Ukraine und Griechenland als aktueller Prüfstein der Rolle Europas

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Kai Ehlers
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Ukraine und Griechenland als aktueller Prüfstein der Rolle Europas
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Ukraine u. Griechenland als aktueller Prüfstein der Rolle Europas

. . . im Spannungsfeld zwischen USA und Russland – die andere Sicht.

Zwei Botschaften der deutschen Kanzlerin begleiten zurzeit die Politik der Europäischen Union in Bezug auf Griechenland und die Ukraine. Die eine lautet: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Die andere verspricht: In der Ukraine werden die europäischen Werte verteidigt. Frieden, Freiheit und Wohlstand seien alles andere als selbstverständlich, setzte die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung zum Jahreswechsel 2014/2015 hinzu. „Stets aufs Neue müssen wir für sie eintreten“, erklärte sie. „Wir müssen unsere Werte schützen und verteidigen.“ Europa müsse zu neuer und vor allem auch wirtschaftlicher Stärke geführt werden, das bleibe die große Herausforderung der kommenden Monate und Jahre.[1]

Wer tiefer gräbt, stößt auf genauere Beschreibungen der Werte, die die deutsche Kanzlerin schützen, verteidigen und erweitern möchte. So auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos am 24. Januar 2013, wo sie in einer eindringlichen Rede unter Stichworten wie „Wirtschaftswachstum“, „Stabilitätsunion“, „Strukturreform für mehr Wettbewerbsfähigkeit“ einen „Pakt für mehr Wettbewerbsfähigkeit“  in der Europäischen Union vorschlug. In dem Pakt sollen, so die Kanzlerin, „[. .] die Nationalstaaten Abkommen und Verträge mit der EU-Kommission schließen, wo sie sich jeweils sozusagen verpflichten, Elemente der Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, die  noch nicht dem notwendigen Stand der Wettbewerbsfähigkeit in diesen Ländern entsprechen.“

Dabei werde es, so die Kanzlerin weiter, „[. .] oft um Dinge wie Lohnzusatzkosten, Lohnstückkosten, Forschungsausgaben, Infrastrukturen, die Effizienz der Verwaltungen gehen – also um Dinge, die in nationaler Hoheit der Mitgliedstaaten  der Europäischen Union liegen. Das heißt also, die nationalen Parlamente müssten solche Verträge mit legitimieren. Diese Verträge müssen dann verbindlich sein, sodass wir feststellen können, inwieweit sich im Euroraum die Wettbewerbsfähigkeit verbessert.“ Auch gehe es darum „[. .] die Mobilität der Arbeitskräfte im Binnenmarkt der Europäischen Union zu verbessern.“

„Insgesamt“, schließt die Kanzlerin, „ist das Thema der Wettbewerbsfähigkeit ein zentrales Thema für den Wohlstand Europas in der Zukunft… Um diese Frage ging es in den vergangenen Jahren und wird es auch in den kommenden Jahren gehen.“


Rede von Angela Merkel in Davos am 24.1.2013


 

Wachstumsstrategie „Europa 2020"

Wer es noch etwas genauer wissen möchte, schaut zurück auf das EU-Programm Europa 2020 – die  Wachstumsstrategie der EU“, das 2010 – laut Eigendarstellung seiner Initiatoren – „von den fünf Präsidenten“ entwickelt wurde. Genannt werden: die Präsidenten der EU-Kommission, des Europäischen Rats, der Euro-Gruppe, der Europäischen Zentralbank (EZB) und des EU-Parlaments (EP).

Leitender Gedanke dieses Programms ist die Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit. Entwickelt werden sollen fünf Kernbereiche: Beschäftigung, Innovation, Klima und Energie, Bildung und soziale Integration – alles expressis verbis unter dem Primat des Wachstums und der Wettbewerbsfähigkeit. Darüber soll zentral Bericht geführt werden. „Dreh- und Angelpunkt für die Wettbewerbsfähigkeit“, so ungetrübt durch politische Schnörkel nachzulesen in einschlägigen Kommentaren zum Programm „Europa 2020“, „sind die nationalen Lohnstückkosten.“[⇒ Wirtschaftsdienst, 2010, Heft 4]

Dass diese wettbewerbsfähig sind, habe bisher jedes Land über geeignete wirtschaftspolitische Entscheidungen und Mechanismen der Lohnfindung selbst sicherzustellen. Aber „könnte es nicht sein“, so fragen die Kommentatoren unverblümt, “dass die vorgesehene Berichterstattung  [„feststellen“ bei Angela Merkel – ke.] sich nicht nur auf das Monitoring der ‚Kernziele‘ beschränken, sondern sich auch auf die Lohnfindung erstrecken würde, und dass sich dann Empfehlungen durchsetzen, die folgendermaßen lauten: Länder mit niedriger Wettbewerbsfähigkeit sollten zwar Lohnrückhaltung üben, solche mit hoher Wettbewerbsfähigkeit  hingegen eine expansive Lohnpolitik verfolgen?“

