Wer arbeitet, sündigt...: Ein Plädoyer für gute Arbeit
Autorin: Prof. Dr. Marianne Gronemeyer
Verlag: Primus Verlag, Darmstadt (1. Aufl. August 2012) - zur Verlagsseite
ISBN-13: 978-3-8631-2001-6
gebunden, 208 Seiten, EUR 19,90 mittlererweile Restbestände z.B. bei booklooker.de für 9,90 inkl. Porto!
Einer Nachrichtenmeldung des ZDF zufolge sind in Deutschland 9 Millionen Menschen erkrankt, weil sie sich ihren Berufs-und Alltagsanforderungen nicht mehr gewachsen fühlen. Die Krankheitssymptome werden unter dem Begriff »Burn-out« zusammengefasst. Unsere Arbeit macht krank. Aber vielleicht ist Burn-out eine ›gesunde‹ Reaktion auf unzumutbare Arbeitsanforderungen? Belastend ist oft nicht nur das Zuviel an Arbeit, sondern mehr noch das unterschwellige Gefühl ihrer Sinnlosigkeit. Gute Arbeit gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht auf dem Markt. Aber Menschen wollen und brauchen gute Arbeit.
Was ist überhaupt gute Arbeit? Über eine kleine Phänomenologie des Arbeitens erschließt das Buch zunächst die verschütteten Bedeutungshorizonte, die unsere Sprache dazu in sich trägt, bevor es sich mit der Frage auseinandersetzt, was Arbeit in unserer Gesellschaft ist und was sie bedeutet. Marianne Gronemeyer legt hier eine provokative Zeitdiagnose und zugleich ein flammendes Plädoyer vor.
► Inhalt:
Einleitung
Eine kleine Phänomenologie des Arbeitens
- Dornen und Disteln
- Fluch oder Segen?
- Ein Narrenlob des Fahrrades
- Was tun wir eigentlich, wenn wir arbeiten?
- Arbeit kann Berge versetzen, aber soll sie das auch?
Gute Arbeit – schlechte Arbeit
- Ungeliebt und doch begehrt
- Arbeit – ein knappes Gut
- Arbeit fällt nicht vom Himmel
- Parasitäre Arbeit
- Die Rückerstattung
- Totgestellt
- Der kunstgedüngte Mensch
Nichts als Müll
- Das Geschäft mit dem Müll
- Der geleimte Konsument
- Taste the Waste
- Verlorene Unschuld
- Chancen-Habsucht
Boden gutmachen
- Humus und Humanum – eine Schicksalsgemeinschaft
- „Ohne das Wissen bin ich nichts“
- Obstgarten-Philosophie
- Der Traktor
- Darwins Regenwürmer
- Von der Arbeit zur ‚Affenarbeit‘
- Vom Winde verweht
- Eine Monokultur des Denkens
- Hüter der ‚Umsonstigkeit‘
Das werkzeugmachende Tier
- Der Mensch, wunderlich hilflos
- Die Sinnlichkeit der nackten Hände
- Die Geste des Tastens – die Geste des Machens
- Der Meister
- Die Hände sind „Ungeheuer“
- Das Werkzeug macht sich selbstständig
- Werkzeugmachende Werkzeuge
Im Reich der Mittel
- Seelenwerke
- Wenn Mittel mächtig werden
- Das Werkzeug ist tot, es lebe das Werkzeug
- Konviviale Werkzeuge
- Zeit sparen kostet Zeit und Arbeit sparen Arbeit
- So tun, als ob …
- Wie Jonas im Walfischbauch
Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe
- Wenn Arbeit freiwillig wäre …
- Fremdbestimmung oder Selbstbestimmung
- Von der Galeere zum Selbstmanagement
- Von der Bezahlung zum Lohn
- ‚Arbeit ist Bewegung, aber die unsrige‘
- ‚Fremdbestimmung oder Selbstbestimmung?‘ – Das ist nicht die Frage
Surrogate
- Selbstbestimmung ist langweilig
- Die Rückerstattung der Arbeitsfreude
- Das Verschwinden des Tagwerks
- Schäbiger Ersatz
- Die Motivationsindustrie
- Selbstbestimmte Arbeit ist spendabel – fremdbestimmte ist beglückend
Was Hand und Fuß hat
- Das Wunder des gegengreifenden Daumens
- Die Gesten der Hand
- Auf zwei Beinen
- Der Niedergang des aufrechten Ganges
- Der ‚aufrechte Gang‘ und ‚Homo viator‘
