EU-Innenminister beschließen Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr

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EU-Innenminister beschließen Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr
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EU-Innenminister beschließen Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr

von Martin Kreickenbaum / wsws.org/de/

Die Innenminister der Europäischen Union (EU) beschlossen am Dienstag nach zehnstündigen Verhandlungen ein Quotensystem zur Verteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen Mitgliedsstaaten. Sie bereiteten damit einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs zur Flüchtlingsfrage vor, der am Mittwochabend in Brüssel stattfand.

Die Quotenregelung war bis zuletzt heftig umstritten. Entgegen der Gepflogenheit, derartige Beschlüsse einstimmig zu fassen, trafen die Innenminister eine Mehrheitsentscheidung, was nach den EU-Verträgen möglich ist. Ungarn, Rumänien, Tschechien und die Slowakei lehnten die Regelung ab, Finnland enthielt sich. Die polnische Regierung, die sich der Regelung ursprünglich ebenfalls widersetzt hatte, wurde während der Sitzung durch Zugeständnisse umgestimmt.
 

Anders als die EU-Kommission ursprünglich vorgeschlagen hatte, wird es keine festen Quoten geben, die sich nach Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und Arbeitslosenquote richten. Stattdessen soll jede Regierung auf freiwilliger Basis ein Aufnahmekontingent benennen. Zudem können die einzelnen Staaten selbst aussuchen, welche Flüchtlinge sie aufnehmen.

Konkret geht es darum, 120.000 Flüchtlinge auf andere Länder zu verteilen. 15.600 Flüchtlinge aus Italien und 50.400 aus Griechenland sollen innerhalb der nächsten zwei Jahre von anderen Staaten aufgenommen werden. Ein Kontingent von 54.000 Flüchtlingen, das ursprünglich aus Ungarn umgesiedelt werden sollte, soll nun Italien, Griechenland und anderen Ländern zugeschlagen werden, da die meisten in Ungarn registrierten Flüchtlinge das Land bereits wieder verlassen haben und die ungarische Regierung den Verteilungsmechanismus grundsätzlich ablehnt.

Angesichts der Tatsache, dass die EU allein in diesem Jahr mindestens eine Million Flüchtlinge erwartet, erscheint die Zahl von 120.000 verteilt auf zwei Jahre lächerlich gering. Sie entspricht bei derzeit durchschnittlich 6.000 Flüchtlingen, die Europa am Tag erreichen, gerade dem Zuzug von 20 Tagen.

Tatsächlich geht es bei der Quotenregelung nicht darum, die Flüchtlinge unterzubringen und die Last in Europa „gerecht zu verteilen“, wie dies von offizieller Seite behauptet wird. Vielmehr wird ein neuer Mechanismus geschaffen, der es ermöglichen soll, den Flüchtlingsstrom unter Kontrolle zu bringen, Flüchtlinge zu deportieren und die EU-Außengrenzen gegen sie abzuschotten.

Vor allem die Innenminister Deutschlands und Österreichs hatten auf die Quotenregelung gedrängt. Obwohl sie zur Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge verpflichtet werden, erhoffen sie sich davon einen starken Rückgang der Flüchtlingszahlen.
 

Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner erklärte nach der Sitzung unumwunden, dass sie sich einen Abschreckungseffekt verspreche. „Das ganz Entscheidende war heute, dass wir auch den Anfang vom Ende des Asyltourismus gesetzt haben“, sagte sie dem Fernsehsender ORF. „Denn wenn 120.000 gleichmäßig aufgeteilt werden auch auf so genannte ‚unattraktive Staaten‘, ist das ein Doppelschlag und ein Signal in zweierlei Hinsicht. Zum ersten: Es kommt zu einer Entlastung der Balkanroute und einer Entlastung Österreichs. Und zum zweiten: Es können sich die Flüchtlinge in Zukunft nicht mehr aussuchen, wo sie Asyl ersuchen.“

Mikl-Leitner machte deutlich, dass der Quotenbeschluss nur ein erster Baustein ist, um den Zuzug von Flüchtlingen insgesamt zu stoppen. Sie betonte, dass „die Kontrolle der Außengrenzen und die Einrichtung von Hotspots ganz entscheidend sind, um die Flüchtlingsströme zu dämpfen“.

