Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung (HANNES HOFBAUER)

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Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung (HANNES HOFBAUER)
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Feindbild Russland.

Geschichte einer Dämonisierung

Hannes-Hofbauer-Feindbild-Russland-Antirussismus-Daemonisierung-Kritisches-Netzwerk-Russenfeindlichkeit-Russiagate-Russenhatz-Russophobie-russische-Foederation-PutinhasserDie Typisierung „des“ Russen mit allerlei negativen Adjektiven beherrscht aufs Neue die Schlagzeilen deutschsprachiger Medien. Der dabei verwendete Singular ist ein untrügliches Zeichen für Distanz, Abscheu, Hass. Die meinungsbildenden Kräfte im Westen, so lehrt uns die Zeitgeschichte, freundeten sich mit Russland und seinen Führern nur in der Phase der Zerstörung der Sowjetunion an. Schon kurz darauf schlug die Freude über das Ende der kommunistischen Epoche in Skepsis um. Das alte Feindbild entstand neu.

Hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg herrscht im Westen wieder eine russophobe Grundstimmung. Washington und Brüssel erlassen Einreiseverbote gegen Diplomaten, verhängen Sanktionen, sperren Konten, schließen Russland aus internationalen Gremien aus, boykottieren sportliche Großereignisse und mobben „Russlandversteher“ in den eigenen Reihen. Ein Stellvertreterkrieg in der Ukraine verfestigt das gegenseitige Misstrauen.

Autor Hannes Hofbauer verfolgt das Phänomen der Russophobie zurück bis ins 15. Jahrhundert, als der Zar im Zuge der kriegerischen Reichsbildung gegen Nordwesten zog. Es ging um Herrschaft, Konkurrenz und Meereszugang. Der Kampf um reale wirtschaftliche und (geo)politische Macht wurde auch damals schon ideologisch begleitet: Der Russe galt seinen Gegnern als asiatisch, ungläubig, schmutzig und kriecherisch, Stereotypen, die sich über Jahrhunderte erhalten haben.

Das Feindbild-Paradigma zieht sich wie ein roter Faden durch die Rezeption Russlands im Westen. Aktuell reagiert diese empört auf die Politik des Kreml, der mit der Machtübernahme Wladimir Putins innenpolitisch auf Konsolidierung und außenpolitisch auf Selbständigkeit setzt. Die Wegmarken der neuen Feindschaft sind zahlreich. Sie reichen vom Krieg der NATO gegen Jugoslawien (1999) über die Verhaftung des Oligarchen Michail Chodorkowski (2003) und die Osterweiterung der NATO, den mit US- und EU-Geldern unterstützten „Farbrevolutionen“ bis zum Krieg um die georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien (2008) und hinterlassen die bislang tiefste Kluft im Kampf um die Ukraine (2015), die am überwunden geglaubten West-Ost-Konflikt auseinander gebrochen ist.

„Feindbild Russland“ erzählt die Beziehungsgeschichte des Westens mit Russland und spürt den wirtschaftlichen und geopolitischen Grundlagen der Russophobie nach.

Verlag: Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft mbH, Wien 2016 > Websshop.

Print: € 19,90. ISBN: 978-3-85371-401-0. / E-Book: € 15,99. ISBN: 978-3-85371-833-9.


Über den Autor:

Hannes Hofbauer, geboren 1955 in Wien, studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte und arbeitet als Publizist und Verleger. Hofbauer schreibt unregelmäßig für die Tageszeitungen Neues Deutschland und Junge Welt, für die Monatszeitschrift analyse & kritik, sowie für das Quartalsmagazin Hintergrund. Des Weiteren ist er Mitglied der Redaktion des Monatsmagazin Lunapark21. Früher schrieb er auch für die Zeitschrift Konkret.

Im Promedia Verlag sind von ihm zum Thema erschienen: „EU-Osterweiterung. Historische Basis – ökonomische Triebkräfte – soziale Folgen“ (2008) und „Die Diktatur des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter“ (2014).

Inhalt:


Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Russische Reichsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Länder sammeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Das Russlandbild im Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Überdehnte Expansion . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

»Kaiser aller Reußen/Russen« . . . . . . . . . . . . . . . . .     20

Eurasisches Herzland . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Napoleons großer Feldzug . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

Allianz gegen Russland: Vom Krimkrieg zum deutsch-russischen Zerwürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Befreier oder Barbaren: Konträre Russenbilder im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Von den Liberalen gehasst, von den Reaktionären verehrt . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Aufruf zum Krieg gegen die Barbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Im Krieg gegen Russland (1914–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Von der britischen »Heartland«-Theorie zur deutschen Kriegserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

Die Ukraine zwischen den Fronten . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Vom »Drang nach Osten« zum »Volk ohne Raum« . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

Deutsche Großraumpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Vom heißen zum Kalten Krieg (1945–1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Von Bretton Woods zum Containment . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

Schwierige Zeiten für US-Hegemonie: die 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

Amerikanische Mission unter antikommunistischer Flagge . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

Waffen in Stellung bringen . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

Moskau tappt in die Falle: Afghanistan . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Keynesianismus auf Amerikanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

Moskau bankrott . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Auf die Knie! Die Ära Jelzin (1991–1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

Das Ende der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Von der IWF-gesteuerten Schocktherapie … . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

… zum militärischen Vormarsch der NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Jelzin’sche Nachwehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Stabilisierung in Moskau (2000–2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Konsolidierung der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Administrative Re-Zentralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Ökonomische Integrationsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

Der starke Staat . . . . . . . . . . . . . . . . .     134

Das Ende der Entspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Das georgische Abenteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Soft Power: das Konzept »Farbrevolution« . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Den Anfang macht die Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Zivilgesellschaftliches Intervenieren . . . . . . . . . . . . . . . . .     148

Das Geld kommt aus dem Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

An Russlands Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Wer revoltiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

Proteste in Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Moskau ist gewarnt . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Kampf um die Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

Die Europäische Union prescht vor: das Assoziierungsabkommen 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Vom Majdan zum Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

Die Ukraine zerfällt – die Krim wird bzw. bleibt russisch . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Massaker in Odessa und Repression in Kiew . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

Krieg im Donbass . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

Die Volksrepubliken . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Aus Fronten werden Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Vom Einsatz gegen »Terroristen« zum Stellvertreterkrieg gegen Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Bringt Minsk II den Frieden? . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Wirtschaftlich am Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Sanktionsregime gegen Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

Prophylaxe gegen den Anschluss der Krim . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

Von Personensanktionen zum Wirtschaftskrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Olympia-Boykott . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Mobbing und Russen-Bashing . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Sanktions- und Embargofolgen für den Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

Moskau reagiert . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Die große Schlacht um Öl und Gas . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

Zäsuren westlicher Russophobie (ab 1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Gegen Putin, die Inkarnation des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

Russland eindämmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Medienmeute losgelassen . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

»Medizinische Diagnose« statt politischer Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Feind-Freund-Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

Die Putin-Versteher . . . . . . . . . . . . . . . . . 286

Russland-Deutung: national, etatistisch, eurasisch . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 296



Vorwort

Pünktlich zum Gedenkjahr an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges schwoll im Westen die lange vorhandene russophobe Grundstimmung zu manifestem Russenhass an. Ende 2013 eskalierte die Ukrainekrise, kurz darauf war zwischen Washington, Brüssel und Berlin die Feindortung erfolgt. Die transatlantische Gemeinschaft nahm Moskau ins Visier, erließ Einreiseverbote gegen Diplomaten, verhängte Sanktionen, sperrte Konten, schloss Russland aus Gremien aus, boykottierte politische, kulturelle und sportliche Großereignisse und mobbte sogenannte »Russlandversteher« in den eigenen Reihen. Stellvertreterkriege in der Ukraine und in Syrien verfestigten das gegenseitige Misstrauen. Ein altes Feindbild war neu erstanden.

Feindbilder – das wissen wir bereits aus der Friedensforschung der späten 1960er Jahre[1]  – begleiten militärische Aggressionen oder gehen diesen voraus bzw. bereiten das Publikum an der Heimatfront auf entsprechende Maßnahmen vor. Sie sind Instrumente einer »psychischen Herrschaftssicherung zur Herstellung einer Massenloyalität«,[2]  wie es der Soziologe Hans Nicklas auf den Punkt bringt.

»Auf der Basis von Feindbildern«, so der Friedensforscher Dieter Senghaas, »läßt sich jegliche Verteidigungsmaßnahme potentiell rechtfertigen«. Ihre Propagierung bestimmt »das Spektrum möglicher Konflikterwartungen.«[3]  Was Senghaas im Kontext der NATO-Aufrüstungspolitik in Zeiten des Kalten Krieges analysiert, kann mühelos auf andersgeartete geopolitische Konfliktfelder übertragen werden. Die EU-Osterweiterung von NATO und Europäischer Union seit den 1990er Jahren stellt dafür ein beredtes Zeugnis aus. Solange diese in ihren Anfängen nicht auf Widerstand in Moskau stieß und in der Person des damaligen Präsidenten Boris Jelzin sogar einen indirekten Unterstützer fand, war vom »bösen Russen« im Westen nichts zu hören. Erst als sich das Land unter Wladimir Putin nach dem Jahr 2000 zu konsolidieren begann, schlug die westliche Freude über das Ende der kommunistischen Epoche in Skepsis um, der die Feindbildkonstruktion folgte.

