Terrorgruppe Islamischer Staat (IS)

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Wolfgang Blaschka
Wolfgang Blaschka
Offline
Verbunden: 09.11.2010 - 02:16
Terrorgruppe Islamischer Staat (IS)
DruckversionPDF version

Terrorgruppe Islamischer Staat (IS)

Obama hatte sie bisher unterschätzt

von Wolfgang Blaschka

US-Präsident Barack Obama hat ein Problem: Sein Nahostkriegs-Puzzle gerät parziell aus den Fugen. Die Fronten purzeln durcheinander, die Allianzen bröckeln. Der NATO-Partner Türkei treibt seine eigene schmutzige Politik gegen die Kurden, um sich de facto auf Seiten des Islamischen Gottesstaats zu positionieren, der nach kemalistisch säkularem Staatsverständnis eigentlich nicht mehr sein soll. Ist das noch zu glauben:

  • Rückt der "südöstliche Eckpfeiler" von den "westlichen Werten" ab, um abtrünnig auf eigene Rechnung seine längst überwunden geglaubten osmanischen Ambitionen mit Annexionen von Teilen Syriens zu verfolgen?
  • Ist diese Art verdeckter "Ost-Erweiterung" noch hilfreich für die NATO?
  • Soll die seit 2003 Terrormiliz IS etwa integriert oder bekämpft werden?

Irgendwann stößt das komplexe Verbündungsgewirr des Imperiums an Grenzen. Nun wird umdisponiert.

Mit einem lapidaren Satz wird die bisherige Päppelungspolitik gegenüber den Anti-Assad-Kräften über den Haufen geworfen: "Wir haben die IS unterschätzt". Soso! Damit ist der Offenbarungseid der US-Außenpolitik eines Jahrzehnts auch schon abgetan. Nicht der Rede wert, es kann ja mal passieren, dass man sich verrechnet hat. Ein Kalifat passt also doch nicht so recht in die erlauchte Runde der "westlichen Staatengemeinschaft". Aha! Jetzt muss die aus dem Ruder gelaufene Terror-Truppe aber mit Stumpf und Stiel ausgerupft werden. So ist es Usus mit IS, so war es die Gepflogenheit mit den Taliban. Terror und Gegenterror geben sich im fliegenden Wechsel die Klinke in die Hand. Wer oder was gestern noch als "nützlich" erschien im außenpolitischen Kalkül, wird heute als gefährlich erkannt. Als wäre das nicht von vornherein absehbar gewesen.

Im selben Atemzug wird eine weltweite Allianz "gegen den Terror" (gegen wen denn sonst?!) beschworen, ausgerechnet mit den Staaten zusammen, aus denen die IS bisher finanziert wurde. Katar und Saudi-Arabien bombardieren nun plötzlich die Ziehsöhne ihrer reichen Scheichs, Seite an Seite mit der US-Air Force. Der Emir von Katar gibt sich religiös desinteressiert, dafür handelsmäßig aufgeschlossen. Eine formelle Vereinbarung mit dem bösen Iran gibt es zwar nicht, doch sähe man es nicht ungern, wenn der nun auch auf Seiten der schiitischen Irak-Regierung mithelfen würde, die Kalifat-Kämpfer zurückzuschlagen.

Hin und wieder geht eine Ladung daneben, was soll's: Einmal treffen die US-Kampfpiloten "versehentlich" kurdische Kämpfer statt IS-Stellungen, ein andermal gelangt irrtümlich eine Ladung Granaten beim Fallschirmabwurf an die falsche Adresse. Aber doch nur eine von 28 Kisten! Echt ein Versehen. Ob die IS diese für die Kurden bestimmten Waffen tatsächlich in Besitz genommen haben, weiß Pentagon-Sprecher John Kirby nicht. "Die kurze Antwort lautet: Wir wissen es nicht". Die IS weiß es besser und präsentiert stolz eine geöffnete Kiste mit Mörsergranaten aus der gar nicht mehr erwarteten hilfreichen Fallschirmladung.

