Tolstoi: Patriotismus und Regierung. Die Hypnose des Patriotismus

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Tolstoi: Patriotismus und Regierung. Die Hypnose des Patriotismus
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Die Hypnose des Patriotismus

Sieben Exzerpte

von Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi (* 1828 - † 1910)

I.

Leo-Lew-Nikolajewitsch-Graf-Tolstoi-Tolstoj-Tolstoy-Hypnose-Patriotismus-Regierung-Kritisches-Netzwerk-Rede-gegen-den-Krieg-Unterdrueckung-Unterwuerfigkeit-Heroismus Ich hatte schon mehrmals Gelegenheit, den Gedanken auszusprechen, dass der Patriotismus für unsere Zeit ein unnatürliches, unvernünftiges, schädliches Gefühl sei, welches einen großen Teil der Übel verursache, unter denen die Menschheit leidet, und dass daher dieses Gefühl nicht genährt und groß gezogen werden müsste, wie es jetzt geschieht; sondern im Gegenteil unterdrückt und durch alle Mittel, die vernünftigen Menschen zugänglich sind, vernichtet werden sollte.

II.

Der Patriotismus ist das Gefühl einer ausschließlichen Liebe zu seinem Volke und als die Doktrin vom Heroismus des Aufopferns seiner Ruhe, seines Besitzes und sogar seines eigenen Lebens zum Schutz der Schwachen vor der Vergewaltigung und Vernichtung durch die Feinde – war die höchste Idee jener Zeit, als jedes Volk es für möglich und gerecht hielt, zum Nutzen seiner eigenen Macht und Wohlfahrt die Menschen eines anderen Volkes zu plündern und zu morden.

III.

Die kleinen bedrückten Völkerschaften, die der Macht der großen Staaten zum Opfer gefallen sind, die Polen, die Iren, die Tschechen, die Finnen, die Armenier sind, indem sie dem Patriotismus der Sieger reagieren, dermaßen von ihren Bedrückern durch dieses überlebte, unnütz gewordene, sinnlose und schädliche Gefühl des Patriotismus infiziert worden, dass sich ihre ganze Tätigkeit auf diesen Patriotismus konzentriert. Und sie, die sie selbst unter dem Patriotismus der mächtigen Völker zu leiden haben, sind bereit, den anderen Völkerschaften gegenüber, um dieses Patriotismus willen, dasselbe zu tun, was ihre Sieger an ihnen getan haben und tun.

IV.

Die regierenden Klassen Deutschlands hatten den Patriotismus ihrer Volksmassen bis zu einer solchen Höhe entflammt, dass in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts dem Volke ein Gesetz vorgelegt wurde, demzufolge alle Menschen ohne Ausnahmen Soldaten werden mussten. Alle Söhne, Gatten und Väter wurden im Morden unterrichtet, mussten zu unterwürfigen Sklaven eines jeden höheren Vorgesetzten werden und unweigerlich zum Mord derer bereit sein, die zu morden ihnen befohlen wird. Solange Regierung und Heere existieren werden, ist das Aufhören der Rüstungen und Kriege nicht möglich.

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V.

Alle Völker der sogenannten christlichen Welt sind durch den Patriotismus bis zu einem solchen Grade von Vertierung gebracht worden, dass nicht nur die Menschen, die durch die Verhältnisse gezwungen werden zu morden und gemordet zu werden, den Mord wünschen und sich über das Morden freuen; nein auch die Menschen, die ruhig in ihren Häusern wohnen, ja, alle Menschen Europas und Amerikas befinden sich, dank der schnellen und leichten Verkehrsmittel und dank der Presse bei jedem Kriege in der Lage der Zuschauer im römischen Zirkus, freuen sich wie diese über das Morden und rufen ebenso blutgierig wie diese ihr ‚Pollice verso!‘“

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VI.

Zu der Befreiung der Menschen von dem furchtbaren Übel der Rüstungen und Kriege, unter dem sie gegenwärtig zu leiden haben und das immer mehr und mehr wächst, sind nicht Konferenzen, nicht Traktate und Schiedsgerichte nötig, sondern die Vernichtung jener Gewalt, die sich Regierung nennt und von der die größten Leiden der Menschheit herrühren.

anarchismus_anarchy_authority_herrschaft_selbstbestimmung_selbstermaechtigung_selbstverantwortung_revolution_kritisches_netzwerk_widerstand_rebellion_staatsgewalt_resistance.gif Zu der Vernichtung der Regierungen ist nur eines nötig: Die Menschen müssen begreifen, dass jenes Gefühl des Patriotismus, welches allein dieses Werkzeug der Vergewaltigung stützt, ein rohes, schädliches, schimpfliches und schlechtes Gefühl ist, vor allem aber ein unmoralisches.

VII.

Jetzt gibt es Leute, die speziell dazu erzogen und vorbereitet werden, um andere Menschen zu töten und zu vergewaltigen, Menschen, denen das Recht zusteht, zu vergewaltigen und zu diesem Zwecke über eine wohlgeordnete Organisation verfügen.

