Michail Gorbatschow ist 85: Im Ausland ein Idol, zuhause der Sündenbock

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Lothar Deeg
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Michail Gorbatschow ist 85: Im Ausland ein Idol, zuhause der Sündenbock
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Michail Gorbatschow ist 85

Im Ausland ein Idol, zuhause der Sündenbock

Im Westen ist „Gorbi“ eine Kultfigur: der Friedensnobelpreisträger, der den Kalten Krieg beendete. Doch zuhause wird Michail Gorbatschow bis heute der Zerfall der Sowjetunion angelastet. Am 2. März wurde er 85 Jahre alt.

Michail-Sergejewitsch-Gorbatschow-Mikhail-Sergeyevich-Gorbachev-DDR-Wiedervereinigung-Mauerfall-Kritisches-Netzwerk-Sowjetunion-Glasnost-PerestroikaÖffentliche Beliebtheit drückt sich anders aus: Erst vor wenigen Tagen forderte Russlands bekanntester Filmregisseur, der Oscar-Preisträger Nikita Michalkow, die Politik Jelzins und Gorbatschows müsse „auf staatlicher Ebene als verbrecherisch anerkannt“ werden. Denn diese hätte den „Zerfall unseres Landes, die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ verursacht.

Jelzin, der erste Präsident der Russischen Föderation, starb 2007. Doch Michail Gorbatschow, letzter Präsident der untergehenden Sowjetunion, lebt nach wie vor in Moskau. Am 2. März beging er seinen 85. Geburtstag. Die Gesundheit des Mannes, der ab 1985 als vergleichsweise junger Reformer die überalterte Führungsriege der Sowjetunion aufsprengte, ist inzwischen nicht mehr die Beste. Fast jedes Jahr gibt es einen Krankenhausaufenthalt, laut Forbes leidet er an einer schweren Diabetes.


Arbeiter- und-Bauern-Kind macht Apparatschik-Karriere

Geboren wurde Michail Gorbatschow 1931 als Sohn einfacher Kolchosbauern im südrussischen Gebiet Stawropol. Sein Vater war Russe, die Mutter Ukrainerin. Als junges KP-Mitglied mit tadellosen Zeugnissen bekam er einen Jura-Studienplatz in Moskau. Im Studentenwohnheim lernte er Raissa kennen, die beiden heirateten 1953. Für Gorbatschow war es die Liebe seines Lebens – und seine Gattin glänzte später in der bis dahin unbesetzten Rolle einer sowjetischen First Lady. 1999 starb Raissa Gorbatschowa an Leukämie.

Nach dem Studium bekam Gorbatschow zunächst einen Posten beim kommunistischen Jugendverband Komsomol und machte in seiner Heimatregion die typische Parteikarriere eines „Apparatschiks“. 1978 rückte er in das Zentralkomitee der KPdSU auf, wo er für Landwirtschaft zuständig war. Doch nachdem die Staatspartei innerhalb von zweieinhalb Jahren drei Mal ihre greisen Parteichefs zu Grabe getragen hatte, wurde Gorbatschow, damals 54 Jahre alt, Generalsekretär. Seine erste einschneidende Maßnahme war eine massive Anti-Alkohol-Kampagne, die ihn beim Volk viele Sympathien kostete und den Spitznamen „Mineralsekretär“ einbrachte.


Glasnost und Perestroika: Ein Versuch, die Sowjetunion zu reformieren

1986 verkündete er dem Parteitag in einer Neun-Stunden-Rede die neuen Prinzipien „Glasnost“ (Transparenz) und „Perestroika“ (Umbau), um das hoffnungslos verkrustete und ineffektive Sowjetsystem zu reformieren. Als zwei Monate später in Tschernobyl ein Atomreaktor explodierte, vertuschte die Sowjetführung dennoch in alter Manier die Katastrophe. Doch dann brachen neue Zeiten an: Während in der Sowjetunion Versorgungskrise und Zerfallserscheinungen immer heftiger wurden, ließ Gorbatschow intern Meinungsfreiheit und marktwirtschaftliche Ansätze zu.

