Schweiz: Recht auf Sammelklagen

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Helmut S. - ADMIN
Helmut S. - ADMIN
Offline
Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Schweiz: Recht auf Sammelklagen
DruckversionPDF version

Schweiz: Recht auf Sammelklagen

Unternehmen beharren auf ihrem Freipass zum Rechtsbrechen

Von Esther Diener-Morscher, Bern | für die Online-Zeitung INFOsperber   

Die 'Neue Zürcher Zeitung' (NZZ) hilft Unternehmen, das Recht auf Sammelklagen im Keim zu ersticken. Die Zeitung jammert, informiert aber falsch.

Schweiz-Neutralitaet-Neutralitaetspolitik-Natoabhaengigkeit-Natohure-Natovasallen-Kritisches-Netzwerk-Schweizer-Armee-Luftwaffe-Schweizerische-Eidgenossenschaft-Viola-AmherdDer bürgerliche Bundesrat schlägt vor, in der Schweiz eine milde Variante von Sammelklagen zuzulassen. Der NZZ-Journalist David Biner ist darüber so empört, dass er aus einem vertraulichen Papier zitiert und es kritisiert.

Die Rechtskommission des Nationalrats diskutiere, ob sie Kollektivklagen «Tür und Tor öffnen» wolle, schrieb die Zeitung. Und stilisierte die Idee der Sammelklage zur Horror-Vorstellung empor: «Das Schreckgespenst ist zurück.»

Aus dem NZZ-Bericht wird deutlich: Die Wirtschaftsverbände fürchten das Instrument der Sammel- oder Kollektivklage wie der Teufel das Weihwasser. Offenbar sorgen sich die Unternehmen mehr um sich selber, als dass sie sich um die Anliegen ihrer Kunden kümmern wollen.

► Rechtskommission ließ abklären

Weil die Rechtskommission des Nationalrats wissen wollte, welche volkswirtschaftlichen Kosten und Nutzen die Einführung der Sammelklage verursachen könnte, beauftragte sie das Berner Beratungsbüro ECOPLAN und die Rechtsprofessorin Dr. iurs Tanja Domej von der Universität Zürich mit dieser Abklärung.

Sie kamen in ihrer Studie zum Schluss, dass sich die Gesamtkosten künftiger Sammelklagen «nicht ausreichend präzis» voraussagen lassen, sich indes die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen «in Grenzen halten dürften».

NZZ zerriss den Bericht

Das gefiel dem NZZ-Journalisten nicht. Er zerzauste den Bericht, noch bevor er veröffentlicht wurde:

Er entpuppe sich «bei genauem Lesen als heimlicher Werbespot» für das neue Instrument der Sammelklage.

Es falle auf, «wie sorglos die Autoren des Berichts mit den Sorgen der Wirtschaft umgehen». Die Unternehmen hätten Angst, allein dadurch, dass ihnen eine Sammelklage angedroht werde, «stark unter medialen Beschuss zu geraten und dadurch schwerwiegende Reputationsschäden zu erleiden».

Die NZZ empört sich, dass der Bericht genau diese Angst als erwünschte Präventivwirkung von Kollektivklagen erwähnt. Schließlich kommt die NZZ zum Schluss: «Die Unternehmen müssen also nicht nur beweisen, dass sie keine Rechtsverletzungen begehen, sie müssen auch ständig vermeiden, dass ein entsprechender Verdacht überhaupt erst aufkommen könnte».

richterhammer_gerichtshammer_court_gavel_bundesverfassungsgericht_bverfg_sozialgericht_kritisches_netzwerk_gericht_richter_grundgesetz_richterspruch_urteil_rechtsspruch.jpgRichtig ist allerdings, dass nicht die Unternehmen, sondern immer noch die Klagenden eine Rechtsverletzung beweisen müssen. Und dabei ein erhebliches Prozessrisiko auf sich nehmen müssen. Das dürfte sie vor unberechtigten Klagen abhalten.

