Nach der Kiewer Wahl: Stimme aus dem Donbass

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Kai Ehlers
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Verbunden: 18.07.2014 - 21:31
Nach der Kiewer Wahl: Stimme aus dem Donbass
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Nach der Kiewer Wahl: Stimme aus dem Donbass

Interview mit Boris Litwinow, Vorsitzender des Obersten Sowjet der „Donezker Volksrepublik“ (DNR)

- kommentiert und übersetzt von KAI EHLERS, PAWEL KANNYGIN (Donezk) -


Nach der vorgezogenen Parlamentswahl im Westen der Ukraine haben die bisher nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk (DNR) und Lugansk (LNR) für den 2. November ihrerseits zur Wahl aufgerufen. Von ihr versprechen sie sich eine demokratische Legitimation. Inhaltliche Positionen zu diesen Wahlen sind bisher im Westen kaum bekannt geworden. Vor Kurzem erschien ein Interview mit einem Mitglied der Führung der DNR, Boris Litwinow, in der russischen Nowaja Gazeta, das einen interessanten Einblick in die Situation gibt, die jetzt zwischen Kiew und dem Donbass entstanden ist, sowie über den politischen Stand der Donezker Führung.

Litwinow ist zurzeit der zweite Mann der DNR nach dem offiziell als ihr Premier auftretenden Alexander Sachartschenko. In Sachartschenkos Kompetenz liegen die Fragen des Krieges, aktuell auch die Waffenstillstands- bzw. Friedensverhandlungen zwischen den Konfliktparteien in Minsk; in Litwinows Kompetenz liegt, wie er in dem Gespräch erklärt, der „Aufbau des friedlichen Lebens“. Das betrifft wesentlich die für die Wahl jetzt wichtigen Fragen. Litwinow ist Autor der Deklaration zur Souveränität der DNR, Urheber ihrer Verfassung und ihrer Gesetze. Er leitet zurzeit den noch nicht gewählten Obersten Sowjet der Republik.  In der Zeit vor Bildung der DNR leitete Litwinow die Parteizelle der Kommunisten der Kirowsker Region von Donezk. Vor Kurzem gründete er die Kommunistische Partei der DNR.

Litwinow gehört offensichtlich zu den Vertretern der Donbasser Republik, die sich aktiv für die Stabilisierung des Status quo zwischen Kiew und Donbass einsetzen. Genaueres dazu geht aus dem Gespräch hervor. Das soll hier nicht vorweggenommen und auch nicht eingegrenzt werden. Begleitend sei lediglich angemerkt, dass Litwinow als Urheber der Verfassung und als Vorsitzender des Obersten Sowjet zwar eine wichtige Stimme hat, als langjähriger Funktionär der Kommunistischen Partei aber auch in seiner neuen Rolle als wieder erwachter Revolutionär ein paar hausbackene Positionen mit sich schleppt, die nicht unbedingt von allen aktiven Teilen der Donbasser Aufständischen geteilt werden.

Eher dürfte es um die von Litwinow vertretenen Positionen nach den Wahlen vom 2. November spiegelbildlich zu den Auseinandersetzungen um die von Kiew durchgeführten Wahlen auch im Osten heftige Zusammenstöße geben. Hier wie dort wird es dabei um die Frage gehen, ob die radikalen Kräfte der jeweiligen Seiten eine Parlamentarisierung der Konflikte der Ukraine und einen die chaotischen Verhältnisse stabilisierenden Dialog akzeptieren, oder ob sie den Konflikt auf eigene Faust weiterführen.


Pawel Kannygin (Nowaja Gazeta) im Gespräch mit Boris Litwinow.


Über die Zukunft: „Wir gehen in den eurasischen Raum und nach Lemberg, und nach Kiew."

P. Kannygin: Boris Aleksejewitsch, haben Sie eine Vorstellung zur Zukunft der DNR?


B. Litwinow: Es ist schon lange klar, dass wir ein unabhängiger demokratischer Staat mit seinen eigenen Institutionen, seiner eigenen Währung sein werden.


P. Kannygin: Aber Russland braucht den Donbass doch als Teil der Ukraine oder nicht?


B. Litwinow: Nun, ich weiß nicht, was in Moskau… Wir haben bereits selbst entschieden. Und das Volk des Donbass’ entschied, dass wir unabhängig sein werden, eigenständig; es wird drei Zweige der Staatsmacht geben, unsere eigene Grenze und die Armee.


