Eine Palästinenserin spricht: Susan Abulhawa
Die abscheuliche Heuchelei des Westens
Die Leichen der drei israelischen Siedler, die seit dem 12. Juni vermisst waren, wurden – hastig verscharrt – in der Nähe von Hahul, nördlich von Hebron, gefunden.
Seit die Jugendlichen von Gush Etzion, einer Siedlung nur für Juden im Westjordanland, verschwunden sind, bedrängt Israel die vier Millionen Palästinenser, die bisher schon unter seiner Knute leben. Die Soldaten stürmen durch ihre Städte, durchstöbern ihre Häuser und zivilen Institutionen, machen nächtliche Razzien bei Familien, stehlen deren Eigentum, entführen, verletzen und töten. Flugzeuge werden losgeschickt, um Gaza zu bombardieren, wieder und wieder, um noch mehr Häuser und Institutionen zu zerstören und außergerichtliche Tötungen vorzunehmen.
Bis 1. Juli wurden mehr als 570 Palästinenser festgenommen und ins Gefängnis geworfen, darunter vor allem auch Samer Issawi, der Palästinenser, der mit einem 266 Tage dauernden Hungerstreik gegen seine willkürliche Inhaftierung protestiert hatte und entlassen worden war. Mindestens 10 Palästinenser wurden getötet, einschließlich dreier Kinder, einer schwangeren Frau und eines schwachsinnigen Mannes. Hunderte wurden verletzt, Tausende terrorisiert. Büros von Universitäten und Wohlfahrtsorganisationen wurden durchsucht und geschlossen, ihre Computer und sonstige Geräte zerstört oder gestohlen und sowohl private als auch offizielle Dokumente ziviler Organisationen beschlagnahmt.
Dieses rücksichtslose Vorgehen ist offizielle Politik des Staates, ausgeführt durch das Militär, und schließt die Gewalt gegen Personen und Sachen, die von paramilitärischen israelischen Siedlern ausgeht, nicht ein. Auch deren andauernde Angriffe auf palästinensische Zivilisten haben in den vergangenen Wochen zugenommen. Und nun, nachdem der Tod der jugendlichen Siedler bestätigt ist, hat Israel Rache geschworen. Naftali Bennet, der Wirtschaftsminister, sagte: „Keine Gnade für die Kindermörder. Jetzt ist die Zeit für Taten, nicht für Worte.“
Obwohl keine der palästinensischen Gruppen die Verantwortung für die Entführung übernommen hat und die meisten, vor allem die Hamas, jede Verbindung dazu verneinen, beharrt Benjamin Netanjahu darauf, dass Hamas dahinter stecke. Die Vereinten Nationen forderten von Israel Beweise für diese Behauptung, aber bisher sind keine vorgelegt worden, was Zweifel an Israels Darstellung weckt, insbesondere angesichts der öffentlich geäußerten Wut über die jüngste Einigung zwischen den palästinensischen Fraktionen und Präsident Obamas Anerkennung der neuen palästinensischen Einheitsregierung.
Im Westen haben die Schlagzeilen über den Bildern der drei israelischen Jugendlichen das israelische Terrorregime in Palästina beschönigend als „Fahndung nach den Tätern“ und „militärische Razzien“ dargestellt. Portraits der unschuldigen jungen Israelis wurden von den Nachrichtenagenturen verbreitet, und die Stimmen der Eltern wurden in ihrem ganzen Kummer zur Geltung gebracht. Die USA, die EU, Großbritannien, die UNO, Kanada und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IRK) haben die Entführung verurteilt und forderten die sofortige und bedingungslose Freilassung der Jugendlichen. Nach Auffinden der Leichen ergoss sich eine mediale Welle der Verurteilung und des Mitgefühls.
Präsident Obama sagte, „als Vater kann ich mir das unbeschreibliche Leid der Eltern dieser gegen unschuldige Jugendliche aufs Schärfste.“ Obwohl Hunderte palästinensischer Kinder durch Israel entführt, brutal behandelt und getötet werden – etliche allein in den vergangenen zwei Wochen –, gibt es kaum je, wenn überhaupt, eine ähnliche Reaktion der Weltöffentlichkeit.
