Urteil des High Court über den EU-Austritt
Großbritannien stürzt noch tiefer in die Krise
von Julie Hyland / wsws.org
Das Urteil des Londoner High Court vom Mittwoch, 2. Nov., dass nur das Parlament das Recht hat, den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) zu veranlassen, hat eine schwere verfassungsrechtliche und politische Krise ausgelöst.
Das Urteil spricht Premierministerin Theresa May das Recht ab, ohne Abstimmung des Parlaments und nur unter Berufung auf das königliche Vorrecht mit dem Austritt aus der EU zu beginnen. Die Regierung wird gegen das Urteil Berufung einlegen. Das königliche Vorrecht beinhaltet archaische Befugnisse, die früher die britischen Monarchen ausübten und die jetzt der Regierung auf Empfehlung des Premierministers und des Kabinetts vorbehalten sind.
Im Mittelpunkt der Anhörung vor dem Lord Chief Justice, Lord Thomas of Cwmgiedd (Foto), dem höchsten Richter in England und Wales, stand der Artikel 50 des EU-Vertrags, der besagt, dass ein Mitgliedsstaat die Gemeinschaft „in Übereinstimmung mit seinen eigenen verfassungsrechtlichen Vorschriften“ verlassen kann.
May hatte geplant, im kommenden März mit den Austrittsverhandlungen zu beginnen und eine Abstimmung im Parlament zu umgehen. Damit würden entsprechend den Vorschriften zweijährige Verhandlungen beginnen. Die EU-Minister hatten erklärt, Großbritannien solle als Abschreckung für andere Mitgliedsstaaten für seine Entscheidung bestraft werden. May, die sich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen hatte, umwirbt derweil die lautstarke Pro-Brexit-Lobby in ihrer eigenen Partei. Angesichts dieser Lage ist ein großer Teil der Bourgeoisie besorgt, dies alles könne zu einem „harten Brexit“ führen, bei dem Großbritannien den Zugang zum EU-Binnenmarkt verlöre.
Da die Mehrheit der Abgeordneten für einen Verbleib in der EU ist, hatten die Rechtsanwälte der Regierung vor dem High Court argumentiert, es sei „verfassungsrechtlich unzulässig“, das Parlament über den Ablauf des Brexit abstimmen zu lassen, weil dadurch der „Wille des Volks“ ausgehebelt werde, so wie er in den knappen 52 zu 48 Prozent für einen Austritt aus der EU im Referendum vom Juni zum Ausdruck kam.
Die Argumente wurden letzten Monat bei einer gerichtlichen Prüfung vor dem Londoner Royal Courts of Justice (Königlicher Gerichtshof) vorgebracht. Gegen die Regierung trat eine Gruppe von Klägern an, die die Interessen der City of London vertrat. Sie wurde angeführt von Gina Miller, einer in London tätigen Investmentmanagerin der Firma SCM Private.
Die Rechtsanwälte der Kläger berufen sich auf die Bill of Rights von 1689, die festlegt, dass Gesetze nicht ohne Zustimmung des Parlaments verworfen oder ausgesetzt werden dürfen. Mit den königlichen Vorrechten den Artikel 50 des EU-Vertrags in Aktion setzen zu wollen, hätte die „beabsichtigte Konsequenz“, die Bürger ihrer Rechte zu berauben, die sie als EU-Bürger genießen und die in den Gesetzen Großbritanniens verankert sind. Sie argumentierten, derartige verfassungsmäßige Rechte könnten nicht durch die Exekutive abgeschafft werden, ohne „das Rückgrat der Verfassung zu brechen und sie zu entstellen“.
Der High Court schloss sich dieser Argumentation an und erklärte, die Entscheidung der Regierung, mit den Austrittsverhandlungen ohne die Zustimmung des Parlaments zu beginnen, würde eine 400 Jahre alte Rechtstradition aushebeln.
Die 32-seitige Urteilsbegründung betont, dass „nichts von dem, was wir sagen, irgendwelche Aussagen über die Vorzüge oder Nachteile“ des Brexits trifft. Denn die „einzige Frage“ um die es hier gehe, sei „ob in Bezug auf die Verfassung Großbritanniens die Krone – die durch die gegenwärtig amtierende Regierung handelt – berechtigt ist, ihr Vorrecht zu nutzen“, um den Artikel 50 einzuleiten.
Das Gericht erklärt: „Die Unterordnung der Krone (d.h. der amtierenden Regierung) unter das Gesetz ist die Grundlage der Rechtsstaatlichkeit in Großbritannien“. Außerdem stellt es fest, dieses Prinzip habe seine Ursprünge im Englischen Bürgerkrieg (1642–1651) und „wurde seither anerkannt“.