Noch am Montag letzter Woche hatte das Zentralkommando in Florida mitgeteilt, dass eine herrenlose Kiste auf freiem Feld gesichtet und aus der Luft beschossen worden sei, um zu verhindern, dass sie in "falsche Hände" geriete. Anscheinend wurde halt doch daneben getroffen. Oder es stand noch die alte Adresse drauf. Immerhin, die Neuauflage der "Lufbrücke" hat ihre propagandistische Erfolgsquote erzielt. Nun weiß alle Welt, dass die USA doch nur selbstlos helfen wollen, wie und wohin gezielt auch immer. Damit scheint das imperiale Weltbild wieder im Lot: Der "Anti"-Terrorkrieg darf weiter gehen bis zur totalen Erschöpfung. Der Krieg ernährt den Krieg, Fehlschüsse und Fehlschlüsse inklusive. Kurden, Jesiden und Christen werden als Spielbälle geopfert.

Es geht doch nichts über eine handfeste Terrorgefahr, vor der die Welt erzittert, und welche die eigenen Waffenarsenale als gerechtfertigt, als noch längst nicht ausreichend erscheinen lässt. Der IS-Terror hat sich aus der Zerschlagung des Irak im syrischen Bürgerkrieg entwickelt und ist nicht zuletzt Ausdruck der Unzufriedenheit mit den Ergebnissen des Regime Change, den die US-geführte "Koalition der Willigen" 2003 gewaltsam herbeigeführt hat. Die ehemals tonangebende Minderheit der Sunniten will sich zu großen Teilen nicht damit abfinden, unter einer schiitisch dominierten Regierung von US-Gnaden zu leben. Selbst entlassene Staatsbeamte und säkular gesinnte Saddam-Offiziere stellen sich in den Sold des IS. Es ist also mehr eine soziale Frage denn eine religiöse, wer sich wann warum wem anschließt. Ausgelöst wurde die große Umsortierung der Präferenzen und Loyalitäten durch den Irakkrieg der USA, der als "Rache für Nine-Eleven" ausgegeben wurde, womit allerdings weder Irak noch Afghanistan ursächlich zu tun hatten.

Weit mehr dagegen die reaktionären Regimes auf der arabischen Halbinsel, engste Verbündete der USA, waffentechnisch versorgt auch aus Deutschland. Die unschätzbare Allianz mit den wahabitischen Herrschern war in den Augen des Westens gar nicht zu überschätzen. Sie galt als "Stabilitätsfaktor". War und ist doch Saudi-Arabien mit Abstand der weltweit größte Erdöllieferant, gefolgt damals noch vom Irak. Ob dort Frauen Auto fahren dürfen, interessierte da nicht einmal zweitrangig.

Der Krieg gegen Irak schien der Bush-II-Administration unabdingbar, ihn von der Idee abzubringen, seinen Erdölhandel vom US-Dollar abzukoppeln. Pläne dazu gab es u.a. mit Venezuela. Darum musste der Irak in den Augen der USA ausgeschaltet werden. Außerdem bot er ein bequemes Sprungbrett gegen Iran. Das Ergebnis war vorhersehbar: Statt dem Irak wurde nun der Iran zur vorherrschenden Regionalmacht, seit 1980 Erb- und Erzfeind aller US-Administrationen. Damals hatten sie Iraks Saddam Hussein noch zu einen achtjährigen Krieg gegen Iran ermuntert und ausgestattet. Da galt er noch als "guter" Diktator. Ihre Lüge von dessen Massenvernichtungswaffen konnte bei soviel Militärgerät einigermaßen glaubhaft erscheinen, hofften sie. Bewahrheitet hat sich jedoch nur der absehbare Zerfall des Irak. Auch gut. Hauptsache Chaos, das Eintritts-Billett für jegliche Intervention. Zu etwas muss der gigantische Militärapparat ja herhalten, wenn er schon nicht weiß, was genau er anrichtet. Die politische Führung sollte es wissen, und hat es wohl gewusst und bewusst einkalkuliert, dass der Irak zerbricht.