Raus aus dem Markt, rein in die Nische
- Den Mond anbellen
- Komplettbeschallung
- Desertion statt Integration
- Orte, leer von Macht
- Zuständig werden
- Kollateralnutzen versus Schattenarbeit
Nachwort
Anhang
- Anmerkungen
- Literatur
► Leseprobe: Einleitung
„Leben: Zeit, die wir zum größten Teil mit überflüssigen Dingen verbringen. Der Hauptcharakterzug des ‚heiligen Menschen‘ ist vielleicht nicht so sehr die Besessenheit, die Monomanie, als vielmehr das Grauen vor der Zeitverschwendung.“
Wenn wir Imre Kertész, von dem dieses Zitat stammt, auf eine zugegebenermaßen ungehörige Art beim Wort nehmen, dann müssten wir verblüfft feststellen, dass wir Augenzeugen einer enormen Vermehrung von Heiligkeit sind. Denn nichts weniger versprechen ja die Ratgeber, die sich uns als ‚Zeitmanager‘ anempfehlen und deren Dienste von immer mehr modernen Menschen in Anspruch genommen werden, als dass sie der höchst unvernünftigen Verschleuderung des kostbarsten und knappsten ‚Besitzes‘, der Zeit nämlich, Einhalt gebieten könnten. Immer neue Finessen werden entdeckt, um bis in die kleinsten Alltagsverrichtungen hinein der Zeitverschwendung zu wehren.
Mittlerweile können wir uns in entsprechenden Kursen darin schulen lassen, uns zeitsparend die Schuhe zu schnüren oder mit einem Griff den Pullover über den Kopf zu ziehen, um die sinnlos verbrachte Zeit des An- und Auskleidens zu minimieren. Überhaupt ist es der Inbegriff des sorgfältigen Umgangs mit der Zeit, etwas mit einem Handgriff tun zu können. Was sich nicht mit einem Griff und im Handumdrehen erledigen lässt, ist unmodern und unterentwickelt, ist eine Aufgabe für die Experten in Sachen Zeitersparnis. Zeitverschwendung gilt als Kapitalvergehen, wir sollen lernen, uns vor ihr zu grauen wie vor einer Todsünde. Dennoch würden wir uns wohl kaum entschließen können, unsere Epoche als besonders heilige Zeit anzusehen.
Diese Raserei, die durch das Gebot, Zeit zu sparen, ausgelöst wird, hat Kertész sicher nicht gemeint. Heilig werden die Heiligen nicht dadurch, dass sie das Erledigungsquantum pro Zeiteinheit in die Höhe treiben und dass sie aus der Zeit so viel Zeit wie nur irgend möglich herausschinden; Zeit, die dann ihrerseits weitere Zeiteinsparung anheizt. Dann wäre ja Heiligkeit nichts weiter als eine Unterabteilung der Ökonomie und des Effizienzkalküls, was freilich den Ökonomen gefallen würde, weil sie sich ihrer Gewinnsucht wegen auch noch heilig wähnen dürften.
Heiligkeit besteht also nicht in der Zeitersparnis, sondern im sorgsamen, keinerlei Vergeudung duldenden Gebrauch der Zeit. Der Heilige ist heilig dadurch, dass er unablässig danach strebt, sich mit letztem Ernst den wesentlichen, kernhaften Anliegen, Dingen und Fragen zu widmen. Das scheint eine des Heiligen würdige, fast übermenschliche Anstrengung. Mir wird angst und bange bei der Vorstellung, ich sollte jede Verrichtung des Tages und der Nacht danach beurteilen, ob sie nicht überflüssig ist; ich sollte alle Dinge des täglichen Umgangs daraufhin befragen, ob sie der Konzentration auf das Wesentliche zu- oder abträglich sind; ich sollte mir also keine Leichtfertigkeit des Seins durchgehen lassen. Andererseits kommen mir Zweifel, ob die Heiligkeit der Heiligen so ganz und gar dieser von ihnen geleisteten Anstrengung entspringen kann. Kann man sich Heiligkeit verdienen? Kann man sie erarbeiten und ganz sich selbst verdanken?
