Ukraine – Nationalismus – Russischer Maidan – Alternativen

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Kai Ehlers
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Verbunden: 18.07.2014 - 21:31
Ukraine – Nationalismus – Russischer Maidan – Alternativen
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Ukraine – Nationalismus – Russischer Maidan – Alternativen

Kai Ehlers spricht mit dem russischen Dichter-Schriftsteller Jefim  Berschin

Jefim Berschin ist Schriftsteller, Dichter, Journalist, Autor verschiedener Bücher, u.a. des auf Tatsachen basierenden essayistischen Romans „Wüstes Land“, das er auf der Grundlage seiner Erfahrungen als journalistischer Berichterstatter in den Unabhängigkeitskriegen in Prednestrowien, Aserbeidschan und in den Tschetschenienkriegen nach der Auflösung der Sowjetunion schrieb. Berschin ist zudem Dialogpartner von Kai Ehlers in dem Buch „Russland. Herzschlag einer Weltmacht“, das der Frage nachgeht, was das Russische an Russland ist. Das vorliegende Gespräch wurde aktuell per Skype geführt.

 


 

Kai Ehlers: Die politische Situation zwischen Russland und dem Westen ist sehr gespannt. Wo siehst du die Gründe für diese Entwicklung?


Jefim Berschin: Ich denke, dass die Entwicklung schon seit langem läuft. Sie steuert jetzt auf den Höhepunkt zu. Es ist die Wirtschaft, die heute herrschende Konsumethik, die auf den Höhepunkt zutreibt. Nichts kann ewig wachsen. Es gibt eine Grenze, hinter der mit Notwendigkeit eine Expansionsdynamik eintritt; da geht es dann darum neue Märkte, neue Territorien als Absatzmärkte zu gewinnen.
 

Kai Ehlers: Du willst sagen, dass der gegenwärtige Krisenprozess unausweichlich ist?


Jefim Berschin: Ja, in dem System, das wir heute sehen ist dieser Konflikt programmiert. Man muss entweder anhalten oder es beginnt die Aggression – aber bei Beibehaltung des Systems kann man nicht anhalten. Bei dem heutigen Wertesystem ist der Krieg unausweichlich. –  Das heißt, unmissverständlich gesprochen, die Welt braucht neue Entwicklungsmodelle.
 

Kai Ehlers: Welche Rolle siehst du für Russland in dieser Situation?


Jefim Berschin: Russland spielt darin eine zweitrangige Rolle. Warum? Weil die Marktwirtschaft, die Konsumwirtschaft in Russland noch jung ist, sie braucht noch keinen solchen großen Raum. Russland unterscheidet sich, was seinen wirtschaftlichen Weg, seine Entwicklung betrifft, nicht sehr von den westlichen Ländern.  Es ist zurzeit nur noch etwas zurück.
 

Kai Ehlers: Russland fordert immer wieder eine andere Weltordnung. Ich denke, dass Putin mit seiner Sicht des Multipolaren, die er kürzlich wieder auf dem Waldai-Forum vorstellte,  so etwas wie ein Zeitfenster für Alternativen öffnen könnte. Eine multipolare Welt wäre selbst natürlich noch kein Wertewechsel, aber wenn sie zustande käme, könnte uns das die Chance öffnen, Alternativen zu entwickeln, vielleicht an dem großen Krieg soeben vorbei zu schrammen.  


Jefim Berschin: Ich denke, Putin sieht, dass ein anderer Typ von Entwicklung nötig ist. Aber er kann selbst nicht formulieren, wie dieser Weg konkret aussehen könnte. Er ist im Grunde selbst ein Neoliberaler. Alles, was er sonst noch sagt, dass Russland anders sei, dass man an Traditionen anknüpfen müsse und dergl., sind Schutzaussagen. Bei uns besteht überhaupt die ganze Regierung aus Liberalen. Sie agieren mit absoluten liberalen Methoden.
 

Kai Ehlers: Wir haben also heute die paradoxe Situation, dass der der Liberalismus weltweit in der Krise ist, aber in Russland gibt es sehr viele Liberale?


Jefim Berschin: So ist es, sehr viele. Bei uns verstehen viele Menschen sehr oft gar nicht, dass sie Liberale sind. Sie denken, sie seien keine Liberalen, sie beschimpfen die Liberalen und dabei  begreifen sie nicht, dass sie auf dem wirtschaftlichen Gebiet selbst Liberale sind.


Kai Ehlers: Denkst Du, dass bei Euch ein Maidan möglich ist?


Jefim Berschin: Ich denke, nein. Ein Maidan kommt nicht von selbst. Ein Maidan muss vorbereitet werden. Für den Maidan wird großes Geld gebraucht, wird eine Ideologie, werden Organisatoren gebraucht und es braucht Kräfte, die auf den Maidan gehen, sehr starke Kräfte.


