei kommend die Stadt Serekaniye angegriffen und vom Staat erobert. Nur in einem Stadtteil gab es von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) Widerstand. Von dort aus wurde al-Nusra sukzessiv in mehreren Etappen bis zum Sommer 2013 aus der Stadt vertrieben. Doch die Dimension des Krieges jetzt in Kobanê übersteigt um ein Vielfaches die Kämpfe von Serekaniye. Ansonsten geht der Alltag fast weiter wie vor dem Krieg.

 


marx21.de: Das heißt, die syrische Armee lässt Rojava in Ruhe?


Ercan Ayboga: Die syrische Armee hat nur in drei Städten Kontakt zu Rojava, hier ist ihr Hauptfeind der IS oder die anderen bewaffneten Organisationen. Aufgrund ihrer Schwäche greift sie Rojava kaum noch an. Im Gegenzug ist für Rojava der IS mit Abstand die größte Bedrohung, weshalb kein Interesse an einem Krieg mit dem Staat besteht.

Die Mehrheit der Menschen in den Städten hat noch den gleichen Job wie vorher; auf dem Land geht der Betrieb grundsätzlich gleich weiter. Die Produktion hat in den Nichtkriegsgebieten meistens kaum abgenommen. Die Zahl der Autos hat kaum abgenommen; die Städte sind nach wie voll von Menschen. Einige Geschäfte haben allerdings geschlossen; vor allem diejenigen, die von Importen abhängig sind. In Rojava ist das syrische Geld nach wie vor gültig, es erfuhr keine große Inflation. So wird es weiter benutzt.

Die Präsenz von bewaffneten Menschen hat auch zugenommen, wenngleich sie von der Bevölkerung nicht mehr als Bedrohung gesehen werden. Es handelt sich um die Sicherheitskräfte „Asayish“, die von den Rätestrukturen demokratisch aufgebaut wurden.

Die Symbole des syrischen Staates sind verschwunden. Symbole, Bilder und Farben der Rätestrukturen sind statt dessen an manchen markanten Stellen zu erkennen
.


marx21.de: Wie sehen die aus?


Ercan Ayboga: Bei den Farben handelt es sich um gelb, rot und grün, die meistens in Streifen genutzt werden; seien es Flaggen oder irgendwelche Flächen. Auf öffentlichen oder zivilen Einrichtungen stehen ihre Namen auf bis zu drei Sprachen: Kurdisch und Arabisch und manchmal auch Assyrisch (Aramäisch). Zuvor waren Kurdisch und Assyrisch verboten. Zu sehen sind entlang von Straßen viele Bilder von Menschen, die beim Freiheitskampf gefallen sind und aus eben diesen Orten stammen. Auch Logos von politischen Organisationen sind ab und zu erkennen.


marx21.de: Wie hat sich das Leben seit den Angriffen des IS verändert?


Ercan Ayboga: Die verstärkten Angriffe des IS auf Rojava ab Juni 2014 haben sich in den umkämpften Gebieten stark vielfältig ausgewirkt. Kobanê ist totales Kriegsgebiet. In Cizire ist das Leben in wenigen Gebieten etwas betroffen, besonders in den südlichen Gebieten zwischen Haseke und Til Kocer; Afrin aber bisher überhaupt nicht. Eine stark angespannte Lage ist bei fast allen Menschen zu sehen. Denn in den Monaten vor Juni 2014 diskutierten die Menschen den Aufbau der demokratischen Selbstverwaltung und immer weniger den Krieg.


marx21.de: Wie ist Rojava entstanden?


Ercan Ayboga: Mit dem Beginn des Aufstands in Syrien im Frühjahr 2011 hat die Partei der Demokratischen Union (PYD) – die größte der kurdischen Parteien in Rojava – in Zusammenarbeit mit weiteren zwei kurdischen Parteien begonnen, überall in Rojava und darüber hinaus Rätestrukturen aufzubauen. Die PYD analysierte, dass der Aufstand zu einem blutigen Krieg werden und Rojava erreichen könnte und die Kurdinnen und Kurden sich selbst erst einmal gut organisieren sollten. So entstand im Sommer 2011 der Volksrat Westkurdistans (MGRK), welche die Mehrheit der Bevölkerung schnell hinter sich brachte.