Um bei der Rüstung sparen zu können, unterschrieb er atomare Abrüstungsverträge mit den USA und hob Moskaus ideologische und militärische Hegemonie über die Warschauer-Pakt-Staaten auf. Das Ende des Kalten Krieges machte den Weg frei für den Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung: 1990 erhielt Gorbatschow den Friedensnobelpreis. Er nahm ihn zwar nicht persönlich entgegen, doch der Westen feierte „Gorbi“ wie ein Idol.


Auf ewig der Totengräber der UdSSR

Doch zuhause ist Gorbatschow bis heute mit dem Vorwurf konfrontiert, er sei schuld am Zerfall der Sowjetunion. Das schmerzt ihn besonders. Der eloquente Redner holt dann aus zu einem Rundumschlag mit der Kernaussage, er selbst sei es doch gewesen, der die UdSSR bis zuletzt in reformierter Form zusammenhalten wollte – während Jelzin, die Kommunisten und auch die konservativen Putschisten mit ihren Machtgelüsten 1991 die Zerschlagung provoziert hätten.

Doch ist der Ruf erst mal ruiniert, helfen in der Politik Argumente nicht mehr weiter, weiß auch Gorbatschow. „Kennen Sie einen Reformer, der beliebt ist?“, sagte er vor einigen Jahren in einem Stern-Interview. So hat Gorbatschow auch nur einmal versucht, sich demokratischen Wahlen zu stellen: 1996 kandidierte er für das Präsidentenamt – und scheiterte kläglich mit nur 0,5 Prozent.

Streitlustig ist der Vollblut-Politiker, der sich als Atheist und Sozialdemokrat definiert, aber nach wie vor: Einem Radiosender sagte er, sein prominenter Kritiker Michalkow solle sich „doch besser um sein Geschäft kümmern“. Dessen politische Ambitionen seien schädlich – und es sei wichtig, „dass das Leben im Land nicht von Verrückten bestimmt“ werde.


Ambivalentes Verhältnis zu Putin

In dieser Hinsicht zeigt sich Gorbatschow mit der Situation in Russland zufrieden: Denn seit der Jahrtausendwende wandelte er sich von einem Putin-Verbündeten zum Kritiker – und wieder zurück: Zwischen 2008 und 2013 belegte er das Führungstandem Putin/Medwedew mit harscher Kritik – wegen des manipulierten Wahlsystems, der blühenden Korruption und der Macht der Geheimdienste. Während der Protestwelle im Winter 2011/2012 forderte Gorbatschow Wladimir Putin direkt auf, nicht erneut als Präsident zu kandidieren.

Doch die Vereinnahmung der Krim durch Russland und Moskaus Vorgehen in der Ukraine machten Gorbatschow – wie so viele Menschen in Russland – zu einem Unterstützer des Kremlchefs: „Ich bin absolut überzeugt, dass Putin besser als alle anderen die Interessen Russlands schützt“, sagte er, bevor er 2014 zum 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer nach Deutschland reiste. Diese Position dürfte Gorbatschow davor bewahren, zu Lebzeiten von den Sowjet-Nostalgikern jemals real zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Lothar Deeg, St. Petersburg
 


Quelle: veröffentlicht am 2.03..2016 bei russland.RU > Artikel.
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► Bild- und Grafikquellen:

1. Michail Sergejewitsch Gorbatschow (* 2. März 1931 in Priwolnoje, UdSSR) ist ein russischer Politiker. Er war von März 1985 bis August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion. Durch seine Politik der Glasnost (Offenheit) und der Perestroika (Umbau) leitete er das Ende des Kalten Krieges ein. Ihm ist die Deutsche Wiedervereinigung zu verdanken. Er erhielt 1990 den Friedensnobelpreis. Im Ausland ein Idol, zuhause der Sündenbock. Das Foto zeigt Michail Gorbatschow während der Deutschlandpremiere seines Buches „Alles zu seiner Zeit. Mein Leben“ im Berliner Ensemble, März 2013.

