Frank-Walter Steinmeier hat in Polen vor allem die USA hofiert.
Aus welchem Anlass? . . . War das nötig, Herr Steinmeier?
Ein offener Brief von Christian Müller
Sehr geehrter Herr Bundespräsident
Ihr persönlicher Auftritt in Wieluń und Warschau vor zwei Tagen war zwar nicht so eindrücklich wie der spontane Kniefall von Willy Brandt am 7. Dezember 1970 in Warschau. Es ehrt Sie aber sehr, dass Sie anlässlich der Erinnerungsfeiern an den Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen vor 80 Jahren Klartext gesprochen und die grosse Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ungeschminkt eingestanden haben. Ihre Entschuldigung für die Kriegsverbrechen Hitler-Deutschlands wirkt glaubwürdig, Ihre wohlvorbereiteten Worte sind angekommen. Danke insbesondere auch für den einen Satz: «Dass auf diesem Platz, an diesem Tag ein deutscher Präsident vor Ihnen stehen und sprechen darf – das zeigt das lebendige Wunder der Versöhnung.»
Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, haben mit der stillschweigenden Akzeptanz, dass zu diesem Anlass, an dem gemäss Ihrer eigenen Ansprache Staatsvertreter aus 40 Ländern (!) anwesend waren, ausgerechnet Russland aber nicht eingeladen war, allerdings keinen Beitrag zu einem «Wunder der Versöhnung» geleistet.
Wörtlich haben Sie gesagt: «Unsere Verantwortung, sie gilt auch der transatlantischen Partnerschaft. Wir alle blicken an diesem Jahrestag mit Dankbarkeit auf Amerika. Die Macht seiner Armeen hat – gemeinsam mit den Verbündeten im Westen und im Osten – den Nationalsozialismus niedergerungen. Und die Macht von Amerikas Ideen und Werten, seine Weitsicht, seine Grosszügigkeit haben diesem Kontinent eine andere, eine bessere Zukunft eröffnet.»
Und weiter: «Herr Vizepräsident, das ist die Grösse Amerikas, die wir Europäer bewundern und der wir verbunden sind. Dieses Amerika hat der Welt die Augen geöffnet für die unbändige Kraft der Freiheit und der Demokratie – gerade auch uns Deutschen. Diesem Amerika war das vereinte Europa immer ein Anliegen. Dieses Amerika wollte echte Partnerschaft und Freundschaft in gegenseitigem Respekt.»
Und dann: «Vieles davon scheint heute nicht mehr selbstverständlich. Deshalb: Lasst uns nicht vergessen, was uns stark gemacht hat – diesseits und jenseits des Atlantiks! Lasst uns das Gemeinsame bewahren in dieser Welt voller Veränderung und schwindender Gewissheiten!»
Und schliesslich: «Wir wissen wohl: Europa muss stärker und selbstbewusster werden. Aber wir wissen auch: Europa soll nicht stark sein ohne Amerika – oder gar gegen Amerika. Sondern Europa braucht Partner. Und ich bin sicher, auch Amerika braucht Partner in dieser Welt. Also lasst uns diese Partnerschaft pflegen! Lasst uns den Anspruch bewahren, dass der ‹Westen› mehr ist als eine Himmelsrichtung!»
Was, sehr geehrter Herr Bundespräsident, gab Ihnen Anlass zu dieser einseitigen USA-Hofiererei an einem Gedenktag des deutschen Angriffs auf Polen?
Haben Sie, heute Bundespräsident und vordem deutscher Aussenminister, vergessen, dass es – militärisch – die Sowjetarmee war, die Hitler in Stalingrad und Kursk in die Knie gezwungen hat und damit den Niedergang der deutschen Wehrmacht einleitete?
Haben Sie vergessen, dass Churchill noch im Januar 1945 – also ein halbes Jahr nach der Landung in der Normandie – Stalin ausdrücklich darum gebeten hat, die Kämpfe gegen die deutschen Truppen an der Ostfront aufrecht zu erhalten oder sogar zu intensivieren, weil er wusste, dass die USA und Grossbritannien bei den bevorstehenden Schlachten an der neu eröffneten Westfront gegen die Hitler-Truppen kaum eine Chance hatten, wenn Hitler seine Truppen von der Ostfront abziehen und an die Westfront verschieben konnte?