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Kurz vor dem Verschwinden der jungen Siedler wurde der Mord an zwei palästinensischen Jugendlichen von einer örtlichen Überwachungskamera festgehalten. Klare Beweise, einschließlich der aufgefundenen Gewehrkugeln und der CNN-Filmaufnahmen, die den israelischen Scharfschützen zeigen, wie er in genau dem Moment abdrückt, als einer der Jungen erschossen wurde, zeigen, dass sie von israelischen Soldaten kaltblütig ermordet wurden.
Es gab keinerlei Verurteilung oder Rufe nach Gerechtigkeit für diese Jugendlichen von Seiten führender Politiker oder internationaler Institutionen, keine Solidarität mit den trauernden Eltern, keine Erwähnung der über 250 palästinensischen Kinder, die aus ihren Betten heraus oder auf ihrem Schulweg entführt wurden, die immer noch ohne Anklage oder Prozess, physisch und psychisch gefoltert, in israelischen Gefängnissen schmachten. Ganz zu schweigen von der barbarischen Belagerung des Gazastreifens oder den Jahrzehnten des anhaltenden Diebstahls, der Ausweisungen, der Angriffe auf Bildungseinrichtungen, des Landraubs, der Hauszerstörungen, des Systems farblich unterschiedlicher Passierscheine, der willkürlichen Verhaftungen, Bewegungseinschränkungen, Kontrollposten, außergerichtlichen Tötungen, Folter und Zutrittsverboten an jeder Ecke, die die Palästinenser in isolierte Ghettos zwingen.
Nichts davon scheint von Bedeutung.
Es spielt keine Rolle, dass bisher niemand weiß, wer die israelischen Jugendlichen ermordet hat. Das ganze Land scheint nach palästinensischem Blut zu lechzen, was an Lynchmorde an Schwarzen in den amerikanischen Südstaaten erinnert, die verübt wurden, wann immer ein Weißer tot aufgefunden wurde. Es spielt auch keine Rolle, dass diese israelischen Jugendlichen Siedler waren, die in einer der illegalen, nur für Juden bestimmten Kolonien lebten, auf zumeist vom Staat privaten palästinensischen Besitzern gestohlenem Land des Dorfes el-Khader. Der überwiegende Teil der Siedler dort sind Amerikaner, vorwiegend aus New York, wie einer der ermordeten Jugendlichen, die über das Privileg zweier Staatsbürgerschaften verfügen, die – wo auch immer sie herkommen – ein zweites Land haben, ihr eigentliches Heimatland und das unsere, während die einheimischen Palästinenser in Flüchtlingslagern, in belagerten Ghettos oder im endlosen Exil ausharren.
Palästinensische Kinder werden tagtäglich angegriffen oder ermordet, und kaum je wird in der westlichen Presse darüber berichtet. Während palästinensischen Müttern häufig gar die Schuld gegeben wird, wenn Israel ihre Kinder tötet, und ihnen vorgeworfen wird, dass sie sie in den Tod schicken, anstatt sie – außer Reichweite israelischer Heckenschützen – im Hause zu behalten, verlangt niemand einen Kommentar von Rachel Frankel, der Mutter eines der ermordeten Siedler, zu der Tatsache, dass einer der Entführten ein Soldat war, der vermutlich an der Unterdrückung seiner palästinensischen Nachbarn beteiligt war. Niemand fragt, warum sie mit ihrer Familie aus den USA einwanderte, um in einer nur von Juden mit Herrschaftsanspruch bewohnten Kolonie zu leben, die auf dem von einheimischen nicht-jüdischen Besitzern konfiszierten Land errichtet wurde. Auf keinen Fall würde jemand es wagen, ihr vorzuwerfen, sie hätte damit ihre Kinder Gefahren ausgesetzt.
Keine Mutter sollte die Ermordung ihres Kindes erleiden müssen, keine Mutter, kein Vater. Das gilt nicht nur für jüdische Eltern. Das Leben unserer Kinder ist nicht weniger kostbar, ihr Verlust nicht weniger erschütternd und kein geringeres Trauma. Aber der Wert eines Lebens wird hier von Seiten des Staates wie der ganzen Welt erschreckend unterschiedlich beurteilt: Ein palästinensisches Leben ist wertlos und verfügbar, ein jüdisches Leben dagegen sakrosankt.
