Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben (RAOUL VANEIGEM)

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Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben (RAOUL VANEIGEM)
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Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben

Die Situationisten und die Veränderung der Haltungen


Autor:  Raoul Vaneigem - Übersetzung aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Andrea Stephani

Verlag:  Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg (August 2011) – zur Verlagsseite

ISBN-13:  978-3-89401-746-0

Deutsche Erstausgabe, Broschur, 192 Seiten, 19,90 EUR


Raoul Vaneigem hat ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Zerstörung der Individualität verfasst. Er tritt vehement für die Kostenlosigkeit und das individuelle Erleben ein, kritisiert die tyrannische Macht der Lohnarbeit und die Gier der Raubökonomie. Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben ist auch eine Art Autobiografie. Vaneigem schildert seine Kindheit in Belgien, im proletarischen Milieu seiner Eltern, und die fünfziger und sechziger Jahre, die in die großen Umwälzungen der gesamten Lebensweisen mündeten. Neue Schriften wie "Der kommende Aufstand" des Unsichtbaren Komitees sind von Vaneigems Schriften deutlich beeinflusst, in der Radikalität der Kritik wie in den literarischen und geschichtlichen Bezügen. Es ist ein präziser wie auch schillernder Stil, voller Anspielungen und Entwendungen.


Pressestimmen:


»Das jüngste Werk des inzwischen 77-jährigen ›Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben‹ wurde 2007 geschrieben, also noch vor Beginn der internationalen Finanzkrise; und nun scheint es mit seinen Bannflüchen wider die Macht der Märkte, die ›Enthirnungsmaschine des Profits‹, den Nihilismus des sich selbst verzehrenden Geldes von geradezu prophetischer Aktualität. (...) Es gibt – jedenfalls in unserem Kulturkreis – kein politisches Pamphlet, das sprachlich so viel zu bieten hätte wie eins von Raoul Vaneigem.«
Katharina Döbler, dradio.de

»›Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben‹ ist nicht bloß ein Zeitzeugenbericht, sondern Gedanken, die für eine Wiederaufnahme des Zusammenhangs zwischen Utopie und Handeln grundlegend sind.«
Yan Ciret, nonfiction.fr



Leseprobe:  »Fangt an, auf das zu hören, was aus einer anderen Welt kommt, aus eurer!«

Schneller, schneller! Der Markt täuscht sich nicht. Zur Stunde, da die Ökonomie zerfällt und die Erde verwüstet, da die Geldblase zu platzen droht, verkauft er hastig seine letzten konsumierbaren Freuden und gibt Rabatt auf die tiefgekühlten Glückseligkeiten, deren Verfallsdatum überschritten ist. Keine Epoche hat Verzweiflung und Ressentiment derart verharmlost. Keine hat den Lebensgewohnheiten so viel Bitterkeit und den Herzen so viel Gift eingeflößt.

In unseren existenziellen Ungewissheiten beschreiben Todestrieb und Lebensinstinkt eine Demarkationslinie, ähnlich dem Niemandsland zwischen verfeindeten Ländern. Es ist eine Zone unbestimmter Offenheit. Dort entscheidet sich in erster und letzter Instanz der Konflikt, in dem jeder das, was ihn tötet, von dem unterscheidet, was ihn stärkt. Du willst für das Menschliche und seine Freiheiten eintreten? Dann finde zunächst deinen Schwerpunkt, denn auf dem Drahtseil, das über unsere Abgründe gespannt ist, ist die dünne Balancierstange des Lebenswillens unsere einzige Sicherheit.


Leseprobe:  I. Vom Winter geblendet, irren wir durch einen Frühling der Welt, der uns fremd bleibt

Die folgenden Überlegungen sind auf die Bemerkungen eines Freundes hin entstanden, für den ich ein Vorwort zur Neuauflage der Banalités de base (Basisbanalitäten) schrieb, die 1962 in der Zeitschrift Internationale Situationniste erschienen und vierzig Jahre später wiederaufgelegt worden sind.

Angesichts des Ausmaßes, in dem das Gemisch aus Verwirrung, Resignation, Willensschwäche, angeblicher Emanzipation, politischem Merkantilismus und Revolutionsbetrug zugenommen und die Diskrepanz zwischen dem Menschlichen und dem Humanismus, zwischen spontaner Großzügigkeit und rentabler Barbarei, zwischen gelebter Existenz und deren spektakulärer Inszenierung sich in ein paar Jahrzehnten verschärft hatte, wunderte er sich, dass unter dieser universellen Bewusstseinsverrottung jene Glut überdauert, die der Lebenstrieb, die Fülle des Lebendigen ist, die der Kleinmut vertuscht und allenfalls vorführt, um sie als Schimäre zu verhöhnen und die  Vergeblichkeit aller Hoffnungen zu demonstrieren.

