Ökonomie als Kollapsgestaltung

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Ökonomie als Kollapsgestaltung
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Ökonomie als Kollapsgestaltung

von Professor Dr. Niko Paech

Bisherige Nachhaltigkeitsbemühungen sind gescheitert, ganz gleich ob es sich um politische, technologische oder kommunikative Maßnahmen handelte. Auch gesellschaftliche Nischen, in denen Ende der Siebziger und in den frühen Achtzigern progressiv-ökologisch Lebensstile praktiziert wurden, sind längst von materieller Aufrüstung, Digitalisierung und einem Flugreisen-Boom erfasst worden. Jetzt geht es nicht mehr um die Vermeidung des Kollapses, sondern nur noch um seine Gestaltung. Dazu zählt auch, Trost spendende Logiken zu vergegenwärtigen, die dem Dahinscheiden eines egozentrischen, unrettbar gewordenen Wohlstandsmodells positiven Sinn einhauchen. Was könnten die Inhalte einer solchen, möglichst fröhlichen Grabrede sein?

Erstens lässt sich der historisch einmalige Güterreichtum – zumindest nach Überschreitung eines bestimmten Niveaus – weder als „verdient“, noch als „erarbeitet“ legitimieren. Versuche, die vielen materiellen Errungenschaften einer Abfolge von Effizienzfortschritten oder menschlicher Schaffenskraft zuzuschreiben, beruhen auf einer Selbsttäuschung. Die Insassen moderner Konsumgesellschaften leben auf mehrfache Weise über ihre Verhältnisse. Was sie sich an physischen Konsum- und Mobilitätsleistungen aneignen, steht in keinem Verhältnis zur eigenen physischen Arbeitskraft. Vielmehr wurde der materielle Reichtum

a) mittels Energie umwandelnder Apparaturen,

b) durch systematische Verschuldung, also auf Kosten zukünftiger Generationen, und

c) durch die Einverleibung entfernt liegender Ressourcenquellen okkupiert. Durch eine Rückkehr zum menschlichen Maß – auch wenn dies unfreiwillig erfolgt – würden wir also nur aufgeben, was uns ohnehin nie zugestanden hat.

Zweitens sind bisherige Anstrengungen, die ohne Wirtschaftswachstum nicht zu stabilisierende Industrieversorgung durch Innovationen ökologisch zu neutralisieren, bestenfalls gescheitert. Ansonsten haben die Versuche, ein ökologisch unschädliches Wachstum zu entfachen, die Umweltsituation über die Hintertür sogar verschlimmert. Allen voran eine ehemals konsumkritische Partei verspricht den Wählern buchstäblich das Grüne vom Himmel. Im Angebot ist eine Genuss-ohne-Reue-Rezeptur, die an den Slogan einer süddeutschen Molkerei erinnert: „Friss das Doppelte und nimm ab dabei!“ Ungeahnter technischer Fortschritt soll das Fahren, Fliegen, Konsumieren, Wohnen und Amüsieren in kuscheligen Nullemissionssystemen ermöglichen, damit niemandem zugemutet werden muss, über Reduktion nachzudenken.

Nach diesem Schema wird das Schicksal der Menschheit von einem technischen Fortschritt abhängig gemacht, der noch gar nicht eingetreten ist und dessen zukünftiges Eintreten unbeweisbar ist – ganz zu schweigen davon, dass er womöglich mehr zusätzliche Probleme erzeugt, als er zu lösen imstande ist. Wie schnell sich vermeintlich grüne Innovationen in ein ökologisches und soziales Desaster verwandeln können, zeigt unter anderem die kürzlich noch als Heilsbringer verklärte „Bio-Energie“. Ist ein solches Roulette, das nicht aus Not, sondern um der Bewahrung und Mehrung eines dekadenten Wohlstandes willen erfolgt, verantwortbar?

Drittens stößt das prekäre Wachstumsregime zunehmend auf psychologische Grenzen. Stress, Orientierungslosigkeit und Konsum-Burn-Out charakterisieren den Normalzustand moderner Bequemokratien; sie sind längst zu einem Hort der Reizüberflutung mutiert. Während des letzten Jahrzehnts hat sich die Menge an Antidepressiva-Verschreibungen in Deutschland verdoppelt. Unser Leben ist vollgepfropft mit Produkten, Dienstleistungen, Mobilität, Kommunikationstechnologien und Ereignissen. Es fehlt die Zeit, dies alles so „abzuarbeiten“, das es überhaupt einen spürbaren Nutzen erzeugt.