Ins gleiche Horn stieß Thomas de Maizière. „Was wir brauchen, ist ein Stopp des Zuzugs“, erklärte der deutsche Innenminister. Außerdem nannte er in einer Presseerklärung als Zielvorgaben den „Schutz der EU-Außengrenzen, die konsequente Rückführung von nicht-schutzbedürftigen Migranten und die Beachtung und Anwendung der Regeln des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems durch alle Mitgliedsstaaten“.

Die Quotenregelung setzt auch das Dublin-Abkommen [Erg. ADMIN H.S.: Das Dubliner Übereinkommen () ist innerhalb der EU zwischenzeitlich durch die Dublin-II-Verordnung und jüngst die Dublin-III-Verordnung ersetzt worden.] nicht außer Kraft, wie einige Flüchtlingsorganisationen behaupten. Dieses legt fest, dass der Staat für das Asylverfahren und die Aufnahme eines Flüchtlings zuständig ist, dessen Boden er zuerst betritt. Der EU-Ratsbeschluss hält ausdrücklich fest, dass der Verteilungsmechanismus das Dublin-Abkommen nicht ersetzt, sondern nur in Notfallsituationen ergänzt.




Zudem wird in dem 42-seitigen Papier geradezu minutiös aufgelistet, mit welchen Repressalien Flüchtlinge zu rechnen haben. Im Gegensatz zu den Aufnahmestaaten haben sie kein Mitspracherecht bei der Wahl des Staates, in den sie geschickt werden. Verteilt werden sollen nur Flüchtlinge, die aus Ländern mit einer durchschnittlichen Anerkennungsquote von 75 Prozent kommen. Zurzeit betrifft das hauptsächlich Flüchtlinge aus Syrien und Eritrea.

Zudem erhalten die betroffenen Flüchtlinge keine international gültigen Reisedokumente, was einer Ausweitung der in Deutschland praktizierten Residenzpflicht auf ganz Europa gleichkommt. Sie werden faktisch in dem ihnen zugewiesen Staat gefangen gehalten. Die Flüchtlinge müssen einer regelmäßigen Meldepflicht nachkommen und werden nur mit Sachleistungen abgefunden.

Zentraler Bestandteil der Vereinbarung ist aber vor allem der zügige Aufbau sogenannter „Hotspots“ in den Randstaaten der EU. Gemeint sind damit gewaltige Konzentrationslager, in denen ankommende Flüchtlinge im Schnellverfahren registriert und ihre Asylanträge einer Vorprüfung unterzogen werden.

Durchgeführt wird die Registrierung der Flüchtlinge dort von der Grenzschutzagentur Frontex, dem „Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen; englisch European Asylum Support Office)“ (EASO) und der europäischen Polizeibehörde Europol. Neben einem Medizinscheck geht es dabei vor allem um die Feststellung des Herkunftslandes, der Fluchtrouten und der Fluchthelfer. Außerdem werden auch zwangsweise Fingerabdrücke der Flüchtlinge genommen.
 

Wer in den „Hotspots“ durch das Raster fällt, wird umgehend wieder abgeschoben. Diese Aufgabe soll Frontex übernehmen, deren Mandat ausgeweitet wird. Außerdem wird das Budget von Frontex um 54 Prozent auf 176 Millionen Euro aufgestockt. Für die Abschiebungen will die Europäische Union weitere 500 Millionen Euro bereit stellen.

Ein erstes, von den europäischen Behörden beaufsichtigtes Lager befindet sich derzeit im sizilianischen Catania im Aufbau. Die Planungen für ein zweites Lager im griechischen Piräus sind ebenfalls weit fortgeschritten.