Heute erinnert so manches an die Stimmung der sechziger Jahre, die ich damals folgendermaßen beschrieb: »Es gibt kaum einen Satz in den Basisbanalitäten, der nicht den ganz unterschiedlichen, aber vereinten Triebfedern eines selbstmörderischen Alkoholismus, einer maßlosen Leidenschaft für das Flüchtige und derWut entstammt, die herrschende Gesellschaft zu vernichten, in der mir ein apokalyptischer Tod kein zu hoher Preis für die Chance schien, auf einen Schlag alle Köpfe der Hydra abzuschlagen, die überall wütete, in den korrupten Demokratien ebenso wie in den Kommunismus genannten Tyranneien und dem infamsten Betrug, der angeblichen Emanzipation. Ich gehörte zu dem neuen Proletariat, das im Konsumüberfluss seine Ärmlichkeit entdeckte. Bis heute hat nichts die fast ein halbes Jahrhundert alte Feststellung widerlegt: ›Worunter wir leiden, ist das Gewicht der Dinge in der Leere. Und das ist Verdinglichung.‹«

Andererseits, da wird man mir zustimmen, hat trotz des überall verstärkten Leidens am Überleben die zwecklose Fülle nie aufgehört, sich bemerkbar zu machen. Das Feuer des Lebens glimmt in jedem, stets bereit, schwächer zu werden und zu verlöschen oder wieder aufzuflackern und zu einer jähen, unwiderstehlichen Flamme zu werden. Und so wollte ich in der gelebten Erfahrung einer chaotischen Vergangenheit jene Elemente finden, deren Genese und Entwicklung mir in der Gegenwart einen stabileren Halt geben sollen, um jene Umkehrung der Perspektive darauf zu gründen, die ich nie aufgehört habe herbeizuwünschen.

So glaube ich mein Leben vor jenen gängigen, als Selbstverwirklichung getarnten Kapitulationen zu bewahren, die der Raubinstinkt, der gesellschaftliche Erfolg, der Rückzug in die Mystik, die apokalyptische Exaltiertheit des Grand Soir, des Ragnarök oder der religiösen Präpotenz sind, die sich aus der Wut speisen, uns mitsamt der Welt, die alles auf den entscheidenden Tag des Todes gesetzt hat, zu zerstören.

Mehr denn je erscheint mir die Gewalt eines noch zu schaffenden Lebens als das einzige Mittel, die tödliche Gewalt zu beenden, die uns seit Jahrhunderten von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgezwungen wird. Aber wie stellt man es an, dass die Waagschale sich senkt, dass man mehr wiegt als das Gewicht derWelt? Wie ist das Dogma von der angeborenen Schwäche des Menschen zu durchbrechen, das unsere Vorurteile so erfolgreich verewigen?

Die gelebte Erfahrung, wenn sie sich nicht als exemplarisch ausgibt, sondern sich über ihre Irrwege befragt, um daraus die Skizze eines zu erfindenden Glücks abzuleiten, bleibt der Prüfstein für jeden Versuch, eine menschlichere Gesellschaft zu schaffen. Von jenen »bleichen, absinthgetränkten, wütenden und fröhlichen Morgenstunden« ausgehend, »in denen die Basisbanalitäten geschrieben wurden, als diktierte der Titel den Inhalt«, möchte ich, dem Faden meiner Irrwege folgend, meine Lehrzeit in der Umkehrung der Perspektive nachzeichnen. Dabei erliege ich, wie man sich denken kann, weder dem Reiz der Nostalgie noch der tumben Wiederbelebung von Erinnerungen. Die Gegenwart verlangt zu große Anstrengungen von mir, als dass es mir in den Sinn käme, sie in einer Vergangenheit aufzulösen, mit der ich nichts zu schaffen habe, außer mich von ihr zu befreien, um mich auf die Suche nach anderen und auf andere Art faszinierenden Abenteuern zu machen.