Kein so schreckliches Gespenst

All die Schreckgespenste, welche der NZZ-Journalist David Biner heraufbeschwört, dürften sich letztlich in Luft auflösen. In Europa kommt es selten zu Sammelklagen: In Frankreich gab es von 2014 bis 2021 weniger als 30 Fälle, in Österreich etwas weniger und auch in Deutschland nicht wesentlich mehr. (>> European Class Action Report 2022, CMS • law •  text • future >> weiter.)

Das erwähnt auch der Bericht, der Infosperber vorliegt. Dessen Inhalt ist nicht so einseitig, wie der Artikel vorgibt. Es heißt zum Beispiel: «Im Einzelfall kann für ein beklagtes Unternehmen ein beträchtlicher Aufwand entstehen.» Und es wird sogar anhand des VW-Diesel-Falls vorgerechnet, was bei der Gutheissung einer Sammelklage für Kosten entstehen würden. Nämlich über 70 Millionen Franken [ca. 72,6 Mio €] Schadenersatz zuzüglich rund 4 Millionen Franken [ca. 4,15 Mio €] Anwalts- und Gerichtskosten zulasten von VW. Unter dem Strich hätte jede an der Klage beteiligte Person rund 3000 Franken [ca. 3.112 €] Schadenersatz erhalten.

Wichtig ist aber vor allem: Solch hohe Kosten entstehen nur jenen Unternehmen, die rechtswidrig handeln. «Auf die breite Masse der sich rechtskonform verhaltenden Unternehmen dürfte die Vorlage wenig Auswirkungen haben», heißt es denn auch im Bericht.

David Biner stellt sich zu Recht die Frage: «Den vom gleichen Schaden betroffenen Konsumenten ein wirkmächtiges Instrument zu gewähren, um gemeinsam gegen pfuschende oder leichthändige Firmen vorzugehen – warum soll man da dagegen sein?»

Statt als Antwort darauf die Wirtschaft über «Medien-Pranger» und «Reputationsschäden» jammern zu lassen, hätte die NZZ auch ehrlich zugeben können: Es gibt keinen vernünftigen Grund dagegen.

Bundesrat will wenigstens eine Verbandsklage-light

Der Bundesrat will die Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) ändern. Die bisher auf Persönlichkeitsverletzungen beschränkte Verbandsklage soll ausgebaut werden. Neu sollen alle Rechtsverletzungen eingeklagt werden können, zum Beispiel Schadenersatzfälle bei Implantaten oder Produktemängel wie im VW-Diesel-Skandal. Damit ein Verband klagen kann, müssten künftig aber zusätzliche Voraussetzungen erfüllt sein: Der Verband müsste unter anderem seit mindestens einem Jahr bestehen und dürfte keine wirtschaftlichen Gewinnziele verfolgen, also eine Non-Profit-Organisation sein. Die Interessen, die er mit der Klage verfolgen würde, müssten in seinen Statuten verankert sein.

Justiz_Paragraphen_Paragraphendschungel_Kollektivklagen_Kollektivklarger_Rechtsverletzungen_Sammelklagen_Schadenersatzklagen_Verbandsklage_Kritisches-Netzwerk

In der EU müssen seit 2023 alle Mitgliedstaaten eine Verbandsklage ermöglichen, wobei viele eine weitergehende Lösung beschlossen haben, als jene, die der Bundesrat vorschlägt.

Esther Diener-Morscher, Bern >> Berufliches Curriculum >> Kontakt: esther.diener@infosperber.ch .


► Quelle: Der Artikel von Esther Diener-Morscher wurde am 03. Juli 2023 erstveröffentlicht auf INFOsperber >> Artikel.

Hinter der Plattform Infosperber.ch (siehe Impressum) steht die gemeinnützige «Schweizerische Stiftung zur Förderung unabhängiger Information» SSUI. Diese ist Gründungsmitglied des Vereins «Verband Medien mit Zukunft», der unabhängigen Journalismus fördert und dessen Interessen vertritt.

Die Stiftung SSUI will zudem insbesondere journalistische Recherchen von gesellschaftlicher und politischer Relevanz fördern. Die von ihr herausgegebene Online-Zeitung Infosperber ergänzt grosse Medien, die z.T. ein ähnliches Zielpublikum haben, mit relevanten Informationen und Analysen. «Infosperber sieht, was andere übersehen» und geht davon aus, dass sich die Leserinnen und Leser in grossen Medien bereits informiert haben.