Auch die Suche nach den historischen Wurzeln des scheinbar ewigen negativen Russlandbildes bestätigt den Zusammenhang zwischen geopolitischem Konflikt, hinter dem in aller Regel wirtschaftliche Interessen stehen, und der Herstellung eines Feindbildes. Das westliche Klischee vom »barbarischen, asiatischen Russen« taucht zum ersten Mal Ende des 15. Jahrhunderts beim Krakauer Philosophen Janz Glogowa (Johannes von Glogau) auf, just in jenen Jahren, als der Deutsche Orden gegen den erstarkenden Moskauer Zaren Iwan III. Krieg führt.

Über 500 Jahre lang wechseln einander seither positive und negative Zuordnungen zu Russland und den Russen ab, wobei die negativen im Zeitenlauf deutlich überwiegen. Diese Tatsache hat mich auch dazu gebracht, das Buch »Feindbild Russland« zu nennen, wohl wissend, dass es Epochen gegeben hat, in denen dieses Bild nicht oder nur für einen Teil der Gesellschaften in Westeuropa Gültigkeit in Anspruch nehmen kann.

Zur Zeit der Drucklegung dieses Buches Anfang 2016 beherrscht die Lage im Nahen Osten die außenpolitische Diskussion. Ob das militärische Eingreifen Moskaus in den Konflikt seit Ende September 2015 die Kräfteverhältnisse wesentlich verschiebt, ist nicht absehbar, noch weniger eine ernst gemeinte Allianz für eine friedliche Lösung. Anstatt des Abbaus bestehender Feindbilder steht deren Multiplizierung an. Maßgebliche Stimmen wie jene von Papst Franziskus warnen bereits vor einem sich schleichend breitmachenden dritten Weltkrieg. Für das Verhältnis des Westens zu Russland stehen die Zeichen weiter auf Konfrontation.

Um ein Buch wie das vorliegende zu schreiben, bedarf es neben dem Studium möglichst mannigfaltiger Lektüre und dem Sammeln von Informationen aller Art vor allem auch ständiger Diskussionen mit Kennerinnen und Kennern historischer und aktueller Zusammenhänge. Stellvertretend für eine Vielzahl von KollegInnen und FreundInnen, die meine Arbeit auf solch diskursive Weise begleitet und damit erst möglich gemacht haben, möchte ich an dieser Stelle meiner Lebensgefährtin Andrea Komlosy danken. Ihre wirtschafts- und sozialhistorische Expertise ebenso wie die Aufmerksamkeit, mit der sie aktuelle Ereignisse verfolgt, sind in den Text eingegangen.

Hannes Hofbauer

Wien, im Februar 2016
_____________________

[1] Vgl. Dieter Senghaas, Aggressivität und Gewalt. Thesen zur Abschreckung. In: Herbert Marcuse u. a. (Hg.), Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft. Frankfurt/Main 1968, S.128ff. Zit in: Imad Mustafa, Feindbild Islam. Die politische Instrumentierung »orientalischer Feindbilder« in den Medien, Frankfurt/Main 2008 (Magister­arbeit), S.7

[2] Hans Nicklas, Die politische Funktion von Feindbildern. Thesen zum subjektiven Faktor in der Politik. In: Gert Sommer/Johannes Becker (Hg.), Feindbilder im Dienste der Aufrüstung. Beiträge aus Psychologie und anderen Humanwissenschaften. Marburg 1992, S.34. Zit. in: Mustafa 2008, S.18

[3] Dieter Senghaas, Zur Analyse von Drohpolitik in den Internationalen Beziehungen. In: ders. (Hg.), Rüstung und Militarismus. Frankfurt/Main 1972, S.42



Leseprobe:

Im Krieg gegen Russland (1914–1945)

Die Vernichtung der russischen Flotte durch die Japaner im Fernen Osten, Arbeiteraufstände in den industriellen Kerngebieten, Bauernunruhen auf dem Lande, Meutereien im Militär und Generalstreik in Odessa: Anfang des 20. Jahrhunderts stand das Zarenreich vor dem Abgrund. Es sollte nicht einmal zwei Jahrzehnte dauern, bis die Herrschaft der Romanows Geschichte war.

Im Februar 1904 überfiel Japan den von Russland gepachteten Stützpunkt Port Arthur auf der chinesischen Liaodong-Halbinsel und ließ damit die bereits lang schwelende Auseinandersetzung um die Mandschurei eskalieren. Ein Jahr später lag die zaristische Ostseeflotte, die für den Krieg gegen Japan den langen Weg um Eurasien und Afrika genommen hatte, in Trümmern. Mehrere Landschlachten fügten der russischen Armee weitere hohe Verluste zu. Die Niederlage gegen Japan brachte nicht nur Gebietseinbußen (in Sachalin) und ein Problem der Glaubwürdigkeit für den Zaren an der Heimatfront mit sich, sondern wirkte sich auch sozial dramatisch aus. Bauern und Arbeiter konnten die durch die Kriegskosten immer höher werdenden Belastungen nicht mehr ertragen, die Intelligenz sympathisierte mit den aufkommenden Unruhen, in Sankt-Petersburg gingen 150 000 Demonstranten auf die Straße und auf dem Linienschiff »Fürst Potjomkin von Taurien« meuterten die Matrosen. Der Regisseur Sergej Eisenstein setzte mit seinem 1925 gedrehten Film »Panzerkreuzer Potemkin« der revolutionären Stimmung des Jahres 1905 ein Denkmal.

Als hungrige Arbeiterinnen in Sankt-Petersburg Stunden lang um rationiertes Brot anstehen mussten, riefen sie einen Streik aus. Die revolutionäre Stimmung entlud sich – gregorianisch gerechnet – am 22.Januar 1905. Zehntausende zogen zum Winterpalais, um ihren Forderungen nach Brot, Achtstundentag und einer Verfassung Nachdruck zu verleihen. Die zaristische Soldateska antwortete mit einem Blutbad; der Petersburger Blutsonntag mit 200 Toten gilt als der Auftakt zur Oktoberrevolution.

Einen zaghaften Versuch zur Einführung einer konstitutionellen Verfassung – das sogenannte »Oktobermanifest« – nahm der Zar noch im selben Jahr zurück, nachdem sich die Reichsduma erdreistet hatte, Landenteignungen zu beschließen. Auch eine Reform zur Kapitalisierung von Bauernwirtschaften durch Ministerpräsident Pjotr Stolypin scheiterte.[4]

Doch nicht nur die soziale und politische Situation spiegelte heftige Zerfallserscheinungen, auch der Zustand der Industrie war besorgniserregend, und die Kontrolle über sie lag in ausländischen Händen. Der Großteil der Schlüsselindustrien wurde von Berlin, Paris oder London aus dirigiert. »Obwohl selbst ein expandierender imperialistischer Staat«, schreibt der Historiker Alex Peter Schmid über die Eigentümerstruktur im Land, »war das Zarenreich zugleich auch ein kolonialistisches Objekt des europäischen Finanzkapitals.« [5]  Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges befanden sich 90% der Bergwerke, 50% der chemischen Industrie und 40% der Banken in ausländischem Besitz; deutsche, französische und britische Firmen teilten sich die Filetstücke. [6]  Die meisten dieser Fabriken entstanden auf der grünen Wiese, viele von ihnen in Dimensionen, die die Produktionsstätten in den Mutterländern der Eigentümer bei weitem übertrafen. Trotz steigender Produktion, so der Russlandhistoriker Hans-Heinrich Nolte, konnte die nachholende Industrialisierung Russlands unter diesen Vorzeichen nicht gelingen. [7]

Während im Inneren Russlands die revolutionären Strömungen unter Arbeitern, Bauern, Militärs und Intelligenz immer stärker wurden, schwächelte das Zarenreich auf dem internationalen Parkett. Die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch die österreichischen Habsburger im Oktober 1908 löste im Russischen Reich heftige Proteste von Panslawisten aus, weil sie einen klaren Bruch der Übereinkunft auf dem Berliner Kongress aus dem Jahr 1878 darstellte. Damals war Wien das Besatzungsrecht über Bosnien und die Herzegowina eingeräumt worden, eine Übernahme der Gebiete, wie sie die Annexion bedeutete, galt als ausgeschlossen. Berlin deckte die österreichische Aggression. Russland, das sich als Unterstützer der Balkan-Slawen in ihrem Befreiungskampf gegen das Osmanische Reich verstand, sah dem Vormarsch der Habsburger tatenlos zu.

Von der britischen »Heartland«-Theorie zur deutschen Kriegserklärung

Trotz sichtbarer Schwäche des russischen Bären hatte man insbesondere in Großbritannien große Sorgen um eine mögliche Konsolidierung des riesigen eurasischen Reiches. Spätestens seit dem Krimkrieg (1853–1856) fürchtete London einen Einflussgewinn Russlands nicht nur zwischen Schwarzem Meer und Konstantinopel. Das britische Empire sah in Sankt-Petersburg einen ernsthaften Konkurrenten um die Kontrolle jener Länder und Völker, die zwischen Griechenland und Indien lagen bzw. lebten und zum eigenen Einflussgebiet gezählt wurden. Also dauerte es nicht lange, bis sich auch Wissenschaftler des geopolitischen Konkurrenzkampfes der »Global Player« annahmen. Der Wirtschaftsgeograf Halford Mackinder, Direktor der von ihm mitbegründeten London School of Economics, goss die britischen Ängste und die notwendigen Gegenmaßnahmen in ein geopolitisches Konzept. Unter dem Kürzel »Heartland-Theorie« sollte sie das gesamte 20. Jahrhundert hindurch in unterschiedlichen Ausprägungen zur Blaupause der jeweils führenden westlichen Hegemonialmacht werden, wie mit Russland bzw. der Sowjetunion umzugehen sei.