Kai Ehlers: Was das betrifft: Geld ist vorhanden, Menschen, die sich als Organisatoren betätigen wollen, gibt es auch. Putin ist als Feind ausgemacht. Alles ist da, also, was fehlt noch?


Jefim Berschin: Das ist zurzeit alles Fantasie. Putin ist erstens nicht Feind…


Kai Ehlers:aber bei uns wird er als Feind aufgebaut.


Jefim Berschin: Ja bei Euch …! Aber der Westen hat bei seinem Versuch, Putin zu beseitigen, zwei große Fehler gemacht. Man hat zwei Dinge nicht begriffen: Erstens – unter der Tatsache, dass der Westen in die Ukraine gegangen ist, haben sehr viele unserer großen Geschäftsleute und sogar einige Oligarchen gelitten. Sie hatten gemeinsame Unternehmen mit der Ukraine, da waren große Gelder investiert, dieses Geld ist jetzt verloren. Das sind Milliarden von Dollars. Deshalb können diese Oligarchen Putin nicht stürzen. Putin ist für sie ein Beschützer. Er hilft ihnen. Das ist das Eine.

Der zweite Fehler betrifft Fragen der Mentalität: Der Westen begreift nicht, dass Russland ein etwas anderes Land ist. Unsere Menschen spüren sehr genau, was Aggression ist. Wenn sie eine Aggression fühlen, dann schließen sie sich zusammen. Je größer die Aggression, umso stärker entwickelt sich der Widerstand dagegen.


Kai Ehlers: Das war so in der Geschichte...


Jefim Berschin: Das ist auch jetzt so. Natürlich wird das Leben bei uns in nächster Zeit schlechter werden, aber die Mehrheit der Menschen ist bereit das zu ertragen. Ihnen ist klar, dass die Unabhängigkeit des Landes teurer ist. Wenn Russland seine Unabhängigkeit verliert, dann wird es sich niemals normal entwickeln können.


Kai Ehlers: Könnte sich aus dieser Situation ein russischer Nationalismus entwickeln?


Jefim Berschin: Eine gewisse Gefährdung besteht. Aber schauen wir uns erst einmal an, was heute Nationalismus sein kann: Heute kann man nicht mehr von ethnischem Nationalismus sprechen. Klar, gibt es an verschiedenen Orten der Welt auch noch ethnischen Nationalismus. Zum Beispiel im Nahen Osten. Aber generell muss man heute eher von, sagen wir, einem Nationalismus der Zivilisationen sprechen.


Kai Ehlers: Erkläre mir, was Du darunter verstehst.


Jefim Berschin: Widersprüche zwischen verschiedenen Zivilisationen. Deshalb sehen wir auch in der Ukraine, wie dort auf beiden von beiden Seiten Menschen aus derselben Nationalität kämpfen, aber aus verschiedenen Zivilisationen. Russen kämpfen als Patrioten der Ukraine, Russen kämpfen auch im Donbass, Ukrainer kämpfen im Donbass….

 

Kai Ehlers: Ja, ein ziemliches Durcheinander. Wie unterscheiden sie sich?


Jefim Berschin: Sie unterscheiden sich – (lacht) – nun, äußerlich in gar nichts. Sie unterscheiden sich durch ihre zivilisatorischen, durch ihre kulturellen Sichtweisen. Wenn wir die Propaganda beiseitelassen, dann können wir sagen: der Unterschied liegt darin, dass große Gebiete der Ukraine Teil der Russischen Welt sind.

Wodurch zeichnet sich die Russische Welt aus? Sie war nie eine nationale. Russland war nie ein Nationalstaat. Ethnischen Nationalismus hat es bei uns nicht gegeben und kann es auch nicht geben. Russland – das ist ein zivilisatorisch zu definierender Raum, in dem viele Völker miteinander leben.

Die Menschen im Osten zeichnen dadurch aus, das sie in diesem Raum aufgewachsen sind. Die westliche Ukraine, ihre verschiedenen Teile waren dagegen immer wieder Bestandteil von Nationalstaaten. Die Menschen dort kennen nichts anderes. Sie verstehen es nicht, einfach so in einem Zivilisationsraum zu leben. Für sie gibt es nur den Nationalstaat.


Kai Ehlers: Aber auch in der Ukraine leben Menschen in verschiedenen Kulturen miteinander. Und das auch schon lange.


Jefim Berschin: Das ist wahr. Aber heute hat die Galizische Ideologie gesiegt. Das ist die Ideologie Galiziens, die nur den Nationalstaat kennt. Obwohl auch dort Menschen verschiedener Nationalitäten wohnen, sollen doch alle Ukrainer sein, Ukrainer im engen nationalen Verständnis, per Sprache, Riten usw. Für Russen ist absolut unverständlich, warum nicht eine zweite Sprache erlaubt sein soll. Warum nicht Russisch als zweite Sprache? Warum nicht auch Ungarisch?


