Sehr geehrter Herr Bosbach:
Wir erklären, warum Vorratsdatenspeicherung sehr wohl etwas mit Überwachung zu tun hat
Von Andre Meister / Netzpolitik.org
Wolfgang Bosbach rechtfertigt die Vorratsdatenspeicherung mit falschen Behauptungen. In einem Interview stellt er gleich mehrere Thesen auf, die wir an dieser Stelle korrigieren. Vorratsdaten sind nicht nur schwere Straftaten, können nicht nur mit Richterbeschluss abgefragt werden, sind schon missbraucht worden und führen nicht zur besseren Aufklärung.
Wolfgang Bosbach. Bild: Superbass. Lizenz: Creative Commons CC-BY-SA 3.0.
Langsam können wir “Vorratsdatenspeicherung erklären” als Service einführen. Nach dem Kompetenzteam der SPD nehmen wir uns heute Wolfgang Bosbach vor. Der CDU-Abgeordnete und Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestages durfte heute morgen dem Deutschlandfunk etwas zur größten Überwachungsmaschinerie der Menschheitsgeschichte und dem Totalversagen der Bundesregierung sagen. Dabei rechtfertigte er auch die Vorratsdatenspeicherung:
Es geht darum, dass die Verbindungsdaten dort bleiben, wo sie anfallen, nämlich bei den Providern und nur zur Abwehr oder Aufklärung von schweren Straftaten und nur dann, wenn ein Richter zuvor den Zugriff erlaubt hat, dürfen diese Daten von den Sicherheitsbehörden des Staates zur Abwehr und Aufklärung von Straftaten genutzt werden. Wir hatten ja einmal Vorratsdatenspeicherung, und ein Fall des Missbrauches ist überhaupt nicht bekannt geworden. Wer das nicht will, muss den Menschen die Wahrheit sagen, und das bedeutet: Bleibt es bei der jetzigen Rechtslage, dass wir keine Mindestspeicherfristen haben, bleibt es auch dabei, dass wir jedes Jahr viele Straftaten nicht aufklären können, weil es als Ermittlungsansätze nur die Daten gibt, die aber längst gelöscht sind.
Da stecken gleich mehrere Behauptungen drin, die wir so nicht stehen lassen können.
► Nicht nur schwere Straftaten
Bosbach behauptet: Die Vorratsdaten sind “nur zur Abwehr oder Aufklärung von schweren Straftaten”.
Fakt ist: Das Gesetz von 2007 spricht nicht nur von Straftaten und deren Vorbereitung, sondern auch von Straftaten, die “mittels Telekommunikation begangen” werden. Also auch die Beleidungung am Telefon. Keinesfalls also nur von “schweren Straftaten”. Terrorismus findet sich in den Paragrafen schon gar nicht, obwohl damit die anlasslose Massenüberwachung eigentlich mal begründet wurde.
► Auch ohne Richterbeschluss
Bosbach behauptet: “[Nur] dann, wenn ein Richter zuvor den Zugriff erlaubt hat, dürfen diese Daten von den Sicherheitsbehörden des Staates zur Abwehr und Aufklärung von Straftaten genutzt werden.”
Fakt ist: Der Richterbeschluss ist die Standard-Ausrede der Befürworter. Der gilt für normale Polizeibehörden und Kriminalämter, die allerdings auch in anderen Staaten keinen unmittelbaren Zugriff auf die Datenberge von Geheimdiensten haben. Für Geheimdienste ist jedoch nicht immer ein Richterbeschluss notwendig. So regeln die Gesetze für Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und militärischen Abschirmdienst zwar Zugriffsbefugnisse auf alle möglichen Datenquellen. Das Wort “Richter” taucht jedoch nur ein einziges Mal auf, beim Abhören des “in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochene [Wortes]” – und kann auch dort nachgeholt werden.
Stattdessen gibt es definierte technische Standards und Schnittstellen zur Abfrage der Daten, ohne dass die Telekommunikationsanbieter das mitbekommen. Das Standardisierungs-Gremium ETSI bezeichnete Erich Möchel schon vor vier Jahren als “Tochterfirma der GCHQ” – das mit Tempora einmal den kompletten Internet-Verkehr mitschneidet.
Das Gesetz erlaubte übrigens auch gleich die Speicherung der Daten direkt in anderen EU-Staaten, damit auch in Großbritannien.
Es ist keine Verschwörungstheorie mehr, anzunehmen, dass Geheimdienste, auch deutsche, eine komplette Kopie der Vorratsdaten gezogen haben und das weiterhin tun. Im Sinne der versprochenen Transparenz über Überwachungspraktiken lasse ich mir gerne öffentlich nachprüfbar das Gegenteil beweisen.