Indessen bin ich bei dem so ungewissen wie stetigen Unterfangen, es zu überwinden, in jedem Augenblick mit diesem alten Ich konfrontiert, das an mir klebt und von dem ich mich löse, als schnitte ich die noch weißen Seiten eines zu schreibenden Buches auf. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht mit einer Lust zu stärken versuche, die die Schmerzen lindert; eine Fülle wiederherzustellen, die ständig von den Splitterbomben pulverisiert wird, die aus dem Vergessen wiederauftauchen wie aus einem einst vom Krieg zerfurchten Land.

In unseren existenziellen Ungewissheiten beschreiben Todestrieb und Lebensinstinkt eine Demarkationslinie, ähnlich dem Niemandsland zwischen verfeindeten Ländern. Es ist eine Zone unbestimmter Offenheit. Dort entscheidet sich in erster und letzter Instanz der Konflikt, in dem jeder im Ringen mit seinem unauflöslichen Geheimnis unter großen Mühen das, was ihn umbringt, von dem unterscheidet, was ihn stärkt. Weshalb die Mehrheit das Interesse an diesem Konflikt verliert und ihn meidet, auf die Gefahr hin, früher oder später über die schmerzlichen Folgen verzweifelt zu sein.

Der Ausgang einer solchen Auseinandersetzung betrifft ebenso unser eigenes Schicksal wie die Zukunft derWelt. Wohl oder übel sind wir alle Teil eines Spiels, in dem unsere Existenz sich formt oder verformt, je nach dem ungewissen Fall der Würfel, dem wir zustimmen, und den Wünschen, über deren Erfüllung wir mit einer zuweilen unsinnigen Leidenschaft nachdenken. Hinzu kommt die seit Langem bestehende Tradition des Unglücks, deren Erbe wir jedesmal antreten, wenn wir es versäumen, die von Natur aus spielerischen Vergnügen des Alltags von den alten räuberischen Reflexen – von den Zivilisierten Erfolg und Misserfolg getauft – zu befreien. So werden wir müde und lassen alle Hoffnung fahren in diesem Schattenreich, wo die Menschen eher auf der Suche nach Mitteln zum Haben sind als nach dem Wesen des Seins. Manipulierte Würfel finden leicht linkisch gewordene Hände, und das führt zum unrühmlichen Triumph der Tyrannei von Abwesenheit und Leere.

Ich nehme hier nicht – muss ich das eigens erklären? – den Blickwinkel einer Untersuchung ein, die die Verantwortlichkeiten klärt und nach Verdienst und Niedertracht sortiert. Eine ganze Reihe von Texten hat sich dieser interessanten Übung in Bedrängnis geratener Eitelkeit gewidmet. Mir liegt nicht das Mindeste daran, bisher unbekannte Informationen an Historiker weiterzugeben, die wild darauf sind, ihre existenziellen Ergüsse mit Flicken eines Situationismus abzudichten, den sie auf dem Niveau ihrer eigenen Mangelhaftigkeit verehren. Ich habe mir noch nie die fragwürdige Freiheit genommen, im Namen anderer zu sprechen, und so beziehe ich mich auch hier, wie ich es immer getan habe, ausschließlich auf meine eigene Erfahrung.

Ich habe nicht die Absicht, von etwas zu überzeugen, das für mich offenkundig ist und es auch bleibt, selbst wenn ich der Einzige wäre, der es so sieht: Im Mai 1968 hat ein Erdbeben stattgefunden, ein Bruch mit der Vergangenheit, der so groß war wie nie zuvor in der Geschichte. Eine Zivilisation ist zu Ende gegangen, mit einer Diskretion, auf die uns die lärmenden Erschütterungen, die den Weg dieser Zivilisation geprägt und gestört haben, kaum vorbereitet hatte.

Diesmal kein apokalyptischer Schrecken, keine Welle von Messianismus, keine Sintflut, in der sich der Sieg der Heiligen, Gerechten und Reinen ankündigte. Kein Aufstand, kein Massaker, keine Erschießungen. Es war ein ziemlich harmloser, gutartiger, fast folkloristischer Tumult mit Barrikaden, die von Panzern sofort hinweggefegt worden wären, hätte die Macht sich herabgelassen, sie einzusetzen. Ein winziger Riss im Beton einer monolithischen Gesellschaft, aber einer von denen, die bleiben, sich verzweigen und, sich ständig vergrößernd, auch das solideste Material zersetzen.