Dann aber werden keine Menschen mehr erzogen werden, niemand wird das Recht zur Vergewaltigung zustehen, es wird keine Organisation der Vergewaltigung mehr geben, und, wie dieses den Menschen unserer Zeit eigentümlich ist, die Vergewaltigung und der Mord werden immer und bezüglich aller als etwas Schlechtes gelten.

Die Vernichtung der Regierungen wird nur die traditionelle unnütze Organisation der Vergewaltigung vernichten und jeder Vergewaltigung die Berechtigung absprechen.

Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi

aus: Leo Tolstoi, Patriotismus und Regierung (1900); Übers. v. Eugen Diederichs; in: Leo Tolstoj, Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften. Hgg. von Peter Urban, Insel Verlag 1968.

pin_green.gifLesetipps:

"LEO TOLSTOI: Ein Aufruf an das arbeitende Volk!", aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 2 (1909) >> weiter.

"Die Revolution bist Du! Der Tolstojanismus als soziale Bewegung in den Niederlanden", GWR Sep 2016 >> weiter.

Lesetipps von Tolstoi-Fan Helmut Schnug: Liste der Werke Lew (Leo) Tolstois >> weiter.


► Quelle: Veröffentlicht am 17. Dezember 2019 in Streifzüge >> Artikel. "Streifzüge 2019-77 - Magazinierte Transformationslust" ist eine Publikation des Vereins für gesellschaftliche Transformationskunde in Wien. Verbreitung: COPYLEFT. „Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung der Publikationen in Streifzüge ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht." (Kritischer Kreis. Verein für gesellschaftliche Transformationskunde, Wien.). Die Bilder und Grafiken im Artikel sind nicht Bestandteil des Originalartikels und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. andere Lizenzen, s.u..

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► Bild- und Grafikquellen:

1. Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (dt. auch Leo Tolstoi, * 28. Augustjul./ 9. September 1828greg. in Jasnaja Poljana bei Tula; † 7. Novemberjul./ 20. November 1910greg. in Astapowo, heute Lew Tolstoi in der Oblast Lipezk) war ein russischer Schriftsteller, Revolutionär und christlicher Anarachist. Neben bekannten Romanen, Dramen und Erzählungen wie z.B. Wieviel Erde braucht der Mensch? (1885), Der Leinwandmesser: Die Geschichte eines Pferdes (1863/86), Herr und Knecht (1895), Drei Tage auf dem Lande (1910) etc. verfasste Tolstoi auch zahlreiche philosophische, religiöse, gesellschaftskritische und politische Schriften wie z.B. Russische Bauern (1887), Was ist Geld? (1901), Über Erziehung und Bildung (1902), Krieg und Revolution (1904), Die Sklaverei unserer Zeit (1904), Das Ende eines Zeitalters (Die bevorstehende Umwälzung) (1906) und Rede gegen den Krieg (postum).

Foto: Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski (1863-1944), ein Pionier der Farbfotografie. Es ist das erste Farbfoto in Russland und entstand am 23. Mai 1908. Quelle: Wikimedia Commons. Dieses Werk ist nach Absatz 1 Artikel 6 des Gesetzes Nr. 231-FZ der Russischen Föderation vom 18. Dezember 2006; dem Umsetzungsgesetz für Buch IV des Zivilgesetzbuches der Russischen Föderation, in Russland gemeinfrei (in der Public Domain.)

2. Leo Tolstoi (russisch: Лев Николаевич Толстой) in seinem Büro bei der Arbeit, 1909, Jasnaja Poljana. Das Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.

3. Pollice Verso (Thumbs Down) ist ein historisches Ölgemälde von Jean-Léon Gérôme (1824–1904), gemalt 1972. Es ist Teil des Phoenix Art Museum, dem größten Kunstmuseum für visuelle Kunst im Südwesten der Vereinigten Staaten. (Inventarnummer 1968.52). Quelle: Wikimedia Commons. Dies ist eine originalgetreue fotografische Reproduktion eines zweidimensionalen Kunstwerks. Das Kunstwerk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.

4. Let`s cut ourself from AUTHORITY. Lasst uns vo den Autoritäten befreien. Der Hürden sind zahllose! Die wichtigste Hürde dürfte in der Tatsache liegen, daß Selbstbestimmung und Selbstermächtigung ohne Verantwortung für das eigene Tun nicht zu haben sind. Anders gesagt: Die Schubkraft auf diesem Weg ist ein neue Beziehung von Individuum und Gemeinschaft, letztlich, um es unmißverständlich zu sagen, ein neues Verständnis vom Staat. Quelle: Punkerslut.com  > Grafikinfoseite. This image came from RadicalGraphics.org > radicalgraphics_797 > Permalink http://anarchistrevolt.com/?id=radicalgraphics---797.