 

P. Kannygin: Putin bezeichnet die Vorgänge im Donbass als innere Angelegenheiten der Ukraine.


B. Litwinow: Er kann es nicht anders nennen. Wenn wir demokratische Wahlen durchführen mit unseren eigenen Organen im November, dann kann man über alles schon offen reden und alles benennen.


P. Kannygin: Wenn Sie unabhängig werden, kann Moskau mit ihrer Hilfe keinen Einfluss auf die Ukraine nehmen – aus deren Sicht treten Sie als destabilisierender Faktor auf.


B. Litwinow: Wahrscheinlich, einige Hitzköpfe denken wohl so, aber ich und meine Umgebung sehen das nicht so.


P. Kannygin: Aber Sie sind einverstanden damit, dass Russland die Tagesordnung bestimmt: Die DNR im Bestand der Ukraine, damit die Ukraine nicht weiter in Richtung Europa abdriftet?


B. Litwinow: Unsere Tagesordnung, wenn man so sagen will, ist schon lange festgelegt. Wir in der DNR bauen unsere eigene Staatlichkeit orientiert auf den eurasischen Raum auf, darüber kann es schon keine Diskussionen mehr geben, und alles andere entscheiden wir unterwegs.


P. Kannygin: Darum geht es ja genau. Könnte es sein, dass Ihr die übrige Ukraine hinter Euch herzieht?


B. Litwinow: Wenn sie sich zum eurasischen Weg hin entwickelt, dann werden wir mit Vergnügen zusammen gehen. Sowohl mit Lemberg als auch mit Kiew gehen wir alle gemeinsam! Ich bin voll dafür – und dann werden wir die Wunden gemeinsam lecken. Wenn sie bereit dazu sind, werden wir einen einigen eurasischen Raum bilden. Aber zurzeit gelingt das nicht. Weil wir für diese Einheit sind, sie aber für den mythischen Eintritt in die Europäische Union.

 

 

Über Unterordnung: „Einen Präsidenten wird es bei uns nicht geben.“

P. Kannygin: Was war das für eine Geschichte mit dem Rücktritt des Premiers Sachartschenko?


B. Litwinow: Das ist eine absolut verzerrte Geschichte. Er hat kein Rücktrittsgesuch eingereicht. Er sagte, dass, wenn er in Minsk gedrängt werde, Vereinbarungen zu unterzeichnen, die im Widerspruch zum Geist unserer Souveränität und der Gesetze stehen, die wir bereits angenommen haben, dann werde es leichter für ihn sein zurückzutreten, als diese Dokumente zu unterzeichnen. Das ist alles.


P. Kannygin: Und wer könnte ihn dahin drängen?


B. Litwinow: Die Umstände! Oder die Ukraine. Oder irgendwelche Verhandlungsteilnehmer. Wer ist das? Russland, Ukraine und OECD in der Person der finnischen Diplomatie. (Gemeint ist der Vertreter der ORCD bei den Minsker Gesprächen, Heid Taljawini. Anm. K. Ehlers) Da sind also drei Teilnehmer – die Vorsitzenden der DNR und LNR sind nur einfach anwesend, so dass sie irgendwie zur Kenntnis nehmen, was diese drei unterschreiben. Aber wenn die Entscheidungen widersprüchlich sind und Sachartschenko zwingen wollen zuzustimmen, dann ist es für Sachartschenko leichter beim Obersten Sowjet seinen Rücktritt einzureichen. Das ist die richtige Interpretation.


