Schafft die Karikaturisten ab
Die Zeitung «Le Monde» distanziert sich von ihrem Karikaturisten
von Rainer Stadler, Zürich | Redakteur der Online-Zeitung INFOsperber
Kein gutes Zeichen für dieses Genre der Zeitkritik. In Frankreich hat es erneut Ärger gegeben wegen einer Karikatur. Vor einer Woche publizierte die Zeitung «Le Monde» in ihrem Newsletter (52.000 Abonnenten) eine Zeichnung ihres langjährigen Mitarbeiters Xavier Gorce.[1] Diese greift den derzeitigen Skandal um einen Inzestfall auf. Anstoss erregte dabei nicht das Dargestellte, sondern der Dialog zwischen zwei Pinguinen. Da fragt der Kleine den Grossen: «Wenn ich vom adoptierten Halbbruder der Gefährtin meines Transgender-Vaters, der jetzt meine Mutter ist, missbraucht worden wäre, wäre das dann ein Inzest?» (orig. frz.: «Si j'ai été abusée par le demi-frère adoptif du compagne de mon père transgenre devenu ma mère, est-ce un inceste?» (>Karikatur).
Dazu muss man wissen: Gemäss dem französischen Strafgesetz setzt ein Inzest nicht zwingend eine Blutsverwandtschaft voraus. Ein solcher liegt auch vor, wenn ein sexueller Übergriff durch eine Person erfolgt, welche eine Beziehung mit einem Blutsverwandten des Opfers hat. Im Skandal, der jetzt die französische Öffentlichkeit bewegt, geht es darum, dass die Anwältin Camille Kouchner in einem Buch ihrem berühmten Stiefvater Olivier Duhamel vorwirft, ihren Zwillingsbruder missbraucht zu haben, als dieser noch minderjährig gewesen sei.
► Frivolitäten in Frankreich
Einige Angehörige der französischen Elite hatten lange Zeit eine ziemlich frivole Einstellung zum Sex mit Minderjährigen. Doch die Zeiten ändern sich im Zeichen von «Me too» auch im westlichen Nachbarland. Das hatte der Alt-Intellektuelle Alain Finkielkraut noch nicht bemerkt, der in einer Diskussionssendung die unschöne Aktualität salopp kommentierte, worauf ihn der Sender LCI entliess.
Auf diese Vorfälle hatte sich der Karikaturist Xavier Gorce bezogen. Seine Zuspitzung löste in Teilen der Leserschaft heftigen Protest aus. Darauf hin entschuldigte sich die neue Chefredaktorin von «Le Monde», Caroline Monnot. Warum? Weil die Karikatur als Relativierung von Inzest interpretiert und weil ihr Text von Opfern und Transgender-Personen als deplatziert wahrgenommen werden könnten. So notierte es Monnot. Gorce liess sich das nicht gefallen und kündigte sogleich.
► Klima der Intoleranz
Man kann lange darüber diskutieren, was eine treffende Karikatur ist. Aus den Worten von Gorce kann man jedoch nicht herauslesen, dass sexueller Missbrauch eine harmlose Angelegenheit wäre. Vielmehr erlaubt sich der Karikaturist eine ironische Bemerkung zu Zeitverhältnissen, die auch dank dem medizinischen Fortschritt die alte duale Geschlechterordnung durcheinanderbringen. Man mag das als allzu leichtfüssige Bemerkung zu einem gravierenden Vorfall empfinden. Wenn damit aber bereits die Grenzen der Satirefreiheit und des Tolerierbaren überschritten sind, wird es eng im publizistischen Kosmos.
Nachdem in Frankreich die deftigen Karikaturen von «Charlie Hebdo», die Angehörigen des muslimischen Glaubens einiges zumuten, zu Recht im Sinn der Medienfreiheit verteidigt worden sind, erscheint die Reaktion von «Le Monde» sehr mutlos. In diesem Sinne gerät die vielzitierte Tucholsky-Proklamation «Satire darf alles» ihrerseits zur Satire.
► So konsequent wie mutlos
Der Fall erinnert an die «Süddeutsche Zeitung», die vor zwei Jahren nach Protesten wegen angeblichem Antisemitismus voreilig zurückkrebste und ihren langjährigen Karikaturisten vor die Türe setzte. Wenn Redaktionen sich so schwach verhalten, sind die Voraussetzungen für Karikaturisten nicht mehr gewährleistet. Um sich Ärger mit dem Publikum zu ersparen, beschloss denn auch die «New York Times» im Juni 2019, keine Karikaturisten mehr für ihre internationale Ausgabe zu beschäftigen. Sie entliess Patrick Chappatte und Heng Kim Song. Diese Entscheidung ist zumindest konsequent. Aber ein tristes Zeichen für die satirische Ausdrucksfreiheit – und das Selbstvertrauen von alteingesessenen Zeitungsredaktionen.
Gorce kommentierte den Vorfall in einer neuen Karikatur. Ein Pinguin fragt den anderen: «Vous avez déjà votre passeport sanitaire d' humour?» - in deutsch: «Haben Sie bereits Ihren Gesundheitspass der guten Laune». [Man könnte es auch mit Humor-Hygienepass oder Humor-Unbedenklichkeitspass übersetzen; H.S.]. (orig. frz.: (>Karikatur).