Kai Ehlers: Was ist mit den Russen, die jetzt ins Land kamen, in den Osten, um dort zu wirken? Viele von ihnen waren doch eindeutig Nationalisten, voran Alexander Dugin [1] z.B., aber auch andere.


Jefim Berschin: Ich bin kein Freund Dugins, aber man muss klarstellen: Dugin ist kein Nationalist, er ist ein Ideologe eines All-Eurasischen Raumes. Das meint nicht Nation, auch nicht Ethnie, das meint den Raum, der die Völker verbindet, die im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, in Europa oder in Asien leben. Im Kern steht dahinter das Verständnis, dass alle Völker, die dort leben, auch in diesen Raum gehören.


Kai Ehlers: Und was ist mit den Völkern, die nicht dazu gehören?


Jefim Berschin: Man hat Dugin bei einer TV-Sendung dazu befragt. Er hat richtig geantwortet: Nicht zu diesem Raum gehören die Völker des mittleren Asiens und die baltischen Staaten, wie sie heute sind. Sie sind anders. Sie sind Fremde.


Kai Ehlers: Nun, lassen wir Dugin. Da gibt es noch einiges Dunkles zu klären, speziell sein Verhältnis zur nicht-russischen Welt, die er offenbar dominieren möchte. Wichtiger ist mir zu hören, worin sich Putin oder die Menschen, die Novorossia propagiert haben von Dugin unterscheiden. Bei uns werden sie alle über den nationalistischen Kamm geschoren.


Jefim Berschin: Putin ist natürlich nicht Nationalist; er ist Internationalist. Er ist russischer Patriot, Internationalist im Rahmen des Staates in dem wir leben. Er ist, um es so zu sagen, kein russischer, sondern ein russländischer Patriot. Er kann gar nichts anderes sein. Er ist Präsident Russlands. Und in dieser Weise ist er Patriot. Anders in Kiew. Wenn die Führung in Kiew sich für Patrioten nennt, dann glaube ich ihnen das nicht. Patrioten können ihr Land nicht abgeben wie eine Kolonie. Das haben die Kiewer aber getan. Die russische Führung kann so etwas nicht.

Anfang der 90er hat es auch bei uns solche Versuche gegeben, da war Russland schon beinahe eine Kolonie. Aber da liegt genau der Grund für die heutigen Schwierigkeiten zwischen Russland und dem Westen, die nämlich daher kommen, dass Putin Russland aus dem Stadium der Kolonie befreit hat. Er hat sich darum bemüht, dass Land wieder in seine Unabhängigkeit zu führen.

Ein unabhängiges Russland versteht man im Westen jedoch als Bedrohung, nicht militärisch, aber ökonomisch. Denn wenn sich Russland ruhig entwickelt, dieses riesige Land, wenn es sich normal entwickelt, wenn es seine eigene Wirtschaft aufbauen kann, dann wird es zu einem sehr starken Konkurrenten. Das können sie nicht gebrauchen.


Kai Ehlers: Würdest du die Leute, die im Osten als Autoritäten auftraten, auch als Patrioten bezeichnen?


Jefim Berschin: In den Donbas kamen verschiedene Leute,  sehr verschiedene, unter ihnen auch russische Nationalisten. Das stimmt. Unter ihnen aber auch einfache russländische Patrioten. Dorthin sind Menschen der verschiedensten Nationalitäten gegangen, Freiwillige, ich wiederhole: aus verschiedenen Nationalitäten. Unter ihnen auch Freiwillige aus Europa. Wie soll man die nennen? Nationalisten? Es kamen sowohl Tschechen, wie auch Slowaken; sogar Franzosen waren dort und Griechen, Serben und andere.


Kai Ehlers: Also wie muss man die  Motive dieser Menschen dann verstehen?


Jefim Berschin: Noch einmal: sie sind sehr unterschiedlich. Sagen wir so: was für Menschen waren es in Spanien, die damals in den Dreißigern dorthin gingen?


Kai Ehlers: Du willst die Ukraine mit Spanien vergleichen?


Jefim Berschin: Ja, in einigen Aspekten kann man den Vergleich ziehen. In den Osten der Ukraine kamen Menschen, die mit einem neuen Faschismus kämpfen wollen. Solche Menschen kommen vor allem aus dem Westen. Und natürlich auch zum Teil aus Russland. Freiwillige.


Kai Ehlers: Aber man kann Poroschenko und Jazenjuk doch nicht einfach als Faschisten bezeichnen. Sie sind erklärte Neo-Liberale, die Faschisten benutzen. Das mag noch übler sein, weil es unter demokratischer Maske geschieht, aber man muss genau sein, denke ich.


