Der Bundestag schafft sich ab: Eine Akklamations-Maschine macht sich überflüssig

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Ulrich Gellermann
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Verbunden: 22.03.2013 - 15:43
Der Bundestag schafft sich ab: Eine Akklamations-Maschine macht sich überflüssig
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Der Bundestag schafft sich ab

Eine Akklamations-Maschine macht sich überflüssig

bundesadler_sturzflug_absturz_bundesregierung_deutscher_bundestag_bundeswappen_wappentier_staatswappen_kritisches_netzwerk_demokratie_entdemokratisierung.pngEs muss demnächst die Stelle eines Bundestag-Herolds ausgeschrieben werden. Der sollte, in einer schicken Uniform, versteht sich, vor Beschlüssen des Bundestages, neben das Rednerpult treten, dreimal mit seinem Zeremonienstab nachdrücklich auf den Boden des Hohen Hauses klopfen und in die Kameras rufen: „Hört! Hört! Hört! Falls die Versammlung dieser, in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählten Vertreter des ganzen Volkes (Artikel 38 Grundgesetz) zu irgendeinem Beschluss kommen sollte, dann ist das alles unverbindlicher Unsinn. Selbst wenn es kein Unsinn sein sollte, kann und wird sich die Regierung davon distanzieren, wann immer es ihr beliebt!

Das würde nicht nur der Wahrheitsfindung dienen, sondern auch der Abbildung der Wirklichkeit. Denn wenn der Bundestag wirklich einmal eine Meinung hat, die von der Regierungsmeinung abweicht, dann ruft die Regierung schnell „gilt nicht“ und schon ist der Rechtsfrieden wieder hergestellt. Wie jüngst im Fall der Armenien-Resolution.

Im Teil I des Beschlusses des Bundestages heißt es:

„Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor den Opfern der Vertreibungen und Massaker an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten des Osmanischen Reichs, die vor über hundert Jahren ihren Anfang nahmen. Er beklagt die Taten der damaligen jungtürkischen Regierung, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich geführt haben. Ebenso waren Angehörige anderer christlicher Volksgruppen, insbesondere aramäisch/assyrische und chaldäische Christen von Deportationen und Massakern betroffen. Im Auftrag des damaligen jungtürkischen Regimes begann am 24. April 1915 im osmanischen Konstantinopel die planmäßige Vertreibung und Vernichtung von über einer Million ethnischer Armenier. [...] Der Bundestag bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs trotz eindeutiger Informationen auch von Seiten deutscher Diplomaten und Missionare über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht hat, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen.“

– Deutscher Bundestag, Drucksache 18/8613

Im Teil II des Beschlusses fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung u. a. dazu auf, „sich gegenüber der türkischen und der armenischen Regierung für die Ratifizierung der 2009 unterzeichneten Zürcher Protokolle einzusetzen.“

Karte des Völkermordes an den Armeniern 1915 - zum Vergrößern bitte Karte anklicken!

Mit dem Herold sollte eine weitere hohe Institution installiert werden: Das Erdoğan-Ja-Sage-Büro. Das wäre dann zuständig dafür, die Wünsche des türkischen Despoten zu erahnen und für ihre umgehende Erfüllung zu sorgen. – Schon lange wird der offiziellen Türkei der Wunsch erfüllt, den Widerstand der Kurden gegen ihre Unterdrückung als „Terrorismus“ zu bezeichnen. Das militärische Vorgehen gegen diese ethnische Minderheit in der Türkei hat Tradition: Schon 1934 wurde im türkischen Parlament das "Zwangsevakuierungsgesetz" beschlossen, das die scheinrechtliche Grundlage für die Ermordung von etwa 70.000 Kurden zur Folge hatte. Die Zahl der Opfer, die organisierte Methode der Liquidation und der Einsatz von Giftgas lassen auf einen Genozid schließen. [⇒ Artikel "Das Dersim Massaker"]

Diesen Massenmord an Kurden – im Gefolge der Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern – zu ächten, würde die Minderheiten-Politik der modernen Türkei von den 30er Jahren bis heute an den Pranger stellen. Hier liegt der tiefere Grund des Wütens der Erdoğan-Despotie: Ihre eigene brutale Kurden-Verfolgung könnte Gegenstand internationaler Ächtung werden. Das kann die deutsche NATO-Regierung nicht wollen: Man wäre als Komplize entlarvt.