Kertész spricht nun allerdings nicht davon, dass die Heiligen sich dadurch auszeichnen, dass sie die Zeitverschwendung meisterlich vermeiden, sondern dadurch, dass es ihnen vor der Verschwendung der Zeit graut. Vom Grauen aber wird man heimgesucht, es ist wie ein Überfall. Man hat nicht die Wahl, es zu empfinden oder nicht zu empfinden. Es ist mächtiger als man selbst. Man kann sich also dadurch, dass man sich tapfer grauen lässt, Heiligkeit nicht verdienen. Heiligkeit und Heldentum sind nun einmal grundverschieden.
Von Ökonomen und anderen Alltagsmenschen unterscheiden sich Heilige durch das, was ihnen als wesentlich und was als überflüssig gilt. Aber woher kann man wissen, welche Zeit verschwendet und welche gut verbracht ist? Das ist die brennende Frage nach dem Sinn und Sollen unseres Tuns und Daseins, die die einen so, die anderen anders beantworten und wieder andere gar nicht zu stellen wagen.
Die einfachste Antwort lautet: Wir wissen schon, wann wir Zeit vergeuden, wenn wir auf unsere Intuition hören. Wenn wir die Frage nur ernst genug stellen, dann wird sich die Antwort schon finden. Aber können wir modernen Menschen, die darauf eingeschworen sind, alles zu erforschen, zu erklären, zu beweisen und nach Gewinn und Verlust zu berechnen, uns noch auf unsere Intuition verlassen? Ist sie nicht zugleich mit unserer Erfahrung und Lebensklugheit verkümmert? Ist sie nicht längst unfähig, uns in wichtigen Fragen zu raten und unserer Urteilskraft beizustehen?
Ein Heiliger der östlichen Welt, Mahatma Gandhi, vertraut sich in der Frage der Zeitverschwendung nicht der Intuition, sondern der Wahrheitssuche an: „Wenn wir einmal gelernt haben, den unfehlbaren Prüfstein der Wahrheit anzuwenden, werden wir auf einmal fähig sein herauszufinden, was wert ist getan zu werden, was wert ist gesehen zu werden, was wert ist gelesen zu werden.“
In der westlichen Welt hält man es weder mit der Intuition, die viel zu sehr im Trüben und im Ungefähren fischt, noch mit der Wahrheitssuche, die viel zu zeitaufwendig ist. „In Europa“, schreibt Kertész, „wird alles mit Hilfe der Arbeit, richtiger, des Arbeitsdienstes gelöst.“ Da hat man etwas Handfestes, das gilt und eine gewisse Objektivität besitzt. Wer arbeitet, kann sicher sein, seine Zeit nicht zu verschwenden. „[…] Tatsache ist, daß Arbeit bislang alles niedergewalzt und alles gerechtfertigt hat [...] die Moral der Arbeit hat jede andere Moral – selbst die Ethik der Arbeit – in den Hintergrund gedrängt, sie ist völlig an und für sich.“ Wer arbeitet, sündigt nicht, könnte man in Abwandlung des Satzes sagen, der dies vom Schlafen behauptet. Wer sich also auf die Erfordernisse der Arbeit berufen kann, ist von dem Verdacht, seine Zeit mit Überflüssigem zu vertun, freigesprochen. Und wenn zwei Ansprüche an meine Zeit konkurrieren, hat die Arbeit normalerweise Vorfahrt. Die Trennlinie zwischen wesentlich und verschwenderisch verbrachter Zeit wird in westlichen Gesellschaften zwischen Arbeitszeit und Freizeit gezogen.
Aber auch Freizeit kann zur höheren Seinsform geadelt werden und dem Verdikt, verwerflicher Zeitvertreib zu sein, entkommen, dann nämlich, wenn die Freizeitverrichtungen in den Dienst der Arbeit oder der Arbeitskraft gestellt werden. Auf unterschiedliche Weise kann die ‚freie Zeit‘ veredelt werden: Man kann sie nutzen, um sich von der Arbeit zu erholen und so für weitere Arbeit gut gerüstet zu sein. Dann kann sogar schlafend verbrachte Zeit als wesentlich und nicht vergeudet gelten. Auch sportliche Übung, die nicht nur dem Vergnügen, sondern der Gesundheit dient, Reisen, das die Weltläufigkeit befördert, gesellige Unterhaltung, die dem Spracherwerb nützt, Lesen, das den Kenntnisstand verbessert, Essen, das die Geschäftskontakte fördert, all dies und manches mehr kann sich sehen lassen und ist vom Verdacht des liederlichen Zeitvertreibs befreit.