Am 19. Juli 2012 begann eine neue Phase mit der Befreiung der Stadt Kobanê in Rojava. Diese realisierte sich durch einen weitgehend unblutigen Volksaufstand, der sich in wenigen Wochen auf ganz Rojava ausweitete. Die ausgedünnten Staatskräfte in Rojava wurden umzingelt und ihnen freies Geleit in die anderen Regionen von Syrien erlaubt.

Ab dann haben die Rätestrukturen die gesamte Verwaltung in Rojava demokratisch übernommen. Die Räte und ihre Kommissionen, Verwaltungen und Betriebe organisieren seitdem das wirtschaftliche, soziale und politische Leben. Außer in der Stadt
Qamischli, die zu einem Viertel vom Staat kontrolliert wird. Verteidigt werden sie durch die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die dafür sorgten, dass diese Regionen vom katastrophalen Krieg in Syrien verschont wurden. Zunächst wehrten sie Angriffe von Teilen der Freien Syrischen Armee (FSA) und von al-Nusra ab, seit Ende 2013 kämpfen sie fast nur noch gegen den Islamischen Staat (IS).


marx21.de: Wie groß ist Rojava?


Ercan Ayboga: Rojava ist kein zusammenhängendes Gebiet. Die im Norden Syriens liegenden Regionen dazwischen sind mehrheitlich arabisch. Cizîrê ist mehr als doppelt so groß wie jedes der beiden anderen Gebiete. In Afrin leben heute wegen der vielen Flüchtlinge mehr als 600.000 Menschen, in Kobanê waren es bis Mitte September mehr als 300.000 und in Cizîrê sind es über 1,4 Millionen Menschen. Die größte Stadt ist Qamischli mit mehr als 400.000 Menschen, sie gilt auch als das Zentrum von Rojava.

 

 

Die Bevölkerung setzt sich, ethnisch und religiös gesehen, vielfältig zusammen. Vor allem in Cizîrê leben viele Araberinnen und Araber, christliche Assyrerinnen und Assyrer sowie Armenierinnen und Armenier seit Jahrzehnten friedlich mit den Kurdinnen und Kurden zusammen.


marx21.de: Wovon leben die Menschen?


Ercan Ayboga: Die Landwirtschaft ist in allen drei Regionen verbreitet, allerdings gibt es eine Spezialisierung auf wenige Produkte wie Weizen in Cizîrê und Oliven in Afrin, was sich angesichts der Isolierung der drei Regionen als nachteilig ergibt. In Kobanê gibt es beides. An Nahrung gibt es im Überfluss Brot, Bulgur, Linsen, Olivenprodukte und Milchprodukte; es fehlen einige Gemüsesorten und generell Obst. Dank der Rätestrukturen gibt es eine ausgeprägte Solidarität, so dass niemand hungert.

Vorteilhaft in Cizîrê sind die Ölquellen. Dank selbst aufgebauter Raffineriemöglichkeiten gibt es viel Diesel, welcher günstiger als zu Baath-Zeiten verkauft wird. Damit wird regional und lokal durch Generatoren Strom für die Haushalte und die Produktion erzeugt.

Die Rätestrukturen verhinderten den wirtschaftlichen Kollaps, sorgen zum Bsp. für Preiskontrolle und schränken den Schwarzmarkt erheblich ein.


marx21.de: Wie sehen diese Rätestrukturen aus und wie funktionieren sie?


Ercan Ayboga: Die Rätestrukturen sind überall verbreitet und sind das dominante Element im gesamtem Leben von Rojava. Es muss bedacht werden, dass der syrische Staat nicht mehr präsent ist und die Räte somit alles entscheiden und koordinieren müssen. Sonst würde alles im Chaos enden. Allerdings sollten sie nicht als Notstandsverwaltungen betrachtet werden.