► Missbrauchte Vorratsdaten
Bosbach behauptet: “[Ein] Fall des Missbrauches ist überhaupt nicht bekannt geworden.”
Fakt ist: Nicht nur einer, wir haben schon mindestens fünf belegte Fälle.
- In Polen hat die Militär-Staatsanwaltschaft versucht, mit den Vorratsdaten eines Redakteurs der Zeitung “Rzeczpospolita” einen Informanten zu finden.
- In Frankreich wurden die Verbindungsdaten eines Journalisten von Polizei und Inlandsnachrichtendienst ausspioniert, der über die Bettencourt-Affäre recherchierte.
- In Tschechien hat sich ein Polizist illegal Zugriff auf die Vorratsdaten mehrerer Personen verschafft, darunter auch von engsten Mitarbeitern des Präsidenten Klaus sowie vom Vorsitzenden des Verfassungsgerichtshofs.
- In Irland hat eine Polizistin die Vorratsdaten ihres Ex-Freundes ausgespäht. Sie wurde nie verurteilt und durfte ihren Job behalten.
- In den Niederlanden hat ein IT-Journalist auf Unsicherheiten von E-Mail-Accounts des Verteidigungsministeriums hingewiesen und wurde daraufhin angezeigt. In den Akten tauchten nicht nur seine Vorratsdaten auf, sondern auch alle Vorratsdaten seiner Freunde mit dem selben Vornamen.
Und das sind nur einige belegte Fälle der Vorratsdatenspeicherung. Immer wieder werden die Daten von Telekommunikationsanbietern zweckentfremdet, mal um den griechischen Premierminister zu überwachen, mal um eigene Mitarbeiter zu überwachen.
Mittlerweile haben wir ja schriftlich, dass nicht nur chinesische, sondern auch westliche Geheimdienste Netzwerke hacken und riesige Datenmengen klauen. Die Vorratsdaten sind dafür lohnenswerte Ziele.
► Keine bessere Aufklärungsquote
Bosbach behauptet: Ohne Vorratsdatenspeicherung “[können] wir jedes Jahr viele Straftaten nicht aufklären.”
Fakt ist: Mit Vorratsdatenspeicherung werden nicht mehr Straftaten aufgeklärt als ohne. Das lässt sich mit den offiziellen Zahlen der Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts belegen, was wir hier für die Zahlen von 2009 und 2011 verbloggt haben. Nicht nur das: Straftaten mit dem “Tatmittel Internet” werden häufiger aufgeklärt als im Gesamtdurchschnitt:
Fazit: Vier Thesen, vier mal falsch. Stattdessen hat die Vorratsdatenspeicherung nicht nur wenig Vorteile, sondern auch jede Menge Nachteile, die auch das Bundesverfassungsgericht benennt:
Besonderes Gewicht bekommt die Speicherung der Telekommunikationsdaten weiterhin dadurch, dass sie selbst und die vorgesehene Verwendung der gespeicherten Daten von den Betroffenen unmittelbar nicht bemerkt werden, zugleich aber Verbindungen erfassen, die unter Vertraulichkeitserwartungen aufgenommen werden. Hierdurch ist die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten geeignet, ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann.
Bosbachs Aussagen könnten als lustig durchgehen. Wenn er als Vorsitzender des Innenausschusses nicht verantwortlich für die Themen Sicherheit und Grundrechte wäre. So muss er sich in die Reihe konservativer Politiker einreihen, die Sascha Lobo drüben bei SpOn treffend bewertet.
► Quelle: Netzpolitik.org > Artikel
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Nachtrag:
In ihrer heutigen Ausgabe bringt die TAZ ein Interview mit der Überschrift „Sie sind besessen“ mit dem Whistleblower Thomas Drake, der 18 Jahre lang für die NSA gearbeitet hat und offensichtlich genau weiß, wenn er von der NSA behauptet, sie sei besessen und die nationale Sicherheit werde in den USA wie eine „Staatsreligion“ gehandelt. Da sind wir ja in der BRD auf dem besten Weg, unserem Vorbild nachzueifern.
Drake bezeichnet die Methoden der DDR-Stasi als "sanft" im Vergleich zur NSA. Die NSA hat nach dem Kalten Krieg und dem Zusammenbrechen des Ostblocks ihren Erbfeind verloren und hat sich nach 9/11 mit dem Terrorismus, oder dem, wie er von der NSA definiert wird, ein neues Feindbild geschaffen. Da hat sich mittlerweile wohl eine Wahnvorstellung eingenistet - eine pathologische Vorstelt der Welt, in der alle Menschen, zumindest die durch Aussehen, Herkunft und Meinung nicht der amerikanischen Norm entsprechen, potenzielle Attentäter und Terroristen sind.