Die Richter wiesen das Argument zurück, „die Meinung der Wähler“ stehe über dem Verfassungsrecht. Sie begründeten das „von Rechts wegen: ,Den Richtern ist nichts bekannt von irgendeinem Willen des Volks, abgesehen von der Form, in der dieser Wille sich in einem vom Parlament beschlossenen Gesetz niederschlägt‘.“
Ein Sprecher der Regierung erklärte, die Minister würden die Entscheidung vor dem Supreme Court (Obersten Gerichtshof) anfechten. Die Anhörung wird am 7. und 8. Dezember stattfinden. Mögliche Verzögerungen oder weiteres lang anhaltendes juristisches Gerangel drohen jedoch, die Pläne der Regierung durcheinanderzubringen und machen vorgezogene Unterhauswahlen wahrscheinlich.
Dass es zu einer Verfassungskrise gekommen ist, unterstreicht, wie unüberlegt die Entscheidung des ehemaligen konservativen Premierministers David Cameron war, einem Brexit-Referendum zuzustimmen. Dieser Schritt war voll und ganz von dem Versuch geprägt, den rechten Fraktionskampf in der Konservativen Partei und ihren Ausläufern in der UK Independence Party (UKIP) beizulegen.
Nachdem die Volksabstimmung eingeleitet war, versuchten alle Seiten ausländerfeindliche und nationalistische Vorurteile zu schüren, um von der wachsenden sozialen Krise und der Kriegsgefahr abzulenken. Die Befürworter eines Verbleibs in der EU wollten, angeführt von Cameron, einen möglichen Brexit benutzen, um größere Zugeständnisse von der EU zu bekommen, insbesondere um Vergünstigungen für die City of London herauszuholen. Das führte dazu, dass das Brexit-Lager, das vom fremdenfeindlichsten Flügel der Bourgeoisie beherrscht wurde, in der Lage war, die legitime Opposition gegen die EU vollständig für sich zu beanspruchen.
Keine Seite hat in irgendeiner Form die grundlegenderen Folgen ihres Handelns berücksichtigt, einschließlich der komplexen verfassungsrechtlichen Fragen, die dadurch aufgeworfen werden. Lord Kerr of Kinlochard, der Generalsekretär der Europäischen Versammlung, die den Entwurf des Lissabon-Vertrags ausarbeitete, erklärte, er habe sich nicht vorstellen können, dass Artikel 50 jemals in Anspruch genommen würde. Er erklärte: „Ich dachte, die Umstände, unter denen er zum Einsatz kommen könnte – wenn überhaupt –, wären die eines Putsches in einem Mitgliedsstaat. Und die EU würde dann die Mitgliedschaft dieses Landes aussetzen. Ich dachte, dass an diesem Punkt der betreffende Diktator so erbost sei, dass er sagen würde: ,Gut, ich bin raus‘. Dann wäre es gut, ein Verfahren zu haben, mit dem er austreten könnte.“
Das schockierende Ergebnis von 52 Prozent für einen Austritt hat deshalb eine Existenzkrise für die britische Bourgeoisie ausgelöst. Es droht nicht nur die Rolle Großbritanniens als wichtigstem politischen und militärischen Verbündeten der USA in Europa ernsthaft zu mindern, sondern eröffnet außerdem erneut die Möglichkeit eines Auseinanderbrechens des Vereinigten Königreichs selbst.
Die schottische Regierung hat bereits angedroht, im Falle eines „harten Brexits“ ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit abzuhalten. Und der Leitende Minister für Wales, Carwyn Jones von der Labour Party, begrüßte das Urteil des High Court mit dem Argument, die dezentralen Regierungen sollten auch eine Abstimmung über die Position von May bei den Brexit-Verhandlungen herbeiführen.
Ein Anzeichen für den explosiven Charakter des Brexits für die politischen Beziehungen in Irland war die Entscheidung von Nordirlands High Court, einen Antrag abzulehnen, mit dem eine parlamentarische Abstimmung über Mays Brexit-Pläne ermöglicht werden sollte. Der Antrag wurde damit begründet, dass die Entscheidung von May als Exekutivorgan droht, die Abkommen zur Machtaufteilung zwischen den Unionisten und den Republikanischen Parteien zu gefährden, die 1998 im Karfreitagsabkommen beschlossen wurde. Mr Justice Maguire vom Belfast High Court erklärte, es „ist die Ansicht des Gerichts, dass die entsprechende Staatsmacht noch tätig ist und eingesetzt werden kann, damit die Exekutive über den Zweck von Artikel 50 informieren kann.“
Wenn der Einspruch vor dem Supreme Court scheitert, dann wird man sich der Frage zuwenden, ob die Regierung eine einmalige inhaltliche Abstimmung über den Brexit abhalten kann oder ob die Zustimmung des Parlaments sich auf die Verhandlungen und die Bedingungen eines eventuell abgeschlossenen Abkommens bezieht. Es wird allgemein angenommen, dass die meisten Abgeordneten, ob sie für einen Verbleib oder dagegen sind, nicht gegen das Ergebnis des Referendums stimmen werden. Wenn jedoch entschieden wird, dass das Parlament die Kontrolle über die Bedingungen hat, dann öffnet das Tür und Tor für zahlreiche Änderungen und einen noch langwierigeren und politisch brisanten Prozess, zu dem auch die Einbeziehung des Oberhauses und eine zweite Abstimmung gehört.