Dank diesem minimalen Spalt hat sich das Gefühl gebildet und dann fast häuslich eingerichtet, dass nichts mehr sein würde wie vorher. Die schlichte Idee, Fabriken und öffentliche Gebäude zu besetzen – die im Übrigen früher schon formuliert bzw. in die Praxis umgesetzt worden war –, hat plötzlich einen schüchternen und doch entscheidenden, nicht mehr rückgängig zu machenden Schritt in Richtung der Wiederaneignung der Erde durch die Menschen ausgelöst, die von ihr verbannt gewesen waren. Wie viele Jahrzehnte wird es brauchen, bis man anerkennt, dass damals ein radikaler Wandel in der menschlichen Entwicklung und im Lauf der Welt stattgefunden hat? Wahrscheinlich so lange, bis an die Stelle des traditionellen Raubreflexes ein Verhalten tritt, das das Menschliche höher schätzt als die Barbarei des Marktes.

Was sich im Mai 1968 mit der Klarheit einer jähen, schroffen Offenbarung Ausdruck verschafft hat, ist nicht mehr und nicht weniger als die Ablehnung des Überlebens im Namen des Lebens. So wie die Französische Revolution Gott getötet hat, hat die Bewegung der Besetzungen vor aller Augen die Stützpfeiler einer jahrtausendealten Zivilisation untergraben, deren Fundament schon ausgehöhlt war und nun darauf reduziert ist, den schauerlichen Prunk ihres Zerfalls zu zelebrieren. Der Untergang des Agrarsystems führte zur Ausmerzung des himmlischen Monarchen und des Königs, seines selbsternannten Vertreters. Der Despotismus war integraler Bestandteil des Ancien Régime.

Nachdem der Tyrann gebührend verurteilt war, hat das revolutionäre Bewusstsein das Urteil vollstreckt. Die Enthauptung des Potentaten von Gottes Gnaden hat auch Gott enthauptet und das Bild einer unveränderlichen universellen Ordnung zerstört. Doch der Leichnam Gottes hat weiter seine giftigen Dünste verbreitet, die Gesellschaften, die die Erinnerung an ihn aufrechterhielten, mit seiner Verwesung besudelt und Körper und Hirne verpestet, weit über das physische und metaphysische Schafott hinaus, auf dem er »seine Seele ausgehaucht« hatte. Die Illusion von seiner Allmacht jedoch ist nicht wiederauferstanden und wird es auch nicht. Nur noch Trugbilder von ihm, dem Veralten geweiht, sind die Waffen der Armee von Gespenstern, die überall auftaucht, wo das Leben schwindet.

Die Ironie ist, dass heute – drei Jahrhunderte, nachdem Gott getötet, drei Jahrhunderte, nachdem mit den Menschenrechten der Grundstein unserer verbrieften Freiheiten gelegt wurde – der Freihandel den Planeten in seine tödliche Zange nimmt und mit seinem Despotismus die Reste allen Lebens herauspresst, das sich weigert, zur Ware zu werden. Wir sind mit einer Situation konfrontiert, die mutatis mutandis an die faulige Stagnation der alten Agrarregime erinnert. Es gibt allen Grund anzunehmen, dass der Knebel des Geldes, das den Aufschwung der natürlichen Energien bremst und umlenkt, von dem heilsamsten Hackbeil durchtrennt werden wird, das es gibt: dem unwiderstehlichen Vorrang des Lebens.

Als die Situationisten die Unlebbarkeit der Warengesellschaft hervorhoben, schien sich alles zusammenzutun, um sie zu widerlegen: Öffnete der Triumph des Konsums dem Proletariat nicht die Tür zu einer Selbstbedienungs-Demokratie, die mit den Fanfaren der euphorischen Reklame des Marktes das Zeitalter des Glücks prophezeite? Wir ahnten, welche Verheerungen diese Enthirnung anrichten würde, die, ohne grobe Propagandamethoden zu brauchen, überall die Keime eines konsumierbaren Hedonismus aussäte, indem sie ein Warenparadies eröffnete, das gegen einen bescheidenen finanziellen Beitrag jedem zugänglich sein sollte.

Auch fünfzig Jahre später noch sind die proletarisierten Massen in ihrer existenziellen Verwirrung von einem Konglomerat aus Reklame-Träumen in all ihrer Nichtigkeit fasziniert, die ihnen um den Preis einer aller wahren Wünsche und infolgedessen auch ihrer lebendigen Substanz entleerten Existenz geboten werden. Das Elend der Anpassung an den Konsumismus geistert wie nie zuvor durch das Elend von Völkern, die so nah am Leben und doch so weit entfernt sind von dem Mut, es selbst in die Hand zu nehmen.

