Recep Tayyip Erdoğan - Tyrannosaurus rex

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Helmut S. - ADMIN
Helmut S. - ADMIN
Online
Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Recep Tayyip Erdoğan - Tyrannosaurus rex
DruckversionPDF version

Nach Aufhebung der Immunität

Bleiben jetzt nur noch die Berge?

von Kerem Schamberger via isw (Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.)

Am vergangenen Freitag, den 20.05.2016 war es soweit; die monatelange Debatte um eine Aufhebung der Immunität von Parlamentsabgeordneten in der Türkei ist zu einem Ende gekommen: mit 376 Stimmen wurde die Verfassungsänderung zur Immunitätsaufhebung vom türkischen Parlament angenommen. Nun könnte man argumentieren, dass dies ja alle Parlamentarier betreffen wird und nicht nur die Abgeordneten der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP). Das stimmt, aber Deniz Yücel schreibt in Die Welt richtig, dass die meisten Strafverfolgungsanträge gegen die HDPler viel schwerer wiegen,

als die gegen die 88 Abgeordneten aus allen übrigen Fraktionen: Propaganda für eine Terrororganisation, Mitgliedschaft, gar Gründung einer solchen. Insgesamt hatten sich bis zum 24. Dezember vergangenen Jahres aus der laufenden und früheren Legislaturperioden 330 Anträge auf Aufhebung der Immunität angesammelt, darunter 182 gegen Abgeordnete der HDP.

Noch während der Parlamentsdebatte am Freitag wurden alleine acht neue Anträge auf Aufhebung der Immunität gegen Abgeordnete, darunter gegen die junge Nichte Abdullah Öcalans und HDPlerin, Dilek Öcalan, gestellt. Die Anklagen sind dabei auffällig unprofessionell und schnell zusammengeschustert. Teilweise wird einfach eine Rede von HDP-Abgeordneten im vollen Wortlaut zitiert und dann darunter „Das erfüllt den Straftatbestand der Propaganda für eine Terrororganisation“ geschrieben.

Das diese juristisch unhaltbaren Anklagen vor türkischen Gerichten keinen Bestand haben werden ist unsicher, zu stark ist mittlerweile die Kontrolle und Durchsetzung des Justizsystems durch die AKP-Regierung und Erdoğan-Handlanger. Und so müssen wir uns in den nächsten Wochen auf die Inhaftierung ranghoher HDP-Abgeordneter einstellen. Mit Kamuran Yüksek, Ko-Vorsitzender der Partei der Demokratischen Regionen (DBP), der kurdischen Partei innerhalb der Bündnispartei HDP, wurde vor zwei Wochen bereits einer der wichtigsten Repräsentanten der vielfältigen kurdischen Freiheitsbewegung inhaftiert. Er besitzt zwar kein Abgeordnetenmandat, die Inhaftierung macht aber deutlich, dass türkische Sicherheitskräfte und Richter nun nicht mal mehr vor Spitzenpolitikern zurückschrecken.


(…) lasst sie den Preis, der dafür nötig ist, bezahlen.

In einer ersten Erklärung war Präsident Erdoğan voll des Lobes für die 376 Parlamentarier, die für die Aufhebung der Immunität stimmten. Außerdem erklärte er, dass „mein Volk in diesem Land keine schuldigen Parlamentarier im Parlament sehen will. Vor allem diejenigen, die eine spalterische Terrororganisation unterstützen, wollen sie erst recht nicht im Parlament sehen. (…) Nehmt sie, stellt sie vor Gericht und lasst sie den Preis, der dafür nötig ist, bezahlen.“ bemerkte er mit Blick auf die HDP-Abgeordneten.

Am gleichen Tag machte Erdoğan auch noch mal deutlich, was er von Presse- und Medienfreiheit hält. In Richtung internationaler Pressevertreter sagte er:

Man sieht, wie sie sich einen Fotoapparat kaufen und aus verschiedenen Teilen der Welt, aus England, Frankreich, aus verschiedenen Orten Europas, aus Amerika nach Diyarbakir kommen und herumspazieren. Was habt ihr dort zu suchen? Und dann folgen falsche Lügennachrichten. (…) Das ist ein fertiges Szenario (…) In allen internationalen Medien gibt es Kräfte, die die Türkei so darstellen wollen, als ob es dort derzeit einen Bürgerkrieg gäbe. Doch hier gibt es keinen Bürgerkrieg und sie werden uns auch nicht zu einem solchen verleiten. Wir werden diese Aufgabe mit Gottes Erlaubnis vollenden.