Ausgerechnet die entschiedensten Brexit-Befürworter, die ihre Kampagne auf der Grundlage der „Wiedergewinnung“ der „Souveränität“ des britischen Parlaments geführt haben, protestieren jetzt am lautesten gegen das Urteil des High Court.
Nigel Farage, der Übergangsführer der UKIP, warf sich in die Pose des Verteidigers des „Volkswillens“ gegen die „gerichtliche Elite“ und erklärte: „Ich befürchte, dass ein Verrat kurz bevorsteht [...] Ich befürchte jetzt, dass alles getan werden wird, um das Inkrafttreten von Artikel 50 zu blockieren oder zu verzögern. Wenn das der Fall ist, dann machen sie sich keine Vorstellung davon, wie groß die öffentliche Wut wird, die sie damit auslösen.“
Der Führer der Labour Party, Jeremy Corbyn, erklärte, seine Partei „respektiert die Entscheidung des britischen Volks, die Europäische Union zu verlassen“. Allerdings musste er schon einen Putsch seiner mehrheitlich für die EU eingestellten Fraktion seiner Partei überstehen und hat bei den meisten seiner Abgeordneten keine Unterstützung. Es gibt keine Garantie, dass die Mehrheit bei einer parlamentarischen Abstimmung nicht gegen die Anwendung von Artikel 50 stimmen würde.
Der rechte Flügel der Labour Party, angeführt von Tony Blair, hat deutlich gemacht, dass er für ein sogenanntes „progressives Bündnis“ eintreten werde, um einen „harten Brexit“ zu verhindern oder in Grenzen zu halten. Diese Position vertreten auch die Liberaldemokraten, deren Führer Tim Farron das Urteil des High Court begrüßt hat. Er erklärte lapidar: „Letztendlich hat das britische Volk sich für die Abreise entschieden, aber nicht für ein Ziel...“
Julie Hyland
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Post Brexit - Nigel Farage to Gina Miller 'What part of leave don't you understand?' - BBC News (Dauer 13:14)
► Quelle: WSWS.org > WSWS.org/de > Erstveröffentlichung des Artikel vom 05.11.2016. Dank an Redakteur Ludwig Niethammer für die Freigabe zur Veröffentlichung.
► Bild- und Grafikquellen:
1. John Thomas, Baron Thomas of Cwmgiedd, (* 22. Oktober 1947 in Wales) ist ein britischer Jurist und seit 2013 Lord Chief Justice of England and Wales. Urheber: Chensiyuan. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“.
2. BREXIT-referendum: Independence Day? 176/366. So Boris Johnson and Nigel Farage have won and the UK is heading for independence. WRONG! England has voted to leave and Scotland has voted to remain. That means another Scottish referendum is inevitable and this time Nicola Sturgeon will win. Foto: Hornbeam Arts. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0).
3. David Cameron - David Chameleon. Now with added forked-tongue; well, he is a politician! This photo can be seen on www.theelectionproject.co.uk. Does David Cameron have any policies or is he just saying what he thinks people want to hear, tailoring his words for whatever audience he happens to be speaking to. When he did actually came up with a policy for cutting tax by cutting waste it soon became clear that it hadn't been costed out properly.
I'd like to thank Sebastian Niedlich (Grabthar) for putting a creative commons on his chameleon photo and hope he appreciates what I've done with it. The same goes for Manwiddicombe who is responsible for David Cameron's face! I originally found it on a left wing blog but I've since discovered that it was sourced from his Flickr, once again on a creative commons. You can see the original plus a manipulation (I think I've used his manipulated version) at Flickr. Bildbearbeitung: Dick Jones. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0).
4. Karte v. Großbritannien nach dem Referendum. Great Britain with a land border. The June 2016 Brexit vote may increase the chance of Scotland leaving the UK to join the EU, which would create the first land border on the island of Great Britain since 1707. Foto: futureatlas.com . Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).
5. FAIRY TALES - THE THREE BEARS: "This Brexit is too hard and this Brexit is too soft, but is Brexit is just right . . . ". Foto von einem Cartoon: Gwydion Madawc Williams - website. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).
6. EU-Flag - Gone with the wind. Fotobearbeitung: Theophilos Papadopoulos. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).
7. Artikelfoto auf der Startseite / photo on the frontpage: UK umbrella in London, Piccadilly Circus. Foto / photo credit: Moyan Brenn, Italy. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 2.0 generisch“ (US-amerikanisch) lizenziert (CC BY 2.0).