Es war die Vorahnung einer von jeder Wirklichkeit abgeschnittenen Existenz, die im Mai 1968 die Herzen der Vielen entflammte, in denen sich die Aversion gegen das Alte und die Lust auf Neues ausgebreitet hatten. Das Fehlen von Bewusstsein ist es, was heute bei unseren Zeitgenossen eine Pandemie freiwilliger Sklaverei auslöst, ein besonders  günstiges Klima für jene schwere Form von Intelligenzvernichtung, der im Tierreich der durch falsche Behandlung und Denaturierung ausgelöste Rinderwahnsinn entspricht. Einer Verdummung gegenüber, die eigentlich kein neues Phänomen war, aber deren Ursachen seit Kurzem Gegenstand von Analyse und kämpferischer Kritik waren – die Radikalität des Dadaismus bzw. Surrealismus hatten ihren Anteil daran –, vertraten die Situationisten die These, es gebe eine sich von Natur aus unablässig regenerierende  Lebenskraft.

Wo konnte man den Hebel ansetzen, um die alte Welt aus den Angeln zu heben? Am Selbstzerstörungsprozess, glaubten wir, den ein System auslöst, in dem die Produktion nützlicher Güter der einträglichen Nutzlosigkeit geopfert wird und so der Konsum sich schließlich selbst verschlingt. Doch wir haben die aberwitzige Fähigkeit des Geld-Fetischismus unterschätzt, aus der Nutzlosigkeit und vor allem aus einem Leben ohne Nutzen immensen, sofortigen und flüchtigen Profit zu ziehen.

Dass ich Murray Bookchin, dessen ökologische Anliegen uns nebensächlich erschienen, des Reformismus verdächtigte, hat mich damals daran gehindert, in seinen ersten Aussagen über die Zukunft der Ökologie das Auftauchen eines Neokapitalismus zu erkennen, dessen Dynamik den Verwüstungen der rentablen Unmenschlichkeit lediglich ein erweitertes Angebot hastig humanisierter Waren gegenüberstellen würde. Die Verpackung hat sich geändert, aber der Inhalt bleibt derselbe: die Habsucht, blinde Raubgier und Hellsichtigkeit des Profits. Das ist der Markt der ethischen Säuberung, der die Rückkehr zum Gebrauchswert, fairen Handel, Renaturierung, Ökotourismus und umweltschonende Energien predigt.

In den sechziger Jahren glaubte ich, nur eine Räterepublik könne das Problem des vernünftigen Umgangs mit unserer Umwelt lösen. Jetzt, da mir die Veränderung der Produktivkräfte klar geworden ist, bin ich davon überzeugter denn je. Der Entwicklung von Alternativenergien Beifall zu klatschen, ohne sie in den Dienst der Selbstverwaltung zu stellen, heißt auf eine Ausbeutung in neuem Gewand setzen, die genauso durchtrieben ist wie die alte.

An der Zerstörung einer Welt zu arbeiten, die sich an ihren eigenen Trümmern bereichert hatte, ohne eine neue zu bauen, brachte uns in die Gefahr, osmotisch zu reagieren, das heißt als Komplizen derer, die wir entschlossen waren auszulöschen. Um den Einfluss der Vergangenheit zu brechen und die Gegenwart von deren zerstörerischer Prägung zu befreien, habe ich mich öfter auf einen subjektiven Voluntarismus berufen als auf einen Lebenswillen, dessen Grundlagen die Geschichte noch stets wiederhergestellt hat. Auch mein Bewusstsein vom Körper – der »von Natur aus sein Glück sucht« – war verworren genug, dass ich verhängnisvolle Entscheidungen traf.

Als mir ein befreundeter Arzt wegen meines Alkoholismus, der meine Haut plötzlich mit roten Flecken überzog, die Leviten las und mich über das Risiko von Demenz und Tod aufklärte, habe ich nur gelacht. Hingegen genügte es, dass er die drohende Impotenz erwähnte, und der Groschen war gefallen. Ich habe nicht aufgehört zu trinken, aber ich trank bewusst, und wenn es auch eine Weile gebraucht hat, bis die Idee sich ihren Weg gebahnt und schließlich Gestalt angenommen hatte, war ich eines Tages so weit, das Glas nur noch auf das Leben, die Gesundheit, das Glück und eine Intensität zu heben, die mich vom Flüchtigen befreite.