P. Kannygin: Das heißt also, Sie haben eine parlamentarische Republik?


B. Litwinow: Zurzeit – ja. Bis jetzt, da wir noch nicht in die neue Etappe unseres Staatsaufbaus getreten sind.


P. Kannygin: Wann kann das geschehen?


B. Litwinow: Nun, dann, wenn die Wahlen stattfinden. Dann wird es bei uns schon ein Staatsoberhaupt geben. Wir laden sowohl die Amerikaner als auch die Europäer als Beobachter ein, sofern sie denn kommen. Obwohl die Amerikaner uns nichts sagen können, sind denn ihre Wahlen demokratisch? Sie haben ja nicht einmal eine direkte Wahl. Sie wissen ja wohl, dort gibt es diese Wahlmänner…


P. Kannygin: Gut, was wird nach den Wahlen sein?


B. Litwinow: Einen Präsidenten wird es bei uns nicht geben.


P. Kannygin: Warum das?


B. Litwinow: Wir werden ein Staatsoberhaupt haben, aber er wird auch Haupt der Exekutive und des Sowjets der Minister sein. Zugleich werden die Vollmachten des Staatsoberhauptes delegiert sein. Und die Gesetze, die Poroschenko erlassen hat, werden wir ebenfalls nicht akzeptieren. (Gemeint sind die Gesetze, die den besonderen Status von Donezk und Lugansk innerhalb der Ukraine betreffen, Anm. K. Ehlers) Lesen Sie, was von der Seite vorgeschlagen wird: In Kiew schlagen sie Wahlen nur in örtlichen und städtischen Sowjets vor.


P. Kannygin: Damit sind Sie nicht einverstanden?


B. Litwinow: Bei uns wird es solche Wahlen nicht geben! Wir haben unsere eigene unabhängige Republik, und, wie gesagt, unsere souveränen Organe.


P. Kannygin: Werden ihre Organe finanziert?


B. Litwinow: Wir haben Geld bereits an Lehrer gezahlt, an einige Ärzte, Pensionäre, invalide Kinder und solche, die ihre Ernährer verloren haben. Beamte bekommen auch ein kleines Gehalt.


P. Kannygin: Aus welchen Mitteln zahlen Sie?


B. Litwinow: Aus Steuern, die wir in der Republik einnehmen. Das ist natürlich extrem unzureichend, aber wir bemühen uns. Wir können zurzeit nicht allen etwas zahlen, unser Steuersystem arbeitet erst seit drei Monaten. Die Ukraine hat schon seit Mitte September alle finanziellen Operationen eingestellt und das Schatzamt arbeitet noch nicht. So fängt es zurzeit bei uns an.


Über die Beziehung zu privatem Eigentum: „Der Eigentümer ist der Feind des Eigentümers! Wir werden sehen!“

P. Kannygin: Sind alle damit einverstanden Steuern zu zahlen?


B. Litwinow: Nicht Einverstandene gibt es wenig, zumindest haben sie ihr Nichteinverständnis nicht sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Umso mehr als wir erst angefangen haben, die Subjekte geschäftlicher Tätigkeit zu registrieren; das kommt erst Ende Oktober. Wer schon erfasst ist, zahlt auch schon Steuern. Wer noch nicht zahlte, dem werden wir das Geschäft untersagen. Aber das alles wird erst Ende Oktober geschehen – dann werden wir herausfinden, wer registriert ist und wer nicht und die Leute dazu anhalten.


P. Kannygin: In welcher Weise?


B. Litwinow: Erstens zu überzeugen, damit sich angemeldet wird, und wenn sie nicht wollen, müssen wir Maßnahmen ergreifen. Das heißt, anstelle eines Direktors, der nicht zahlen will, werden wir einen Direktor der Donezker Volksrepublik ernennen, der zahlen will. Der wird dann alles Notwendige entsprechend der Gesetze veranlassen.


P. Kannygin: Boris Aleksejewitsch, ich sehe hier bei Ihnen Hammer und Sichel. Welches wird Ihr ökonomisches Modell sein?


B. Litwinow: Nun ja, Hammer und Sichel. Ich bin voll für Hammer und Sichel. Aber wir haben davon eigentlich sehr wenige. Ich bin überhaupt Kommunist.

Das beunruhigt die Geschäftsleute. Da sind sie im ideologischen Klischee gefangen. In 23 Jahren demokratischer Entwicklung hat sich eine negative Sicht auf uns bei den Menschen herausgebildet. Und wodurch? Niemand spricht über eine Umverteilung von Eigentum, wir sprechen von einer gemischten Wirtschaftsform. Von einem sozialistischen Modell. Damit der Staat eine bedeutende Rolle spielt. Das Innere der Erde und ihre Reichtümer sollen sich ausnahmslos im Eigentum des Staates befinden, sie unterliegen nicht der Privatisierung und dem Verkauf. Das ist in der Deklaration über die Souveränität der DNR aufgezeichnet. Das Innere der Erde gehört dem ganzen Volk, das heißt dem Staat.