Konsumaktivitäten können keine Glücksgefühle oder langfristige Zufriedenheit verursachen, wenn ihnen nicht ein Minimum an Aufmerksamkeit gewidmet wird. Und das geht nicht, ohne eigene Zeit zu investieren, denn Empfindungen lassen sich weder automatisieren noch an jemanden delegieren. Zeit ist eine nicht vermehrbare Ressource. Diese Restriktion durch „menschliches Multitasking“ überlisten zu wollen – also verschiedene Dinge gleichzeitig zu verrichten –, ist eine Illusion. Neurologen wissen längst, dass wir uns bestenfalls auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren können. So gesehen wären bescheidenere Lebensstile purer Selbstschutz.

Aber derartige Argumente sind natürlich nur als trostspendende Begleitmusik gedacht, die eine bald anstehende Entzugskur erträglicher machen könnte, auf dies sich die Nutznießer zeitgenössischer Wohlfühlökonomien freiwillig kaum einlassen würden. Deren Abhängigkeit von einer konsum- und kerosintriefenden Rundum-Versorgung erinnert an das Spätstadium der Heroinsucht. Entsprechend hilflos sind systemkritische Diskurse und die daraus hervorgegangenen sozialen Bewegungen. Lautstarke Forderungen nach Veränderung, die unter dem unausgesprochenen Vorbehalt stehen, eigene Lebensgewohnheiten oder materielle Freiheiten – die paradoxerweise allein vom kritisierten „System“ gewährleistet werden können – nicht anzutasten oder gerechtigkeitshalber sogar weiter auszubauen, sind bestenfalls unterhaltsam.  Kurz und gut: Alles läuft mit stetig verstärkter Schubkraft auf exakt jenen Fluchtpunkt hinaus, um dessen Vermeidung sich seit 40 Jahren alle Gebildeten und Nachhaltigkeitsbewegten bemühen, zumindest symbolisch.

Nach dem Kollaps… wir schreiben das Jahr 2030. Verheerende Finanzzusammenbrüche, ein Rohölpreis von mindestens 250 Dollar pro Barrel, die Coltan- und Phosphor-Krise, extreme Flächenknappheit, spürbare Auswirkungen des Klimawandels, das Bienensterben, Nahrungsengpässe etc. haben weite Teile der globalen Mobilität und Fremdversorgung zusammenbrechen lassen. Um dennoch politische und soziale Stabilität zu wahren, musste die verbliebene Erwerbsarbeit so umverteilt werden, dass eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 20 Stunden längst als normal empfunden wird. Weiterhin vollzog sich ein Strukturwandel hin zu kürzeren Versorgungsketten und geringeren Spezialisierungsgraden. Lokal- und regionalwirtschaftliche, vor allem arbeitsintensivere Herstellungsprozesse, haben ebenfalls dazu beigetragen, die negativen Wirkungen des Kollapses zu dämpfen.   

Parallel zum Niedergang globalisierter Strukturen sind neue Regionalwährungen und Genossenschaften entstanden. So ließen sich Wertschöpfungsbeziehungen demokratischer gestalten, was unter anderem eine weniger zins- und renditeträchtige Kapitalbeschaffung der Unternehmen ermöglicht hat. Dies trug zur Dämpfung struktureller Wachstumszwänge bei. Innerhalb des gründlich verkleinerten und umgestalteten Industriekomplexes spielt die Neuproduktion von Gütern, welche im Übrigen fern jeglicher geplanten Obsoleszenz nunmehr reparaturfreundlich entworfen sind, nur noch eine untergeordnete Rolle. Fokussiert wird der Erhalt, die Um- und Aufwertung vorhandener Produktbestände, etwa mittels Konversion, Optimierung, professioneller Nutzungsdauerverlängerung oder Nutzungsintensivierung.  

Aus Konsumenten sind sog. „Prosumenten“ geworden, die sich durch Suffizienz- und Subsistenzpraktiken zunehmend aus der Abhängigkeit von industrieller Fremdversorgung befreit haben. Sie nutzen die infolge des allmählichen Übergangs zur 20-Stundenwoche freigestellte Zeit, um selbst zu produzieren. Dazu eigneten sie sich manuelle Fertigkeiten an. Gemeinschaftsgärten, offene Werkstätten, Reparatur-Cafés, künstlerische Aktivitäten etc. füllen jene Räume aus, die das kollabierte System als Brache hinterlassen hat. Prosumenten arrangieren sich mit einem Bruchteil des vorherigen Industrieoutputs, indem sie dessen Nutzungsdauer durch handwerkliche Reparaturleistungen eigenständig oder in Netzwerken der gegenseitigen Hilfe verlängern. Auch vielfältige Formen der Gemeinschaftsnutzung dienen dazu, mit weniger Produktion auszukommen. Die Landschaften haben sich verändert. Auf nicht mehr benötigten Flughäfen und Autobahnen befinden sich Windkraft- und Solaranlagen, um den mi¬nimierten Rest an Energienachfrage ohne weitere Natur- und Landschaftszerstörung zu befriedigen.