Von vielen anderen grossen Medien unterscheidet sich Infosperber dadurch, dass keine Abhängigkeit von Grossverlagen, Grosskonzernen oder Milliardären besteht und niemand einen wirtschaftlichen Druck ausüben kann. Solche Inseln der Unabhängigkeit werden in Krisenzeiten eine wichtige Rolle spielen. Schon heute ist Infosperber eine relevante publizistische Ergänzung zu den immer weniger und mächtiger werdenden Medienkonzernen.

Die Stiftung ist auf Spenden der Leserschaft angewiesen. Infosperber finanziert sich mit Spenden, die zu über 90 Prozent der redaktionellen Arbeit zugute kommen. Journalistinnen und Journalisten im erwerbsfähigen Alter, welche ihre Beiträge selber im Administrationsbereich produzieren, erhalten Honorare und Spesen.

Sämtliche nicht-redaktionellen Aufgaben wie Buchhaltung, Spendenmanagement, Marketing, IT-Unterstützung, Übersetzungen und Korrekturen erledigen Engagierte aus der Leserschaft unbezahlt. Zudem arbeiten einige pensionierte, professionelle Journalistinnen und Journalisten unentgeltlich. Infos zur publizistischen Ausrichting finden Sie HIER.

Die täglich aktualisierte Online-Zeitung Infosperber gibt es seit dem 21. März 2011.

Nutzungsrechte: Copyright ©️ Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist AUF ANFRAGE an infosperber@infosperber.ch ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe möglichst schon am Anfang des Artikels mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Die SSUI kann das Abgelten eines Nutzungsrechts verlangen.

Für das Verbreiten von gekürzten oder abgeänderten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AUTORIN oder des AUTORS erforderlich.

Die Stiftung SSUI als Verantwortliche des Informations-Portals Infosperber.ch hat folgende Postadresse: SSUI, Jurablickstrasse 69, CH-3095 Spiegel b. Bern, Telefon +41 31 972 77 88.

ZUR STIFTUNG SSUI

ACHTUNG: Die Bilder, Grafiken, Illustrationen und Karikaturen sind nicht Bestandteil der Originalveröffentlichung und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. folgende Kriterien oder Lizenzen, s.u.. Grünfärbung von Zitaten im Artikel und einige zusätzliche Verlinkungen wurden ebenfalls von H.S. als Anreicherung gesetzt, ebenso die Komposition der Haupt- und Unterüberschrift(en) geändert. An einigen Textstellen wurde die in der Schweiz übliche Schweibweise des doppelten s [ss] gegen die in Deutschland übliche Variante [ß] getauscht.


► Bild- und Grafikquellen:

1. Schweiz-Illustration: Grafik: Dsndrn-Videolar. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Illustration.

2. Richterhammer: Ein Richterhammer (engl. gavel) ist ein Hammer, der beispielsweise in den Vereinigten Staaten bei Gericht und im Kongress Verwendung findet. Da dieses Instrument von deutschsprachigen Juristen nicht verwendet wird, gibt es auch keinen authentischen deutschen Namen hierfür. Neben „Richterhammer“ wird „gavel“ bisweilen auch mit „Holzhammer“, „Gerichtshammer“ oder einfach „Hammer“ übersetzt.

Das Benutzen des Hammers signalisiert, dass während oder am Ende der Verhandlung ein Beschluss durch das Gericht getroffen wurde. Er wird auch geschlagen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen oder die Beteiligten der Gerichtsverhandlung und das Publikum zur Ordnung zu rufen. In England, Deutschland und Österreich wird der Richterhammer nicht verwendet. Foto: Penn State. Quelle: Flickr. (Foto nicht mehr online verfügbar) Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

3. Paragraphendschungel unterschiedlicher Gesetze und Verwaltungsvorschriften allein in Deutschland, bspw.: Grundgesetz (GG), Strafgesetzbuch (StGB), Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG), Passgesetz (PassG), Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Passgesetzes (Passverwaltungsvorschrift - PassVwV), Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), Völkerstrafgesetzbuch (VStGB), u.v.m.. Illustration: 8385 (user_id:8385). Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Illustration.