Die unterste Ebene der Räte bilden die Kommunen, die aus etwa 30 bis 150 Haushalten in den Städten und auf dem Land aus einem Dorf bestehen. Die nächste Stufe sind die Stadtteilräte in den Städten und die Dörfergemeinschaftsräte auf dem Land. Als dritte Stufe haben wir die Gebietsräte, wo sich die Räte aus einer Stadt mit dem umliegenden Land treffen. Die Gebietsräte bilden den obersten Rat, den Volksrat Westkurdistans (MGRK)
.


marx21.de: In welchem Verhältnis stehen die Ebenen der Stadtteilräte, der Gebietsräte und der Volksrat zueinander?


Ercan Ayboga: Die Koordination einer Kommune besteht aus ihren beiden Vorsitzenden – eine Frau und ein Mann – und Vertreterinnen und Vertretern ihren Kommissionen. Diese werden für ein bis zwei Jahre gewählt. Es gibt auf dieser und insbesondere auf den höheren Ebenen folgende Kommissionen: Frauenrat, Wirtschaft, Politik, Verteidigung, Zivilgesellschaft/Berufsgruppen, Bildung. Die Kommune ist über ihre Koordination in der nächsten Ebene vertreten. Diese zweite Ebene – besteht aus etwa 7 bis 30 Kommunen – wählt aus den anwesenden Mitgliedern eine Doppelspitze und bildet Kommissionen. Die aus ihnen bestehende Koordination übernimmt die Vertretung ihres Rates im Gebietsrat. Das gleiche wird auf dieser Ebene und auf der höchsten Ebene, dem MGRK, getan. Die Koordinationen des Gebietsrates und des MGRK werden TEV-DEM (Demokratische Volksbewegung) genannt; in diesen sind Nichtregierungsorganisationen und alle politischen Parteien mit je fünf Personen vertreten, welche das Rätesystem unterstützen.


marx21.de: Wie muss man sich die demokratische Kontrolle vorstellen? Gibt es ein imperatives Mandat?


Ercan Ayboga: Ja, es gibt ein imperatives Mandat. Jede Wahl findet für ein bis zwei Jahre statt, dies entscheiden die Strukturen vor Ort. Die Koordinationen treffen sich wöchentlich, diese sind öffentlich für alle Menschen aus ihrem Verantwortungsgebiet.


marx21.de: Du hast von Kommissionen gesprochen. Wofür sind sie zuständig?


Ercan Ayboga: Die bis zu sechs Kommissionen sind wichtig, weil sie die meiste Arbeit erledigen. Hier sind zehntausende Menschen aktiv geworden und organisieren ihr Leben. Die Entscheidung der PYD zum Aufbau des MGRK und zum Verzicht auf starke Parteistrukturen hat sich strategisch als klug erwiesen.

Die vielleicht wichtigste Kommission sind die Frauenräte, die es auf allen Ebenen gibt. Sie wirken elementar an der Befreiung der Frauen mit.

Nach drei Jahren des Wirkens unterstützen drei kurdische Parteien, ein Teil der Assyrerinnen und Assyrer und auch einige Araberinnen und Araber den MGRK. Leider gibt es noch einen konservativ-neoliberalen Parteienblock von acht Parteien, die sich im ENKS [
Kurdischer Nationalrat] zusammengeschlossen haben und den MGRK bekämpfen. Sie lehnten es sogar ab mitzumachen, als 50 kurdische, arabische und assyrische Parteien und Organisationen im Januar 2014 einen gemeinsamen Gesellschaftsvertrag annahmen und eine Übergangsregierung bildeten.


marx21.de: Auf welche Teile der Bevölkerung stützt sich der konservativ-neoliberalen Parteienblock? Wessen Interessen formuliert er?


Ercan Ayboga: Er stützt sich vor allem auf einige Clans und die Ober- und Mittelschicht, die allerdings in Rojava relativ gesehen nicht sehr ausgeprägt ist. Aber auch einige Menschen aus unteren Schichten stehen diesem Parteienblock nahe. Der ENKS wird von der Regionalregierung in Südkurdistan finanziert und gelenkt. Er hat sich auch der Syrischen Nationalen Koalition angeschlossen, dem größeren Oppositionsbündnis einschließlich der Muslimbrüder und der Freien Syrischen Armee (FSA), obwohl sie die Grundrechte der Kurdinnen und Kurden kaum anerkennen und von der Türkei, den Golfstaaten und dem Westen sehr abhängig sind. Der ENKS möchte eine föderale Struktur wie in Südkurdistan haben und dies über eine westliche Intervention erreichen. Vor allem 2014 hat der ENKS in Rojava viel an Boden verloren und spielt kaum noch eine Rolle.


marx21.de: Warum gibt es überhaupt eine Übergangsregierung neben den Rätestrukturen? Was ist die Absicht dahinter?