Jefim Berschin: Das gilt wohl für Poroschenko, aber nicht für Jazenjuk. Jazenjuks kürzlich in Deutschland abgegebene Erklärung, russische Truppen seien Endes zweiten Weltkriegs in die Ukraine und nach Deutschland „eingefallen“ macht deutlich, dass er in der Tendenz selbst nationalistisches, neofaschistisches Gedankengut vertritt. Der Hintergrund dazu ist: Er kommt aus der Galizischen Ideologie, über die wir sprachen. Damit gehört er zu den Kräften, die im zweiten Weltkrieg eine Niederlage erlitten: Eine Niederlage erlitt im zweiten Weltkrieg auch Deutschland; eine Niederlage erlitten die Truppen der westlichen ukrainischen Nationalisten, die Banderisten; eine Niederlage erlitt auch Rumänien; eine Niederlage erlitt Ungarn; eben alle die, die in der Hitler-Koalition waren. Jazenjuk spricht jetzt wie ein Mensch, der im Krieg eine Niederlage erlitt.


Kai Ehlers: Du willst sagen, er redet als Revanchist?


Jefim Berschin: Ja, und wichtig ist auch, dass er diese Worte nicht irgendwo sagte, sondern eben in Deutschland. Jazenjuk versteht sehr gut, dass Deutschland eine Niederlage erlitt, und er setzt darauf, dass es in Deutschland Kräfte gibt, die wie er selbst auf Revanche aus sind.


Kai Ehlers: Ein interessanter Gedanke, bemerkenswert, aber ...


Jefim Berschin: … für Euch ist so etwas vielleicht neu, aber wir haben solche Dinge schon viele Male gehört. Man redet von solchen Dingen. Man hat sich eine neue Ideologie geschaffen. Viele Menschen in der Ukraine begreifen dabei nicht einmal, dass sie zu Neo-Nazisten geworden sind. Sie denken, das sei alles normal, sie denken, dass sie für eine richtige Sache einstünden. In diesem Sinne arbeitet die Propaganda heute derartig effektiv, dass sie die Menschen zu echten Idioten macht. Du hast mich nach dem Nationalismus in Russland gefragt. Ich befürchte sehr, dass Faschismus so ein Wahnsinn ist, der sich erheben könnte. Wenn er in der Ukraine möglich ist, dann kann er auf diese oder andere Weise auch zu uns kommen. Zurzeit ist das nicht so. Aber das kann sehr wohl sein. Und das ist natürlich gefährlich.


Kai Ehlers: Du meinst, dass Jazenjuks Ideologie im westlichen Teil der Ukraine und in Kiew allgemein verbreitet ist?


Jefim Berschin: Ich denke, ja. Das ist die aktuell dort herrschende Ideologie.


Kai Ehlers: Und was siehst du im östlichen Teil? Wie ist es dort?


Jefim Berschin: Im östlichen Teil hast Du eine vollkommen andere Ideologie. Im östlichen Teil leben die Menschen, die den zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Kannst du dir vorstellen, was mit denen geschieht, wenn sie etwas von einem Helden Bandera [2] oder Schuchewytsch [3] hören müssen? – Das sind ihre Feinde; das sind die Feinde, mit denen ihre Großväter, ihre Väter im Krieg gekämpft haben.


Kai Ehlers: Sie leben noch mit dem Patriotismus des vaterländischen Krieges.


Jefim Berschin: Das ist nicht nur Patriotismus. Ich werde oft gefragt, ob Russen die Deutschen heute für Feinde halten. Meine Antwort: Nein, natürlich nicht. Zu den Deutschen gibt es ein gutes Verhältnis. Warum? Weil es von Seiten Deutschlands keinen Versuch einer Revanche gab. Wenn man aber heute in Deutschland ein Denkmal für Hitler aufbauen würde, dann würden unsere Leute natürlich sehr nachdenklich…


Kai Ehlers: …aber das ist heute nicht so…


Jefim Berschin: …Gott sei Dank! Aber ich erkläre Dir, warum ich das sage: Weil man in der Ukraine dem Ukrainischen Hitler, Bandera, bereits ein Denkmal errichtet hat.


Kai Ehlers: Hast Du Angst, ein neuer Faschismus könnte entstehen?


Jefim Berschin: Selbstverständlich, wie könnte ich keine Angst davor haben. Und das wäre eine neue Katastrophe. Ich fürchte, sie ist möglich. Für einen neuen Faschismus gibt es heute sehr gute Sponsoren. Auf jeden Fall schon mal bei den Ukrainischen Faschisten. Sie haben sehr gute Unterstützer. Reiche. Aus dem Westen. Und im Land selbst läuft die Propaganda schon viele Jahre. Die Ideologie ukrainischer Unabhängigkeit ist ganz auf antirussischen Ressentiments aufgebaut. Ich kenne das. Ich habe mich ja oft in der Ukraine aufgehalten. Ich war im Jahr zwei, drei Mal dort. Ich kenne mich da gut aus. Ich habe dort TV geschaut, ich habe Zeitungen gelesen, ich habe verstanden, was sie da machen. Sie haben dort eine neue Generation in diesem Geiste erzogen, junge Leute, die nichts anderes kennen.


Kai Ehlers: Da ist also ein Riesenproblem herangewachsen. Was wird Russland tun?