Sicherheit durch Solidarität und Basisarbeit oder doch Boykott?
Die Diskussion ist schon haarig genug. Dazu kommen die medialen Verharmlosungs- und Weichspülversuche. Dann noch so tolle Äußerungen von unserem Bundesgauckler, wonach es doch nur um „puren Verrat“ geht. Nur seine außerdienstlicher US-Altkollege Jimmy Carter findet, dass Snowden der Demokratie einen unschätzbaren Dienst erwiesen hat. Er schwimmt damit zwar nicht auf der Welle seines Nachfolgers Obama, der ja ganz offensichtlich die Einstellung von gauck teilt, aber gefühlt möchte man doch eher Jimmy Carter zustimmen.
Und wie immer im richtigen Leben, müssen es wohl die Bürger selber in die Hand nehmen. Das System mit den eigenen Mitteln bekämpfen. Daher hier einmal ein typischer Maßnahmenplan, nicht ganz frei von Zynismus, aber immerhin überlegenswert:
➤ Wir schicken grundsätzlich alle unsere wichtigen privaten Mails stets cc gleich an wenigstens 50 Geheimdienste, verbunden mit der Bitte diese aufzubewahren, falls mal unser Rechner, oder des des Providers abstürzt.
➤ Besonders unwichtige Inhalte, unter Freunden und bekannten, verschlüsseln wir mit einem 2048 Bit Schlüssel, beispielsweise PGP. Diese Mails sollten auch umfangreich sein, Bilder enthalten und pro Stück knapp 10 MB groß sein. Hier dürfte der richtige Reflex der Schnüffler anspringen, gepaart mit der Aufbewahrungswut, sodass diese Maßnahme, würde sie von Millionen von Menschen gemacht, auch die Zetabyte Speicherplatz der NSA und verwandter Dienste alsbald an die Grenzen bringen könnte.
➤ Und zum Schluss brauchen wir noch Freeware-Tools, die in regelmäßigen Abständen, wiederholend, einen ausgewählten Mailordner mit Spaminhalten vom eigenen Rechner an alle verfügbaren Geheimdienste sendet … immer mit der Bitte verbunden, doch mal die Spam-Quellen ausfindig zu machen und abzuschalten … für mehr Sicherheit. Mit dem Versprechen, wenn es die Spam-Quellen nicht mehr gibt, auch die freundliche Weiterleitung an die Geheimdienste zu unterlassen. Bis dahin sollte aber das öffentlich Interesse zur Ermittlung der Spam-Quellen überwiegen, statt den Bürgern nachzuspionieren.
Alles in allem sorgen solche Maßnahmen dann für Vollbeschäftigung im Schnüffelsektor, teilweise ergäben sich produktive Aufgaben daraus und wenn der ein oder andere Mitarbeiter dieser Dienste mal ans Nachdenken käme, so wie Snowden, dann wäre ja auch schon eine Menge gewonnen.
Bestimmt ließe sich die Liste der möglichen Maßnahmen noch verlängern, allein um diese Herrschaften wieder auf den rechten Pfad der Tugend zu führen, wenigstens aber ihnen damit zu signalisieren, dass ihre Schnüffelei nicht erwünscht ist.
Dann müssen wir noch einmal bedenken, so traurig es auch ist, es sind Menschen wie Du und ich … die sich wie zu Adolfs Zeiten … vor einen Karren spannen lassen, ohne zu fragen wohin es geht, der sie am Ende auch selbst mal ins Grab befördern kann. Solange sie nur um ihr eigenes kleines Lichtlein und ihre Versorgung fürchten, werden sie willfährig weiter mitmachen, abends nachhause gehen und ihre vermeintlich heile Welt feiern.
Gemerkt? Die Sache geht viel tiefer und die Geschichte ist noch lange nicht am Ende. Aber die Konzernmedien, gerne zu vergleichen mit „Amnesie International“, hilft uns bestimmt im Sinne des Systems, alsbald Gras darüber wuchern zu lassen, damit wir die Fortsetzung des Drecks nicht mehr wahrnehmen müssen und völlig unbeschwert unser Leben im Dschungelcamp oder im Container genießen können. Mit allen Freiheiten die es dort vor laufender Kamera und auf den Sofas zuhause gibt.