armenien_armenian_genozid_genocide_aghet_armenia_voelkermord_tuerkei_turkey_dersim_aserbaidschan_massaker_massacre_osmanisches_reich_kritisches_netzwerk_jerewan.jpgHört, hört, hört! könnte der Herold beim nächsten Besuch von Recep Tayyip Erdoğan rufen, wenn er dem Akklamation-Bundestag das verkündet, was der kürzlich in die Welt setzte: "Wir werden einen Terror-Korridor im Norden Syriens und südlich von uns auf keinen Fall zulassen." Übersetzt bedeutet das Polit-Gestammel: „Wir marschieren mit Panzern und Raketen in ein Nachbarland ein. Dort erschießen wir so viele Kurden wie möglich. Das macht mich noch wichtiger, als ich ohnehin schon bin. Gedeckt werden wir durch unsere NATO-Mitgliedschaft und die deutschen Flieger, die in Incirlik stationiert sind.“ Und wer das nicht glaubt, der muss nur einen Blick in die Nachrichten riskieren: Umkommentiert von Merkel und Steinmeier wird das Völkerrecht mit Panzerketten zermalmt. Die zartbesaiteten Seelchen, die sonst schnell mal Menschenrechte! in die Luft rufen, schweigen von kurdischem Blut, vergossen auf syrischer Erde.

Hätte der Bundestag so etwas wie ein Rückgrat, wäre sein nächster Beschluss eine Reise-Anweisung: Er müsste die Abgeordnete Sevim Dağdelen zur Bundeswehr in Incirlik senden. Sie gehört zu jenen deutschen Parlamentariern, denen der Despot Erdoğan nach der Armenien-Resolution im Bundestag „verdorbenes Blut“ attestierte. Aus ihrer Plenar-Rede sind folgende Zitate:

Auch heute wird, wer an den Völkermord auch nur versucht zu erinnern, als Freund kurdischer oder armenischer Terroristen diffamiert. - Mit ungeheurem propagandistischen Aufwand soll die Gleichung der Völkermörder, Terrorist gleich Armenier, in den Köpfen verankert werden. – Ziel ist es, die Zustimmung von großen Teilen der Bevölkerung zu einem Unterdrückungssystem par exellence zu erzielen. – Und gerade deshalb ist Aufklärung so wichtig. Und gerade deshalb habe ich mich entschieden, mich von Drohungen oder zahlreichen üblen Beschimpfungen der Erdoğan-Anhänger von `armenischer Hure´ bis `kurdischer Terroristin´ nicht einschüchtern zu lassen. - Es ist höchste Zeit, diese Leute in die Schranken zu weisen und sie nicht weiter zu ermutigen, wie dies die Bundeskanzlerin Merkel und Vizekanzler Gabriel durch ihre Abwesenheit bei der Abstimmung über den Völkermord an den Armeniern, wieder einmal getan haben.

Und wenn Frau Dağdelen auf ihrer Rückreise von Incirlik die deutschen Soldaten gleich mit nach Hause nähme, wäre Deutschland einen Schritt weiter: Zurück zu seinem Grundgesetz.

Der Deutsche Bundestag hat eine eigene Postleitzahl, die 11011. Das ist nicht Ausdruck seiner Souveränität. Diese eigene Postadresse hat er als „Großempfänger“ bekommen. Post vom deutschen Volk erhält er alle vier Jahre bei den Wahlen. Die Zahl der Absender sinkt. Vielleicht auch, weil man dem Bundestag keine Souveränität, keine Selbstbestimmung zutraut. Längst sind viele Entscheidungen an NATO oder EU delegiert. Und den Rest erledigt die deutsche Regierung.

Der Bundestag schafft sich selbst ab.

Ulrich Gellermann, Berlin

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►Quelle:  RATIONALGALERIE > Artikel vom 05.09.2016.

► Bild- und Grafikquellen:

1. Adler im Sturzflug. Das Bundeswappen ist das Staatswappen der Bundesrepublik Deutschland. Es weist die Farben der Nationalflagge Schwarz-Rot-Gold auf. Grafikbearbeitung: WiKa.

2. Karte des Völkermordes an den Armeniern 1915 - Map of the Armenian Genocide in 1915 - Carte en anglais du génocide arménien de 1915.

  • Each size shows a massacre. There are three types of massacre: in a control centre (red dot), in a station (pink dot), in a concentration and annihilation center (black dot). The size of the dot shows the relative number of killed Armenians.

  • Each pair of swords shows an area of Armenian resistance: greater resistance (red swords) or lesser resistance (black swords). The different size of swords is to save space into the map, it means nothing.

  • Dots in Black Sea representing Armenians (mainly women and children) drowned into the sea (see Armenian Genocide for references).

Autor: Sémhur. Quelle: Wikimedia Commons. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.

3. FACES OF DENIAL - Gesichter, die Tatsachen nicht erkennen wollen. Foto/Grafik: Narek. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0).

4. WE REMEMBER ARMENIAN GENOCIDE 1915: Time to punish Turkey & make her pay for the killings of 1.5 million Armenians. Foto/Grafik: jan Sefti. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0).