Das nächste Feld auf dem "Schachbrett" des Nahen und Mittleren Ostens war Libyen, damals das reichste Land Afrikas und umso "gefährlicher" für den Hegemonial-Anspruch der westlichen Weltherrschafts-Strategen, als al-Gaddafi deutlich mehr Unabhängigkeit des Schwarzen Kontinents von IWF und Weltbank anstrebte. Er gründete sogar eine eigene afrikanische Entwicklungsbank. Mit Muhamar Gaddfi war das Geschäft besonders unkalkulierbar; zwischendurch "musste" man Tripolis bombardieren, doch schätzte man seine Dienste in Sachen Flüchtlingsabwehr vor Europa. Viele Schwarzafrikaner blieben als "Gastarbeiter" in dem aufstrebenden Land hängen. Doch blieb die Eigenwilligkeit Gaddafis nicht zu unterschätzen. Man wägte und wog, befand ihn für fällig und ließ ihn fallen. Seitdem die Cyrenaiker aus Bengasi über Tripolis das Sagen haben, versinkt Libyen im Chaos. Der ehemals prosperierende Erdölexport-Staat wurde zu einem einzigen Waffenbasar und zum offenen Rekrutierungsfeld für Bürgerkriegs-Söldner, sei es für Nord-Mali, sei es nach Syrien.  

Das war die nächste Station: Die Regierung Assad stürzen, nicht zuletzt um den russischen Mittelmeehafen zu schließen. Denn letztlich geht es auch um die Einkreisungspolitik gegenüber Moskau. Die wird derzeit in der Ukraine vorangetrieben und ausgefochten. Dazu scheint jedes Mittel Recht, und sei es die Sharia. Die "Rebellen" im syrischen Bürgerkrieg bekamen alle erdenkliche Unterstützung von der CIA und aus den Golf-Staaten, um Syriens laizistische Minderheitenpolitik zu zerschlagen. Von Waffen-Lieferungen bis hin zum Bombardierungs-Angebot von außen. Das konnte durch Putins Initiative mit dem Chemiewaffen-Vernichtungs-Programm gerade noch verhindert werden. Nun ist es soweit zu völkerrechtswidrigen Luftschlägen, die damals nicht möglich waren, aber heute als Hilfe für die bedrängten Kurden in Kobanê verkauft werden können. Immerhin wird bombardiert, ohne Damaskus gefragt zu haben. Egal, da gibt man sich mobil und flexibel. Wer gestern noch die IS finanzierte, muss heute den IS bombardieren. Das gehört zur imperialistischen Selbstherrlichkeit: "Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen". Fast wie im Mittelalter. Passt doch zur Gegend, denken sich die Damen und Herren im Pentagon.

Merke: Es kann von heute auf morgen alles ganz anders aussehen als gedacht. Nichts bleibt wie es ist. Darin liegt auch eine Hoffnung, dass selbst verlässlichste Transatlantiker ins Grübeln kommen könnten, ob sie ihre bedingungslose Bündnistreue zu den USA nicht auf den Prüfstand stellen sollten, nachdem sie die unterstellte Weitsicht der US-Politik grob überschätzt haben. Auch Ebola wurde sträflich unterschätzt. Ebenso wie die Geduld und die Leidensbereitschaft der Menschen weltweit überschätzt wird. Die Herrschaften sollten den sich anstauenden Zorn über die postkoloniale Arroganz des Westens nicht geringschätzen. Denn er mündet irgendwann zwangsweise in die Überlegung: Brauchen wir das? Die ganze Kriegspolitik des Westens ein einziger großer Irrtum? Oder finstere Absicht!? In beiden Fällen eine fatal falsche Rechnung. Sie bleibt noch eine Weile offen, doch irgendwann ist Zahltag. Wir werden alle dafür haften müssen, sofern wir die Rechnung weiterhin sorglos auflaufen lassen. Sie wird mit jedem Massaker höher und teurer. Die Nahostpolitik der NATO steckt fest in der Sackgasse.