Foto: SpreeTom. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ (CC BY-SA 3.0) lizenziert.

2. General Secretary of the CPSU Central Committee Mikhail Gorbachev and his spouse Raisa Gorbachev seeing off US President Ronald Reagan after his visit to the USSR. The Hall of St. George in the Grand Kremlin Palace, June 2, 1988. Urheber: Yuryi Abramochkin / Юрий Абрамочкин. Quelle: RIA Novosti archive, image #770286, http://visualrian.ru/ru/site/gallery/#770286 35 mm film / 35 мм негатив / Wikimedia Commons. Dieses Bild wurde Wikimedia Commons durch die internationale russische Nachrichtenagentur (RIA Novosti) (rian.ru und visualrian.ru) als Teil eines Kooperationsprojekts bereitgestellt. 

3. Foto auf d. Startseite: Mikhail Gorbachev at EP: Former Soviet Union President Mikhail Gorbachev attended the Energy Globe Awards at the European Parliament in Brussels, 26 May 2008: Kofi Annan and Mikhail Gorbachev call for trend reversal in energy consumption. Foto: © European Parliament / Pietro Naj-Oleari. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

       

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4. Buchcover "25 Jahre Perestroika, Bd.1. Gespräche mit Boris Kagarlitzki". Von Kai Ehlers. Gorbatschow and Jelzin. 83 – 96/97: Perestroika, Putsch, Revolte, Übergang in die Restauration. Laika Verlag, ISBN: 978-3-944233-28-4

Welche Lehren zieht die russische Linke aus dem Kollaps des realen Sozialismus? Welchen Einfluss hat sie auf die Entwicklung nehmen können? Welche Alternativen entwickelt sie heute? Für Russland? Über Russland hinaus? "Zehn Monate nach dem tatsächlichen Einsetzen des 500-Tage- Programms wird das ideologische Klima das vollkommene Gegenteil zu dem sein, was es jetzt ist. Liberalismus und Kapitalismus werden verhasster sein als jetzt der Kommunismus."

Das erklärte Boris Kagarlitzki, profiliertester Reform-Marxist des heutigen Russland im September 1990 angesichts des Übergangs von Gorbatschows Reform des Sozialismus zu Jelzins Kurs der Zwangsprivatisierung. In welchem Auf und Ab sich die Verhältnisse tatsächlich entwickelten, zeigen die Gespräche, die Boris Kagarlitzki und der deutsche Russlandforscher Kai Ehlers über einen Zeitraum von 25 Jahren miteinander geführt haben. Sie vermitteln, begleitet von einer vergleichenden Chronologie, einen authentischen Einblick in die inneren Abläufe und die Grundfragen der nachsowjetischen Transformation.

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5. Buchcover "25 Jahre Perestroika, Bd.2.: Gespräche mit Boris Kagarlitzki. Jelzins Abgang, Putin und Medwedew - ISBN: 978-3-944233-29-1, erschienen August 2015.

Der zweite Band führt mitten in die Krise der Jelzinschen Modernisierung – Separationstendenzen in der russischen Föderation, Tschetschenienkrieg, Aufkommen sozialer Verwüstungen, angesichts derer die Mehrheit der Bevölkerung um ihr Überleben kämpfen muss. Dann Wladimir Putins Ansage, eine »Diktatur des Gesetzes« einführen zu wollen. Das Dilemma einer Opposition, die zwischen Zustimmung zu Putins Ordnungspolitik und Kritik an dem von ihm praktizierten autoritären und zugleich neoliberalen Führungsstil einen Weg zu finden sucht.

Als roter Faden schließlich zieht sich durch die Gespräche die Frage, welche Lehren aus dem Zusammenbruch des realsozialistischen Gesellschaftsaufbaus für die Zukunft einer sozialistischen, zumindest aber gemeinwohlorientierten, solidarischen Gesellschaft zu gewinnen sind.