Jefim Berschin: Es fällt mir schwer zu sagen, was Putin weiter tun wird. Zurzeit leben wir unter den Bedingungen von Sanktionen. Das Leben wird sich vermutlich verschlechtern. Ich weiß nicht in welchem Maßstab. Alles wird davon abhängen, wie schnell es gelingt, unsere eigene Wirtschaft aufzubauen. Die Ökonomen und Putin sagen, dafür sind zwei Jahre nötig…


Kai Ehlers: …und die Bevölkerung bereitet sich darauf vor wieder auf die Datscha zu gehen.


Jefim Berschin: Ja, da liegt die Lösung eines Grundproblems, das wir immer wieder haben: Man muss den Winter überleben. Wenn der Frühling kommt, kommt auch die Datscha. So war es immer. (lacht) In der schwersten Zeit als Jegor Gaidar [4] seine Reformen durchführte, hat selbst er das genau gewusst.

Da gibt es eine hübsche Geschichte in den Erinnerungen von Tschubajs [5] über ihn. Tschubajs beschreibt ein Gespräch mit Gaidar: Als sie die Preise freigegeben hatten, als die Schocktherapie stattfand und sie im März 1993 miteinander sprachen, als die Situation sehr schlecht war, schreckliche Inflation usw., da stand Gaidar am Fenster, schaute lange hinaus. Sie hatten zuvor besprochen, dass die Krise jetzt auf dem Höhepunkt sei, wie es weiter gehen solle. Tschubajs meinte, dass sei jetzt vielleicht die Spitze. Da dreht sich Gaidar auf einmal um und sagt: ‚Schau aus dem Fenster!‘ Tschubajs kommt. ‚Nun was? Ich sehe nichts.‘ Aber Gaidar sagt: ‚Verstehst Du nicht? Du siehst doch, dass der Schnee taut. Frühling!‘ ‚Na und?‘ fragt Tschubajs. ‚Das heißt‘, antwortet Gaidar, ‚wir sind gerettet. Frühling, bald sind die Datschen wieder da.‘

(Jefim Berschin und Kai Ehlers lachen beide befreit)


Kai Ehlers: Schöne Geschichte! Sie könnte schon das Ende unseres Gespräches sein. Aber da ist noch eine Frage. Welchen Ausweg siehst Du, wenn nicht Krieg?


Jefim Berschin: Was die Ukraine betrifft, so wird es da wohl weiter Krieg geben. Die gegenwärtige Regierung der Ukraine kann den  Krieg nicht anhalten und sie will es nicht. Warum? Weil sie schon tausende Menschen getötet  haben. Wenn sie heute mit den Führern von Donbas sprechen und einen Vertrag schließen, dann gibt es in Kiew einen neunen Umsturz. Dann kommen die Leute aus dem Osten mit der Frage zurück: Und wofür haben wir gekämpft?


Kai Ehlers: Die Jarosch-Leute, die Asow-Miliz und all die anderen...


Jefim Berschin: …aber siegen können sie auch nicht. Das heißt – sie werden kämpfen. Aber lange können sie auch nicht kämpfen. Kiew hat ja jetzt schon eine volle Mobilisierung ausgerufen. Menschen dürfen schon ihre Städte nicht mehr verlassen. Alle Männer bis 60 Jahre hinauf, dürfen die Stadt ohne Erlaubnis der Militärbehörden nicht verlassen. Alle unterliegen der Mobilisierung. Die Menschen fliehen.

Ich habe mit einem Freund aus der Dnjester-Republik gesprochen; das ist ja gleich nebenan. Er erzählt, dass dort viele Männer ankommen, die aus der Ukraine dorthin fliehen, um nicht eingezogen zu werden. In Moldawien ebenso. Wer es schafft, flieht auch nach Russland.

Viele sind schon nach Russland geflüchtet. Wenn das so weitergeht, wird die Ukraine bald ganz ohne eigene Armee sein. Und das Land ohne ihre Bewohner. Man vernichtet physisch die eigene Bevölkerung. Putin hat gerade erklärt, dass das Gesetz, das den Aufenthalt von Ukrainern in unserem Land auf drei Monate begrenzt, ab sofort aufgehoben ist. Sie mögen kommen und sich hier aufhalten, sagte Putin. Weil sie nur als Kanonenfutter eingezogen werden. Besser sie leben bei uns.


Kai Ehlers: Bei uns heißt es, Putin heize die Unruhen im Osten an, um die Ukraine unter Druck zu halten und auf dem Weg das russische Imperium zu restaurieren.