Die Heartland-Theorie tauchte erstmals im April 1904 auf, als Mackinder den Aufsatz »TheGeographical Pivot of History« im Organ der Royal Geographical Society veröffentlichte.[8]  Das Wort »pivot« steht für Dreh- und Angelpunkt; diese Funktion schreibt Mackinder dem eurasischen Herzland zu. In Mackinders Weltbild ist für drei Großregionen Platz: der »Weltinsel«, zu der er Europa, Asien und Afrika zählt, den Raum mit der größten Bevölkerungsdichte; den »küstennahen Inseln« (offshore islands) mit Großbritannien im Westen und Japan im Osten der »Weltinsel«; und den »küstenfernen Inseln« (outlying islands), also den beiden Amerikas und Australien. Im Herzen der »Weltinsel« liegt der Dreh- und Angelpunkt, das »Herzland« (heartland), das Schlüsselland zur Beherrschung der Welt: Russland. Um seine Kontrolle, so Mackinder, würde es in Zukunft gehen. Ohne das »Herzland« würde Großbritannien seine weltherrschaftlichen Ansprüche nicht durchsetzen können. Die königlich-britische Überlegenheit auf den Meeren, so stark sie auch sein mochte, sei nicht in der Lage, an den Kern des russischen Reiches heranzukommen. Selbst Seeblockaden würden da nicht helfen. Dies umso weniger, seit durch moderne Technologien die Verkehrsinfrastruktur im Inneren des Herzlandes besser und von äußeren Einflüssen unabhängiger würde. [9]  Britische Herrschaftspläne, so die Warnung des Geografen an die königliche Gesellschaft, dürften die Kraft dieser eurasischen Landmasse nicht unterschätzen. Es sei mit allen Mitteln zu verhindern, dass sich diese durch eine Annäherung Deutschlands und Russlands potenzierte. Mackinders Kampfruf von 1904 war in erster Linie gegen Deutschland geschrieben, vor allem gegen eine Allianz Berlins mit Sankt-Petersburg.

Nach dem Ersten Weltkrieg, im Jahr 1919, verkürzte Mackinder seine Hauptthese auf drei Sätze: »Wer Osteuropa regiert, beherrscht das Herzland; wer das Herzland regiert, beherrscht die Weltinsel; wer die Weltinsel regiert, kontrolliert die Welt.« [10]  Der Respekt vor einer eurasischen Weltmacht, das spürt man in dieser Analyse, war in London auch nach vier für Russland und Deutschland verheerenden Kriegsjahren noch vorhanden. Spätere Generationen – von Nazi-Ideologen bis US-Imperialisten – wärmten die Heartland-Theorieimmer wieder auf und legten sie Einkreisungsplänen gegenüber der Sowjetunion und Russland zugrunde. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Das wilhelminische Deutschland war zur selben Zeit, in der Mackinder der britischen Krone indirekt Angriffspläne diktierte, um mögliche eurasische Integrationsversuche im Keim zu ersticken, mit anders gearteten, im Kern jedoch ähnlichen Problemen beschäftigt. Seine Strategen steckten bereits in Kriegsvorbereitungen, und die Propagandaabteilungen arbeiteten mit Hochdruck am Bild einer slawischen, einer russischen Gefahr, der rechtzeitig begegnet werden müsse.

Der Rüstungsindustrielle und spätere Reichsaußenminister Walther Rathenau gab den Takt bei den deutschen Erweiterungsplänen an, die 1914 zur Kriegserklärung führten. Bereits ein Jahr zuvor rief er als Aufsichtsratsvorsitzender des elektrochemischen AEG-Konzerns dazu auf, sich offensiver, aggressiver zu verhalten. Das im Zeitalter des Kolonialismus zu kurz gekommene Deutschland, so sein Credo, müsse sich nehmen, was es (gemeint war: seine Industriellen) brauchte. »Die letzten hundert Jahre bedeuteten die Aufteilung der Welt«, schrieb Rathenau: »Wehe uns, daß wir so gut wie nichts genommen und bekommen haben! Nicht politischer Ehrgeiz und nicht theoretischer Imperialismus rufen diese Klage aus, sondern beginnende wirtschaftliche Erkenntnis. (…) Erzlager werden eines Tages mehr gelten als Panzerkreuzer«, [11]  fügte er hinzu. Nicht theoretisch, sondern praktizierend sollte also der deutsche Imperialismus sein, den sich einer der führenden Unternehmer seiner Zeit wünschte. Russland mit seinen unendlichen Weiten, Kohle- und Erzlager­stätten bot sich in dieser Sicht als quasi »natürlicher« Expansionsraum an. Rathenau machte keinen Hehl daraus, dass Kontrolle über Rohstoffe auch die Eroberung entsprechender Länder bedeutete: »Es wird Zeit, daß wir es kennenlernen und daß wir unumwunden bekennen und aussprechen: Ja, es ist wahr, wir haben Nöte und Bedürfnisse. Wir können nicht in einem Menschenalter hundert Millionen Deutsche mit den Produkten einer halben Million Quadratkilometer einheimischen Bodens und einer afrikanischen Parzelle [12]  ernähren und beschäftigen … Wir brauchen Land dieser Erde.« [13]

Am 1. August 1914 erklärte Berlin Russland den Krieg. Nur vier Wochen danach verlor die zaristische Armee in einer Schlacht bei Allenstein (Olsztyn), die als »Schlacht von Tannenberg« in die Militärgeschichte einging, 30 000 Mann und zählte 100 000 Verwundete. Die deutsche Expansion begann verheißungsvoll; in der Kriegspropaganda Berlins wurde Tannenberg zum Synonym für »Wir schreiten voran, wir schaffen es«.

An der Propagandafront hieß es von Anfang an: »Nach Osten!«. Die gleichnamige Flugschrift von Alfons Paquet sollte zur ideologischen Bibel des Vormarsches gegen Russland werden. Der 1881 in Wiesbaden geborene Alfons Paquet war ein umtriebiger Journalist, der für liberale und deutsch-nationale Zeitschriften tätig war, bevor er unmittelbar nach Kriegsausbruch Mitarbeiter des Stellvertretenden Generalkommandos XVIII der Armee,[14]  mit anderen Worten: im militärischen Nachrichtendienst für Propaganda zuständig wurde. Bestimmt kannte Paquet die »Heartland«-Theorie Mackinders; für den deutschen Gebrauch zog er weitreichende Schlussfolgerungen daraus. Russland stand kurz vor dem Zerfall, so sah es jedenfalls die überwiegende Mehrheit der kriegs­begeisterten Deutschen. Es wartete nur mehr darauf, in seine Bestandteile zerlegt und dem Nutzen des Siegers zugeführt zu werden. In der Propaganda-Schrift Paquets las sich diese »Gewissheit« folgendermaßen: »Russland ist der Steinbruch, aus dem einmal jene große Landbrücke gebaut werden wird, die das mittlere Europa mit dem Morgenland verbindet. Und aus dem Material dieses Steinbruchs muss zugleich die Scheidewand gebaut werden, die uns für immer von der moskowitischen Öde trennt.« [15]  

Der Historiker Gerd Koenen nennt das deutsche Vorhaben eine »strategische Amputation des Russischen Reiches«. Und Paquet weiß auch, an welchen Gliedmaßen anzusetzen ist, um die Zerstückelung erfolgreich durchführen zu können: Finnland, Polen, die Ukraine und Georgien sollten aus der russischen Verwaltung herausgelöst werden. Dort lebten jene am wenigsten russifizierten Völker im Zarenreich, die sich für den deutschen Vormarsch – so die feste Überzeugung der Berliner Strategen – am ehesten instrumentalisieren ließen. Paquet war der erste, der die Schwachstelle des russischen Bären klar und deutlich benannte: Es war die ethnische Komponente oder – wie es damals hieß – die »kulturelle Scheidelinie«, an der die Zerschlagung Russlands anzusetzen habe. Diese Scheidelinie hat eine lange politische und religiöse Geschichte und reicht von Sankt-Petersburg, das ab 1914 Petrograd hieß, über Smolensk und das Schwarze Meer bis in den Kaukasus. [16] Bis zu dieser Linie sollte der deutsche Einfluss auf jeden Fall reichen, wenn nicht darüber hinaus.