Das alles klingt für viele Menschen möglicherweise progressiv, vernünftig und in manchen Ohren vielleicht sogar gerecht in Bezug auf die unterschiedlichen Niveaus der heutigen europäischen Mitgliedstaaten. Angesichts der Teilnahme des Präsidenten des Europäischen Parlamentes an der Entwicklung des Programmes „Europa 2020“ sowie angesichts der Zustimmung, die Angela Merkel für ihre Aufrufe zur Umsetzung des Konzepts in Davos 2013 erhielt, Kritik blieb jedenfalls aus, erscheint es manchem vielleicht sogar demokratisch. Faktisch läuft „Europa 2020“ jedoch auf ein sozio-ökonomisches Stufenmodell und dieses auf eine systematische Peripherisierung der weniger entwickelten Mitglieder der Europäischen Union, auf eine geographisch verdeckte Form neuerlicher Klassenteilungen unter Führung der „wettbewerbsfähigsten“ Länder hinaus.


Bruchstellen in und außerhalb der EU

Am Konflikt um Griechenland bricht diese Struktur, die sich in den letzten Jahren unübersehbar bei Neumitgliedern der Union wie Bulgarien, Rumänien und anderen herausgebildet hat, jetzt erstmals offen innerhalb und am Konflikt um die Ukraine exemplarisch und ebenso offen auch in den „assoziierten“ Außenbeziehungen der EU auf.

Von Griechenland wird verlangt, sich den Diktaten der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU zu beugen. Von der Ukraine wird das Gleiche vor den Grenzen, im osteuropäischen Glacis der EU verlangt. Das Grundprogramm ist in beiden Fällen das Gleiche:

  • radikale Absenkung des Lebensniveaus der abhängig arbeitenden Bevölkerung,
  • Lohndumping,
  • Rentenkürzung,
  • Kürzungen der Sozialetats usw. zugunsten dessen, was in der Spitze der EU „Wachstum“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ genannt wird.  

Dass „Wachstum“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ im Kern Wachstum des Profits für eine Minderheit und Nicht-Erhöhung des Lebensniveaus für die gesamte Gesellschaft bedeuten, muss hier nicht lange bewiesen werden – es liegt durch die Ergebnisse der Entwicklung in Griechenland, ebenso wie in der Ukraine auf der Hand. Es wird ja sogar von den Vertretern dieser Politik nicht geleugnet – aber eben als „alternativlos“ hingestellt.
 

 

Und dass diese Entwicklung nicht in Griechenland halt macht, sondern die Tendenz hat, von den Rändern her die ganze Union zu erfassen, ist ebenfalls klar, genauso, wie der Absturz der Ukraine in eine prekäre Abhängigkeit von den Zentren der EU schon jetzt nicht auf die Ukraine beschränkt ist. Revolten innerhalb der EU wie in ihrem assoziierten Einflussbereich, abenteuerliche Alleingänge und Abspaltungen nationaler Interessen sind absehbar, wenn die weitere Verfestigung hegemonialer Strukturen in der EU sich fortsetzt.

So gesehen, ist der Kanzlerin durchaus zuzustimmen, dass, wenn der Euro scheitere, auch Europa scheitern werde und wenn sie mahnt, in der Ukraine, würden europäische Werte verteidigt, genauer, um den Feinheiten ihrer Diplomatie gerecht zu werden, sie müssten dort verteidigt werden. Es ist nur genauer hinzuschauen, welches Europa scheitern könnte und verteidigt werden soll:

  • Ist es der Kulturraum Europa?
  • Ist es die Europäische Union?
  • Ist es der Euroraum?
  • Oder ist es nur der Vorrang des Wettbewerbs vor der Kooperation?
  • Am Ende gar nur die Vormachtstellung Deutschlands im Kampf um Wettbewerb?
  • Und wer, fragt man sich schließlich noch, sind die Nutznießer dieser Vormachtstellung in Deutschland selbst?

Die Antworten auf diese Fragen sind nicht einfach, aber klar: Es sind nicht die kulturellen Werte Europas, die scheitern. Es ist auch nicht die Europäische Union kooperativ miteinander verbundener Staaten, nicht die Idee eine Föderation Europa, die scheitern könnte.

Was offensichtlich scheitert, zumindest hart in die Krise kommt, ist die Perspektive eines europäischen Stufenmodells, an dessen Spitze eine ökonomisch aufrüstende Vormacht Deutschland steht, erweitert um Frankreich und eine begrenze Anzahl von Mittelmächten, umgeben von einem abgestuften Feld der ökonomischen und politischen Abhängigkeiten. Dieses Modell ist nicht überlebensfähig!
 