Die Zerstörung ganzer Städte

Nach der Abstimmung im türkischen Parlament bejammerten wichtige Vertreter Europas, Deutschlands und der großen Koalition heuchlerisch den Abbau demokratischer Rechte. Dabei waren sie es, die Erdoğans Sitz im Sattel der türkischen Politik überhaupt erst so abgesichert hatten. Erinnert sei nur an die Stippvisite von Angela Merkel in der Türkei kurz vor den Neuwahlen im Oktober 2015. Eine eindeutige Wahlkampfhilfe für die AKP und Erdoğan.

Oder die Aussage des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk noch Ende April 2016: „Die Türkei ist heute das beste Beispiel in der Welt dafür, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten. Keiner hat das Recht, die Türkei zu belehren.“ Und das nach Berichten von Human Rights Watch, die belegen, dass türkische Grenzsoldaten aus Syrien kommende Flüchtlinge erschießen.

Und während sich alles um den Flüchtlings-Deal und die Aufhebung der Immunität dreht, geht der tägliche Wahnsinn in Nordkurdistan weiter. Man muss sich das einmal vorstellen: Mehrere kurdische Großstädte, mit hunderttausenden Einwohnern, sind bisher so gut wie komplett zerstört oder unbewohnbar gemacht worden, darunter Cizre, Şırnak, Nusaybin, Sur (in Amed). Mittlerweile gibt es immer mehr Videos, die das Ausmaß der Zerstörung deutlich machen. Diese werden hier unkommentiert, aber mit großer Trauer geteilt:

Die Zerstörung Nusaybins durch die türkische Armee. Berichten zu Folge bombardiert hier der NATO-Staat sogar mit der Luftwaffe, mit Kampfjets und Kampfhubschraubern. Die Kämpfe dauern bis heute an - VIDEO 1. (30sec.)

Die Zerstörung Sirnaks. Auch hier halten die Auseinandersetzungen noch an - VIDEO 2. (3:25 Min.)

Die Zerstörung des Stadtteils Sur in der Millionenmetropole und heimlichen Hauptstadt Kurdistans Amed - VIDEO 3. (4:38 Min.)

Auch der fortschrittliche Nachrichtensender imc tv hat heute erst die Zerstörung des historischen Stadtteils Sur dokumentiert.

 


Was nun?

Es stellt sich die Frage, wie es in dem Konflikt zwischen türkischem Staat und kurdischer Freiheitsbewegung nun weitergeht. Sämtliche demokratischen und parlamentarischen Wege sind erschöpft, täglich gibt es dutzende Festnahmen von HDP- und BDP-Politikern und Aktivisten, über die gar nicht mehr berichtet wird, da sie so alltäglich sind.

Der Sohn des berühmten fortschrittlichen Schriftstellers Aziz Nesin, Ali Nesin, veröffentlichte einen vielbeachteten Kommentar auf seiner Facebook-Seite. Der für seine Kritik an der PKK und gleichzeitigen Unterstützung der HDP bekannte Mathematiker schrieb: (Übersetzung)

„Mit der Aufhebung der Immunität, haben die PKK, die Barrikaden, der Terror eine Rechtfertigung erhalten. Dem kurdischen Volk wurde damit folgende Nachricht vermittelt: ‚Ohne die PKK seid ihr gar nichts‘. Außerdem gibt es für niemanden nun noch einen Grund die PKK zur Waffenniederlegung aufzufordern. Ich habe verstanden, dass alle meine Gedanken, die ich bisher in diesem Zusammenhang geäußert habe, falsch gewesen waren. Die PKK hatte Recht, ich hatte Unrecht.“

In einem weiteren Post erklärte Nesin:

„Ich fasse zusammen: Seit einem Jahr schreibe ich, dass es für die PKK keine Existenzgründe mehr gibt, dass man die Probleme nicht mit der PKK in den Bergen, sondern mit der HDP im Parlament, am Tisch sitzend, lösen wird. Mit dem gestern im Parlament gefassten Beschluss zur Aufhebung der Immunität, sind mir keine Argumente mehr geblieben. Ich ziehe mich zurück.“Unterdessen kündigte auch die PKK-Vizevorsitzende Bese Hozat an, nun wieder verstärkt zum bewaffneten Kampf zurückzukehren. So sagte sie gegenüber der Tageszeitung Junge Welt: „Also werden die Aktionen sowohl auf dem Land als auch in den Städten sowie in türkischen Metropolen sich verstärken. (…) Wir haben beschlossen, den Kampf in Nordkurdistan sowie in der Türkei zu intensivieren und zu radikalisieren.“