Die Einzigartigkeit und Überlegenheit jüdischen Lebens ist ein fundamentaler Grundsatz des Staates Israel. Er durchzieht jedes seiner Gesetze, sämtliche Regularien, und er passt zu der offensichtlichen Verachtung und Missachtung palästinensischen Lebens – sei es durch Gesetze, die Juden bei der Arbeitssuche oder bei Bildungschancen bevorzugen, oder durch Gesetze, die Nicht-Juden vom Kauf oder der Anmietung von Wohnungen in jüdischen Vierteln ausschließen, oder durch die zahllosen Militärverordnungen, die Bewegungsfreiheit, Wasserverbrauch, Zugang zu Lebensmitteln, Bildung, Heiratsmöglichkeiten und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Palästinenser einschränken, und schließlich die Tatsache, dass das Leben der palästinensischen Zivilgesellschaft regelmäßig auf den Kopf gestellt wird. Das Leben von Nicht-Juden entspricht so dem religiösen Erlass des Oberrabbiners von Hebron und Kiryat Arba, Dov Lior: „Tausend nichtjüdische Leben sind nicht so viel wert wie ein jüdischer Fingernagel.“
Die israelische Gewalt der vergangenen Wochen wird allgemein akzeptiert und erwartet. Und der Terror, mit dem sie unser Volk gewiss noch überziehen werden, wird wie immer durch die Legitimität der Uniformen und der technischen Todesmaschinerie bemäntelt werden. Israels Gewalt, wie obszön auch immer, wird unweigerlich als heroische dargestellt, die westliche Medien „Antwort“ nennen, als ob der palästinensische Widerstand nicht selbst die Antwort wäre auf die israelische Unterdrückung. Als das IRK aufgefordert wurde, einen ähnlichen Aufruf zur sofortigen und bedingungslosen Freilassung von Hunderten von palästinensischen Kindern in israelischen Gefängnissen (ebenfalls ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht) zu veröffentlichen, weigerte sich das IRK mit dem Hinweis, dass es einen Unterschied gebe zwischen dem Einzelfall der Entführung israelischer Jugendlicher und der routinemäßigen Entführung, Folterung, Isolation und Inhaftierung palästinensischer Kinder.
- Wenn unsere Kinder Steine werfen auf schwer bewaffnete israelische Panzer und Militärfahrzeuge, die durch unsere Straßen fahren, sind wir verachtenswerte Eltern, die die Ermordung unserer Kinder zu verantworten haben, wenn sie von israelischen Soldaten oder Siedlern erschossen werden.
- Wenn wir uns weigern, bedingungslos zu kapitulieren, sind wir keine „Partner für den Frieden“, und wir verdienen es nicht anders, als dass noch mehr von unserem Land konfisziert wird für den exklusiven Gebrauch durch Juden.
- Wenn wir zu den Waffen greifen und zurückschlagen, einen Soldaten entführen, sind wir Terroristen der übelsten Sorte, die selbst schuld sind, wenn Israel die gesamte palästinensische Bevölkerung kollektiver Bestrafung unterwirft.
- Wenn wir friedlich protestieren, sind wir Randalierer, die es verdient haben, mit scharfer Munition beschossen zu werden.
- Wenn wir argumentieren, schreiben, boykottieren, sind wir Antisemiten, die zum Schweigen gebracht, deportiert, marginalisiert und strafrechtlich verfolgt werden sollten.
Was sollen wir also tun? Palästina wird buchstäblich von der Landkarte getilgt durch einen Staat, der offen von der jüdischen Überlegenheit und der Privilegierung der Juden ausgeht. Unser Volk wird weiter seines Heimatlandes und seines historischen Erbes beraubt, an den Rand des Menschseins gedrängt und verantwortlich gemacht für sein elendes Schicksal: „Selbst schuld!“ Wir sind eine traumatisierte, im Prinzip wehrlose einheimische Bevölkerung, die zerstört und vernichtet wird durch eine der größten Militärmächte.