Vielleicht sollte die Bundeswehr noch schnell ihre Patriot-Raketen abziehen aus der wankenden Türkei, bevor diese aus der NATO ausgeschlossen wird und Hilfskalif Erdogan sie eventuell der IS anheimfallen ließe als Morgengabe. Schlimmstenfalls könnten sie nur im Weg stehen, falls Ankara demnächst zur westlichen Ordnung bombardiert werden müsste. Wie gesagt, die Grenzen der "Wertegemeinschaft" verschwimmen derzeit etwas. Die Werte werden bereits in unterschiedlichen Währungen gehalten und gehandelt. Die doppelbödige Falschmünzerei der türkischen Regierung könnte zum internen Sprengstoff werden für die Nordatlantische Terrororganisation. Die stand schon kurz vorm "Bündnisfall" wegen eines von Ankara geplanten fingierten "Überfalls" auf ihr Territorium durch Assad-Truppen aus Syrien. Dann hätte sich die NATO gegen Damaskus wenden müssen, und der IS wäre der lachende Dritte gewesen. Die Mordallianz im informellen Bunde mit den Händeabhackern, das hätte dann aber doch niemand wirklich gewollt. Der perfide Plan wurde gerade noch rechtzeitig fallengelassen. So knapp stand es schon. Für die Jesiden stand es kurz vorm Völkermord, erkannte die UNO.

Aber was ist die Alternative? Muss man denn nicht ...? Nein. Muss "man" nicht! Die anmaßende "Einmischung" war es doch gerade, die das jetzige erschreckende Ergebnis hervorbrachte. Statt einfach weiter aufzumischen, könnte man ja zumindest mal dafür sorgen, dass der IS keinerlei Unterstützung mehr erfährt, weder aus Arabien noch aus NATO-Staaten. Und dass die Kurden in ihrem Befreiungskampf nicht länger kriminalisiert werden! Solange "die Misere" weiterhin wirres Zeug labert, nämlich dass die PKK dasselbe sei wie der IS, ist natürlich kaum zu denken, dass deutsche Außenpolitik zu etwas anderem taugte als zu maßloser Selbstüberschätzung bei gezielter Orientierungslosigkeit. Da müsste sie sich halt mal endlich zurückhalten und besser "nichts" tun anstatt immer und immer noch einmal das Falsche. Aber anscheinend passt die Panik vor dem Islamischen Staat so gut in die NATO-Strategie, dass man ihn gar nicht überschätzen konnte. Da hat man ihn doch lieber "unterschätzt".

Wolfgang Blaschka, München



Quelle: Erstveröffentlicht bei RATIONALGALERIE > Artikel

► Grafikquellen:

1. IS-Kämpfer bei Kobanê. Foto / Quelle: Firat News Agency (kurd. Ajansa Nûçeyan a Firatê, Abk. ANF), eine kurdische Nachrichtenagentur.

2. Diren Kobanê - Halte durch, Kobanê. Lange Tage und Nächte des verzweifelten Widerstands gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) welche die syrisch-kurdische Stadt Kobanê massiv mit Granaten beschießt. Seit vielen Wochen ist die Grenzregion im Ausnahmezustand. Die Terrormiliz hat trotz heftiger kurdischer Gegenwehr und von den USA angeführten Luftangriffen einige Viertel der Stadt Kobanê erobert, doch es gelingt den Kurden immer wieder, Teile der Stadt zurückzuerobern. Noch sollen etwa 700 bis 2000 Zivilisten in der Stadt ausharren: Schwache, Alte, Kranke und Behinderte. Sollte es dem IS gelingen, den Gürtel um die Stadt zu schließen, droht ein Massaker. Die Wut der Kurden in der nur wenige Kilometer entfernten Türkei wächst - völlig zurecht.

3. Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (Eigenbezeichnung: Partiya Karkerên Kurdistan, Abk. PKK) aufheben und Freiheit für Abdullah Öcalan. Die Fotos entstanden am 1. Sept 2014 während des Antikriegstages in München. Fotograf: Richy Meyer.