Wie Großbritannien 45 Billionen Dollar von Indien stahl.

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Helmut S. - ADMIN
Helmut S. - ADMIN
Offline
Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Wie Großbritannien 45 Billionen Dollar von Indien stahl.
DruckversionPDF version

Wie Großbritannien 45 Billionen Dollar von Indien stahl.

Und darüber gelogen hat.

von Jason Hickel

Britisch-Indien-British-India-Raj-britisches-Kolonialreich-Empire-Kritisches-Netzwerk-Indischer-Aufstand-Sepoyaufstand-Kolonialherrschaft-Britische-Ostindien-Kompanie-KronkolonieEs gibt eine Geschichte, die in Großbritannien allgemein verbreitet ist, dass die Kolonisierung Indiens - so schrecklich sie auch gewesen sein mag - für Großbritannien selbst keinen großen wirtschaftlichen Nutzen gebracht hat. Wenn überhaupt, dann war die Verwaltung Indiens ein Kostenfaktor für Großbritannien. Die Tatsache, dass das Imperium so lange aufrechterhalten wurde - so die Geschichte - war also eine Geste des britischen Wohlwollens.

Neue Forschungen der renommierten Ökonomin Utsa Patnaik, die gerade von der Columbia University Press veröffentlicht wurden, versetzen dieser Erzählung einen vernichtenden Schlag. Ausgehend von fast zwei Jahrhunderten detaillierter Daten über Steuern und Handel berechnete Patnaik, dass Großbritannien im Zeitraum 1765 bis 1938 insgesamt fast 45 Billionen Dollar aus Indien abgesaugt hat. Es ist eine erstaunliche Summe. Aus heutiger Sicht sind 45 Billionen Dollar 17 mal mehr als das gesamte jährliche Bruttoinlandsprodukt des Vereinigten Königreichs.

► Wie kam es dazu?

Es geschah durch das Handelssystem. Vor der Kolonialzeit kaufte Großbritannien Waren wie Textilien und Reis von indischen Produzenten und bezahlte sie auf die übliche Weise - meist mit Silber - wie in jedem anderen Land. Aber 1765 änderte sich etwas, kurz nachdem die East India Company die Kontrolle über den Subkontinent übernommen und ein Monopol über den indischen Handel aufgebaut hatte.

So hat es funktioniert: Die "British East India Company" (BEIC) begann, Steuern in Indien einzuheben, und nutzte dann geschickt einen Teil dieser Einnahmen (etwa ein Drittel), um den Kauf indischer Waren für den britischen Gebrauch zu finanzieren. Mit anderen Worten, anstatt für indische Waren aus eigener Tasche zu bezahlen, erwarben britische Händler sie kostenlos und "kauften" von Bauern und Webern mit Geld, das ihnen gerade abgenommen worden war "Tax-and-Buy-System").

Es war ein Betrug - Diebstahl im großen Stil. Doch die meisten Inder wussten nicht, was vor sich ging, denn der Agent, der die Steuern einnahm, war nicht derselbe wie der, der auftauchte, um ihre Waren zu kaufen. Wäre es die gleiche Person gewesen, hätten sie sicher Verdacht geschöpft.

Britisches_Empire_octopus_England_India_Indien_imperialism_Britische_Kolonien_Kolonisation_Imperialismus_Kritisches_Netzwerk_Kolonialreich_Kolonialzeit_exploitation_AuspluenderungEin Teil der gestohlenen Waren wurde in Großbritannien konsumiert, der Rest wurde anderswohin wieder ausgeführt. Das Wiederausfuhrsystem ermöglichte es Großbritannien, einen Strom von Importen aus Europa zu finanzieren, einschließlich strategischer Materialien wie Eisen, Teer und Holz, die für die britische Industrialisierung unerlässlich waren. Tatsächlich hing die Industrielle Revolution zu einem großen Teil von diesem systematischen Diebstahl aus Indien ab.

Darüber hinaus konnten die Briten die gestohlenen Waren für viel mehr Geld in andere Länder verkaufen, als sie sie ursprünglich "gekauft" hatten, indem sie nicht nur 100 Prozent des ursprünglichen Wertes der Waren, sondern auch den Aufschlag einnahmen.

Nachdem der Britische Raj 1847 die Macht übernommen hatte, fügten die Kolonisatoren dem Tax-and-Buy-System eine besondere neue Wendung hinzu. Als das Monopol der East India Company zusammenbrach, durften indische Produzenten ihre Waren direkt in andere Länder exportieren. Aber Großbritannien sorgte dafür, dass die Zahlungen für diese Waren dennoch in London landeten.