Der Plan war fertig, der Bär jedoch noch lange nicht erlegt. Kein Kriegsmonat verging, in dem nicht die führenden Industriellen Deutschlands voran – nach Osten – drängten. Im September 1914 verfasste Stahlbaron August Thyssen eine Denkschrift, in der er seine Vorstellung eines zukünftigen Russlands darlegte: »Vielleicht interessiert es Sie, meine Ansichten in grossen Umrissen über die zukünftige Gestaltung Europas kennen zu lernen. Werden wir den Krieg so glorreich durchführen, wie wir ihn begonnen haben, dann werden wir Frankreich und Russland niederwerfen und beiden Staaten die Bedingungen zu Lande diktieren können, die wir für notwendig erachten.« Dann wird Thyssen konkret: »Russland muss uns die Ostseeprovinzen, vielleicht Teile von Polen und (das) Dongebiet mit Odessa, Krim, sowie asowsches Gebiet und den Kaukasus abtreten, um auf dem Landwege Kleinasien und Persien zu erreichen.« [17]  Auch diesem großen Plan liegt die Erkenntnis Mackinders zugrunde, nach der es das »Herzland« ist, das es zu kontrollieren bzw. von dem es Teile zu beherrschen gilt.

Auch Thyssens Konkurrent Hugo Stinnes, mit dem er gleichwohl eine Vielzahl von Wirtschaftskooperationen einging, stellte geopolitische Überlegungen an und schrieb sie, gemeinsam mit dem Nationalökonomen Hermann Schumacher, ebenfalls in einer Denkschrift nieder. Im November 1914 mahnte er vor der Maßlosigkeit deutscher Ansprüche gegenüber Russland. Das »eigentlich großrussische Gebiet soll nicht angetastet werden«, diktiert er seiner Sekretärin, sondern es gelte, die ganze Kraft auf die westlichen Ränder des Zarenreiches zu lenken. In anderen Worten: »… (Es) muß das Bestreben darauf gerichtet bleiben, den Gegensatz zwischen Russen und Polen in aller Schärfe zu erhalten (…), sowie ferner denjenigen zwischen Russen und Kleinrussen [18]  möglichst zu benutzen und zu vertiefen.« [19]  Nach der Lektüre solcher Denkschriften, die immerhin von den wichtigsten Unternehmerfiguren zu Papier gebracht wurden, wähnt man sich im falschen Jahrhundert. Fast auf die Jahreszahl genau, nur hundert Jahre später, stehen dieselben Begehrlichkeiten auf der Agenda der nun EU-europäischen Politik.

Im Spätsommer 1915 gelang es der deutschen Heeresleitung nach dem Rückzug russischer Truppen, im Baltikum eine eigene – wenn auch kurzlebige – Territorialität zu etablieren. »Ober Ost« nannte sie das militärisch verwaltete Gebiet. Es umfasste Kurland (einen Teil des heutigen Lettland), Litauen und nordöstliche polnische Gebiete. General Erich Ludendorff, Stellvertreter des Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg, sah in »Ober Ost« bereits die Grundstruktur eines Staates verwirklicht, in dem nicht-russische Völker aus dem Zarenreich unter deutscher Kontrolle vereint und später auch als Staat anerkannt würden. Die beiden Deutschen waren stolz, denn »›Ober Ost‹ hatte sich zu einem beeindruckenden, unabhängigen Militärstaat im Osten, einem militärischen Utopia im Osten« entwickelt, wie der aus einer litauischen Familie stammende US-Historiker Vejas Liulevicius schreibt. [20]

»Ober Ost« entsprach dem expliziten Kriegsziel der Schaffung von Pufferstaaten am Rande eines verkleinerten Russlands, wie es von höchster Stelle bereits zu Beginn des Feldzuges gegen Russland ausgegeben worden war. Am 11. August 1914 schrieb Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg in einem Erlass an den deutschen Botschafter in Wien, dass es darauf ankäme, antirussische Aufstandsbewegungen anzuschieben, zum einen »als Kampfmittel gegen Rußland«, und zum anderen »weil im Falle glücklichen Kriegs­aus­ganges die Bildung mehrerer Pufferstaaten zwischen Rußland und Deutschland bzw. Österreich-Ungarn zweckmäßig würde, um den Druck des russischen Kolosses auf Westeuropa zu erleichtern und Rußland möglichst nach Osten zurückzudrängen.«[21]

Eine ähnliche Rolle wie »Ober Ost« kam auch dem im Mai 1915 von den Mittelmächten militärisch eingenommenen »Kongress-Polen« zu, dem bei den Aufteilungen Polens im 18. Jahrhundert Russland zugesprochenen Teilungsgebiet. Berlin und Wien gliederten das Gebiet in die Kriegswirtschaft ein: Nahrungsmittel, Kohle und Erze wurden abtransportiert. In Hinblick auf den politischen Status schwebte dem österreichischen Kaiser anfangs eine austro-polnische Lösung vor; »Kongress-Polen« sollte an Galizien angeschlossen werden. Im Zwei-Kaiser-Manifest vom 5. November 1916 schwenkte der Habsburger schließlich auf den deutschen Plan der Hohenzollern ein. Dieser sah die Ausrufung eines eigenen polnischen Staates auf dem ehemals russischen Teilungsgebiet mit eingeschränkter Selbstverwaltung unter deutsch-österreichischer Oberherrschaft vor.

Die Ukraine zwischen den Fronten

Es war das Herauslösen der Ukraine aus dem Russischen Reich, das damals – wie heute – eine zentrale Rolle in den deutschen Planungen spielte. In Militär- und Geheimdienstkreisen machte sich dafür eine eigene sogenannte »Osteuropäische Schule« Gedanken, wie das zaristische Vielvölkerreich entlang der ethnischen Linien gespalten werden könnte. Die Rede war von einer eigenen »Randstaatenpolitik«,[22]  die – anders als groß- und alldeutsche Ansätze – nicht-russischen Völkern eine gewisse Selbstständigkeit gewähren sollte. Einer der führenden Köpfe dieses Ansatzes war der im damaligen russischen Kurland aufgewachsene Deutschbalte Paul Rohrbach. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er im deutschen Auswärtigen Amt. In seiner Schrift Die russische Revolution – gemeinsam mit Axel Schmidt verfasst – reagierte er auf die Oktoberereignisse des Jahres 1917 und machte sich Sorgen um eine mögliche Konsolidierung Russlands unter revolutionärer, roter Fahne. Der, wie er es nennt, »Zwangsverband zwischen den Großrussen und den Fremdvölkern« müsse aufgelöst werden. Und Rohrbach wird deutlich: »Entscheidend hierfür ist die Lösung der ukrainischen Frage. Bleiben die Ukrainer Untertanen der Moskowiter, so bleibt das Grundelement der russischen Gefahr sowohl direkt durch die ungeheure Zahl und das reißende Wachstum der russischen Masse, als auch indirekt durch die Fortdauer des russischen Willens nach Konstantinopel erhalten.«[23]

Am (julianisch gerechnet) 3. März 1917 fand die Romanow-Dynastie und mit ihr der Zarismus ein Ende. Hungerrevolten, massenhafte Desertionen und Meutereien hatten einen revolutionären Prozess beflügelt, der am 25. Oktober in Petrograd kulminierte und als »Oktoberrevolution« in die Weltgeschichte einging. Der Führer der Bolschewiki, Lenin, war im April 1917 über Deutschland, Schweden und Finnland aus seinem Schweizer Exil nach Petrograd zurückgekehrt. Berlin unterstützte die Heimkehr des Revolutionärs im legendären »plombierten Waggon«[24]  in der Hoffnung, damit Russland zu schwächen und seine eigenen Kriegsziele leichter erreichen zu können. In einem als »streng geheim« klassifizierten Akt des Auswärtigen Amtes vom 29. September brüstet sich der kaiserliche Legationssekretär Kurt von Lersner mit dieser erfolgreichen »Minierarbeit« zwecks Unterstützung der bolschewistischen Kräfte. Dort heißt es: »Die Bolschewiki-Bewegung hätte ohne unsere stetige Unterstützung nie den Umfang annehmen und den Einfluß erringen können, den sie heute besitzt.«[25]

Und tatsächlich sollte es sich für den Kaiser – allerdings nur für sehr kurze Zeit – bezahlt machen, dass Berlin in Petrograd auf die bolschewistische Karte gesetzt hatte. Die deutsche Führung wusste die politischen und militärischen Wirren unmittelbar nach der Revolution zu nutzen.

Überall im Russischen Reich hatte die Revolution widerstreitende politische Umgestaltungsprojekte auf den Plan gerufen. Sozialrevolutionäre konkurrierten mit Bolschewisten; Räte, zaristische Getreue und Anhänger eines bürgerlichen Parlamentarismus rangen um Vorherrschaft in einer von Kriegswirren, Chaos, spontanen Aufständen und Landenteignungen gekennzeichneten Landschaft. Ausländische Mächte mischten bei den Auseinandersetzungen um zukünftige Ausrichtungen und Grenzziehungen mit. Auf dem Gebiet der Ukraine hatte sich im Laufe der Revolutionen vom Februar und Oktober 1917 ein sozialrevolutionär ausgerichteter Zentralrat (Rada) mit Sitz in Kiew gebildet, der mit dem vorwiegend im Osten, von Charkow/Charkiw aus operierenden Bolschewiki rivalisierte. In der Frage der Unabhängigkeit oder Zugehörigkeit zur Russländischen Föderation schwankten die Positionen. Vor dem Hintergrund bolschewistischer Terraingewinne erklärte die Rada im Jänner 1918 die Ukraine für unabhängig; kurz darauf ersuchte sie die Mittelmächte um militärischen Beistand gegen die Bolschwiken.