Ercan Ayboga: Der MGRK hat zwar die allermeisten Kurdinnen und Kurden hinter sich gebracht, doch nicht die meisten Nicht-Kurdinnen und -Kurden. Die Übergangsregierung soll so viele Gruppen und Menschen wie möglich einschließen. Außerdem geht es darum, Legitimität in Syrien, im Mittleren Osten und in der Welt zu erarbeiten. Eine Rätestruktur wird international leider kaum beachtet.

Die Übergangsregierung kommt von den Rätestrukturen und steht nicht in Widerspruch zu ihnen und erkennt die Rätestrukturen an. Sie ist vielmehr auf sie angewiesen, da sie seit drei Jahren gut funktionieren. Die Wirtschaft wird von den Rätestrukturen koordiniert; es gibt keine privaten Großbetriebe.


marx21.de: Heißt das, dass es in den Betrieben noch eine zusätzliche Ebene der Räte gibt? Wie gliedert sich diese in den Rest der Rätestruktur ein?


Ercan Ayboga: In den privaten Betrieben gibt es keine Rätestrukturen, da in diesen kaum mehr als 15 Personen arbeiten. Die öffentlichen Betriebe sind wichtiger, weil diese oft mehr Menschen beschäftigen. Hier wird neu so etwas wie Gewerkschaften aufgebaut, aber sie werden von den MGRK-Strukturen koordiniert. Wir sind in einer Übergangsphase, es soll direktdemokratischer gestaltet werden.


marx21.de: Bedeutet das, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln völlig abgeschafft ist? Oder gibt es in kleineren Betrieben und Geschäften nach wie vor Besitzer und Arbeiter?


Ercan Ayboga: Das Privateigentum ist nicht abgeschafft. Das persönliche Eigentum wird grundsätzlich nicht angetastet. Auch wenn sich die MGRK-Strukturen über Klassenverhältnisse sehr bewusst sind, gibt es momentan keine Diskussion darüber, alle Produktionsmittel zu vergesellschaften. Das liegt auch daran, dass sie in der Wirtschaft insgesamt keine große Rolle spielen. Die jetzige Politik trägt auch nicht dazu bei, dass die privaten Produktionsmittel zunehmen.

Bis zu 20 Prozent des Landes gehört jedoch noch Großgrundbesitzer. Gleichzeitig wurde vom syrischen Staat beschlagnahmtes Land an die Ärmsten in der Gesellschaft kostenlos verteilt.

Kurz gesagt: Die Rätestrukturen – und auch die Übergangsregierung, wenn auch in etwas schwächerer Form – sind geleitet vom Paradigma einer demokratischen, geschlechtergerechten und ökologischen Gesellschaft. Dies ist eine Absage an den bürgerlichen Parlamentarismus, an Einparteienherrschaft, an die Unterdrückung der Frauen, an konservative Strukturen und an die zerstörerische Logik des Kapitalismus und seine Verwertungslogik.


marx21.de: Was für soziale und politische Konflikte gibt es in Rojava?


Ercan Ayboga: Langfristig muss der scheinbare Widerspruch gelöst werden, ob es sowohl die Rätestrukturen als auch die Übergangsregierung geben kann.

Auch wenn es eine starke Solidarität und starke Hilfestellungen gibt, stellt sich die Frage nach Beschäftigung. Wegen der nicht geringen Arbeitslosigkeit verlassen immer noch viele Jugendliche das Land. Hierzu trägt auch die politische Unsicherheit einiges bei.

Der bestehende Großgrundbesitz steht im Gegensatz zu den sich im Aufbau befindenden Kooperativen in der Stadt und auch auf dem Land. Die Wirtschaftlichkeit der Betriebe der Rätestrukturen muss auf Dauer gewährleistet werden.