Wenn die Arbeit über allen Zweifel erhaben, wenn sie gleichsam heiliggesprochen ist und ihr Sinnstiftung zugetraut wird, dann hat sogar noch der Konsum Anteil an dem Glanz, den sie auf alles wirft, was ihr dient. Was Arbeit hervorbringt, befriedige menschliche Bedürfnisse, heißt es. So kann man sie als einen Dienst am Nächsten verstehen. Mit dem Satz, dass unser Leben siebzig und, wenn’s hoch kommt, achtzig Jahre währt und dass es köstlich gewesen ist, wenn es Mühe und Arbeit war, scheint es dann auch heute noch seine Richtigkeit zu haben. Umso mehr muss es allerdings verwundern und verwirren, dass wir so unglaublich viel Arbeit darauf verwenden, die Arbeit endgültig überflüssig zu machen. Der technische Fortschritt – der einzige Fortschritt, der zählt – soll uns die Arbeit vom Halse schaffen. Letztlich dienen alle Anstrengungen der industriellen Produktion dem einen Zweck, menschliche Arbeit zu erübrigen.
Immer mehr Aufgaben, die seit Menschengedenken arbeitenden Menschen oblagen, werden an Maschinen delegiert, die sie statt unserer erledigen. Eines nicht allzu fernen Tages werde der Mensch von allen Mühen, die ihm die Aufrechterhaltung seiner leiblichen, um nicht zu sagen animalischen Existenz abverlange, befreit sein und sich ganz der freien Betätigung seiner schöpferischen Kräfte, seinem Sinnen und Trachten, dem Genießen und der seligen Muße, kurz: seiner höheren Bestimmung widmen können. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, dieser Satz, mit dem uns schon in Kindertagen aller Leichtsinn ausgetrieben wurde, wäre demnach auch menschheitsgeschichtlich das Gebotene. Wir arbeiten, um immer weniger arbeiten zu müssen und eben deshalb ist die Zeit, die an die Arbeit gewendet wird, nicht verschwendet. Arbeit ist ehrwürdig und entwürdigend zugleich. Sie ist heilige Pflicht im Dienst ihres eigenen Verschwindens.
Nun heißt aber der Titel dieses Buches nicht: „Wer arbeitet, sündigt nicht“, sondern im Gegenteil: „Wer arbeitet, sündigt“. Das ist allerdings eine Behauptung von anderem Kaliber. Die schiere Provokation. Es sträubt sich doch wirklich alles in uns gegen die skandalöse Feststellung, dass Arbeit grundsätzlich schädlich sein soll. Man kann seine Arbeit gut oder schlecht machen, man kann es an Sorgfalt, Genauigkeit, Ausdauer und Kenntnis fehlen lassen, man kann nachlässig, schlampig oder ungeschickt sein, aber das alles rechtfertigt noch nicht die Behauptung, dass es gute Arbeit prinzipiell nicht gibt. Es sagt lediglich, dass jemand sich entweder weigert oder unfähig ist, sie zu tun. Der Titel ist jedoch keineswegs als Provokation, sondern ernst gemeint. Ich will tatsächlich nachweisen, dass uns die Möglichkeit, gute Arbeit zu verrichten, abhandengekommen ist.
Aber kann man denn, wie ich das vorhabe, wirklich beides gleichzeitig, den Totengesang auf die ‚gute Arbeit‘ anstimmen und ein – sogar leidenschaftliches – Plädoyer für sie halten wollen? Für etwas, das es nicht gibt – oder nicht mehr gibt – kann man schlecht plädieren, ohne Unsinn zu reden. Also ist die gute Arbeit doch nicht ganz verschwunden? Zugegeben, die Eingangsbehauptung, muss präzisiert werden: Es gibt sie noch, die gute Arbeit, aber nicht auf dem Markt. Alle Arbeit, die heute auf dem Arbeitsmarkt gehandelt wird, schadet mehr, als dass sie nützt. Und wer sich glücklich schätzt, auf dem Markt einen Job ergattert zu haben, nimmt in Kauf, dass er damit Schaden anrichtet.