Das Dublin-Abkommen, das Griechenland und Italien verpflichtet, für die dort ankommenden Flüchtlinge auch das Asylverfahren durchzuführen, ist in den vergangenen Wochen aufgrund des starken Anstiegs der Flüchtlingszahlen faktisch zusammengebrochen. In diesem Jahr sind nach Angaben des UNHCR bereits 442.400 Flüchtlinge über das Mittelmeer in die Europäische Union eingereist, davon 319.000 über Griechenland. Alleine seit August haben die griechischen Behörden 192.000 Flüchtlinge registriert.

Die griechischen und italienischen Behörden waren weder in der Lage noch willens, die Asylverfahren alleine durchzuführen, und schickten die Flüchtlinge, ausgestattet mit vorläufigen Reisedokumenten, einfach weiter. Damit begann der Flüchtlingstreck über den Balkan, der schließlich auch Deutschland erreichte, wo die Regierung nun in diesem Jahr mit rund 800.000 Flüchtlingen rechnet.

Die Quotenregelung und die Errichtung von „Hotspots“ sind ein Versuch, die Kontrolle über die Fluchtbewegungen zurückzugewinnen und das Dublin-Abkommen wieder vollständig in Kraft zu setzen, mit dem sich vor allem die reichen EU-Länder Deutschland, Frankreich, Großbritannien sowie die Benelux-Staaten die Flüchtlinge vom Hals gehalten hatten. Der Widerstand der osteuropäischen Staaten gegen die Verteilungsquoten rührt auch daher, dass sie befürchten, zukünftig würden gemäß dem Dublin-Abkommen wieder massenhaft Flüchtlinge aus den reicheren Staaten im Westen nach Osteuropa zurückgeschoben.
 

Parallel zu den Bemühungen, die Flüchtlinge in grenznahen Ländern festzuhalten, bemüht sich die EU auch um die weitere Aufrüstung ihrer Außengrenzen. Im Einladungsbrief zum gestrigen Sondergipfel erklärte EU-Ratspräsident Donald Tusk die Abschottung gegen Flüchtlinge zur dringlichsten Aufgabe: „Wir als Europäer sind momentan nicht in der Lage, unsere gemeinsamen Außengrenzen zu sichern… Der Schutz der Europäischen Union ist unsere oberste Aufgabe und Pflicht und wir haben dabei versagt.“

Neben der Errichtung von meterhohen Stacheldrahtzäunen in Bulgarien, Griechenland und Ungarn, die von der EU finanziell unterstützt wurden, wird die Grenzschutzpolizei mit Hilfe von Frontex massiv aufgerüstet und das Militär an den Außengrenzen stationiert, um Flüchtlinge am Betreten der EU zu hindern. Nach der ungarischen Regierung hat jetzt auch die bulgarische Regierung die Verlegung von bis zu 1.000 Soldaten inklusive Kettenfahrzeugen an die Grenze zur Türkei angekündigt.

Besonders martialisch tritt dabei der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán auf, der den Zustrom von Flüchtlingen als „brutale Gefahr“ bezeichnete und hetzte: „Sie überrennen uns. Sie schlagen nicht nur gegen die Tür, sie treten die Tür ein.“

Orban steht damit keineswegs allein. Die bayrische CSU, Mitglied der Bundesregierung, lud ihn diese Woche zu ihrer Klausurtagung ein. Dort durfte er seine Hetze wiederholen und erntete dafür viel Applaus. Das zeigt nur allzu deutlich, dass Orban kein Paria ist, sondern den Mainstream der europäischen Politik vertritt. Diese steht in scharfem Gegensatz zur Haltung breiter Bevölkerungsschichten, die die Flüchtlinge mit Hilfsbereitschaft und Solidarität empfangen.

Martin Kreickenbaum
 

  LESETIPP: Pressemitteilung der Europäische Kommission "Mehr Verantwortung bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise" - bitte noch weiter runterscrollen



Quelle:  WSWS.org > WSWS.org/de > Artikel vom 24.09.2015.