P. Kannygin: Was geschieht mit den Schächten Achmetows, Jefremowas?


B. Litwinow: Das Innere der Erde muss eindeutig unter Kontrolle des Staates stehen! In Zukunft werden private Unternehmen weder Kohle noch Gas fördern. Das wird unsere Aufgabe sein, die des Staates, aber das wird erst so sein, wenn das wirtschaftliche System wieder aufgebaut ist. Energieressourcen, auch ihre Förderung, ihr Verkauf und ihr Transport müssen beim Staat liegen. Weil sich die Energieressourcen bei uns am Anfang der Kette der Preisbildung auf die Massenbedarfsartikel befinden. Und durch diese Ressourcen muss der Staat, um es so zu sagen, diese Prozesse regulieren.


P. Kannygin: Sie sind also für privates Eigentum?


B. Litwinow: Selbstverständlich! Ich bin dafür, dass alle Formen des Eigentums miteinander existieren, miteinander harmonieren. Schuganow (russischer KP-Chef, Anm. K. Ehlers) ist auch für privates Eigentum.

Das ist normal. Ich bin auch dafür! Aber der Eigentümer ist der Feind des Eigentümers! Und man muss sehr aufmerksam hinschauen. Es ist eine Sache, wenn ein Unternehmen durch die Arbeit vieler Generationen geschaffen wird, eine andere, wenn es dann für lächerliches Geld privatisiert wird – was ist daran gut? Und jene Besitzer, die für neue Produktionen Kredite aufgenommen haben, mit denen muss man sich an einen Tisch setzen und anschauen, inwiefern ihre Produktion für unseren Staat notwendig ist. Wenn sie notwendig ist und der Unternehmer bei uns und nicht in Zypern oder in den Niederlanden registriert ist, dann soll er doch arbeiten und Steuern zahlen. Und wenn nicht – dann werden wir eindeutige Maßnahmen ergreifen.


Über die Freiheit des Wortes: „Wir brauchen objektive Medien – wie in Russland.“

P. Kannygin: Habe ich richtig verstanden, dass die DNR die sowjetische Ideologie angenommen hat?


B. Litwinow: Absolut richtig. Angenommen im Geiste der sowjetischen sozialistischen Ideologie. Wir setzen ein Zeichen der Gleichheit.


P. Kannygin: Was wird dann mit den demokratischen Rechten? Davon gab es in der Sowjetunion nicht sehr…


B. Litwinow: Gab es sehr! Gab es viele und ausreichend!


P. Kannygin: Zum Beispiel, Freiheit des Wortes, des Glaubens?


B. Litwinow: Ja, mein Herr! Gab es denn bei uns keine Religion? Wir hatten Muslime, Christen, Juden, Hindus und so weiter. Und die Menschen, ungeachtet der Propaganda, gingen in die Kirche. Heute gehen sie mehr, natürlich, weil es keine Ideologie gibt, deshalb gehen sie, um sich mit Gott zu befassen. Und richtig machen sie das! Mehr noch, in unserem kommunistischen Programm gibt es keinerlei Verbote in dieser Angelegenheit. Und was die Freiheit des Wortes betrifft – wissen Sie denn nicht, dass es in der Mehrheit der Länder Vorschriften gibt, was zu schreiben und was zu sprechen ist und was nicht? Und die Eigentümer vieler Medien bestimmen die redaktionelle Politik! Haben Sie irgendetwas im Ukrainischen TV gesehen, das eine objektive Information über die Donezker Volksrepublik gab? Nie! Das gibt es nicht.


P. Kannygin: Und im Russischen gibt es das, meinen Sie?


B. Litwinow: Mehr oder weniger! Ja, natürlich, mir gefällt sehr, wie die Dinge im Russischen beleuchtet werden. Das ist doch wirklich objektiver! Russland ist überhaupt interessierter, objektive Informationen zu geben. Und nun nehmen Sie die westlichen Medien – sie schreiben das, was ihnen die Eigentümer auftragen. Und wenn sie etwas anderes schreiben, dann werden sie einfach geschlossen.