Die Präzisierung macht die Sache kaum besser. Das würde ja bedeuten, dass es egal ist, ob ich in meinem Job Sahnetrüffel oder Tellerminen produziere, dass sich die ehrwürdigen Professionen des Heilens, Helfens und Lehrens in dem, was sie anrichten, nicht unterscheiden von denen der Rüstungsarbeiter, Henker und Banker. – Sie unterscheiden sich schon. Sie bewirken sehr Verschiedenes; aber eben auch nichts Gutes.
Man kann doch aber nicht einfach darüber hinwegsehen, dass in der Arbeitswelt kaum jemals so viel Aufwand getrieben wurde, um gute Arbeit zu garantieren, wie heutzutage. Verfahren der Qualitätssicherung, der Effizienzkontrolle, der Evaluation, der Dokumentation beschäftigen Heerscharen von Experten, die beauftragt sind, die Professionalität der Arbeit und der Arbeitenden ständig zu verbessern. Professionalität ist zum wichtigsten Merkmal guter Arbeit aufgerückt. Wer professionell ist, beherrscht sein Metier technisch perfekt, er – oder sie – weiß, was richtig, wichtig und vordringlich ist, er ist leistungswillig, zeigt Entschlusskraft, verfügt über eine routinierte Könnerschaft und eine kühl kalkulierende ‚Leidenschaft‘ für alles Verfahrensförmige und Methodische, er/sie weiß, die störende Subjektivität persönlicher Meinungen, Empfindungen und Rücksichten aus dem Spiel zu lassen sowie Privates und Berufliches strikt zu trennen. Jemandem Unprofessionalität vorzuwerfen, ist die ärgste Schmähung, die man ihm antun kann, weit ärger, als ihm Unmoralität nachzusagen.
Der Begriff, der für all das herhalten muss, wurde gründlich missverstanden oder misshandelt. Denn das lateinische Verb ‚profiteri‘, von dem unsere ‚Professionalität‘ ebenso wie die ‚Professoralität‘ abstammt, heißt „bekennen, gestehen“. Demnach wäre ein Professor ein Bekenner und Professionalität bestünde nicht zuletzt darin, dass man Schwächen und Fehler eingesteht, sich also eine Blöße gibt, was ja die Voraussetzung dafür ist, dass falsche Entscheidungen und Taten revoziert und revidiert werden können. Auf so schwankendem Boden bewegen sich moderne Professionelle nicht. Sie sind sich ihrer Sache und ihres methodischen Instrumentariums sicher und wissen sich im Recht. Nicht zuletzt deshalb ist die heute gepflegte Professionalität außerstande, gute Arbeit zu ermöglichen. Sie dient vielmehr dazu, Schlechtes immer besser zu machen und Falsches zu perfektionieren.
Was sind aber die Befunde, die ein solch schwerwiegendes Verdikt über unsere professionelle Arbeit rechtfertigen könnten? Zuallererst: Die moderne Arbeitswelt erzeugt immer mehr drop outs und gesellschaftlich Deklassierte. Alle menschlichen Belange sind zusehends unter das Diktat der Ökonomie und des Profitkalküls geraten. Alles, was sich nicht lohnt, wird ausgemustert und alle, die nichts leisten, werden für überzählig erklärt. Schonräume und Nischen, in denen die, die nicht mithalten können, die Gescheiterten und die Schwachen, vom Leistungsdruck einigermaßen unbehelligt, ein auskömmliches Dasein fristen könnten, ohne sich als gerade noch geduldet zu erfahren, werden abgeräumt. Die Arbeitswelt wird immer mehr zum Kriegsschauplatz, auf dem sich Selbstbehauptungskämpfer immer härtere Schlachten liefern. Ein Klima, in dem gute Arbeit wahrlich nicht gedeihen kann, wie viel Mühe sich die darin Agierenden auch geben mögen.