Die morbide Anziehungskraft, die die – nicht erst seit gestern bestehende – Gefahr einer Denaturierung auf mich ausübte, schien mir paradoxerweise durch die Klarheit anzuwachsen, mit der ich sie erfasste, um sie unter ihren augenfälligen modernen Erscheinungsformen sichtbar zu machen. Wie ein Arzt, der das Fortschreiten seiner Krankheit beobachtet und diese selbst vernachlässigt, um sich stattdessen der Richtigkeit seiner Diagnose zu rühmen, erhob ich selbstgefällig meine Anklagen gegen das Unannehmbare und schützte es damit in gewisser Weise, wie eine Verunreinigung, deren giftigen Dunst zu analysieren ich einzig mir vorbehielt.

Nach Erscheinen des Handbuchs war ich irritiert, dass viele Leser bei der Kritik am Überleben stehen blieben, um ihre Unfähigkeit zu rechtfertigen, einem Fluch entgegenzutreten, der sie so gut in der Unterwerfung festhielt. Das Bewusstsein der Entfremdung verstärkt diese noch, wenn es die Mittel im Dunkeln lässt, sich aus ihr zu befreien. Da ich so empfänglich war für das Lied von der Erde, dessen Widerhall ich undeutlich vernahm, kam mir nicht der Verdacht, dass der Appell der chthonischen Mächte, der der Ablehnung von Opfer, Lohnarbeit und himmlischer Transzendenz zugrunde lag, zu einer Ökonomie führen würde, die dem sterilen spekulativen Kapitalismus eines Tages ein neues Warensystem entgegensetzen würde, das seinen Profit aus erneuerbaren, renaturierten, ethisch und humanitär verpackten Produkten zieht.

Mehr Klarsicht hätte mir erlaubt, dem Leben, der vitalen Kraft, die in uns wirkt, jene konkrete Grundlage in der ökonomischen Entwicklung und dem Übergang von einer Produktionsform zu einer anderen zu geben, die bei jedem historischen Prozess festzustellen ist. Da das Leben, außer in seiner begrifflichen Gestalt, für Intellektuelle eine unbekannte Substanz ist, fehlte es nicht an Schöngeistern, die in meiner Feier des Lebendigen Mystizismus ausmachten. Trotz wiederholter Präzisierungen – »Es geht mir nicht darum, dem radikalen Wandel des Systems zu applaudieren, sondern es zu analysieren und darauf aufzubauen, um es zu überwinden« – verschwendeten dieselben Leute später all ihren Scharfsinn daran, mich als Guru bzw. Agenten des Neokapitalismus zu verdächtigen.

Während die Windräder zu sprießen beginnen, bleiben die meisten Zeitgenossen in den Winter und sein Frösteln vermummt. In der Unentschlossenheit der Menschen, menschlich zu werden, versteinert, ignorieren sie beharrlich den Frühling des Lebens und lassen unsere Feinde den Keim der Fäulnis darin einpflanzen. Dabei ist jeder von uns das ständig von neuem gespielte Spiel und Ergebnis einer individuellen und kollektiven Geschichte, deren Regeln und Deregulierungen, weit mehr als es den Anschein hat, dem Dämon der Analogie gehorchen. Daran dachte ich, als ich mich erinnerte, in welcher – ganz konträren – Verfassung ich, in einer Mischung aus Hochgefühl und wütender Verzweiflung, 1962 die Basisbanalitäten schrieb.

Ein wohlhabender Mallorquiner, dessen gemäßigte Franco-Gegnerschaft sich nicht zuletzt dem Obsthandel verdankte, den er in Brüssel betrieb, hatte meinen Eltern vorgeschlagen, in der Orangenplantage zu wohnen, die er in der Nähe von La Palma besaß. Dafür sollten sie sich um die Ernte der Zitrusfrüchte und die Buchhaltung kümmern. Ich besuchte sie jedes Jahr in der Gluthitze des Juli und August. Eigentlich sollte ich dort jenes wolkenlose Glück erleben, von dem die Werbung so wunderbare Bilder entwirft, um ihren Ramsch zu verkaufen.