Weitere aktuelle Aussagen von Bese Hozat finden sich in einer Videoreportage des Lower Class Magazine, dessen Redakteure sich derzeit in Südkurdistan aufhalten:X

Zu Besuch bei der PKK im Kandil Gebirge - Interview mit Bese Hozat - 1. Teil (Dauer: 11:07 Min.)

 

Zu Besuch bei der PKK im Kandil Gebirge - Interview mit Bese Hozat - 2. Teil (Dauer: 14:26 Min.)



Wenn die Europäische Union und auch die USA nicht ihren Druck auf das NATO-Mitgliedsland Türkei erhöhen und es nur bei Erklärungen belässt, die „Besorgnis“ ausdrücken, wird der Krieg des türkischen Staates gegen die Kurden und die Antworten der PKK auf die Angriffe weiter eskalieren. Dies gilt es zu verhindern.

Auch indem in Deutschland massiver Druck auf die Bundesregierung ausgeübt wird, ihre Unterstützung für die Kriegspolitik Erdoğans (u.a. durch Waffenlieferungen) zu beenden. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass damit gleichzeitig der menschenverachtende Flüchtlings-Deal zu Bruch geht. Sodass die aus Syrien, Afghanistan und Irak fliehenden Menschen nicht mehr in der Türkei ihr Dasein fristen müssen, sondern in die Länder gehen können, in die sie wollen.

Kerem Schamberger
 



Mehr Informationen und Fragen zur isw:

isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.

Johann-von-Werth-Straße 3, 80639 München

Fon 089 – 13 00 41
Fax 089 – 16 89 415

isw_muenchen@t-online.de

www.isw-muenchen.de 



Infos über Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. :

Im Juni 1990 haben kritische Wirtschafts- und SozialwissenschaftlerInnen zusammen mit GewerkschafterInnen in München das isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. gegründet. Seitdem haben wir fast zweihundert Studien und Berichte veröffentlicht.

Das isw versteht sich als Wirtschaftsforschungs-Institut, das alternativ zum neoliberalen Mainstream Analysen, Argumente und Fakten für die wissenschaftliche und soziale Auseinandersetzung anbietet. Unsere Themen und Forschungen beziehen sich deshalb in besonderem Maß auf die "Bedürfnisse" von Gewerkschaften und von sozialen, ökologischen und Friedensbewegungen. Unser Anspruch ist, Wissenschaft in verständlicher Form darzustellen und anschaulich aufzubereiten. Deshalb sind isw-Ausarbeitungen auch besonders geeignet für Unterricht und Schulungsarbeit und als Grundlage für Referate und Diskussionen. Die Mehrheit unserer LeserInnen, AbonnentInnen und Förder-Mitglieder sind Menschen, die sich in Bewegungen und Gewerkschaften engagieren.

  • Im Zentrum unserer wissenschaftlichen Analysen und Forschungsarbeit stehen Fragen und Probleme der Globalisierung, der Bewegung des transnationalen Kapitals, der Rolle und Wirkungen der Multis und transnationalen Institutionen (IWF, WTO, OECD, G7, etc).
  • Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt bilden Verteilungsfragen: Einkommens- und Vermögensverteilung, Interdependenz von privatem/gesellschaftlichem Reichtum und Armut.
  • Im Rahmen der Friedensforschung befassen wir uns mit Aspekten der Rüstungsökonomie (z.B. Konzentration in der Rüstungsindustrie), der Militärstrategie und Auswirkungen von Rüstung und Krieg.
  • Im ökologischen Bereich konzentrieren wir uns auf Fragen der Energiewirtschaft und -konzerne.
  • Schließlich beschäftigen wir uns kontinuierlich mit Untersuchungen zur Entwicklung der Sozialsysteme, der Konjunktur- und zyklischen Entwicklung der Weltwirtschaft.