Dank an Redakteur Ludwig Niethammer für die Freigabe zur Veröffentlichung.

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Bild- und Grafikquellen:

1. Bahnhof Keleti, Budapest. 3.September 2015: Eine Flüchtlingsfamilie verbrachte die Nacht vor dem Haupteingang des Bahnhofsgebäudes, welches seit einigen Tagen von der Polizei für Flüchtlinge gesperrt war. Die im Hintergrund stehenden Polizeikräfte zogen sich kurz nach dieser Aufnahme zurück, sodass viele Flüchtlinge in tumultartigen Szenen in das Bahnhofsgebäude stürmten und wahllos Züge bestiegen. Der internationale Zugverkehr in den Westen war zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits eingestellt.

Die im Jahr 2015 stetig anwachsenden Flüchtlingsströme aus Asien führten gegen Ende August zu chaotischen Umständen am Budapester Bahnhof „Keleti pályaudvar“ (kurz: Keleti; Ostbahnhof). Tausende Flüchtlinge (zum Großteil aus Syrien und anderen asiatischen Ländern) strandeten auf ihrem Weg in eine erhoffte bessere Zukunft an diesem Ort. Obwohl Ungarn als Mitgliedsland der Europäischen Union nach geltendem europäischen Recht (Dublin-III-Verordnung) für das Asylverfahren dieser Menschen verantwortlich gewesen wäre, bevorzugten die meisten Flüchtlinge zum Stellen ihres Asylantrags eine Weiterreise nach Westeuropa, hier insbesondere nach Deutschland, da sie sich dort bessere Aussicht auf eine positive Beurteilung ihres Asylgesuches erhofften.

Foto: Michael Gubi. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0).

2. Syrische Flüchtlinge am Wiener Bahnhof. Hier zeigt sich die Hilfsbereitschaft vieler Wiener Bürger und Bürgerinnen. Foto: Josh Zakary. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0).

3. DES DORITS HUMAINS - Menschenrechte - HUMAN RIGHTS: Kundgebung STOP DUBLIN in Lausanne/CH am September 2015. Foto: Gustave Deghilage. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0)

4. Graffito "FRONTEX VERSENKEN". Foto: Flickr-user seven resist. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-NC-SA 2.0).

5. Refugees Welcome Here - London Demonstration 12 Sept 2015. Transparent "NO ONE PUTS THEIR CHILDREN IN A BOAT UNLESS THE WATER IS SAFER THAN THE LAND." In a protest organised by Stand Up to Racism, and supported by Stop the War and others, tens of thousands took to the London streets to condemn UK Prime Minister David Cameron's response to the refugee crisis originating in the Middle East and Africa, often as a consequence of UK militarism in those regions.

Foto: RonF / The Weekly Bull. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

6. Transparent "NAZIS MORDEN, DER STAAT SCHIEBT AB . . . ". Eine Bewegung lässt sich nicht räumen - Bleiberecht für alle! Es ist an der Zeit, die Flüchtlings- und Migrationspolitik auf Bundes-, aber auch auf lokaler und Länderebene zu verändern. Der Berliner Senat könnte mit gutem Beispiel vorangehen. Er hat alle notwendigen Mittel für eine demokratische, humanitäre Lösung des aktuellen Konflikts in der Hand.

Foto: Uwe Hiksch. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-NC-SA 2.0).