Rachel Frankel wandte sich mit der Bitte um Hilfe an die UNO mit den Worten, dass es „unrecht ist, Kinder, unschuldige Jungen oder Mädchen, gefangen zu nehmen und sie als Druckmittel in welcher Auseinandersetzung auch immer zu verwenden. Es ist grausam... Ich frage: Hat nicht jedes Kind das Recht, sicher von der Schule nach Hause zu kommen?“ Gelten solche Gefühle nicht auch im Hinblick auf palästinensische Kinder? Hier und hier und hier und hier und hier und hier [Hier ver-“linkt“ Susan Abulhawa auf Videos, die die Festnahme von Kindern zeigen. Siehe im englischen Original] sind Videoaufzeichnungen, die zeigen, wie palästinensische Kinder in der Nacht aus ihren Häusern und auf ihrem Weg zur oder von der Schule entführt werden.
Aber auch das alles zählt nicht. Oder etwa doch? Es zählt, dass drei israelische Juden getötet wurden. Es spielt keine Rolle, wer es getan hat oder unter welchen Umständen es geschah, man wird jedenfalls die gesamte palästinensische Bevölkerung dafür leiden lassen, mehr noch als bisher schon.
Susan Abulhawa
► Quelle: The Hindu, 1. Juli 2014 > Artikel
Übersetzung: Jürgen Jung. Redaktion: Eckhard Lenner / SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina–Israel e.V. - http://www.salamshalom-ev.de/
Susan Abulhawa, geb. 1970 in Kuweit, ist eine amerikanisch-palästinensische Schriftstellerin und Friedensaktivistin, Autorin des internationalen Bestseller-Romans „Mornings in Jenin“, dt. Titel: „Während die Welt schlief“, München 2012. Gründerin einer Nicht-Regierungs-Organisation für Kinder in Flüchtlingslagern: „Playgrounds for Palestine“ – auch im Libanon.
► Bild- und Grafikquellen:
1. Israelische Luftschläge gegen Palästinenser, die mangels Schutzbunker völlig hilflos ausgeliefert sind. Foto: International Solidarity Movement. Licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 license. Siehe auch Nutzungsrechte-Hinweis auf der ISM-Seite
2. + 3. Zehntausende palestinensche Kinder und Jugendliche wurde durch den israelischen Besatzerstaat in den vergangenen Jahrzehnten bereits traumatisiert, verwundet oder getötet. Foto: International Solidarity Movement. Licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 license. Siehe auch Nutzungsrechte-Hinweis auf der ISM-Seite
"Stone Cold Justice" - Israeli kidnapping, detention, torture and abuse of Palestinian children (Dauer 45:30 Min).
4. Kinder und Jugendliche werden zu tausenden aus den Häusern ihrer Eltern geholt, verhört, bedroht, verletzt und eingelocht. UNO, UNICEF und eine Reihe von Menschenrechtsorganisationen haben dies bereits mehrfach dokumentiert und scharf kritisiert. Selbst einige Israelis sind gegen diese Vorgehensweise, können sich aber nicht durchsetzen. Foto: International Solidarity Movement. Licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 license. Siehe auch Nutzungsrechte-Hinweis auf der ISM-Seite
5. Boycott, Divestment and Sanctions (dt. Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen, kurz BDS) ist eine internationale wirtschaftliche und akademische Kampagne, die am 9. Juli 2005 auf den Aufruf von über 170 palästinensischen Nicht-Regierungsorganisationen hin ins Leben gerufen wurde. Diese fordern „ … Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen gegen Israel, bis es das Völkerrecht und die universellen Menschenrechtsprinzipien respektiert“. Die Organisation fordert das Ende der militärischen Besatzung des Westjordanlandes, die Aufgabe der israelischen Sperranlagen im Westjordanland und eine Lösung des palästinensischen Flüchtlingsproblems. Sie setzen sich zudem für die Rechte arabischer Israelis ein.
Die Kampagne hat international einiges Aufsehen erregt und hat prominente Befürworter, aber auch viele Kritiker.