Das Leben in der Postwachstumsökonomie ist von Sesshaftigkeit und materieller Genügsamkeit geprägt, aber sehr entspannt. Diese Art einer nachhaltigen Entwicklung ist kein Unterfangen des zusätzlichen Bewirkens, sondern des kreativen Unterlassens. Die Kunst der Reduktion und teilweisen Selbstversorgung ist nichts anderes als ein Übungsprogramm. Natürlich könnte damit bereits jetzt begonnen werden, aber das sollten bitte nicht zu viele tun, denn sonst wird der Kollaps am Ende noch verhindert. Das wäre viel zu radikal.  

Niko Paech


Information zu Professor Dr. Niko Paech:

⇒ bei Wikipedia - weiter

⇒ Webseite von Werner Onken und Niko Paech zur Postwachstumsökonomie - weiter

Bildquellen:

1. Niko Paech. Foto: Uni Oldenburg

2. Buchcover "Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum"

3. Buchcover "Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie"
 

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Peter Weber
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Verbunden: 23.09.2010 - 20:09
Selbstmörderische Gesellschaft


Selbstmörderische Gesellschaft


Niko Paech hat scharfsinnig herausgearbeitet, in welches Dilemma sich die Menschheit – speziell die saturierten Wohlstandsgesellschaften – hineinmanövriert haben. Es ist regelrecht unfaßbar, wie sich Menschen, die sich selbst für intelligent und vernünftig halten, in die illusionäre Vorstellung hineingesteigert haben, alleine mit technologischer Weiterentwicklung die Probleme der Welt lösen zu können.


Menschen, die sich von Gott und den Religionen abgewandt haben, suchen ihr Heil in der Ersatzreligion des Konsums, dem Technologieglauben und in der Jagd nach Äußerlichkeiten. Die sog. Kulturgesellschaften, die sich der Aneignung zivilisatorischer Errungenschaften rühmen, haben sich bereits weit von ihrer menschlichen Natur entfernt und die Nähe zum Kreislauf des Lebens verloren. Welcher Gewinn für das menschliche Wohl ist mit einer Zivilisation verbunden, die die wesentliche Substanz der menschlichen Existenz, den Altruismus, das Solidaritätsgefühl sowie die Notwendigkeit zu gelebter Harmonie mit der Umwelt mit Füßen tritt?


Zu Recht diagnostiziert Niko Paech den Zustand unserer Gesellschaft als pathologisch:

[quote=Niko Paech]Deren Abhängigkeit von einer konsum- und kerosintriefenden Rundum-Versorgung erinnert an das Spätstadium der Heroinsucht.[/quote]


Hier ist wohl die Ursache dafür zu suchen, weshalb die Mehrheit der Bürger nicht in der Lage ist, dem Teufelskreis zu entrinnen. Aus eine krankhaften Sucht können sich die wenigsten selbst befreien, denn bei einer Sucht ist Verdrängung die tonangebende Strategie. Wie bei Alkohol- oder Drogensucht sind die Süchtigen von einem Heer von Co-Abhängigen umgeben, die sich von der Krankheit anstecken lassen und die primär Suchkranken direkt oder indirekt unterstützen. So viele nicht selbst befallene Therapeuten kann es gar nicht geben, die die Gesellschaft von der Zivilisationskrankheit Nr. 1, der Gier nach immer mehr, heilen könnten. Wie man weiß, scheuen Suchtkranke selbst vor Selbstzerstörung nicht zurück. Einsichten alleine helfen nicht weiter, wenn die Konsequenz zur Tat nicht aufgebracht wird.

 

Es wäre zu schön, wenn sich Paechs Zukunftsvision des Sinneswandels vom Saulus zum Paulus als Prosumenten-Gesellschaft bewahrheiten würde:

[quote=Niko Paech]Aus Konsumenten sind sog. „Prosumenten“ geworden, die sich durch Suffizienz- und Subsistenzpraktiken zunehmend aus der Abhängigkeit von industrieller Fremdversorgung befreit haben.[/quote]

In seiner Schlußbetrachtung sieht er den notwendigen Prozeß des Umdenkens als „kein Unterfangen des zusätzlichen Bewirkens, sondern des kreativen Unterlassens“. Klugheit und Kreativität zeichnet sich also nicht nur durch Aktivität sondern auch durch Unterlassen, Verzicht oder durch Entziehen aus. Paechs Ironie hinsichtlich der Empfehlung zur Anwendung von weniger Radikalität ist eigentlich zu ernst, um lustig genommen zu werden.


MfG Peter A. Weber

 

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