► Wie funktionierte das?

Grundsätzlich würde jeder, der Waren aus Indien kaufen wollte, dies mit speziellen Council Bills tun - einer einzigartigen Papierwährung, die nur von der britischen Krone ausgegeben wurde. Und der einzige Weg, diese Scheine zu bekommen, war, sie in London mit Gold oder Silber zu kaufen. So würden Händler London in Gold bezahlen, um die Scheine zu bekommen, und dann die Scheine benutzen, um indische Produzenten zu bezahlen. Als die Indianer die Scheine im örtlichen Kolonialbüro einlösten, wurden sie mit Rupien aus Steuereinnahmen "bezahlt" - Geld, das gerade von ihnen gesammelt worden war. Also wurden sie auch hier wieder gar nicht bezahlt, sie wurden betrogen.

Unterdessen erhielt London das gesamte Gold und Silber, das im Austausch für ihre Exporte direkt an die Inder gehen sollte.

Dieses korrupte System bedeutete, dass Indien zwar einen beeindruckenden Handelsüberschuss mit der übrigen Welt erzielte - ein Überschuss, der Anfang des 20. Jahrhunderts drei Jahrzehnte lang andauerte -, sich aber als Defizit in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen erwies, da das Realeinkommen aus Indiens Exporten vollständig von Großbritannien vereinnahmt wurde.

Einige weisen auf dieses fiktive "Defizit" als Beweis dafür hin, dass Indien eine Belastung für Großbritannien war. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Großbritannien hat enorme Mengen an Einkommen abgefangen, die zu Recht indischen Produzenten gehörten. Indien war die Gans, die das goldene Ei legte. Unterdessen bedeutete das "Defizit", dass Indien keine andere Wahl hatte, als von Großbritannien Kredite zur Finanzierung seiner Importe aufzunehmen. So wurde die gesamte indische Bevölkerung in völlig unnötige Schulden bei ihren kolonialen Oberherren gezwungen, was die britische Kontrolle weiter festigte.

Großbritannien nutzte den Gewinn aus diesem betrügerischen System, um die Motoren der imperialen Gewalt zu befeuern - die Finanzierung der Invasion in China in den 1840er Jahren und der Unterdrückung der indischen Rebellion im Jahr 1857. Und das kam zu dem hinzu, was die Krone direkt von den indischen Steuerzahlern nahm, um für ihre Kriege zu bezahlen. Wie Patnaik betont, "wurden die Kosten aller britischen Eroberungskriege außerhalb der indischen Grenzen immer ganz oder hauptsächlich den indischen Einnahmen angelastet".

► Und das ist noch nicht alles.

Großbritannien nutzte diesen Zustrom von Tribut aus Indien, um die Expansion des Kapitalismus in Europa und in Regionen europäischer Besiedelung wie Kanada und Australien, zu finanzieren. So wurde nicht nur die Industrialisierung Großbritanniens, sondern auch die Industrialisierung eines Großteils der westlichen Welt durch die Absaugung aus den Kolonien erleichtert.

Britisches-Kolonialreich-Britisch-Indien-British-Empire-India-Raj-Kanada-Canada-Australien-Australia-New-Zealand-Great-Britain-Kritisches-Netzwerk-Kolonialherrschaft-Kronkolonien

Patnaik identifiziert vier verschiedene Wirtschaftsperioden im kolonialen Indien von 1765 bis 1938, kalkuliert die Extraktion für jede einzelne und berechnet dann einen bescheidenen Zinssatz (etwa 5 Prozent, was niedriger als der Marktzins ist) vom Mittelwert einer jeden Periode bis zur Gegenwart. Zusammenfassend stellt sie fest, dass sich der gesamte Abfluss auf 44,6 Billionen Dollar beläuft. Diese Zahl ist konservativ, sagt sie und beinhaltet nicht die Schulden, die Großbritannien Indien während des Raj auferlegt hat.