P. Kannygin: Das heißt, Sie sind für die Freiheit des Wortes, so wie sie im russischen Journalismus ist?


B. Litwinow: Wie im russischen, amerikanischen, ukrainischen, aber bitte objektiv. Oder die eine und die andere Seite zeigen, aber zumindest objektiv.


P. Kannygin: Wie in den russischen Medien?


B. Litwinow: Nun, ja, natürlich.


Über Menschenrechte in der DNR: „Sexuelle Minderheiten sollen das Recht auf Leben haben.“

P. Kannygin: Kommen wir zur Ideologie zurück. Können Sie Grundprinzipien formulieren?


B. Litwinow: Natürlich! Das erste Prinzip ist der Kampf gegen das oligarchische System der Macht und der Wirtschaft. Und gegen alle seine Erscheinungsformen. Weil bei uns in der Ukraine früher immer die Liebe und die Sorge um den Menschen ausgerufen wurde, und in Wirklichkeit verelendete der Mensch, während die Clans sich bereicherten. Das alles war schlimmster Betrug. Das zweite Prinzip ist Aufklärung gegen die Ideologie faschistischen Typs. Ehrlich gesagt, was in den letzten Jahren in unserem Staat ein Teil des Volkes dem anderen vorgesetzt hat, das war faschistische Ideologie. Und das dritte Prinzip ist Internationalismus und Kollektivismus.


P. Kannygin: Was meinen Sie damit?


B. Litwinow: Gut, ich erkläre. Wir hier in Donezk sind von unserem Geist her Kollektivisten. Unser Land hat eine hundertfünfzig Jahre lange Entwicklung darin. Aus der ganzen Welt kam man dafür hierher, schwer, drückend, aber eine Entwicklung. Hier teilte man sich nicht auf in der Art, wer Du bist, ob Russe, Jude, Grieche oder Tatar. Hier war es nötig zu handeln! Hier wurde gebaut, gestickt, Erz geschmolzen, gelernt und gemeinsam gewirkt. Deshalb Kollektivisten. Und überhaupt sind wir Russen. Und wir sind alle Russen: sowohl die Ukrainer, als auch die Griechen. Alle, die in diesem Raum leben, sind von unserem Wesen her Kollektivisten. Russen sind von Natur aus Kollektivisten.


P. Kannygin: Ich verstehe nicht ganz, Boris Aleksejewitsch …


B. Litwinow: Nun, Óbschtschiniki! Kollektivisten im sozialistischen Verständnis. Im Westen dagegen sind alle Individualisten, verstehen Sie. Dort, wie Sie sagen, gibt es die „Menschenrechte“. Die sind aber nur auf dem Papier, die Menschenrechte. In der Realität liegt das Recht mehr bei dem, der mehr Geld hat. Da haben Sie den Individualismus.


P. Kannygin: Was heißt hier auf dem Papier. In Frankreich beschlossen die Sozialisten die Homo-Ehe. Wird es in der DNR eine Erlaubnis für die Homo-Ehe geben?


B. Litwinow: Nun, wie soll ich es Ihnen sagen… Mindestens das Recht auf Leben sollten die sexuellen Minderheiten haben, sage ich es mal so. Aber ich gestehe, dass ich kein großer Fachmann in Fragen sexueller Minderheiten bin.


P. Kannygin: Haben die nationalen Minderheiten auch Rechte?


B. Litwinow: Jeder Mensch sollte und wird das Recht haben, natürlich.


P. Kannygin: Auch die Ukrainer?


B. Litwinow: Mehr noch, in der Verfassung unserer Republik steht geschrieben, dass die offizielle Sprache Russisch und Ukrainisch ist. Wir bauen doch die Republik für Menschen, für das ganze multinationale Volk!


P. Kannygin: Tatsächlich? In vollem Umfange und nicht nur auf dem Papier werden die Menschenrechte beachtet?


B. Litwinow: Erinnern Sie, dass ich Ihnen vom Kollektivismus sprach? Also, ich bin für das Menschenrecht, aber im Kollektiv. Menschenrecht und Kollektiv auseinanderzudividieren – das geht nicht! Weil das Glück aller vom Wohlergehen aller abhängt. Deshalb sind wir für den kollektiven Aufbau des Staates, volksverbunden, mit Glück für alle. Und ich füge zu unseren ideologischen Prinzipien noch dies hinzu – die Freundschaft zwischen unseren kollektivistischen Völkern. Dem belorussischen, dem kasachischen, dem armenischen und kirgisischen.