Ein zweiter Befund ist beinah noch beunruhigender: Im Zuge der Ökonomisierung aller Lebensbereiche hat sich eine „Monokultur des Effizienzdenkens“ ausgebreitet. Darin werden alle persönlichen Beziehungen, alle Eigenheiten und Besonderheiten der in den Arbeitsprozess Involvierten als Störung wahrgenommen und ausgeschaltet. Ideal ist ein Arbeitsprozess, der wie am Schnürchen läuft, verfahrensförmig, programmierbar, vorhersehbar, durchorganisiert. Selbst in den Schulen und an den Universitäten, in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, in Sozialstationen und Kirchen hat sich dieses Ideal der reibungslosen, überraschungsfreien Abläufe durchgesetzt, und längst beherrscht es auch die so genannte Freizeit. Diese monokulturelle Verwüstung zehrt alles persönliche Miteinander sowie alle Fürsorge füreinander auf und hat eine unvorstellbare Gleichmacherei zur Voraussetzung und zur Folge.
Gebraucht wird der „funktionale Mensch. Die Ausprägungen und Organisationen der modernen Daseinsstruktur, innerhalb deren das Leben des funktionalen Menschen abläuft wie der Kolben in einem gut isolierten Glaszylinder. […] Die Wirklichkeit des funktionalen Menschen ist eine Pseudowirklichkeit, ein das Leben ersetzendes Leben, eine ihn selbst ersetzende Funktion.“ Verfahrensförmigkeit ist die Zauberformel mit deren Hilfe Effizienz – der größtmögliche Ertrag bei geringstmöglichem Einsatz von Mitteln in kürzest möglicher Zeit – in schwindelnde Höhen getrieben wird. Sie ist das probateste Mittel der gewinnträchtigen Beschleunigung aller Prozeduren – und der gerade Weg in die Barbarei. Wer oder was dabei alles auf der Strecke bleibt, wird aus den Gewinnkalkulationen herausgerechnet oder zum ‚Kollateralschaden‘ erklärt.
Es gibt einen dritten Befund: Professionelle Arbeit produziert Waren – auch Dienstleistungen sind ja Waren. Waren ersetzen menschliche Tätigkeiten. Um immer mehr Waren an den Mann, die Frau und das Kind zu bringen, wie es das Wachstumsgebot verlangt, werden den Menschen immer mehr Tätigkeiten und Zuständigkeiten abtrainiert. Tätige und zum Selbsterhalt fähige Menschen werden umgekrempelt zu hilflosen, abhängigen und entmündigten Konsumenten. Arbeit dient nicht der Herstellung dessen, was gebraucht wird, sondern produziert zunehmend, was nicht gebraucht wird, um diese Abhängigkeit aufrecht zu erhalten und zu steigern. Es ist nicht so, dass die Arbeit den Konsum veredelt, sondern so, dass der Konsum die Arbeit entwertet. Auf doppelte Weise werden die Arbeitenden durch ihre Arbeit depotenziert: Während der Arbeit fungieren sie nur mehr als Verfahrensanhängsel. Und als Konsumenten werden sie von ihren Tunsmöglichkeiten und ihrer Zuständigkeit für ihre eigenen Angelegenheiten abgeschnitten.
Gute Arbeit, Arbeit, die nützt und nicht schadet, kann nicht zustande kommen, wenn Menschen statt zu kooperieren konkurrieren müssen; wenn ihr persönliches Handeln ausgeschaltet wird und sie einen ihnen zugewiesenen Platz in einer Maschinerie nur noch auszufüllen haben; wenn ihnen durch ihre Arbeitsproduktivität immer mehr Konsum aufgenötigt wird, der sie abhängig und unzuständig macht, und wenn ihre Arbeit vorrangig im Dienst der Profitsteigerung von Konzernen steht.
Dass es gute Arbeit diesen erdrückenden Befunden zum Trotz geben könnte, scheint aussichtslos. An eine Humanisierung der Arbeitswelt kann man, ohne sich selbst etwas in die Tasche zu lügen, kaum glauben. Zu fragen wäre vielmehr, ob man aus ihr ausscheren, ob man sich ihren Forderungen zeit- oder teilweise entziehen und durch anderweitige Tätigkeit seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte; ob es also ein Abseits der Arbeitswelt gibt oder geben könnte, wohin ihre Herrschaft nicht reicht und wo ihre Erpressungsmechanismen nicht greifen. Es sind ja längst viele, die sich aus der Arbeitswelt davonmachen, entweder, weil sie rausgeschmissen oder weil sie krank werden oder weil sie zu alt sind.