Jefim Berschin: Wofür? Für Putin war vorher alles  gut. Die Fabriken, die Anlagen arbeiteten. Man arbeitete zusammen. Nichts anderes brauchten unsere Industriebetriebe. Sie sprachen mit allen Präsidenten, sogar mit Juschtschenko. Die Fabriken arbeiteten für beide Seiten, mehr wollte niemand, und dass die Arbeitsverträge, die Verabredungen eingehalten würden. Alles andere hat Russland nicht interessiert. Man hätte sich vielleicht sogar mehr kümmern müssen, denke ich. Aber jetzt ist es zu spät. Jetzt ist der Osten, die ganze Ukraine für Russland nur noch eine Belastung. Russland braucht Ruhe für seine Entwicklung.

Ganz anders die Amerikaner: Es ist ja für niemanden ein Geheimnis, dass im Generalstab der ukrainischen Armee heute die Amerikaner das Kommando haben.  Sie laufen offen herum, sie kommandieren ganz offen. Das Kiewer TV zeigte Aufnahmen, ich betone: das Kiewer TV!, wie ein amerikanischer General ins Hospital geht, dort die Verwundeten besucht, ihnen dort irgendwelche Orden verleiht, ihnen versichert, wir werden noch siegen. So etwas  zeigen sie bei sich im TV. Es gibt auch schon Ukrainische Gefangene, die nur English sprechen können.


Kai Ehlers: Man könnte denken, dass dies alles auch für die USA keinen Sinn macht – ein zerrütteter Staat, ein verwüstetes Land, vertriebene Menschen…


Jefim Berschin: Das macht schon Sinn! Sie wollen das Ukrainische Fracking. Dafür braucht man nicht viele Menschen. Wenn ein paar Ukrainer übrigbleiben, reicht das, die können in den Gruben arbeiten. Das ist das Eine. Das zweite, das globale Ziel ist natürlich die Schwächung Russlands. Russland soll sich nicht entwickeln dürfen. Auch für die, die mit Russland kooperiert haben, gehen die Verluste schon in die Milliarden.


Kai Ehlers: Neuerlich ist die Rede von einer Verbindung zwischen der eurasischen Union und der europäischen Union als möglicher Lösung des Konfliktes. Unsere Kanzlerin Merkel stellt Russland eine Freihandelszone von Wladiwostok bis Lissabon in Aussicht...


Jefim Berschin: Was für ein Klugchen! Das hat Putin schon vor Jahren vorgeschlagen, schon 2001 bei seinem ersten Besuch in Deutschland. Und was haben sie ihm geantwortet? Nichts! Stattdessen Erweiterungspolitik der EU. Dabei könnte man diese Probleme doch sofort entscheiden. Mit Israel z.B. hat Russland soeben problemlos eine Zollfreie Zone gebildet. Aber es hängt natürlich alles davon ab, zu welchen Bedingungen das geschähe.


Kai Ehlers: Natürlich, müsste Russland zuvor das Minsker Abkommen erfüllen, sagt Merkel.


Jefim Berschin: Ach, ja. Klar! (lacht) Aber es geht natürlich nicht nur um die Minsker Vereinbarungen. Es geht darum, dass es einen solchen offenen Zoll-Raum nur dann geben wird, wenn Russland zustimmt, nach den Bedingungen der europäischen Union zu arbeiten. Aber Russland wird diesen Bedingungen nicht zustimmen. Jeder versteht, dass Russland dann eine große Kolonie der  Europäischen Union würde.


Kai Ehlers: Boliviens Präsident Morales hat Russland eingeladen, der Gruppe 77+China beizutreten. Das könnte doch ein Ausweg aus der gegenwärtigen Klemme für Russland sein, oder?


Jefim Berschin: Die Union gibt es ja schon. Es gibt ja schon die gemeinsame Bank. Diese Bank haben Russland, Indien, Brasilien, China und Südafrika ja schon gegründet.  Das einzige Problem besteht darin, dass diese Union zurzeit arm ist. Aber sie könnte das Fenster sein, von dem Du sprichst, um zukünftige Alternativen zu entwickeln. Damit kehren wir jetzt zum Kern zurück, nämlich, dass wir einen anderen Weg der Entwicklung der Menschheit brauchen.


Kai Ehlers: Ja, ich verstehe den Konflikt in der Ukraine so, dass Menschen dort einen solchen anderen Weg fordern, manche haben das formuliert, viele vielleicht auch ohne es genau artikulieren zu können: Ein Leben ohne Oligarchen, selbstbestimmt, autonom. Die Antwort der heute herrschenden Kräfte, in der Ukraine und bei ihren Unterstützern, ist aber auch klar erkennbar: Sie wollen dieses Aufbegehren niederschlagen.


Jefim Berschin: Ja, anfangs gab es diese Gedanken. Aber dann hat man das alles in Richtung des Nazismus gedreht.


Kai Ehlers: So ist es Jefim. Was werden wir tun?


Jefim Berschin: In der gegebenen Situation kann ich nichts mehr vorschlagen. Der Krieg findet schon statt. Man kann nur versuchen, den Menschen irgendwie zu erklären: Gut wird es nur, wenn der Krieg aufhört. Sofort. Schnellstens. Wenn er sich auswächst zu einem allgemeinen europäischen Krieg, dann wird es furchtbar. Das wird es eine totale Katastrophe.


Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de



Fußnoten:

[1] Alexander Dugin, Geopolitiker mit weitreichendem Einfluss in nationalistischen Kreisen. Hier im Westen zurzeit als Idol eurokritischer Rechter im Gespräch.

[2] Stepan Banderea, ukrainischer Nationalist. Die Einordnung von Banderas Wirken und seiner Person ist in der heutigen Ukraine sehr umstritten. Während er vor allem im Westen des Landes von vielen Ukrainern als Nationalheld verehrt wird, gilt er in der Ostukraine, aber auch in Polen, Russland und Israel überwiegend als Nazi-Kollaborateur und Verbrecher. (nach Wiki)

[3] Roamn Schuchewytsch, Offizier der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA). Ebenfalls heute sehr umstrittene Figur. Im Jahre 2007 wurde ihm vom damals amtierenden Präsidenten Wiktor Juschtschenko posthum der Orden „Held der Ukraine“ verliehen. Diese Auszeichnung wurde ihm am 21. April 2010 von einem Gericht in Donezk als unrechtmäßig wieder aberkannt. (nach Wiki)

[4] Jegor Gaidar, erster Premierminister unter Boris Jelzin. Er leitete die Schicktherapie der Privatisierung ein.

[5] Anatoly Tschubajs, nationaler Privatisierungsbeauftragter unter Gaidar


► Bild- und Grafikquellen:

1. Kai Ehlers (links) und Jefim Berschin (rechts) im Gespräch.

2. Russische Flagge als Karte. Autor: Aivazovsky. Quelle: Wikimedia Commons. Der Urheberrechtsinhaber dieses Werkes veröffentlicht es als gemeinfrei. Dies gilt weltweit.

3. Buchcover "Russland – Herzschlag einer Weltmacht. Russlands Rolle in der Kulturkrise". ISBN: 978-3-85636-213-3. Bei Interesse können Sie das Buch gleich beim Autor selbst bestellen. (Kontakt über meine Webseite)

4. Wladimir Putin während der Jahrespressekonferenz in Moskau, 18. Dez. 2014. Foto: the Presidential Press and Information Office > http://eng.news.kremlin.ru/

5. Arsenij Petrowytsch Jazenjuk (* 22. Mai 1974 in Czernowitz, Ukraine) ist seit dem 27. Februar 2014 Ministerpräsident der Ukraine. Von Dezember 2007 bis September 2008 war er Präsident des ukrainischen Parlaments (Werchowna Rada) und zuvor Außenminister seines Landes. Jazenjuk gehörte zunächst der Partei Allukrainische Vereinigung „Vaterland“ an, und ist seit dem 10. September 2014 Vorsitzender der von ihm mitgegründeten Partei Volksfront. Bei den vorgezogene Neuwahlen wurde er erwartungsgemäß wiedergewählt. Foto: Bundesministerium für Europa, Integration und Äusseres. Quelle: Flickr / Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 2.0 generisch“ (US-amerikanisch) lizenziert.

6. Stepan Andrijowytsch Bandera (* 1. Januar 1909 in Staryj Uhryniw bei Kalusch in Galizien, Österreich-Ungarn (heute Ukraine); † 15. Oktober 1959 in München, Deutschland) war ein prominenter ukrainischer nationalistischer Politiker und Partisan.

Die Einordnung von Banderas Wirken und seiner Person ist in der heutigen Ukraine sehr umstritten. Während er vor allem im Westen des Landes von vielen Ukrainern als Nationalheld verehrt wird, gilt er in der Ostukraine, aber auch in Polen, Russland und Israel überwiegend als Nazi-Kollaborateur und Verbrecher.

Im Jahre 1934 wurde Bandera in Polen zum Tode verurteilt, weil man ihm eine Beteiligung an der Ermordung des polnischen Innenministers Bronisław Pieracki vorwarf. Diese Strafe wurde jedoch in lebenslange Haft umgewandelt. Im September 1939 kam er wieder frei, die Gründe für seine Freilassung sind nicht genau bekannt. Den von Bandera geführten OUN-Verbänden wurde von Seiten der sowjetischen, russischen und polnischen Regierung sowie zahlreichen internationalen Historikern vorgeworfen, am 30. Juni 1941 und noch vor Einmarsch der regulären deutschen Truppen ein Massaker in der Stadt Lemberg angerichtet zu haben. Hierbei seien rund 7000 Menschen, überwiegend Kommunisten und Juden, ermordet worden.