 

Europäische Kommission - Pressemitteilung

Mehr Verantwortung bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise

EU-Kommission bringt Gemeinsames Europäisches Asylsystem auf Kurs und leitet 40 Vertragsverletzungsverfahren ein

Brüssel, 23. September 2015

Mehr Verantwortung bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise: Europäische Kommission bringt Gemeinsames Europäisches Asylsystem auf Kurs und leitet 40 Vertragsverletzungsverfahren ein

Die Europäische Kommission hat heute 40 Beschlüsse über die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren gegen mehrere Mitgliedstaaten (siehe Tabelle im Anhang) angenommen, die die Rechtsvorschriften zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem nicht vollständig umgesetzt haben. Im Nachgang zu dem zweiten Maßnahmenpaket zur Umsetzung der Europäischen Migrationsagenda intensiviert die Europäische Kommission ihre Anstrengungen, mit denen sie die vollständige Anwendung des EU-Rechts im Bereich Migration und Asyl gewährleisten will. Den Schwerpunkt der betreffenden Rechtsvorschriften bilden gerechtere, schnellere und hochwertigere Asylentscheidungen (Asylverfahrensrichtlinie), humane Aufnahmebedingungen durch Gewährung physischer Leistungen (u. a. Unterkunft) für Asylbewerber überall in der EU (Richtlinie über Aufnahmebedingungen) und klarer gefasste Kriterien für die Gewährung internationalen Schutzes (Anerkennungsrichtlinie).

Der Erste Vizepräsident der Europäischen Kommission, Frans Timmermans, erklärte dazu: „Solidarität und Verantwortung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben auf einer Sondertagung des Europäischen Rates im April die zügige und vollständige Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gefordert, um gemeinsame europäische Normen im Rahmen der bestehenden Rechtsvorschriften zu gewährleisten.Mit den heute eingeleiteten 40 Vertragsverletzungsverfahren will die Kommission als Hüterin der Verträge dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten tatsächlich zügig und vollständig das umsetzen und anwenden, was sie früher zugesagt haben. Unser Gemeinsames Europäisches Asylsystem kann nur funktionieren, wenn sich jeder an die Regeln hält.“

Dimitris Avramopoulos, für Migration und Inneres zuständiges Kommissionsmitglied, sagte: „In Europa muss sich jeder an die gemeinsam vereinbarten Normen für die Aufnahme von Asylsuchenden halten. Alle teilnehmenden Mitgliedstaaten müssen die bei ihnen gestellten Asylanträge gemäß den gemeinsamen Kriterien und Normen bearbeiten, die von den nationalen Behörden verwendet werden, um festzustellen, ob die betreffende Person Anspruch auf internationalen Schutz hat. Diese Normen müssen vollständig angewandt und eingehalten werden, wobei stets die Würde und die Menschenrechte der Antragsteller zu achten sind.“

Die EU-Kommission hat heute wie folgt 40 Beschlüsse zur Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren gegen 19 Mitgliedstaaten eingeleitet:

1. Wegen Nichtmitteilung nationaler Maßnahmen zur Umsetzung der aktualisierten Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) übermittelt die Kommission mit Gründen versehene Stellungnahmen an Bulgarien und Spanien. Mit der Richtlinie werden Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz harmonisiert. Sie enthält auch eine Reihe von Rechten zum Schutz vor Zurückweisung, zu Aufenthaltstiteln, Reisedokumenten und Zugang zu Beschäftigung und Bildung, sozialer Absicherung, Gesundheitsvorsorge, Unterkunft und Integrationsmaßnahmen sowie spezielle Vorschriften für Kinder und andere schutzbedürftige Personen.

Die Richtlinie hätte bis zum 21. Dezember 2013 umgesetzt werden müssen. Obwohl Bulgarien und Spanien im Juni 2013 bzw. im Januar 2014 Aufforderungsschreiben (erste förmliche Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens) zugegangen waren, haben die beiden Mitgliedstaaten die Anerkennungsrichtlinie nicht umgesetzt bzw. der Kommission in keinem Fall die nationalen Umsetzungsmaßnahmen mitgeteilt.