Die große Zahl von Flüchtlingen in Rojava belastet die Wirtschaft etwas. Die Menschen müssen mit besserer Unterkunft, Jobs und sozialen Kontakten in der Gesellschaft gut ankommen können. Eine gute Inklusion sollte das Ziel sein.

Das Embargo der Türkei muss aufgehoben werden, weil weder Erdöl noch Weizen exportiert werden kann. Das wäre eine wichtige Stärkung der Wirtschaft. Auch könnten dann Mangelwaren eingeführt werden.

Der knappe Strom schränkt das Leben und Wirtschaften erheblich ein. Darüber wird viel geklagt.

Weil Medikamente gegen chronische Krankheiten fehlen, mussten chronisch kranke Menschen das Land verlassen, sofern sie es konnten, oder sich gegen viel Geld auf dem Schwarzmarkt die nötigen Medikamente kaufen.

Die aufgebauten Kooperativen müssen weiter vorangetrieben werden, weil diese alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen, stark Unterdrückte und politisch Engagierte bedeutend sein können.

Im Juni 2013 gab es in manchen Städten in Rojava Proteste gegen die Sicherheitskräfte der PYD. Die Menschen protestierten gegen das harte Vorgehen von PYD-Sicherheitskräften und die Verhaftung von politischen Aktivisten.


marx21.de: Wie ist das Verhältnis der PYD zu anderen linken Parteien und Organisationen?


Ercan Ayboga: Es gab in mehreren Städten Proteste gegen die Asayish, die Sicherheitskräfte der Rätestrukturen. Sie unterstehen nicht der PYD, auch wenn diese Partei sehr wichtig ist. Diese Proteste wurden zumeist vom ENKS organisiert. Es stimmt, dass die Asayish zu Beginn in mehreren Fällen hart vorgegangen sind, aber dies war nicht der Regelfall.

In einigen Fällen gab es auch Menschenrechtsverletzungen – in einem Fall starben mehrere Menschen. Danach haben wir auch gefragt. Die Asayish haben jedoch inzwischen viel dazu gelernt und bemühen sich zu verbessern. So besuchen alle Asayish wöchentlich ein Seminar über humaneren Umgang.

In der Tat steht der überwiegende Teil der Bevölkerung heute sehr positiv zu den Asayish. Denn die kommen ja von ihnen und sind nicht aus anderen Orten versetzt worden. Im Jahr 2014 gibt es fast keine Proteste gegen die Asayish, was die Verbesserung der Lage zeigt.


marx21.de: Und wie ist das Verhältnis zu Südkurdistan und der dort herrschenden KDP?


Ercan Ayboga: Seit Anfang 2013 bis Oktober 2014 war es schlecht, was hauptsächlich an Südkurdistan liegt. Sie haben im April 2014 sogar einen Graben und Wall gegen Rojava gebaut, um den Handel zu behindern und das Embargo gegen Rojava zu verstärken. Die Regionalregierung leugnete sogar, dass es eine Revolution gab. Erst der Kampf um Kobanê hat dazu geführt, dass Ende Oktober 2014 alle Parteien von Rojava – und damit indirekt die südkurdische Regionalregierung unter der Führung von der KDP und die PKK – ein Abkommen geschlossen haben. Beide Seiten sind sich näher gekommen. Davon profitiert Kobanê und ganz Rojava. Die Intention der ins Bedrängnis gekommenen KDP ist es jedoch zweifellos, mehr Macht in Rojava zu erhalten und die Revolution ihres emanzipatorischen Inhalts zu berauben. Die Rätestrukturen sind sich jedoch der Unterstützung der Bevölkerung sicher und glauben nicht, dass ihre Revolution geschlagen oder gestohlen werden könnte.


marx21.de: Was müsste die Bundesregierung tun, wenn sie den Menschen in Kobanê wirklich helfen wollte?


Ercan Ayboga: Sie müsste Druck auf die Türkei ausüben, einen dauerhaften Korridor nach Kobanê zu eröffnen. Der Korridor ist vor allem für die YPG-Einheiten aus den beiden anderen Regionen Rojavas wichtig.

Außerdem müsste sie die Türkei dazu bringen, die Unterstützung des IS endlich einzustellen. Diese geht nämlich unvermindert weiter.