Haben Sie vergessen, dass der von Deutschland mit dem Abkommen von München und dem Angriff auf Polen eröffnete Zweite Weltkrieg in Russland um die 27 Millionen Opfer forderte, die Hälfte davon Zivilisten, während die USA 400'000 Soldaten verloren haben und null zivile Opfer zu beklagen hatten?
Haben die USA oder die Transatlantische Partnerschaft, die NATO, in letzter Zeit etwas von sich gegeben, das nach Versöhnungspolitik getönt hat?
Haben Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, vergessen, dass es die USA und die NATO waren – unter Beteiligung der deutschen Luftwaffe –, die im Rahmen der «Operation Allied Force» im Jugoslawienkrieg im Frühling 1999 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder einen militärischen Angriff auf einen anderen Staat starteten und dabei mit schweren Bombardierungen beileibe nicht etwa gespart haben?
Haben Sie vergessen, dass die NATO seit nunmehr 18 Jahren in Afghanistan einen Krieg führt, der bisher über 150’000 Menschen das Leben kostete, darunter vielen Zivilisten?
Haben Sie vergessen, dass die NATO ihrem Bündnispartner Türkei erlaubt, kurdische Gebiete in Nordsyrien gegen den Willen der dortigen Bevölkerung zu annektieren?
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, es ist nachvollziehbar, dass Sie an diesem Gedenktag des deutschen Angriffs auf Polen die Polen nicht daran erinnern wollten, dass Polen nach dem Abkommen von München 1938 im Schatten des deutschen Einmarsches in die Tschechoslowakei diesem Land – unter Einsatz von Dutzenden von Panzern – noch schnell die Stadt Těšín weggenommen hat. Eine solche Bemerkung hätte Polens Gastfreundschaft zweifellos verletzt.
Aber war es nötig, Amerika zu hofieren, nur weil Sie wissen, dass viele Polen die USA deutlich mehr lieben als die EU (Auch Donald Tusk, den Präsidenten des Europäischen Rates, hat Polen ja nicht eingeladen)?
Und weil Sie wissen, dass Polen bei der US-Rüstungsindustrie in den letzten Monaten für 3,8 Milliarden Euro Patriot-Raketenabwehr-Systeme und für 365 Millionen Euro 20 mobile Raketenabschuss-Systeme bestellt haben? Oder war es einfach nur ein peinlicher Kotau vor dem anwesenden US-Vizepräsidenten Mike Pence?
War Ihre Lobesrede an die Adressen der USA und der NATO ausgerechnet bei diesem Anlass, wo Sie «das Wunder der Versöhnung» thematisieren wollten, wirklich nötig?
Eine Antwort würde mich freuen.
Hochachtungsvoll
Christian Müller, ein für einmal nicht ganz stiller Beobachter aus dem Ausland
► Quelle: Dieser Artikel wurde am 03. Sep 2019 erstveröffentlicht auf infosperber.ch >> Artikel. Hinter der Plattform Infosperber.ch (siehe Impressum) steht die gemeinnützige «Schweizerische Stiftung zur Förderung unabhängiger Information» SSUI. Die Stiftung will einen unabhängigen Journalismus in der ganzen Schweiz fördern, insbesondere journalistische Recherchen von gesellschaftlicher und politischer Relevanz. Die Online-Zeitung Infosperber ergänzt grosse Medien, die z.T. ein ähnliches Zielpublikum haben, mit relevanten Informationen und Analysen. «Infosperber sieht, was andere übersehen.»
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1. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Andrzej Sebastian Duda (* 16. Mai 1972 in Krakau), seit August 2015 Präsident der Republik Polen, während der Gedenkveranstaltungen in Warschau anlässlich des 80. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, aufgen. am 1. Sept. 2019. Foto / Quelle: Flickr official photostream of the President of Ukraine. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).
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3. Frank-Walter Steinmeier ist der zwölfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Steinmeier erweist sich selbst an einem Gedenktag des deutschen Angriffs auf Polen durch einseitige USA-Hofiererei als lupenreiner Transatlantiker. Foto: Rabenspiegel / Christian Bueltemann, Volkmarsen. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.