Über die Heizsaison: „Gasprom liefert uns Gas zu besten Bedingungen.“

P. Kannygin: Die Demokratie wird sich bei Ihnen, vermutlich, von der verzerrten westlichen unterscheiden?


B. Litwinow: Die Demokratie ist natürlich bei allen verschieden. Aber wenn eine Macht des Volkes besteht, und man sie über staatliche Institute verwirklichen kann, dann bin ich für solch eine Demokratie. Und so ist in der Donezker Volksrepublik das Schlüsselwort „Volk“. Aber in jener Ukraine – welche Macht gab es dort? Das Volk ging dort alle fünf Jahre zur Wahl, die noch dazu gefälscht wurde, und dann waren die Wahlen vorbei und aufs Neue: das Volk für sich und die Macht für sich.


P. Kannygin: Boris Aleksejewitsch, aber bei Ihnen hat es ja selbst eine solche Wahl nicht gegeben. Und die Regierung der DNR ist vom Volk nicht gewählt.


B. Litwinow: Ja, machen wir uns denn nicht im Oktober auf den Weg?! Wir hatten eine Revolution. Erinnern Sie sich, wann sie vonstatten ging? Wenn die oben nicht können und die unten nicht wollen. Typische Erscheinungsformen eines revolutionären Prozesses. Die Oberen konnten nicht auf neue Weise regieren. Man ist dort in Kiew nicht zurechtgekommen! Und die Unteren, das Volk wollte nicht nach den faschistischen Regeln leben, die es gab. Daraufhin haben die Menschen bei dem Referendum ihren Willen ausgesprochen.

Aber niemand erkennt dieses Referendum an. Gewöhnlich werden Referenden nicht in militärischen angespannten Situationen durchgeführt, wenn die Menschen voll Furcht sind.


P. Kannygin: Aber haben Sie irgendwann kilometerlange Schlagen eines eingeschüchterten Volkes vor Wahllokalen gesehen?


B. Litwinow: Die Menschen waren begeistert. Sie waren erfreut und begeistert, sie erwarteten Veränderungen. Wir wollten sie und wollen sie bis jetzt. 2,5 Millionen von den 3,2 Millionen Menschen kamen! 80 Prozent. In keinem Staat gibt es bisher so etwas, dass so viele Menschen teilgenommen hätten.

Davon sprach ich.

Aber die Menschen kamen und gaben ihre Stimme freiwillig ab! Ich dachte, in Kiew reicht der Verstand und das Gewissen zu verstehen, dass man das anerkennen muss. Dass diese gepriesenen demokratischen Prinzipien sich durchsetzen, aber nein.


P. Kannygin: Fürchteten Sie nicht, dass die Abstimmung bei dem Referendum hätte anders ausgehen können?


B. Litwinow: Hätte, ja. Sie hätten umdenken können. Man hätte sie in eine solche Situation zwingen können – Bomben, Artillerie, Flugzeuge. Aber wir bemühen uns, die Menschen zu überzeugen, dass der Mensch nicht von Angst lebendig wird. Und ich sage Ihnen, dass mit jeder neuen Bombe das Verständnis wächst, dass unser Weg der richtige ist. Es wachsen die Wut und der Hass auf diese Macht. Stimmt, es gibt eine Anzahl von Menschen, die sagen: „Meinetwegen Faschisten, meinetwegen Raub, meinetwegen Betrug, wenn bloß der Krieg nicht wäre.“ Aber der ist uns aufgezwungen durch die 23-jährige Schande der Demokratie und die Vernichtung von Ideen. Schweigen, aushalten, Leute! Aber die Geduld ist zu Ende, die Menschen wollen nicht mehr leben wie bisher. Schauen Sie sich um. Die Revolution spricht die Jungen rundherum an. Nicht einmal Großmütter und die Großväter sitzen zu Hause. Wir setzen auf sie, die Jungen und die Zielstrebigen, die einen sozial orientierten Staat mit einer gemischten Wirtschaft sehen wollen.


