Irrenhaus Menschheit:
In welcher Hölle willst du leben?
by Gerhard Mersmann | NEUE DEBATTE
Warum noch versuchen, Argumente auszutauschen, wenn alles nur noch auf Senden steht? Die Empfänger sind abgeschaltet, was zu vernehmen ist, endet in einer ohrenbetäubenden Kakofonie (Misslaute, Missklang).
Alle sind sich sicher, dass sie auf der richtigen Seite schreien, man bezichtigt sich gegenseitig in der Gesellschaft des Satans. Die Voraussetzungen sind bestens, um in der Katastrophe, im Desaster, in der Apokalypse zu enden.
Wer nicht hören will, so sagte einmal ein kluger Volksmund, muss fühlen. Das wird so kommen wie das brüchige Amen in der leeren Kirche. Mental, so kann geschlussfolgert werden, sind wir alle am Ende. Denn das, was den Homo sapiens in Glanzzeiten einmal auszeichnete, der Verstand, die Vernunft, der gemeinsame Überlebenswille, ist gewichen der endzeitlicher Gier, asozialem Egoismus und grenzenloser Allmachtsfantasie. Ein alter bayrischer Freund würde die Lage so zusammenfassen: Irrenhaus, dein Name ist Menschheit.
Auch wenn mich seine grotesken Formulierungen immer wieder inspirieren; ganz so einfach ist es natürlich nicht. Aber, wie bereits erwähnt, ein Rückblick auf die Entwicklungen, ihre Analyse und die Suche nach Kausalität führen im Moment zu nichts.
Keiner will es hören, und alle sind Partei der einen oder der anderen Seite.
► Die rein formale Zivilisation
Wie so oft, wenn sich die Apologetik in einem Moment der allgemeinen Verwirrung die Krone aufgesetzt hat, die Dialektik, dieser Schlüssel zu vielen möglichen Lösungen, ist von den Prachtstraßen verbannt und lauert in einem düsteren Keller. Sie wartet, bis die klobigen Parteigänger in ihrem martialischen Gehabe nicht nur sich selbst, sondern auch das anfangs wie ein pawlowscher Hund (auch Pawlow’scher Hund) konditionierte Gefolge ermüdet haben. Dann drückt sie die Stäbe auseinander, atmet tief durch und erscheint auf dem Feld.
Sie deutet auf die Szenerie und macht zunächst einmal klar, dass die Kategorien von Täter und Opfer fließend sind. In einem Krieg wechseln sie stündlich. Alle Beteiligten sind sich einig, dass sie Opfer sind und nur das tun, was gerecht ist. Dass sie ebenfalls die Tätermonster sind, möchten sie verschweigen, aber es ist die reine Illusion.
Der Krieg könnte nicht nur, nein, er sollte bis ans Ende der humanen Existenz geführt werden, wenn es nach den Belegen ginge, die jede Seite mit Fug und Recht für das Täterhafte des Gegenübers dokumentieren kann. Und dann? Jeder, der darüber nachdenkt, gilt im Moment als Deserteur, als Defätist (Pessimist, Miesmacher, Nihilist) oder gar als fünfte Kolonne. Doch das Blatt wird sich wenden. Das Einzige, was sich bis dahin ändern wird, ist die Dimension dessen, was von den Scharlatanen, die das Desaster zu verantworten haben, so gerne als Kollateralschaden bezeichnet wird: Tote und die formalen Nachweise von Zivilisation.
► Begrenzte Horizonte
Oder eine andere Herangehensweise: Ein französischer Regisseur aus dem Underground, dessen Name hier nicht genannt werden soll, quasi aus Zeugenschutz, lieferte vor Kurzem eine Analyse über den Unterschied zwischen dem freien Westen und Russland, die es in sich hatte. Im Westen, so der kluge Mann, sei alles erlaubt, aber nichts von Bedeutung. Und in Russland sei nichts erlaubt, dafür hätte aber alles eine Bedeutung. Vielleicht trifft diese Aussage den Kern der Misere. Denn wie soll eine Kommunikation zwischen diesen Welten möglich sein, wenn der mentale Horizont von diesem Unterschied geprägt wurde?
Die kalte Logik würde dafür plädieren, eine Symbiose zu bilden, die besagte, dass einiges, aber nicht alles erlaubt wäre und dafür einiges Bedeutung genösse. Das könnte eine Zukunftsperspektive sein, die allerdings einen strategischen Horizont voraussetzte. Oder, bliebe es beim Status quo, es reduzierten sich die Optionen auf eine Frage:
In welcher der beiden Höllen willst du leben?
Gerhard Mersmann
»Sind Sie bereit, für unser aller Freiheit einzutreten?
Sind Sie bereit, dafür auch Opfer zu bringen?
Dann starten Sie Ihren Anteil an der Verteidigung jetzt.
Es ist nicht mehr viel Zeit.« (Egon W. Kreutzer)
♦ ♦ ♦
»Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter,
als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden
und laut zu sagen: NEIN!« (Kurt Tucholsky)
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Gerhard Mersmann, Dr. phil., (Jahrgang 1956), gebürtiger Westfale, ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen.
Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Publizistische Aktivitäten durchziehen seine gesamte Biographie. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen. Mersmanns persönliches Blog >> https://form7.wordpress.com/ .
► Bild- und Grafikquellen:
1. Irrenhaus Menschheit: In welcher Hölle willst du leben? Alle sind sich sicher, dass sie auf der richtigen Seite schreien, man bezichtigt sich gegenseitig in der Gesellschaft des Satans. Die Voraussetzungen sind bestens, um in der Katastrophe, im Desaster, in der Apokalypse zu enden. Illustration: geralt / Gerd Altmann, Freiburg. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Illustration.
2. Nichts hören, nichts sprechen, nichts sehen: Die Epidemie des multiplen Unvermögens, der immense Realitätsverlust und der Systemkonformismus sind erschreckend. Da tröstet es wenig, dass auch früher nicht alles viel besser war. Keiner will es hören, und alle sind Partei der einen oder der anderen Seite. (Elitendenken, Habitusdenken, Käfigdenken, Konformismus, Lagerdenken, Milieudenken, Schablonendenken, Scheuklappendenken, Silodenken, Stalldenken). Illustration: Mysticsartdesign / Mystic Art Design. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Illustration.
3. "UM »PLANET DER AFFEN« ZU SEHEN MUSS ICH NICHT INS KINO GEHEN. EINFACH HAUSTÜR AUFMACHEN UND DAS ELEND GEHT LOS."
»Wenn man seine eigenen inneren Prozesse untersucht, wird klar, dass wir Menschen weit von den rationalen Akteuren entfernt sind, für die wir uns halten. Wir sind keine logischen Geschöpfe, die aus freiem Willen logische Handlungen als Reaktion auf ein logisches Verständnis unserer Welt ausführen, sondern verwirrte kleine Primaten mit einem Haufen Märchen über die Realität, die in unserem Schädel herumschwirren und die uns durch unsere eigenen, stark konditionierten Interpretationen von Informationen zugeflüstert wurden, die wir durch unsere eigenen, stark konditionierten Wahrnehmungsgewohnheiten aufgenommen haben und auf die wir aufgrund stark konditionierter unterbewusster Antriebskräfte in uns selbst reagieren, die wir nicht verstehen.« (-Caitlin Johnstone, Melbourne/AUS).
Originalbild ohne Inlet: TConger. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz CC BY-NC-ND 2.0 DE .