Rainer Stadler, Zürich >> Kontakt: rainer.stadlerZEICHENinfosperber.ch
___________
[1] - Anmerkung von Helmut Schnug: Xavier Gorce, geboren am 30. März 1962 in Vincennes, Val de Marne, Frankreich, ist ein Maler, Zeichner und Illustrator. Xavier Gorce ist vor allem als Presseillustrator bekannt (Okapi, Phosphore, lemonde.fr). Er zeichnete in den 1990er Jahren für 'La Grosse Bertha', ein ehemal wöchentlich erscheinendes Satiremagazin das sich GEGEN den Golfkrieg positionierte. Von 2002 bis 2021 ist er Autor des täglichen Strips in der 'Checkliste', dem Online-Letter der Tageszeitung 'Le Monde', und seit Mai 2011 erscheinen seine 'Pinguine Les Indégivrables' auf seiner Blog-Seite.
Im Juli 2019 bezeichnete er die selbsternannte und instrumentalisierte Umweltaktivistin Greta Thunberg als "ein kleines Mädchen, das denkt, sie sei auf einer Mission der Erlösung". Einige Nachrichtenkarikaturen (z. B. über Griechenland oder das Tragen der Burka) ziehen bissige Kommentare von denen an, die sie als beleidigend empfinden.
Besonders virulent ist er gegenüber Gelbwesten, die er in einigen seiner Zeichnungen als "Schwachköpfe" und sogar, implizit, als Nazis bezeichnet. Dazu sollte man allerdings wissen, daß die Gelbwesten mit ihren völlig berechtigten Forderungen von Agents Provocateurs, also Personen, die üblicherweise im Auftrag des Staates einen oder mehrere Dritte zu einer gesetzeswidrigen Handlung provozieren sollten, und auch von üblen Subjekten der Antifa-Szene unterwandert wurden, um die Gelbwesten zu diskreditieren und die Polizeibrutalität der Staatsmacht zu rechtfertigen.
Im Januar 2021 entschuldigte sich die Redaktionsleiterin von Le Monde, Caroline Monnot, für die Veröffentlichung einer Zeichnung von Xavier Gorce, die "als Relativierung der Schwere von Inzesttaten gelesen werden könnte, in unangemessener Weise in Bezug auf die Opfer und Transgender-Personen".
Nach 18 Jahren Zusammenarbeit gab Xavier Gorce am 20. Januar via Twitter bekannt, dass er die Redaktion verlässt. "Ich gebe bekannt, dass ich mit sofortiger Wirkung beschließe, nicht mehr für Le Monde zu arbeiten. Persönliche, einseitige und endgültige Entscheidung. Freiheit ist nicht verhandelbar. Meine Zeichnungen werden fortgesetzt. Weitere Ankündigungen folgen." (frz. im exakten Wortlaut: «J’annonce que je décide immédiatement de cesser de travailler pour le Monde. Décision personnelle, unilatérale et définitive. La liberté ne se négocie pas. Mes dessins continueront. D’autres annonces à suivre.» (>Artikel). Außerdem beklagt Gorce den zunehmenden Druck durch Aktivisten auf sozialen Netzwerken.
Rencontre avec Xavier Gorce, le dessinateur de pingouins (Dauer 2:00 Min. - in frz. Sprache)
► Quelle: Der Artikel wurde von Rainer Stadler am 25. Januar 2021 erstveröffentlicht auf INFOsperber >> Artikel.
Hinter der Plattform Infosperber.ch (siehe Impressum) steht die gemeinnützige «Schweizerische Stiftung zur Förderung unabhängiger Information» SSUI. Die Stiftung will einen unabhängigen Journalismus in der ganzen Schweiz fördern, insbesondere journalistische Recherchen von gesellschaftlicher und politischer Relevanz. Die Online-Zeitung Infosperber ergänzt grosse Medien, die z.T. ein ähnliches Zielpublikum haben, mit relevanten Informationen und Analysen. «Infosperber sieht, was andere übersehen.»
Die Stiftung ist auf Spenden der Leserschaft angewiesen. Infosperber finanziert sich mit Spenden, die zu 90 Prozent der redaktionellen Arbeit zugute kommen. Journalistinnen und Journalisten im erwerbsfähigen Alter, welche ihre Beiträge selber im Administrationsbereich produzieren, können Honorare und Spesen erhalten.
© Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe möglichst schon am Anfang des Artikels mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen.
ACHTUNG: Die Bilder und Grafiken sind nicht Bestandteil der Originalveröffentlichung und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. folgende Kriterien oder Lizenzen, s.u.. Grünfärbung von Zitaten im Artikel und einige zusätzliche Verlinkungen wurden ebenfalls von H.S. als Anreicherung gesetzt.
► Bild- und Grafikquellen:
1. Xavier Gorce spricht am 1. Feb. 2015 bei der jährlichen Zusammenkunft der Sektionssekretäre der Parti socialiste. Foto/Photo: Mathieu Delmestre. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).
2. Selbstdenken, Redefreiheit, Ausdrucksfreiheit und freier Wille - oder doch Fremdbestimmung, Konditionierung, Repression? Karikatur: Andrey Petrenko, Kiev/Ukraine >> PETRENKO.UK >> Karikatur. Kontakt: innenukr@gmail.com . »Laughter is a weapon of which even those who are not afraid of anything are afraid.« - »Lachen ist eine Waffe, vor der sich sogar diejenigen fürchten, die sich vor nichts fürchten.«