2. Wegen Nichtmitteilung nationaler Maßnahmen zur Umsetzung der überarbeiteten Asylverfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU)[1] übermittelt die Kommission Aufforderungsschreiben an 18 Mitgliedstaaten[2]. In dieser Richtlinie sind gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes und klarere Vorschriften für die Beantragung von Asyl festgelegt. Sie gilt für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet - auch an den Grenzen, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen - der Mitgliedstaaten gestellt werden. Die Mitgliedstaaten waren verpflichtet, diese Richtlinie, mit der die Richtlinie 2005/85/EG aktualisiert wird, umzusetzen und der Kommission die nationalen Umsetzungsmaßnahmen bis zum 20. Juli 2015 mitzuteilen (mit Ausnahme des Artikels 31 Absätze 3 bis 5, für den die Umsetzungsfrist der 20. Juli 2018 ist).

3. Die Kommission übermittelt Aufforderungsschreiben an 19 Mitgliedstaaten[3] wegen Nichtmitteilung der nationalen Maßnahmen, die zur vollständigen Umsetzung der aktualisierten Richtlinie über Aufnahmebedingungen (Richtlinie 2013/33/EU)[4] ergriffenen wurden. In dieser Richtlinie sind gemeinsame Mindestnormen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, in den Mitgliedstaaten festgelegt. Gemäß der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Antragstellern, die internationalen Schutz beantragen, im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen gewährt werden. Diese umfassen den Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Gesundheitsversorgung und Beschäftigung sowie zu medizinischer und psychologischer Versorgung. Die Richtlinie beschränkt auch die Inhaftierung von schutzbedürftigen Personen, insbesondere von Minderjährigen. Die Mitgliedstaaten hatten die Richtlinie, mit der die Richtlinie 2003/9/EG aktualisiert wird, umzusetzen und die nationalen Umsetzungsmaßnahmen bis zum 20. Juli 2015 mitzuteilen.

4. Die Kommission übermittelt nun ein zweites ergänzendes Aufforderungsschreiben an Griechenland wegen Verstoßes gegen einige Bestimmungen der aktualisierten Richtlinie über Aufnahmebedingungen und der aktualisierten Asylverfahrensrichtlinie. In diesem Schreiben werden schwerwiegende Mängel des griechischen Asylsystems angemahnt, vor allem im Hinblick auf die materiellen Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, insbesondere Menschen mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme und schutzbedürftige Personen. Zudem wird auf strukturelle Schwachstellen in der Funktionsweise der Vormundschaft oder der rechtlichen Vertretung für alle unbegleiteten Minderjährigen während des Asylverfahrens hingewiesen.

Nach einem Aufforderungsschreiben der Kommission im Jahr 2009 und einem ersten ergänzenden Aufforderungsschreiben im Jahr 2010 hatte sich Griechenland verpflichtet, sein Asylsystem auf der Grundlage eines im August 2010 vorgelegten und im Januar 2013 überarbeiteten Aktionsplans für Asylreform und Migrationssteuerung umfassend zu reformieren. Die Kommission beobachtete eingehend die Umsetzung der Maßnahmen des Aktionsplans und leistete finanzielle und technische Unterstützung.

Griechenland hat im März einen neuen Fahrplan zu Asylfragen für 2015 vorgelegt. Trotz der zwischenzeitlich erzielten Fortschritte besteht unabhängig von dem jüngst zu verzeichnenden hohen und unerwarteten Zustrom weiterhin ein anhaltender struktureller Mangel an Aufnahmekapazitäten. Deshalb hat die Europäische Kommission nach wie vor ernste Bedenken hinsichtlich der Verfügbarkeit angemessener Aufnahmebedingungen für Asylbewerber sowie der Situation unbegleiteter minderjähriger Asylbewerber.

Die nächsten Schritte

Aufforderungsschreiben sind die erste förmliche Stufe eines Vertragsverletzungsverfahrens. Nach Erhalt eines Aufforderungsschreibens haben die Mitgliedstaaten zwei Monate Zeit, um dieses zu beantworten. Dabei müssen sie der Kommission in Fällen, in denen eine Nichtmitteilung angemahnt wurde, ihre nationalen Umsetzungsmaßnahmen mitteilen. Fallen die Antworten nicht zufriedenstellend aus oder werden nationale Maßnahmen zur vollständigen Umsetzung der Richtlinie weiterhin nicht mitgeteilt, kann die Europäische Kommission beschließen, eine mit Gründen versehene Stellungnahme zu übermitteln und somit zur zweiten Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens überzugehen.