P. Kannygin: Sind Sie auf die Heizsaison vorbereitet?


B. Litwinow: Vorbereitet. Es wird keine Einbrüche geben. Es gab Vorbereitungen, wir haben sowohl genug Kohle für die Kessel. Und wir haben auch Gas.


P. Kannygin: Woher das Gas?


B. Litwinow: Woher kommt in der Ukraine schon Gas? Aus Russland!


P. Kannygin: Das heißt, Russland liefert Ihnen, aber der Ukraine nicht?


B. Litwinow: Nun, natürlich. Uns beliefert man, die Ukraine nicht. Man wartet, bis sie die Schulden bezahlen.


P. Kannygin: Und zu welchen Preisen wird Ihnen geliefert?


B. Litwinow: Nun, wir verhandeln über subventionierte Preise. Die Gespräche mit Gasprom laufen. Ich möchte jetzt keine Details angeben, aber wir bewegen uns in die Richtung, dass die Tarife für uns nicht die gleichen werden wie für die Ukraine.


Über das Referendum in Katalonien: „Sollen sie zu uns kommen, Wir zeigen es ihnen.“

P. Kannygin: In Kiew beklagt man sich, dass Sie die Lieferung von Kohle für das Land aus dem staatlichen Ukrainischen Schacht eingestellt haben.


B. Litwinow: Warum? Es ist bald Winter, das ist so. Wenn die Ukraine uns eine Vorauszahlung für die Kohle gibt, dann werden wir ihnen die Kohle liefern. Sollen sie mit angemessenen und geeigneten Mitteln bezahlen..


P. Kannygin: Unterstützen Sie das Referendum in Katalonien?


B. Litwinow: Wir werden es begrüßen, wenn sich das katalonische Volk entscheidet. Aber soweit ich weiß, gestattet man ihm nicht, das Referendum durchzuführen. Die Demokratie arbeitet dort nicht. Also sollen sie doch zu uns kommen. Wie sprechen mit ihnen und lehren sie.

 

Kommentar und Übersetzung: Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de
 



Quelle:  aus NowajaGazeta. 11.10.2014 > Artikel

Erstveröffentlicht in dt. Sprache bei Hintergrund - Das Nachrichtenmagazin

Bild- und Grafiknachweis:

1. Flagge der selbsternannten (proklamierten) und international nicht anerkannten Republik Donetsk (Donetsk People's Republic). Sie wurde am 7. April 2014 mit dem selbsternannten Volksgouverneur Pawel Gubarew während der Krise in der Ukraine auf Teilen des Gebiets der Oblast Donezk ausgerufen. Urheber: Дмитрий-5-Аверин. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“

2. Flagge der selbsternannten (proklamierten) und international nicht anerkannten Republik Lugansk (Lugansk People's Republic). Die Volksrepublik Lugansk wurde am 28. April 2014 im Zuge der Krise in der Ukraine 2014 von einer Gruppe von einigen hundert Separatisten auf dem Gebiet der Oblast Luhansk ausgerufen. Der Vorsitzende des vereinigten Stabes des Südostens der Ukraine erklärte, dass während der Versammlung zum Beschluss der Sezession nur ein kleiner Teil der Anwesenden für die Ausrufung der Republik gestimmt hatte. Bewaffnete hielten danach zahlreiche Gebäude in der Oblast Luhansk besetzt.

Am 11. Mai 2014 fand in Teilen des Gebietes eine Volksbefragung über eine „staatliche Unabhängigkeit“ statt, in dem sich nach Angaben der selbsternannten Wahlkommission bei 81% Wahlbeteiligung eine Mehrheit von 96% für die Unabhängigkeit von der Ukraine ausgesprochen habe. Auf Basis des Referendumg erklärten die Separatisten die Volksrepublik Lugansk am 12. Mai 2014 für „unabhängig“ Die ukrainische Übergangsregierung, die Europäische Union und die USA bezeichneten das Referendum als „illegal“.

Urheber: Дмитрий-5-Аверин. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“

3. Pro-russische Demonstranten besetzen das Donezker Regierungsgebäude (7. April 2014). Foto: Andrew Butko. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert. Namensnennung: Andrew Butko.

4. Boris Litwinow, Vorsitzender des Obersten Sowjet der „Donezker Volksrepublik“ (DNR). Quelle: novayagazeta.ru/