 

Was sich am Horizont dagegen abzeichnet, ist ein Europa, dessen Bedeutung für die Zukunft nicht „vorrangig“, wie Kanzlerin Merkel meint, in seiner Rolle als zentralistisch geführte Wettbewerbsgemeinschaft, sondern als kommunal, regional und föderal gegliederter Kulturraum liegt. Das wäre auch die Botschaft, die Europa in die heute aktuellen Fragen einer anderen als der bisherigen Staaten- und Weltordnung einzubringen hätte, statt die Konkurrenz ihrerseits zu verschärfen und daran zu zerbrechen. Das wäre die Botschaft, die in eine Kiewer Neuordnung zu tragen wäre. Das wäre die Lehre, die aus dem griechischen Ringen um Selbstständigkeit zu ziehen wäre – ein Europa, das eine kommunale, regionale und föderale Kooperation als Zukunftsidee in die Welt trägt.

Dass dieser Gedanke eine Utopie beschreibt, ist klar. Aber wie, bitte, sähe die Welt morgen ohne eine solche Utopie aus?

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de 


[1] Zitiert nach: Die Bundesregierung, offizielle Website vom 18.12.2014

Bild- und Grafikquellen:

1. Schlechtester Film aller Zeiten: EU - Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de.

2. "Der Arbeitsmarkt in Deutschland steht gut dar. Bei der ARGE, den Tafeln und den Suppenküchen." Grafikbearbeitung: Jan Müller / Borgdrone.de. Dieses Werk von borgdrone ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

3. "Banken in die Schranken". "Es geht nicht um Banken, es geht um Menschen. Alternativlos." Foto: Jakob Huber / Campact. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0)

4. Texttafel "Hände weg von der Ukraine". Grafik: Wolfgang Blaschka (WOB), München.

5. Anti-Austerity Protest - Widerstand gegen die Austeritätspolitik. Diese steht für eine überaus drastische Sparpolitik des Staates. Die strenge Reduktion auf das Notwendige im Bereich öffentlicher aber auch privater Haushalte soll einen schlanken und ausgeglichenen Staatshaushalt herbeiführen und die gesamtwirtschaftliche Situation verbessern. Eine Austeritätspolitik wird insbes. in finanziellen Krisenzeiten angestrebt. Tot-Sparen am falschen Ende, die deutliche Mehrheit der Menschen bleiben auf der Strecke und verarmen. Foto: William Murphy. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0)

6. Autor: Kai Ehlers, Titel: "Kartoffeln haben wir immer. Überleben in Russland zwischen Supermarkt und Datscha", Verlag Horlemann, Bad Honnef, 2010, ISBN: 978-3-89502-293-7

Was haben Kartoffeln mit der globalen Krise zu tun? Und was hat diese Frage damit zu tun, ob etwas von Russland zu lernen ist? Sind die Russen dem allgemeinen Wachstumswahn nicht noch mehr verfallen als die übrige Welt?

Russlands Politiker versuchen ihr Land mit Macht in einen Supermarkt und den genügsamen Selbstversorger der Sowjetzeit in einen Konsumenten zu verwandeln, der Russland zum Eldorado internationaler Investoren machen soll. Aber was ist mit der Bevölkerung? Ist sie bereit, sich auf eine Masse von Konsumenten ausrichten zu lassen? Teils ja, scheint es, dann aber auch wieder nein. Unter dem Druck der Krise erlebt die traditionelle Kultur der familiären Zusatzversorgung, kurz Datscha, als Überlebensmodell landesweit ihre Erneuerung. Nur ein Strohfeuer? Das sich legen wird, wenn die Krise vorbei ist?

Das Buch von Kai Ehlers zeigt, dass es hier um längerfristige Perspektiven geht, dass die Zukunft Russlands nicht im Entweder-Oder, nicht in Supermarkt oder Datscha, sondern in Supermarkt und Datscha liegen könnte und dass solche Perspektiven nicht nur für Russland Bedeutung haben. In Russland treten sie im Zusammenprall von einer Jahrhunderte langen Tradition der Selbstversorgung und der militanten Modernisierung der letzten Jahrzehnte nur besonders krass hervor.

Das Buch von Kai Ehlers arbeitet sich nicht an der nochmaligen Vorführung des russischen Tandems Medwedew/Putin ab. Nicht die Große Politik, sondern die Bewältigung der sozialen Folgen der Krise durch die Bevölkerung steht im Zentrum. Das Buch führt den Leser mitten ins soziale Geschehen Russlands. Ehlers verdeutlicht die sich hieraus ergebenden Möglichkeiten für eine Bewältigung der globalen Krisen sowie mögliche generelle Alternativen. Das Buch enthält Analysen, zahlreiche Gespräche und Untersuchungen vor Ort zur Entwicklung des Sozialen in Russland und Ausblicke auf eine Ökonomie des Bedarfs. Eine vergleichbare Arbeit ist auf dem deutschen Buchmarkt zurzeit nicht erhältlich.

Das Buch kann auch direkt über den Autor Kai Ehlers bestellt werden - weiter