Nach Erhalt der mit Gründen versehenen Stellungnahme haben die Mitgliedstaaten zwei Monate Zeit, um der Kommission zu antworten. Dabei müssen sie mitteilen, welche Maßnahmen ergriffen wurden, um eine vollständige Umsetzung zu gewährleisten oder die nationalen Rechtsvorschriften mit dem EU-Recht in Einklang zu bringen. Andernfalls kann die Kommission beschließen, vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Klage gegen die betreffenden Mitgliedstaaten zu erheben. In Fällen, in denen keine nationalen Umsetzungsmaßnahmen mitgeteilt werden, kann die Kommission dem Gerichtshof die Verhängung von finanziellen Sanktionen gemäß Artikel 260 Absatz 3 AEUV vorschlagen.

Hintergrund

Seit den frühen 2000er Jahren hat die Kommission eine Reihe von Rechtsakten zur Schaffung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorgeschlagen. Parlament und Rat haben diese Rechtsvorschriften Stück für Stück verabschiedet.

Wir verfügen nun europaweit über gemeinsame Normen für die Aufnahme von Asylsuchenden, für einen würdevollen Umgang sowie für die Bearbeitung der Asylanträge, und wir haben gemeinsame Kriterien, anhand deren unsere unabhängigen Justizsysteme bestimmen können, ob eine Person Anspruch auf internationalen Schutz hat.

Fünf verschiedene Rechtsakte bilden den Kern des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (die Dublin-Verordnung, die Neufassung der Asylverfahrensrichtlinie, die Neufassung der Anerkennungsrichtlinie, die Neufassung der Richtlinie über Aufnahmebedingungen und die Eurodac-Vorschriften über die Abnahme von Fingerabdrücken).

Am 13. Mai 2015 legte die Europäische Kommission ihre Europäische Migrationsagenda vor, die eine umfassende Strategie für eine bessere Steuerung der Migration in all ihren Aspekten enthält. In diesem Zusammenhang hat sich die Kommission verpflichtet, sich vorrangig mit der Umsetzung und der praktischen Anwendung der kürzlich erlassenen Asylvorschriften zu befassen, wenn sie die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren erwägt. Die Kommission hat heute 37 neue Verfahren eingeleitet, ist in zwei anhängigen Verfahren zur nächsten Verfahrensstufe übergegangen und hat in einem Fall ein zweites ergänzendes Aufforderungsschreiben übermittelt.

Die Kommission hat zudem am 28. August 2015 an Deutschland, Italien, Griechenland, Ungarn und Zypern Verwaltungsschreiben gesandt, in denen diese Mitgliedstaaten zu einer Klarstellung hinsichtlich der Einhaltung der Eurodac-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 603/2013) aufgefordert werden. In weiteren Verwaltungsschreiben vom 11. September 2015 wurden Deutschland, Italien und Griechenland zu einer Klarstellung im Hinblick auf den Erlass und die Durchsetzung von Rückkehrentscheidungen (Richtlinie 2008/115/EG) aufgefordert.

Weitere Informationen
 

Factsheet: Migration und Asyl - Geteilte Verantwortung und Solidarität

Überblick: Vertragsverletzungsverfahren im Bereich Asyl

Legislative Dokumente: Europäische Agenda für Migration

Website der Generaldirektion Migration und Inneres

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[1] Diese Richtlinie gilt nicht für Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich.

[2] Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Polen, Rumänien, Schweden, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern.

[3] Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Österreich, Polen, Rumänien, Schweden, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern.

[4] Diese Richtlinie gilt nicht für Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich.

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