Die militärische Lage der Mittelmächte stand Anfang 1918 auf Messers Schneide. Die große Streikwelle und die Hunger­unruhen im Jänner 1918 signalisierten eine weit verbreitete Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung mit der Gefahr einer revolutionären Erhebung nach russischem Vorbild. Der im Dezember 1917 in Brest-Litowsk mit Russland geschlossene Waffenstillstand entlastete das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn an der Ostfront. In seinem Schatten boten die Mittelmächte der Rada-Führung in Kiew einen Separatfrieden an. Im Tausch für die Lieferung von einer Million Tonnen Brotgetreide erkannte Berlin deren Unabhängigkeit an. Mit den im sogenannten »Brotfrieden« zugesagten Nahrungsmitteln hoffte das Deutsche Reich, die Bevölkerung daheim beruhigen und weiter Krieg führen zu können.

Am 18. Februar 1918 marschierten deutsche und österreichische Soldaten in die Ukraine ein und errichteten zwei Besatzungszonen. Österreich-Ungarn instal­lierte sein Oberkommando in Odessa, die deutsche Militärführung ihres in Kiew. Der gesamte Schwarzmeerraum von Bessarabien über die Krim bis zum Kaukasus stand unter deutscher bzw. österreichisch-ungarischer Kontrolle. Vor diesem Hintergrund blieb dem revolutionären Russland unter Führung des Volkskommissars für äußere Angelegenheiten, Leo Trotzki, keine andere Wahl, als am 3. März 1918 dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk zuzustimmen, dessen ungünstige Bedingungen in Versailles teilweise wieder revidiert werden sollten. Das Überschreiten der Waffenstillstandsgrenze durch deutsche und österreichische Truppen am 18.Februar und die anschließende Besetzung der Ukraine zwangen den russischen Delegationsleiter Trotzki zum Einlenken.[26]  Die russische Demütigung von Brest-Litowsk liest sich in Zahlen folgendermaßen: Russland verlor in diesem im März 1918 aufgezwungenen Friedensvertrag 26% seines europäischen Territoriums, 27% des anbaufähigen Landes, insgesamt 1,4 Mio. Quadratkilometer Land, auf dem 60 Mio. Menschen – ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Reiches – leben.[27]

Eine Hauptaufgabe der Besatzungsmächte bestand in der Organisation von Lebensmittelrequirierungen. Dies ging mit dem Kampf gegen ukrainische Bolschewisten und der Niederschlagung lokaler Aufstände einher. Die Zentral­rada wurde aufgelöst und durch ein den Besatzern genehmes Staatsoberhaupt ersetzt, den Großgrundbesitzer Pawlo Skoropadskyj, dessen Hetmanat sich bewusst an eine frühere ukrainische Staatlichkeit anlehnte.

Wie groß die Rolle der Ukraine in den deutschen Planungen für die Nachkriegszeit war, zeigt ein 1918 in Deutschland weit verbreitetes Plakat, das vermutlich auch im Schulunterricht Verwendung fand. Auf ihm sind politische und sozio-ökonomische Karten der Ukraine zu sehen. Mit Blick auf die begehrte fruchtbare Schwarzerde im Süden und die Rohstoffe im Osten des Landes steht am Rande des Plakates zu lesen: »Die landwirtschaftliche Produktion der Ukraine im Frieden könnte den Bedarf der Mittelmächte (also auch Deutschlands, d. A.) sicherstellen, ihre reichen Schätze an Kohle, Erze, Salz und Petroleum würden einen Überschuß für Mitteleuropa lassen.«[28]  Die Ukraine, da waren sich beim Zusammenbruch des Zarismus Unternehmer, Politiker und offensichtlich auch Lehrer einig, würde künftig deutschen Interessen dienen.

Die tatsächliche Getreideaufbringung blieb allerdings weit unter den Erwartungen und im November 1918 löste sich die deutsche Ostarmee im Chaos auf. Teile blieben weiterhin im Lande. In den Bürgerkrieg zwischen »Rot« und »Weiß« um die Kontrolle des Landes griffen im Sommer 1918 auch Tausende britische, französische und US-amerikanische Truppen ein. Sie landeten in Murmansk und Archangelsk, zu Jahresende auch in Odessa. Der Friede von Riga, der am 18. März 1921 zwischen Sowjetrussland und Polen geschlossen wurde, trug indirekt zum Ende des russischen Bürgerkriegs zwischen »Rot« und »Weiß« bei. Weite Teile der westlichen Ukraine fielen mit ihm an Polen; der Osten wurde sowjetisch. Die damit einhergehende Entlastung an der Westfront nutzte die Rote Armee, um die Weißen in anderen Landesteilen zurückzudrängen.

Mit dem »Diktatfrieden« vom 3. März 1918 war für kurze Zeit die Voraussetzung für ein von Friedrich Naumann mitten im Krieg zu Papier gebrachtes Mitteleuropa-Projekt gegeben, dessen Kern er im Zusammenwachsen des Deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn sah. »Absichtlich schreibe ich mitten im Krieg«, erklärt der Theologe und liberale Politiker den LeserInnen seine Beweggründe, »denn nur im Krieg sind die Gemüter bereit, große umgestaltende Gedanken in sich aufzunehmen.« Die Grundlagen der neuen Gestaltung müssen, so Naumann weiter, »im Krieg, im Fließen des Blutes und im Wogen der Völker gelegt werden. Später könnte und würde es zu spät sein.«[29]  Das hier positiv beschriebene Zeitfenster des Völkerschlachtens wollte die Oberste Heeresleitung nutzen, um jenseits der »mitteleuropäischen« Konsolidierung militärisch nach Osten auszugreifen. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk schienen die Generäle Paul von Hindenburg und sein Stellvertreter Erich Ludendorff ihr Ziel erreicht zu haben: Von Finnland über die baltischen Gebiete, die Ukraine und die Krim bis zum Kaukasus erlaubte der Zusammenbruch an der Ostfront die Bildung einer Art Cordonsanitaire. In dieser gegen das russische Kernland einzurichtenden Pufferzone würden deutsche und österreichische Konzerne ihre wirtschaftlichen Interessen durchsetzen können.

Während sich deutsche Soldaten auf der Krim und in Odessa herumtrieben, um mit allerlei Hilfstruppen vor Ort ihr Interessensgebiet abzustecken, gerieten die seit den 1860er Jahren ausgebeuteten kaukasischen Erdölfelder ins Visier britischer und US-amerikanischer Konzerne. Rund um Baku am Kaspischen Meer lagen riesige Reserven des schwarzen Goldes. Darauf wollten sich die USA und Großbritannien einen Zugriff sichern. Um dafür gerüstet zu sein, gingen Shell und Standard Oil in die Offensive. »In Erwartung, daß das Sowjetregime in kürzester Zeit politisch, militärisch und vor allem wirtschaftlich zusammenbrechen würde«, schrieb der deutsch-amerikanische Publizist und Wirtschaftsfachmann William Engdahl, »hatte Shell-Chef Deterding heimlich seine Fühler nach Paris ausgestreckt und dort alle Wertpapiere und Konzessionsbriefe für die Ölfelder Bakus aufkaufen lassen. Sie stammten aus der Zeit vor der Revolution und schienen inzwischen wertlos geworden zu sein. Entsprechend billig waren sie zu haben. Er gründete die Anglo-Kaukasische Ölgesellschaft, in die er die Ölkonzessionen für Baku einbrachte.«[30]

Die wirtschaftliche Grundlage zur Ausbeutung des kaukasischen Öls schien gelegt. Politisch setzten die Briten und Amerikaner Ende 1918 auf den ins Exil nach Paris geflüchteten Vertreter der weißen Generalität, Boris Sawinkow. Sawinkow gehörte vor der Oktoberrevolution zum bewaffneten Arm der Sozialrevolutionäre und wandte sich nach der Machtübernahme der Sowjets den Weißen zu. Da er über beträchtliche Kontakte sowohl im Exil als auch zu den militärischen Spitzen der Konterrevolution wie General Peter von Wrangel und Admiral Alexander Koltschak verfügte, fanden Washington und London in ihm einen brauchbaren Partner. Die Briten und Amerikaner steckten ihm hohe Geldbeträge zu. Damit bestach Sawinkow die Truppen von von Wrangel und stellte eine Verbindung zu den westlichen Geheimdiensten, insbesondere zum im Jahre 1909 gegründeten britischen Secret Intelligence Service (SIS) her.[31]  Parallel zur Finanzierung der antisowjetischen Kräfte rückten britische und US-amerikanische Truppen, vom nördlichen Hafen Archangelsk kommend, in Russland vor. Im ölreichen Aserbaidschan hielten sich die Soldaten Georgs V. bis in das Frühjahr 1920, als die Rote Armee dem imperialistischen Spuk ein Ende setzte. Der aus deutsch-baltischem Adel stammende von Wrangel war der letzte weiße Militärführer, der sich Mitte Oktober 1920 der Roten Armee geschlagen gab und von der Krim aus ins Exil ging.

Henri Deterding, Gründer und Hauptaktionär des Shell-Konzerns, öffnete zusätzlich zu den aus dem britischen Budget aufgebrachten Mitteln noch die Privatschatulle seines Unternehmens, mit der er – sicher ist sicher – eine kaukasische Separatistenbewegung finanzierte, um die Sowjets in Schach zu halten.[32]  Neben dem britischen Unternehmen Shell war es vor allem John D. Rockefellers Standard Oil, die auf US-amerikanischer Seite Druck machte, um an das russische Öl zu kommen. Ein Korruptionsskandal um Erdöl-Schürfrechte in Wyoming (USA), der bis in die höchsten Kreise der Politik reichte, führte dazu, dass die USA im Wettlauf um das kaukasische Erdöl noch vor den Briten ausschieden.