In Gesellschaft meiner Tochter Ariane, die ich vergötterte, meiner fürsorglichen Eltern und einer Gattin, deren Zuneigung und Zuvorkommenheit mir die Muße zum Schreiben schenkten, empfand ich jedoch nur jenen Lebensschmerz, in dem einen die Vorstellung quält, nie wieder satt zu werden. Ich war wie ein hungriger Hund, der mit den Pfoten an der Tür der Speisekammer kratzt.

Man musste sich recht und schlecht mit meinem Zynismus, meiner Libertinage, meinem Alkoholismus, meinen wechselnden, tyrannischen Launen abfinden. Ich will nichts von dieser Vergangenheit leugnen, aus der ich hervorgegangen bin, aber das schonungslose Porträt, das ich von meiner brillanten, hassenswerten Persönlichkeit hätte zeichnen können, erscheint mir im Nachhinein schlimmer als das von Dorian Gray.

Auf der Durchreise in Barcelona, wohin ich Mitzi Vandencruyce begleitete, eine temperamentvolle Brüsselerin, die sich mit achtzehn den Internationalen Brigaden und später den Anarchisten der CNT-FAI angeschlossen hatte, übergab ich ihren Freunden, meist im Park Güell und gemäß einem Drehbuch, das dem ironischen John Le Carré alle Ehre gemacht hätte, situationistische Flugblätter und Pamphlete, die ich zwischen zusammengeklebten Seiten des Playboy mitgebracht hatte.

Aber wie an der Kreuzung so vieler mit der täglichen Hölle gepflasterter Wege den Frieden eines Paradieses finden, nach dem man sich plötzlich sehnt? Was in der Sklavensprache »Urlaub« hieß, war in Wirklichkeit ein existenzielles Vakuum, gegen das ich mich mit Vergnügungen wehrte, deren Glut mich weniger mit Hitze als mit Rauch erfüllte und die Leidenschaft in ätzenden Trugbildern erstickte.

Kaum hatte die Ungezwungenheit des August begonnen, erlag ich viel zu früh dem Widerwillen, der mich im September vollends erfassen würde, wenn mir der Schneider der großen Normalität die Uniform meiner Tage und Nächte mit der Elle der Arbeit anmessen würde. Es konnte mir noch so viel Spaß machen, Schüler, mit denen mich Zuneigung und eine gewisse Komplizität verband, so zu unterrichten, dass die Neugier ihre Wissensfortschritte bestimmte, ich verabscheute den Rahmen und die Kleinlichkeit der Bürokratie, die meinem Überschwang Grenzen setzte und ihn erstickte. Das war die »harte Realität des Lebens«, wie die Resignierten und die Schwachköpfe sagen, die sie nicht ändern wollen. Der zum Ersatz praktizierte Hedonismus erschien mir als zweifelhafter Notbehelf, mit der ganzen Bitterkeit, wie sie am Morgen danach Affären hinterlassen, die eine Liebe vortäuschen, die es nicht gibt. Wie ich in den Basisbanalitäten schrieb, gehörte ich zu dem »neuen Proletariat, das im Konsumüberfluss seine Not entdeckt«.

In Palma de Mallorca saß ich ab fünf oder sechs Uhr früh im Patio und nährte meine Inspiration mit einem Gemisch aus Kaffee und Cognac, in regelmäßigen Abständen von purem Absinth gefolgt. Wenn die Zeit der zu intensiven Sonne und des Orangensafts kam, war mein Denken nur noch gelegentlich zur Klarheit bereit. Es lief mechanisch weiter, auf seinen eigenen Wegen, und brachte absurdes Zeug hervor, das ich am nächsten Tag überarbeitete und zerriss. Der Nachmittag war der Siesta oder den Bars im Viertel vorbehalten. Tag für Tag öffnete sich jede Seite dem ersten Licht des Morgengrauens, bevor die Stumpfheit nach und nach über meine Klarheit und mein schöpferisches Feuer siegte. Die zunehmende geistige und körperliche Schwere, der ich gerne erlag, überdeckte eine morbide, selbstzufriedene Rückwendung zur alten Welt und der unbeständigen Fakirgemütlichkeit, die der moderne Konsum seinen Kunden bietet.

Lag es an dieser Art, wie ich zum Leben erwacht bin – nur um mich unter dem Stern des Südens mit langweiligen hedonistischen Routinen einzulullen –, dass ich eine Wirklichkeit in ferner Vergangenheit verankerte, die die Geschichte verdrängt hat, bis die Kultur auf der Suche nach Wurzeln, und um etwas zwischen die Zähne zu kriegen, deren Existenz entdeckte?

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