Das sind atemberaubende Summen. Aber die tatsächlichen Kosten dieses Abflusses lassen sich nicht berechnen. Wenn Indien in der Lage gewesen wäre, seine eigenen Steuereinnahmen und Deviseneinnahmen in die Entwicklung zu investieren - wie es Japan tat -, lässt sich nicht sagen, wie die Geschichte anders verlaufen wäre. Indien hätte sehr wohl zu einem wirtschaftlichen Kraftpaket werden können. Jahrhunderte der Armut und des Leidens hätten verhindert werden können.

bullshit_bullenscheisse_schwachsinn_bloedsinn_quatsch_dummes_zeug_geschwafel_unsinn_rubbish_kritisches_netzwerk_merde_de_bison_connerie.jpg All dies ist ein ernüchterndes Gegenmittel gegen die rosarote Erzählung, die von einigen mächtigen Stimmen in Großbritannien gefördert wird. Der konservative Historiker Niall Ferguson hat behauptet, dass die britische Herrschaft dazu beigetragen hat, Indien zu "entwickeln". Während seiner Zeit als Premierminister behauptete David Cameron, dass die britische Herrschaft eine Nettohilfe für Indien war.

Diese Erzählung hat in der Volksmeinung eine beachtliche Wirkung: Laut einer Umfrage von YouGov aus dem Jahr 2014 glauben 50 Prozent der Briten, dass der Kolonialismus für die Kolonien von Vorteil war.

Doch während der gesamten 200-jährigen Geschichte der britischen Herrschaft in Indien gab es fast keinen Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens. In der Tat brachen in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts - der Blütezeit der britischen Intervention - die Einkommen in Indien um die Hälfte ein. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Inder sank von 1870 bis 1920 um ein Fünftel. Zehn Millionen starben sinnlos an politisch bedingten Hungersnöten.

Großbritannien entwickelte Indien nicht. Im Gegenteil - wie Patnaiks Arbeit deutlich macht - entwickelte Indien Großbritannien.

► Was verlangt das heute von Großbritannien?

Eine Entschuldigung? Auf jeden Fall. Reparationen? Vielleicht - obwohl es in ganz Großbritannien nicht genug Geld gibt, um die Summen zu bezahlen, die Patnaik ausweist. In der Zwischenzeit können wir damit beginnen, die Geschichte richtig zu stellen. Wir müssen erkennen, dass Großbritannien die Kontrolle über Indien nicht aus Wohlwollen, sondern um der Ausplünderung willen behalten hat und dass der industrielle Aufstieg Großbritanniens nicht sui generis aus der Dampfmaschine und starken Institutionen hervorging, wie es unsere Schulbücher vorschreiben, sondern vom gewaltsamen Diebstahl aus anderen Ländern und anderen Völkern abhängig war.

Dr. Jason Hickel >> Kontakt via Twitter >> https://twitter.com/jasonhickel
_______________

Jason_Hickel_Die_Tyrannei_des_Wachstums_globale_Ungleichheit_Armut_Reichtum_Massenmigration_Wachstumsideologie_Kritisches_Netzwerk_Schuldenpolitik_Kolonialismus_AusbeutungDr. Jason Hickel ist Anthroploge und lehrt an der London School of Economics und Fellow der Royal Society of Arts. Er stammt ursprünglich aus Swasiland und hat einige Jahre bei Arbeitsmigranten in Südafrika verbracht, wo er die Muster von Ausbeutung und polititschem Widerstand infolge der Apartheid erforschte. Neben seiner ethnographischen Arbeit befasst er sich mit Entwicklungspolitik, Ungleichheit und der globalen Wirtschaft. Seine Artikel erscheinen bei ›The Guardian‹, ›Al Jazeera‹ und anderen Medien. Sein jüngstes Buch ist "The Divide: A Brief Guide to Global Inequality and its Solutions", veröffentlicht von Penguin im Mai 2017.

Hickels Buch gibt es auch in deutschsprachiger Übersetzung unter dem Titel "Die Tyrannei des Wachstums: Wie globale Ungleichheit die Welt spaltet und was dagegen zu tun ist", erschienen am 29. März 2018 im dtv-Verlag, ISBN 978-3-423-28163-8, Hardcover, 432 Seiten, Preis 28,00 € [D], auch als E-Book ISBN 978-3-423-43373-0 für 24,99 € [D]. >> Leseprobe.

Seit Dekaden hören wir, Entwicklung hilft: Die südlichen Länder der Welt schließen zum reichen Norden auf, die Armut hat sich in den vergangenen 30 Jahren halbiert, bis zum Jahr 2030 ist sie verschwunden. Das ist eine tröstliche Geschichte, die von Politik und Wirtschaft gerne bestätigt wird. Aber sie ist nicht wahr. In Wirklichkeit hat sich die Einkommenslücke zwischen Nord und Süd seit 1960 verdreifacht, 60 Prozent der Weltbevölkerung verdienen weniger als 4,20 Euro am Tag. Armut ist kein Naturphänomen, sie wird gemacht.