Das Bild zeigt die von Vasil Vasilenko designte Ukrainische Briefmarke zum 100. Geburtstag (2009) Banderas. Quelle: Wikimedia Commons. According to the Article 10 of the Law of Ukraine on Copyright and Related rights this work is in the public domain

7. Datschen sind Grundstücke mit einem Garten- oder Wochenendhaus, das der Freizeit und der Erholung dient und Hobbygärtnerei ermöglicht. Bis in die 1990er-Jahre war der Zuschnitt der Datschen einheitlich geregelt und betrug 600 m² Land, das mit einem Sommerbungalow bebaut werden durfte. Die Nutzungsformen der Datscha sind im heutigen Russland vielfältiger geworden. Festere Konstruktionen ersetzen oft die Leichtbauweise, so dass die Datscha nicht nur im Sommer und bei schönem Wetter genutzt werden kann. Manche Datschen werden ganzjährig bewohnt. Foto: Figure19. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.

8. Buchcover "Ukraine im Visier. Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen." ISBN 978-3-9816963-0-1 von Ronald Thoden & Sabine Schiffer (Hg.), erschienen im Selbrund Verlag! Die Ukraine ist nur wenigen als geostrategisch zentraler Ort bekannt. Die Berichterstattung verrät auch wenig darüber. Die politischen Entscheidungen zeugen jedoch von einer gewissen Nervosität, wenn es um die Integration der Ukraine in Westbündnisse wie die EU oder NATO geht oder um die in die Eurasische Wirtschaftsunion im Osten.

Das Zerren um die Ukraine hat inzwischen zu einem Bürgerkrieg geführt. Die darüber hinausgehende Kriegsrhetorik von Politik und Medien macht vielen Menschen Angst. Russland und Wladimir Putin scheinen sich zu einer imperialen Macht zu entwickeln, die von Westen her eingedämmt werden muss. Oder ist es doch andersherum? Nennen unsere Medien alle interessengeleiteten Akteure oder nur die einer Seite? Wo nahm die Krise ihren Ausgang?

Die Analysen in diesem Buch geben Auskunft über die geopolitische Bedeutung der Ukraine, Strategiepapiere, die in den meisten Medien wenig Beachtung finden, Entwicklungen im Land und leuchten auch den globalen Hintergrund der aktuellen Eskalationen aus. Bei Interesse können Sie das Buch gleich beim Autor dieses Artikels bestellen.

9. Buchcover "„Die Eroberung Europas durch die USA“ von Wolfgang Bittner, erschienen bei VAT Verlag André Thiele, Mainz - ISBN 978-3-95518-029-4 - weiter

10. Buchcover "Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen", Herausgeber: Peter Strutynski, ISBN-13: 978-3-89438-444-9, PapyRossa-Verlag, Köln - zur Buchvorstellung

11. Buchcover "Kartoffeln haben wir immer. Überleben in Russland zwischen Supermarkt und Datscha", Verlag Horlemann, Bad Honnef, 2010, ISBN: 978-3-89502-293-7

Was haben Kartoffeln mit der globalen Krise zu tun? Und was hat diese Frage damit zu tun, ob etwas von Russland zu lernen ist? Sind die Russen dem allgemeinen Wachstumswahn nicht noch mehr verfallen als die übrige Welt?

Russlands Politiker versuchen ihr Land mit Macht in einen Supermarkt und den genügsamen Selbstversorger der Sowjetzeit in einen Konsumenten zu verwandeln, der Russland zum Eldorado internationaler Investoren machen soll. Aber was ist mit der Bevölkerung? Ist sie bereit, sich auf eine Masse von Konsumenten ausrichten zu lassen? Teils ja, scheint es, dann aber auch wieder nein. Unter dem Druck der Krise erlebt die traditionelle Kultur der familiären Zusatzversorgung , kurz Datscha, als Überlebensmodell landesweit ihre Erneuerung. Nur ein Strohfeuer? Das sich legen wird, wenn die Krise vorbei ist?

Das Buch von Kai Ehlers zeigt, dass es hier um längerfristige Perspektiven geht, dass die Zukunft Russlands nicht im Entweder-Oder, nicht in Supermarkt oder Datscha, sondern in Supermarkt und Datscha liegen könnte und dass solche Perspektiven nicht nur für Russland Bedeutung haben. In Russland treten sie im Zusammenprall von einer Jahrhunderte langen Tradition der Selbstversorgung und der militanten Modernisierung der letzten Jahrzehnte nur besonders krass hervor.

Das Buch von Kai Ehlers arbeitet sich nicht an der nochmaligen Vorführung des russischen Tandems Medwedew/Putin ab. Nicht die Große Politik , sondern die Bewältigung der sozialen Folgen der Krise durch die Bevölkerung steht im Zentrum. Das Buch führt den Leser mitten ins soziale Geschehen Russlands. Ehlers verdeutlicht die sich hieraus ergebenden Möglichkeiten für eine Bewältigung der globalen Krisen sowie mögliche generelle Alternativen. Das Buch enthält Analysen, zahlreiche Gespräche und Untersuchungen vor Ort zur Entwicklung des Sozialen in Russland und Ausblicke auf eine Ökonomie des Bedarfs. Eine vergleichbare Arbeit ist auf dem deutschen Buchmarkt zurzeit nicht erhältlich.