Vom »Drang nach Osten« zum »Volk ohne Raum«

Im Vertrag von Versailles, den Berlin am 28.Juni 1919 unter Protest unterzeichnete, wurde Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Kriegsverantwortung zugesprochen. Die Siegermächte der Entente oktroyierten harte Bedingungen. Deutschland musste große territoriale Verluste, weit reichende militärische Einschränkungen und wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen hinnehmen. Das nach den Ratifizierungen im Januar 1920 gültig gewordene Dokument verkleinerte das Land um Elsass-Lothringen, Nordschleswig, Westpreußen, Posen und kleinere schlesische Gebiete, stellte das Saarland, Danzig und das Memelland unter die Kontrolle des Völkerbundes und erzwang Volksabstimmungen bezüglich staatlicher Zugehörigkeit in einer Reihe von Gebieten. Militärisch verkleinerte Versailles die deutsche Armee beträchtlich und verbot Aufrüstungsvorhaben, Befestigungsanlagen und die allgemeine Wehrpflicht. In wirtschaftlicher Hinsicht verpflichtete der Friedensvertrag Berlin zu hohen Reparationszahlungen und verschaffte den Siegermächten für eine befristete Zeit zollfreien Zugang zum deutschen Markt. Da gleichzeitig durch territoriale Abtretungen sowohl rohstoffreiche und schwerindustrielle Zentren als auch wertvolle landwirtschaftliche Gebiete verloren gingen, sicherten sich Frankreich und Großbritannien mit der Meistbegünstigung im Handel ein riesiges Absatzgebiet.

Fast einhellig war man nicht nur in der deutschen politischen und wirtschaftlichen Elite der Ansicht, dass die Bedingungen von Versailles Deutschland lähmten und seinen Wiederaufbau behinderten. Bald war vom »Schandfrieden« und dem »Versailler Diktat« die Rede. Ähnlich sah das auch einer der britischen Unterhändler, der Vertreter des Schatzamtes John Maynard Keynes. Er trat noch vor dem Abschluss des Vertrages aus Protest zurück. Die harten Bedingungen, so argumentierte er seine Ablehnung, würden in absehbarer Zeit große wirtschaftliche Probleme aufwerfen und sozialen Sprengstoff in sich bergen.[33]  Keynes sollte auf schauerliche Weise Recht behalten. Und in Deutschland machte sich in intellektuellen Kreisen die Überzeugung breit, dass der Vertrag von Versailles den Nationalisten jene Argumente in die Hände spielte, mit denen Adolf Hitler eine Mehrheit erhalten und schließlich Reichskanzler werden sollte. Der damalige liberale Reichstagsabgeordnete und spätere Bundespräsident Theodor Heuss brachte diese Stimmung auf den Punkt, als er 1932 über die (Wieder-)Gründung der 1925 in München entstandene NSDAP schrieb: »Die Geburtsstunde der nationalsozialistischen Bewegung ist nicht München, sondern Versailles …«[34]  In der auf Teile des deutschsprachigen Gebiets zusammengeschrumpften Republik Österreich war die Lage nicht viel anders. Hier diktierte der Völkerbund mit der sogenannten »Genfer Sanierung« aus 1922 Massenentlassungen und Sparauflagen. Die damit provozierten sozialen Verwerfungen führten zehn Jahre später zum Aufstieg der Austrofaschisten und zum Ständestaat. Das im Vertrag von Saint Germain festgelegte Anschlussverbot (an Deutschland) erwies sich schließlich am 12. März 1938 als hinfällig.

Im durch Versailles radikal verkleinerten Deutschland erlangten bald nach der Niederschlagung roter Rätebewegungen rechte Kreise eine kulturelle und politische Hegemonie. Eines ihrer eingängigsten Schlagworte war jenes vom »Volk ohne Raum«. Nach den Gebietsverlusten lag es auf der Hand, mit solch einfachen Losungen Politik zu machen und vermeintliche Lösungen anzubieten. Schon im Parteiprogramm der NSDAP vom Februar 1920 hieß es unter Punkt 3: »Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses«.[35]  Den Begriff »Volk ohne Raum« entliehen sich die Nationalsozialisten übrigens vom Titelblatt eines Romans, den der völkische Schriftsteller Hans Grimm im Jahr 1926 veröffentlicht hatte.[36]  Bis dahin hörte man vom für Deutsche notwendigen »Lebensraum im Osten«, den die Rechten als »natürlichen Siedlungsraum« am Schwarzen Meer, am Kaspischen Meer und im Kaukasus imaginierten. »Die Sowjetunion«, so der Russland-Historiker Hans-Heinrich Nolte, »war das vorrangige Ziel der deutschen Expansion«.[37]

Die Vorstellung von der Erweiterung des deutschen Lebensraumes findet sich zu jener Zeit auch in einschlägigen geopolitischen Publikationen. Die geografisch geschulten Geopolitiker waren es auch, die den ursprünglich aus der Biologie stammenden Begriff des Lebensraumes politisierten. Der in Karlsruhe aufgewachsene Zoologe und Geograf Friedrich Ratzel schrieb in einer Publikation aus dem Jahr 1901 als erster vom »Lebensraum« in einem geopolitischen Sinn. Er gilt als Begründer der politischen Geografie. Eine Generation später übernahm Karl Haushofer[38]  das Ratzel’sche Bild und fügte es in die Gedankenwelt der Nationalsozialisten ein. Haushofer, ein enger Freund Rudolf Heß’, war Professor für Geografie und nach 1934 Präsident der »Akademie zur wissenschaftlichen Pflege des Deutschtums«. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg popularisierte er seine These vom notwendigen Lebensraum über eine wöchentliche Rundfunksendung; nach der Machtergreifung der Nazis erhielt er einen regelmäßigen Sende­platz im Radio. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion zog sich Haushofer, der selbst nie Mitglied der NSDAP war, auf sein bayerisches Anwesen zurück. Für die gewaltsame praktische Umsetzung seiner geopolitischen Vorstellungen konnte er sich nicht erwärmen.

Die Geopolitiker sorgten für den Begriff des Raumes als machtpolitische Vorstellung. Mit der darauf aufbauenden Vision vom »Volk ohne Raum« etablierte sich ein Paradigmenwechsel in der deutschen Ostpolitik generell. Jahrzehnte lang war zuvor das politische Schlagwort vom »Drang nach Osten« in Gebrauch. Anders als die noch aggressivere nationalsozialistische Losung eines »Volkes ohne Raum«, die die Auswirkungen der Niederlage im Ersten Weltkrieg reflektiert, wurzelt die Vorstellung vom »Drang nach Osten« in historischen Tiefen. Sie stellt sich damit in die Tradition spätmittelalterlicher Siedler­bewegungen von Deutschen, die entweder von lokalen Fürsten im Namen des technischen oder organisatorischen Fortschritts angeworben wurden oder unter missionarischem Deckmantel Siedlungsgebiete eroberten. Die damit einhergehende Überlagerung der einheimischen slawischen Bevölkerung durch deutsche Handwerker, Händler und Bauern war ein Nebenprodukt des im Kern wirtschaftlichen oder verwaltungstechnischen Vormarsches. Nationale Ideologie spielte damals keine Rolle.

»Volk ohne Raum« ist für die 1930er Jahre ein radikal neues, modernes Paradigma deutscher Expansionsbestrebung. Die NSDAP bediente sich dieser Parole, während sie vom »Drang nach Osten« kaum mehr sprach. Und sie unterbuttert sie mit offen rassistischer und sozialdarwinistischer Ideologie. Der, den es zu verdrängen gilt, ist der singularisierte und damit seiner vielfältigen Menschlichkeit beraubte »Russe«. Er wird als rassisch minderwertig, schwach, krank und degeneriert dargestellt. Ihn auszulöschen, zu vernichten wird zur zivilisatorischen Aufgabe. Beim Leiter der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, kann man diese ideologische Begründung einer angeblichen wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeit – »den Raum nehmen« – im Organ des Kampfbundes des Gewerblichen Mittelstandes, Der Deutsche Handel, vom 17. Oktober 1939 nachlesen: »Wir können unseren Auftrag nur daher nehmen, dass wir sagen, es ist von Gott gewollt, dass eine höhere Rasse über eine mindere herrschen soll, und wenn für beide nicht genügend Raum ist, dann muss die mindere Rasse verdrängt und, wenn notwendig, zum Vorteil der höheren Rasse ausgerottet werden. Die Natur rottet überall das Schwache und Ungesunde zugunsten des Starken und Gesunden aus. (…) Aus diesen Gedanken, aus dieser Idee kommt unser Auftrag. Deshalb verlangen wir Boden.«[39]

Eine neue, konkrete, expansive und rücksichtslose »Ostpolitik« statt einer allgemeinen »Ostorientierung« forderte auch der Führer der NSDAP, Adolf Hitler, in Mein Kampf. Im erst 1927 erschienenen zweiten Band setzt er sich vor allem mit dem Verhältnis Deutschlands zu Russland auseinander, das er als »Prüfstein« für die Partei und das Land bezeichnete.[40]  Die oberste Devise seiner »Lebensraum-Politik« müsse lauten, »dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden dieser Erde zu sichern.«[41]  Die russische Erde bot genug Platz dafür, diese Pläne zu verwirklichen.