Armut ist kein Naturgesetz, sondern ein politisches Problem.

Jason Hickel entlarvt die Wachstumsideologie und zeigt auf, dass Armut ein politisches Problem ist, das von Industriestaaten gemacht wird. Deshalb kann Armut auch durch politische Lösungen abgeschafft werden. Voraussetzung ist eine Revolution im Denken. Die wahre Ursache ist seiner Ansicht nach eine neue Art von Kolonialismus, ein Kolonialismus, der auf Anhieb gar nicht zu erkennen ist, zunächst sogar als hilfreich betrachtet werden kann. Das ist die internationale Schuldenpolitik, deren Drahtzieher mächtige Länder und mächtige Institutionen sind und von der sehr viele mächtig profitieren, nicht zuletzt die Banken.

Ein glänzend geschriebenes Buch mit provozierenden Thesen und Lösungsansätzen. Nur wenn wir in Zeiten von Klimawandel und Massenmigration unsere Ausbeutung der armen Länder beenden werden wir selbst eine Zukunft haben. Was müsste geschehen? Dafür hat Jason Hickel in ›Die Tyrannei des Wachstums‹ einige radikale Vorschläge. (Verlagstext dtv). >> Leseprobe.


► Quellen: erschienen am 14. Dezember 2018 auf >> Information Clearing House >> Artikel. - Das Original erschien auf AlJazeera >> Artikel.

Die Weiterverbreitung der Texte auf der Website antikrieg.com ist durchaus erwünscht. In diesem Fall bitte die Angabe der Webadresse www.antikrieg.com nicht zu vergessen! Dieser Artikel wurde in deutscher Übersetzung dort am 16. Dezember 2018 freundlicherweise von Klaus Madersbacher / A zur Verfügung gestellt. ACHTUNG: Die Bilder und Grafiken sind nicht Bestandteil der Originalveröffentlichung und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. folgende Kriterien oder Lizenzen, s.u.. Grünfärbung von Zitaten im Artikel und einige zusätzliche Verlinkungen wurden ebenfalls von H.S. als Anreicherung gesetzt.

► Bild- und Grafikquellen:

1. Flagge Britisch-Indiens. Unter dem Begriff Britisch-Indien (engl. British India oder British Raj von Hindi) wird im engeren Sinne das britische Kolonialreich auf dem Indischen Subkontinent zwischen 1858 und 1947 verstanden. Britisch-Indien wurde nach der Niederschlagung des Indischen Aufstands von 1857 gegründet, indem die bisherigen Besitzungen der Britischen Ostindien-Kompanie in eine Kronkolonie umgewandelt wurden. Britisch-Indien umfasste zur Zeit seiner größten Ausdehnung nicht nur das Territorium der heutigen Republik Indien, sondern auch die Territorien der heutigen Staaten Pakistan, Bangladesch und Myanmar. (Wikip.). Urheber: Barryob. Quelle: Wikimedia Commons. Der Urheberrechtsinhaber veröffentlicht dieses Werk als gemeinfrei. Dies gilt weltweit.

2. ENGLISH IMPERIALISM OCTOPUS. Amerikanische Karikatur von John Bull (England) als kaiserlicher Oktopus mit den Armen (mit den Händen) in - oder in Betracht ziehend, in - verschiedenen Regionen zu sein, erstellt 1888. Urheber: unbekannt. Quelle: Wikimedia Cmmons. Dieses Werk ist gemeinfrei in den Vereinigten Staaten, weil es vor dem 1. Januar 1923 veröffentlicht wurde.

3. Cartoon von 1915: "ARE WE AFRAID? NO." Foto/Quelle: This image is part of the Canadian Copyright Collection held by the British Library, and has been digitised as part of the "Picturing Canada" project. It was deposited with copyright number 29954. This file has been provided by the British Library from its digital collections. It is also made available on a British Library website. Catalogue entry: HS85/10/29954 Quelle2: Wikimedia Commons. This file has been identified as being free of known restrictions under copyright law, including all related and neighboring rights.

4. BULLSHIT. Grafik: Duncan Creamer, Vancouver, Kanada. via Instagram. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

5. Buchcover: "Die Tyrannei des Wachstums: Wie globale Ungleichheit die Welt spaltet und was dagegen zu tun ist", von Dr. Jason Hickel. Erschienen am 29. März 2018 im dtv-Verlag, ISBN 978-3-423-28163-8, Hardcover, 432 Seiten, Preis 28,00 € [D]