97 – heute: Stabilisierung, restaurative Normalisierung, Eintritt in die globale Krise

Wohin brachte uns Perestroika? Was waren ihre Ziele? Wer waren ihre Aktivisten? Wer waren ihre Gegner? Wer war Gorbatschow? Wer Jelzin? Wer ist Putin? Wie liest sich linke Kritik dieser Jahre? Welche Lehren zieht die russische Linke aus dem Kollaps des realen Sozialismus? Welchen Einfluss hat sie auf die Entwicklung nehmen können? Welche Alternativen entwickelt sie heute? Für Russland? Über Russland hinaus?

„In zehn Monaten nach dem tatsächlichen Einsetzen des ‚500-Tage-Programms’ wird das ideologische Klima das vollkommene Gegenteil zu dem sein, was es jetzt ist. Liberalismus und Kapitalismus werden verhasster sein als jetzt der Kommunismus.“ Das erklärte Boris Kagarlitzki, profiliertester Reform-Marxist des heutigen Russland im September 1990 angesichts des Übergangs von Gorbatschows Reform des Sozialismus auf Jelzins Kurs der Zwangsprivatisierung.

In welchem Auf und Ab sich die Verhältnisse tatsächlich entwickelten, ist den Gesprächen zu entnehmen, die über einen Zeitraum von 25 Jahren zwischen Boris Kagarlitzki und dem deutschen Russlandforscher Kai Ehlers geführt wurden. Sie vermitteln, begleitet von einer vergleichenden Chronologie, einen authentischen Einblick in die inneren Abläufe und die Grundfragen der nachsowjetischen Transformation.

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6. Buchcover: "Die Kraft der »Überflüssigen«. Der Mensch in der globalen Perestroika". Pahl-Rugenstein, 2013, ISBN 978-3-89144-463-4

Wir leben in einer paradoxen Zeit: In einer Welt des Überflusses und der globalen Entgrenzung werden immer mehr Menschen als überflüssig bezeichnet oder fühlen sich sogar selbst so. Ein globaler Verwertungsprozess reißt uns aus unseren lokalen familiären, wirtschaftlichen und geistigen Verankerungen und spuckt uns am Ende als menschlichen Müll wieder aus.

Nur wenige Profiteure sind die Nutznießer dieses Vorganges, eine wachsende Mehrheit sieht sich als »überflüssig« ins Abseits gedrängt. Millionen der heute sieben Milliarden Menschen schaffen nicht einmal den Sprung in die Verwertung. Sie bleiben gleich auf den Müllhalden der Zivilisation stecken. Kein Ausweg? Keine Perspektive? Nur noch der große Crash? Nur noch lang angelegte strategische Selektion zwischen nützlichen und nicht nützlichen Menschen? Oder eine Revolte der »Überflüssigen«? Aber wie könnte diese Revolte aussehen?

Schauen wir genau hin: Die »Überflüssigen« sind nicht das Problem, das entsorgt werden müsste – sie sind die Lösung. Sie sind Ausdruck des über Jahrtausende angesammelten Reichtums der Menschheit – wirtschaftlich, sozial und kulturell. Sie sind Ausdruck der Kräfte, welche die Menschheit heute zur Verfügung hat, um vom physischen Überlebenskampf aller gegen alle in eine ethische Kulturgemeinschaft überzugehen, die am Aufstieg des Menschen zum Menschen orientiert ist und keinen Menschen mehr ausschließt.

Das vorliegende Buch zeigt: Wer die »Überflüssigen« sind, welche Kräfte in ihrem »Überflüssigsein« liegen. Welchen Widerständen bis hin zu eugenischen Selektionsphantasien der heute Mächtigen ihr Aufbruch ausgesetzt ist. Welche Kraft die »Überflüssigen« bilden, wenn sie sich entschließen, ihr Leben selbst zu organisieren – und schließlich, wie der Weg der Selbstorganisation in einer neuen, sozial orientierten Gesellschaft aussehen könnte.