Die deutsche Journaille zog nach. Einer der schlimmsten Rassisten, den sie zu bieten hatte, war der aus Reval/Tallinn stammende Deutsch-Balte, mit einer russischen Staatsbürgerschaft ausgestattete Alfred Rosenberg. Der Russen­hass des Chefideologen der NSDAP speiste sich aus Antisowjetismus und Antisemitismus, wobei er die beiden insofern verband, als er die sowjetische Führung als »verjudet« und dementsprechend »rassisch minderwertig« ansah. Das Asiatische, Östliche war für ihn der Feind des Nordischen, Europäischen, Deutschen. Wie hasserfüllt er der Sowjetunion gegenüberstand, zeigt sein Pamphlet Der Mythus des 20. Jahrhunderts, das 1930 erstmals erschien: »Der Bolschewismus«, heißt es darin, »bedeutet die Empörung des Mongoliden gegen nordische Kulturformen, ist der Wunsch nach der Steppe, ist der Hass des Nomaden gegen Persönlichkeitswurzel, bedeutet den Versuch, Europa überhaupt abzuwerfen.« Dieser Gefahr, so Rosenbergs Bekenntnis, müsse man dadurch begegnen, indem man die Slawen »als schmiegsamer Ton in der Hand nordischer Führer«[42]  der »deutschen Herrenrasse« dienstbar mache. Die ideologischen Pflöcke für den nächsten Feldzug gegen Osten waren spätestens Anfang der 1930er Jahre eingeschlagen, der »Untermensch« identifiziert und nach dessen Eliminierung das Versprechen an die deutsche Gefolgschaft abgegeben, dessen Grund und Boden zu übernehmen.

Den Grundstein für ein revanchistisches Deutschland, das die Folgen seiner Niederlage mit Rassismus kompensierte, legte der Vertrag von Versailles, so wie es Trianon für Ungarn und – mit etwas geringerer Strahlkraft – Saint Germain für Österreich tat. Die Machtübernahme der Sowjets in Russland hatte der herrschenden Klasse in Deutschland zum ethnischen Feindbild des Russen noch den Kommunisten hinzugefügt. Auf diesem Klavier der doppelten Ressentiments ließ sich vorzüglich vorurteilsbeladene, rassistische und antikommunistische Politik spielen. Doch nicht nur Berlin ortete seinen Feind im Osten, auch die Westmächte taten in den 1930er Jahren alles, um Moskau zu demütigen. So insbesondere in einem entscheidenden Moment der europäischen Geschichte zwischen den großen Kriegsgängen. Am 29. September 1938 trafen in München Benito Mussolini, Adolf Hitler, Neville Chamberlain und Édouard Daladier zusammen. Die vier Regierungschefs aus Rom, Berlin, London und Paris segneten die Eingliederung der mehrheitlich deutschsprachigen, sogenannten »Sudenten­gebiete« der CSR ins Deutsche Reich ab. Die Tschechoslowakei in der Form ihrer 1918 als Vielvölkerstaat gegründeten Republik hörte damit zu existieren auf. Hitlers erste Grenzverschiebung in Richtung Osten blieb auf europäischem Parkett ohne Widerspruch.

Auffällig abwesend bei der Konferenz in München waren nicht nur Vertreter der Tschechoslowakei, um deren Existenz es immerhin ging, sondern auch die Führung der Sowjetunion. Sie war von den Westmächten nicht eingeladen worden. Dies interpretierte Moskau nicht zu Unrecht als Ausschluss aus dem internationalen Konzert und als Versuch, der deutschen Expansion im Osten ohne Widerstand den Weg zu bereiten. Diese Strategie weitergedacht, konnte dies nur bedeuten, dass Westeuropa die UdSSR im Falle eines Angriffs durch Deutschland wohl ebenso im Stich ließe wie es mit der Tschechoslowakei vorgeführt wurde.[43]  Vor diesem Hintergrund wird der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 verständlicher. Moskau fühlte sich von Frankreich und Großbritannien im Stich gelassen. Stalin garantierte im deutsch-russischen Pakt die sowjetische Neutralität, sollte Berlin Polen angreifen. Das geheime Zusatzprotokoll hingegen, das der Sowjetunion »im Falle einer territorial-politischen Umgestaltung« die Wiederinbesitznahme von Gebieten erlaubte, die dem Zarenreich im Ersten Weltkrieg verloren gegangen waren – was schließlich auch geschah –, zeigt erste (neo)imperiale Züge Russlands unter der roten Fahne.

Trotz offiziell gültigem deutsch-russischen Nichtangriffspakt blieben in Berlin die geopolitischen Planungen für den Osten weiterhin gegen Russland gerichtet. Ein Blick in die Gedankenwelt eines der höchsten NSDAP-Politiker, Reichsführer SS und späterer Reichsinnenminister Heinrich Himmler, mag die deutsche Position nach dem Angriff auf Polen (1. September 1939) und vor dem Überfall auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) erhellen. Mit feiner Feder entwirft Himmler in einer Niederschrift vom 15. Mai 1940 ein Zukunftsszenario für Osteuropa, wie es in den Berliner Planungsstäben diskutiert wurde. Es geht, wie gewohnt, um die Kontrolle der Völker im Osten durch den deutschen »Herrenmenschen«: »Bei der Behandlung der Fremdvölkischen im Osten müssen wir daraus sehen, so viel wie möglich einzelne Völkerschaften anzuerkennen und zu pflegen, also neben den Polen und Juden die Ukrainer, Weissrussen, die Goralen, die Lemken und die Kaschuben. Wenn sonst noch irgendwo Volkssplitter zu finden sind, auch diese. Ich will damit sagen«, so Himmler weiter, »dass wir nicht nur das grösste Interesse daran haben, die Bevölkerung des Ostens nicht zu einen, sondern im Gegenteil in möglichst viele Teile zu Splittern zu zergliedern.«[44]

Neben der vielleicht für Mai 1940 überraschend anmutenden Bemerkung über die Juden, die Himmler als »Volkssplitter« anerkannt wissen will, ist es von größerem Interesse, wie sich der Chef der deutschen Polizei und Reichsführer SS den Umgang mit zu erobernden Gebieten im Osten vorstellt. »Teile und herrsche« ist die sichtbar zum Ausdruck gebrachte Devise. Aber dahinter steht die wahrhaftige Feindortung: Russland. Himmler verliert in der gesamten Niederschrift kein Wort über Russland oder die Sowjetunion, immerhin besteht ja zwischen Moskau und Berlin ein Nichtangriffspakt. Unschwer ist dennoch die Stoßrichtung seiner Planungen erkennbar: Moskau muss geschwächt werden, und zwar über die ethnische Frage, oder wie er es ausdrückt: das »völkische« Moment. Es gilt, wieder einmal, die Ukraine und Weißrussland – nebst möglichst vielen anderen Gebieten – vom russischen Einfluss fern zu halten bzw. aus dem sowjetischen Verband herauszulösen. Das Ziel der »Behandlung der Fremdvölkischen« im Rahmen der Eroberung kommt im strategischen Papier Himmlers nicht vor. Es sind die alten deutschen Pläne, die schon vor und während des Ersten Weltkrieges bestanden hatten, nämlich im Süden Russlands die Kontrolle über Getreidefelder, Erzlager und Erdöl zu erlangen. Deswegen machten die großen deutschen Industriemagnaten aus dem Gefreiten des Ersten Weltkrieges den Führer des Deutschen Reiches.

Mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 erhob sich schlagartig eine vielstimmige Propaganda gegen Bolschewismus, Russland und die Russen. Die Heimatfront tobte, wie in jedem Krieg. Der Begriff des »Untermenschen« wurde zum Stereotyp, wenn es darum ging, Russen bzw. Sowjetmenschen zu beschreiben. Eine 1942 vom SS-Hauptschulungsamt herausgegebene Broschüre zeigt am Titelbild einen solchen »Untermenschen«. Er ist breitschädelig, hat einen verschlagenen Blick, einen sklavisch rasierten Kopf, sein zur Fratze verzerrtes Gesicht ist dunkelhäutig; hinter ihm vermitteln Horden von tierisch anmutenden Gestalten die Gefahr, die von Russland ausgeht und die es zu bändigen gilt.[45]

Deutsche Großraumpläne

Der deutsche Überraschungsangriff gelang, es hatte den Anschein, als ob das Konzept vom »Blitzkrieg«, wie es im Berliner Generalstab entworfen worden war, funktionierte. Mit über 3,5 Mio. Soldaten – darunter Verbündete aus Ungarn, Rumänien und der Slowakei – und 3500 Panzern zog die Wehrmacht gegen Osten.[46]  Die sowohl an Mannschaft als auch an Material zahlenmäßig überlegene Rote Armee verlor hunderttausende Verteidiger in den Kesselschlachten, über 3 Mio. Rotarmisten ließen sich im ersten Kriegsjahr gefangen nehmen. In dieser Zeit vor der militärischen Wende, als es den Rotarmisten im November 1942 gelang, die deutsche 6. Armee in Stalingrad einzukesseln, herrschte Euphorie in Berlin. Die Vorstellungen über die Neuordnung des eurasischen Kontinents wurden immer größenwahnsinniger; und die Pläne eines von Deutschland geführten Großraumes immer konkreter. Ende 1941 glaubte der deutsche Generalstab – laut sowjetischen Quellen –, bis weit hinter Moskau an die Linie Archangelsk–Kasan–Samara–Stalingrad–Astrachan vordringen zu können. Die Eroberungspläne des »Unternehmens Barbarossa« reichten bis ins russische Herzland, vom Weißen Meer im Norden bis zum Kaspischen Meer.[47]