Genauso müsste sie das PKK-Verbot aufheben, welches tausende Kurdinnen und Kurden einschüchtert und die Solidarität mit Kobanê behindert.


Ercan Ayboga

 



Quelle:  erstveröffentlicht bei marx21.de > Artikel

Ercan Ayboga lebt in Deutschland, schreibt regelmäßig für den Kurdistan Report und die Yeni Özgür Politika und ist aktiv in der Kampagne „Tatort Kurdistan“. Momentan schreibt er und die beiden anderen DelegationsteilnehmerInnen an einem Buch zur Revolution in Rojava.

Herausgeber des Magazins marx21 ist der Verein »m21 – Verein für solidarische Perspektiven im 21. Jahrhundert e.V.«, welcher auch die Webseite marx21.de betreibt. Das Netzwerk versteht sich als Teil der neuen Linken und der globalisierungskritischen Bewegung, die angetreten sind, die Macht der Konzerne zu brechen - weiter

Die Printausgabe von marx21 erscheint 5x jährlich - hier kann man abonnieren

Bild- und Grafikquellen:


1. Karte der drei Kantone von Rojava: Kobanê, Cizîrê und Afrin (Grafik: Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 60316 Frankfurt a.M.)

2. Widerstand in Kobanê. Foto / Quelle: Firat News Agency (kurd. Ajansa Nûçeyan a Firatê, Abk. ANF), eine kurdische Nachrichtenagentur.

3. Diren Kobanê - Halte durch, Kobanê. Wochenlang andauernder verzweifelter Widerstands gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) welche die syrisch-kurdische Stadt Kobanê nach wie vor massiv beschießt und belagert. Seit fast zwei Monaten ist die Grenzregion nun im Ausnahmezustand. Nimmt der IS Kobanê am Ende doch ein, dann würde das nicht nur ein Massaker an der Bevölkerung der Stadt mit sich bringen, sondern auch der erst spät einsetzenden Anti-IS-Koalition einen heftigen Schlag versetzen.

4. Qamishli, Syrien, neue Hotels in Hauptstraße. Qamischli (auch Qamishli), ist eine von überwiegend Kurden bewohnte Stadt im Gouvernement al-Hasaka im Nordosten Syriens an der Grenze zur Türkei. Sie liegt in jenem Gebiet, in welchem sich, als Folge des syrischen Bürgerkriegs, unter dem Namen Rojava de facto eigenständige politische Strukturen entwickelten. Qamischli ist dabei der Hauptort von Cizîrê, einem der drei Kantone, in die sich Rojava untergliedert. Foto: Bertramz. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 3.0 nicht portiert“ lizenziert.

5. Buchcover "Demokratische Autonomie in Nordkurdistan. Rätebewegung, Geschlechterbefreiung und Ökologie in der Praxis". Eine Erkundungsreise in den Südosten der Türkei, herausgegeben von TATORT Kurdistan. Als eigenen Beitrag zur friedlichen Lösung der kurdischen Frage hat die kurdische Freiheitsbewegung in der Türkei ein alternatives Gesellschaftsmodell entwickelt: die Demokratische Autonomie. Unter schwierigsten Bedingungen gelingt es der Bewegung in Nordkurdistan seit 2005, Strukturen für den Aufbau einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft zu schaffen.

Ihren Kern bildet ein Rätesystem, in dem sich die Bevölkerung in den Dörfern, Straßenzügen, Stadtvierteln und Stadträten basisdemokratisch organisiert. Diese Strukturen ermöglichen zwar noch keine autonome Lebensform jenseits der bestehenden staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, aber sie stellen bereits heute eine relevante zivilgesellschaftliche Gegenmacht dar. Der radikal-demokratische Aufbruch der Kurd_innen bietet so auch eine Inspiration für die Neugestaltung von Gesellschaften im Mittleren Osten und darüber hinaus. Die in dieser Broschüre dokumentierten Interviews bieten einen ersten Einblick in die konkrete Umsetzung einer linken Utopie.

Weiter Infos unter: http://demokratischeautonomie.blogsport.eu/

Zu bestellen bei ISKU unter: isku@nadir.org

6. Helft Kobanê! Rettet Rojava! - Grafik: Wolfgang Blaschka, München