Einer Meldung in den Abendnachrichten vom 28. September 2011 zufolge sind es in Deutschland bereits mehr als neun Millionen Menschen, die den Arbeitsanforderungen nicht mehr gewachsen sind. Ihre Diagnose lautet in der Regel ‚Burn out‘, ‚Ausgebrannt‘. Denn es ist allemal einfacher, die Menschen für krank zu erklären als die Arbeitsverhältnisse. Aber sind nicht diejenigen die unter krankmachenden Zumutungen schlapp machen, ‚gesünder‘ als die, die immer noch mithalten? Diejenigen, die die Arbeitswelt ausgespien hat, könnten eine große Koalition der Nicht-Erpressbaren bilden und von ihren verbliebenen Kräften einen Gebrauch machen, der sie vom Geldbedarf unabhängiger machen und als tätige Menschen ins Recht setzen würde, statt dass sie sich als Konsumenten an der Leine führen lassen. Kurzum: die Frage ist, ob es auch in industriellen und urbanisierten Gesellschaften Möglichkeiten einer neuen Subsistenz gibt, die die Menschen weniger bedürftig und fähiger macht, für sich und andere selbst zu sorgen. (Text: M. Gronemeyer)
► Informationen zur Autorin:
Marianne Gronemeyer ist Professorin für Erziehungswissenschaften. Als renommierte deutsche Autorin von Bestsellern wie "Das Leben als letzte Gelegenheit" und "Die Macht der Bedürfnisse" wurde sie 1941 in Hamburg geboren, acht Jahre Lehrerin an der Haupt- und Realschule, Zweitstudium der Sozialwissenschaften an den Universitäten Hamburg, Mainz und Bochum. Dissertation: Motivation und politisches Handeln, Hamburg 1976.
Von 1971 bis 1977 machte sie Friedensforschung an der Universität Bochum im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung.
Habilitationsschrift: Die Macht der Bedürfnisse, Reinbek 1988.
Bis 2006 war sie Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Wiesbaden.
Marianne Gronemeyer beschäftigt sich mit dem leider allzu bekannten und dabei wenig erforschten Thema der Versäumnisangst des modernen Menschen. Dem Phänomen: „Wo ich nicht bin da ist das Glück". Unsere Welt wird schneller, aber wir fühlen uns immer entleerter und leiden an Stress, Hektik und einem Überangebot an Welt. Wir sind nicht mehr gegenwärtig und kranken an Erfahrungsarmut. Wir glauben, die Welt werde nach unseren Bedürfnissen eingerichtet, tatsächlich richten sich unsere Bedürfnisse nach der Welt. Wir sind überzeugt, dass wir Macht über unsere Bedürfnisse haben, tatsächlich aber sind sie Ausdruck der Macht, die über uns ausgeübt wird. Wir leben in einer Überflussgesellschaft, aber: Je größer der Überfluss, desto bedürftiger die Menschen.
Marianne Gronemeyer unterscheidet die „falschen Bedürfnisse", die nur dazu dienen die Produktionsmaschinerie auf Hochtouren zu halten, von den „wahren Bedürfnissen", die sukzessive verdrängt werden. Wo die Vielfalt und Unterschiedlichkeit zwischen Menschen auf Eindeutigkeit reduziert wird und es in der Folge zum Ein-Verständnis kommt, ist meistens Macht im Spiel: Der Mächtige bestimmt, was „das bessere Argument" ist und wird so zum Sieger. Doch Elias Canetti hat gewarnt: „Das Einzige, was man nie sein darf, ist ein Sieger."
Marianne Gronemeyer schlägt im Umgang mit Konflikten das nicht-erzieherische Gespräch vor: Es verzichtet auf den Konsens als Ziel, will den anderen weder manipulieren noch sonst wie beeinflussen und verändern, sondern ist daran interessiert, durch genaues und sorgfältiges Zuhören die Differenzen, die unterschiedlichen Auffassungen und Sichtweisen herauszuarbeiten und gelten zu lassen.
Unseren herzlichen Dank an Frau Gronemeyer für die freundliche Unterstützung und Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Texte.
zur Buchvorstellung passend, ein fundierter Beitrag der Autorin - hier bitte weiterlesen