Auf Veranstaltungen und jährlich stattfindenden isw-Foren werden Erfahrungen ausgetauscht, Gegenstrategien diskutiert und Alternativen erarbeitet. Wir freuen uns über Vorschläge und Anregungen, aber auch über solidarische Kritik.

Ein alternatives Projekt wie das isw ist auf aktive Mitarbeit und auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Die materielle Grundlage unserer Arbeit schaffen unsere Leserinnen und Leser. Weder Parteien noch Verbände noch Stiftungen alimentieren uns. Unsere Publikationen finanzieren wir, neben der Selbstausbeutung der Autorinnen und Autoren und der zahlreichen Aktiven im Institut, aus den Beiträgen der rund 1.500 FörderInnen und AbonnentInnen. Wir schaffen derzeit eine plus/minus Null-Bilanz. Eine neue Steuerregelung kostet uns allerdings viel Substanz. Jeder Euro, jedes zusätzliche Fördermitglied, jedes zusätzliche Abonnement ist von Bedeutung. Spenden sind in voller Höhe steuerlich absetzbar.


 

Bild- u. Grafikquellen:

1. Tyrannosaurus rex aka Recep Tayyip Erdoğan. Foto: Jose Miguel. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0).

2. Recep Tayyip "Edowie Erdowo" Erdoğan. Bis 2014 war er Vorsitzender der muslimisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP).  Seit dem 28. August 2014 ist er Präsident der Türkei. Sein faschistischer, Menschenrechte verachtender Führungsstil ist ein Paradebeispiel für einen blutigen Staatsterrorismus, da er Krieg gegen das eigene Volk führt.

Karikatur: Carsten S.. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

3. Protestkundgebung gegen die Regierung Erdogans und für die Rechte der Kurden, London, 11. September 2015. Kurdish activists and their supporters staged a demonstration and sit-down protest in Whitehall and in Parliament Square, London against the action of the Turkish government - a NATO member - who are bombing the Kurds in Syria and Iraq. This despite them being one of the most effective fighting forces against the Islamic State. Meanwhile, in Turkey, government repression of the Kurds is on the increase.

Foto: RonF / The Weekly Bull. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

4. Logo der HDP (Halkların Demokratik Partisi - Demokratische Partei der Völker) - logo for Peoples' Democratic Party (Turkey). Quelle: Webseite der HDP. Verwendung: Fair Use. Fair Use besagt, dass die Wiedergabe urheberrechtlich geschützten Materials zum Zwecke der Kritik, der Stellungnahme, der Berichterstattung, der Bildung und der Wissenschaft keine Urheberrechtsverletzung darstellt.

5. Buchcover "Revolution in Rojava - Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo" von Anja Flach / Ercan Ayboğa / Michael Knapp. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit der Kampagne TATORT Kurdistan.

352 Seiten | EUR 19.80 | VSA Verlag (Link zum Buch)| ISBN 978-3-89965-658-9. Bestellungen bitte an: tatortkurdistanhh@googlemail.com.X

6. Buchcover "Demokratische Autonomie in Nordkurdistan. Rätebewegung, Geschlechterbefreiung und Ökologie in der Praxis". Eine Erkundungsreise in den Südosten der Türkei, herausgegeben von TATORT Kurdistan. Als eigenen Beitrag zur friedlichen Lösung der kurdischen Frage hat die kurdische Freiheitsbewegung in der Türkei ein alternatives Gesellschaftsmodell entwickelt: die Demokratische Autonomie. Unter schwierigsten Bedingungen gelingt es der Bewegung in Nordkurdistan seit 2005, Strukturen für den Aufbau einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft zu schaffen.

Ihren Kern bildet ein Rätesystem, in dem sich die Bevölkerung in den Dörfern, Straßenzügen, Stadtvierteln und Stadträten basisdemokratisch organisiert. Diese Strukturen ermöglichen zwar noch keine autonome Lebensform jenseits der bestehenden staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, aber sie stellen bereits heute eine relevante zivilgesellschaftliche Gegenmacht dar. Der radikal-demokratische Aufbruch der Kurd_innen bietet so auch eine Inspiration für die Neugestaltung von Gesellschaften im Mittleren Osten und darüber hinaus. Die in dieser Broschüre dokumentierten Interviews bieten einen ersten Einblick in die konkrete Umsetzung einer linken Utopie.

Weiter Infos unter: http://demokratischeautonomie.blogsport.eu/

Zu bestellen bei ISKU unter: isku@nadir.org