Sehen wir uns nur eine von vielen solcher Schriften an, die – den Sieg der Wehrmacht vor Augen – Nachkriegskonzepte für Russland und die Russen schmiedeten: »Die Zukunft der deutschen Herrschaft in Russland« nennt der bekannte SS-Sturmbannführer und Ökonom Giselher Wirsing seine vertrauliche Denkschrift, die der Sozialwissenschaftler Reinhard Opitz dankenswerter Weise in jahrelanger mühevoller Archivarbeit zusammen mit vielen anderen Dokumenten in einem über 1000-seitigem Band öffentlich gemacht hat. »Niemals wieder darf Deutschland und Europa durch eine russisch-asiatische Despotie bedroht werden«, beginnt er seine im August 1942 verfassten nationalsozialistischen Europapläne. Und er fährt fort:

»Dies bedeutet, dass ein Gebiet, das voraussichtlich zwischen 70 und 90 Mio. Menschen in sich bergen wird, auf die Dauer von Deutschland – unter begrenzter Mithilfe der übrigen europäischen Völker – beherrscht werden muss. Die breitere Öffentlichkeit im Reich ist sich vorerst nur ganz bedingt bewusst, dass wir im Laufe des letzten Jahres den entscheidenden Schritt von der Grossmacht im alten europäischen Sinne zum Herrschaftsvolk im weltgeschichtlichen Sinne getan haben.« Im Kapitel »Der Grosswirtschaftsraum« wird der Herausgeber und Kommentator mehrerer deutscher Zeitungen sehr konkret, was die geplante Zukunft Russlands betrifft: »Der deutsch-europäische und der russische Wirtschaftsraum ergänzen sich gegenseitig in hervorragendem Masse. (…) Die Voraussetzungen sind also gegeben, dass uns der Russe auf die Dauer nicht als die Träger einer drückenden Fremdherrschaft empfindet, sondern dass er bereit ist, für sich selbst in dem von uns gezogenen Rahmen zu arbeiten und zu produzieren. Es ist dabei von ausschlaggebender Bedeutung, dass der Russe immer den Eindruck hat, dass seine Arbeit auch ihm selbst zugutekommt. (…) Das russische Volk muss also in stärkerem Masse, als dies bisher möglich war, mit positiver Propaganda über die Vorteile, die es bei der Eingliederung in unser europäisches System geniessen kann, bearbeitet werden.«[48]

Wie ein solches Unterfangen nach den von der Wehrmacht verursachten Verwüstungen in die Tat umgesetzt werden hätte sollen, bleibt – ganz unabhängig von der Frage nach Sieg oder Niederlage – schleierhaft. Die auch an vielen anderen Stellen angedachten Großraumpläne für die Nachkriegszeit gingen allesamt von einem deutsch geführten und beherrschten eurasischen Reich aus, in dem allerdings nicht mehr der plumpe Rassismus gegenüber »Untermenschen« im Vordergrund stand, sondern die Kooptierung einer willig und gefügig gemachten russischen Bevölkerung in ein deutsch-europäisches Projekt. Insofern sind die Töne, die Wirsing und andere insbesondere vor der Schlacht von Stalingrad von sich geben, Vorläufer von Expansionsideen, wie sie 50 Jahre später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, freilich in anderer, nun moderner klingender Diktion zu hören sind. Die Unterwerfung Russlands unter die Begehrlichkeiten deutscher, europäischer Erweiterungspläne, seien sie geopolitischer und/oder wirtschaftlicher Natur, klingt hier 1942 erstmals in einer strategischen Dimension an. Zynisch formuliert könnte man von der Vision eines Kolonialismus mit menschlichem Antlitz sprechen.

Brachialer und weniger einfühlend gab sich der »Führer« selbst, wie aus nach dem Krieg publizierten »Tischgesprächen« hervorgeht. Anfang November 1941 bricht er eine Lanze für den brutalen Kolonialismus. »Wer Blut vergossen hat«, stellt er einen Vergleich zum britischen Kolonialsystem in Indien an, »hat auch das Recht, die Herrschaft auszuüben.« Die Zukunft Russlands sieht er parallel zu jener Indiens, wenn er sagt: »Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein. Wenn ich dem deutschen Volk nur eingeben könnte, was dieser Raum für die Zukunft bedeutet!«[49]  Seine Propagandisten arbeiteten Tag und Nacht daran, die Bedeutung der Eroberung Russlands in entsprechend strahlendes Licht zu rücken.

Bereits drei Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion legte der Reichs­innenminister Wilhelm Frick im Herbst 1941 eine sogenannte »Braune Mappe« vor, die neue Strukturen für die »Zivilverwaltung in den besetzen Ostgebieten« vorgab. Vorgesehen war die Gliederung in »Reichskommissariate«, die bis dahin gültige Verwaltungsgrenzen ablösen sollten. Aus den 15 sowjetischen Verwaltungsbezirken in der Ukraine und den vier in Weißrussland entstanden so sieben Reichskommissariate.[50]  Dem militärischen Vormarsch folgte das totale Umkrempeln der zivilen Strukturen. Dahinter stand der sogenannte »Generalplan Ost«, der zunächst unter Reichsführer SS Heinrich Himmler erstellt wurde und dessen Konzept auf der Ausweitung eines »Lebensraumes im Osten« für Deutsche fußte. Es ging um nichts weniger als um die Kolonisierung Osteuropas durch das »germanische Element«. In der Version vom Mai 1942 sah der »Generalplan Ost« neben der Germanisierung von Westpreußen und Ostoberschlesien die »Abgrenzung neuer Siedlungsgebiete« (für Deutsche, d. A.) vor: dem rund um Leningrad gelegenen »Ingermanland« im Norden, dem westlich davon befindlichen »Memel-Narew-Gebiet« zwischen Riga, Vilnius und Bialystok und dem »Gotengau«[51]  am Schwarzen Meer mit den riesigen Eisenerzvorkommen in Kriwoj-Rog, dem Industriezentrum Dnepropetrowsk und der Halbinsel Krim. Die ansässige slawische Bevölkerung sollte in mehreren Wellen nach Sibirien deportiert werden. Auch eine Frist hatte sich Berlin dafür ausgedacht; in 30 Jahren wollte man die drei »Reichsmarken« mit Millionen von Deutschen besiedelt haben.

Die Krim gehörte zu den bevorzugtesten Gebieten, in die deutsches Kapital unmittelbar nach ihrer Eroberung durch die Wehrmacht Ende 1941 investierte. In welchem Umfang das geschehen konnte, zeigt die penibel recherchierte Arbeit des Historikerduos Karl Heinz Roth und Jan-Peter Abraham über den deutschen Tabakriesen Reemtsma.[52]  Der Hamburger Konzern übernahm im Schatten der deutschen Besatzung die Tabakwirtschaft auf der Schwarzmeer-Halbinsel, in der Zehntausende Zwangsarbeiter – der Großteil von ihnen Krimtataren, die nach dem Sieg der Roten Armee u. a. wegen dieser »Kollaboration« mit Nazi-Deutschland deportiert wurden – wie Leibeigene schufteten. Doch damit nicht genug, über Tochterfirmen wie die Kühl-Transit AG baute Reemtsma ganze Güterketten für die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte auf; so errichtete man »große Kühlhäuser in Simferopol, Sewastopol, Jewpatorija und Kertsch«, mit denen der privilegierte Zugang zu Obst und Gemüse sowie zur Fischerei gesichert wurde.[53]  

Auch in anderer Hinsicht plante Berlin die Übernahme der ukrainischen Landwirtschaft. So wurden Bauern aus verschiedenen Gebieten des Deutschen Reiches in den Jahren 1941 und 1942 große Karrierechancen in den Ostgebieten in Aussicht gestellt. Im niederösterreichischen Gmünd zum Beispiel übten angehende Jungbauern in der Ausbildung zum Landwirt mit ukrainischer Schwarzerde. Dafür wurden Tonnen von ukrainischer Schwarzerde mit der Bahn von der Ostfront ins Hinterland gebracht. Den erfolgreichen Absolventen des bäuerlichen Lehrganges stellte die Schulbehörde nach Kriegsende eine Verwalterstelle auf deutschen Gütern in der Ukraine in Aussicht.[54]

In einer kritischen Stellungnahme zum »Generalplan Ost« bezweifelt der im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete arbeitende Jurist Erhard Wetzel die ambitionierten Vorstellungen der Umsiedlung von Slawen, um Platz für die Ansiedlung von Deutschen zu machen. In einer als »Geheime Reichssache« deklarierten Abschrift heißt es am 27. April 1942: »Aus dem Plan ergibt sich, dass es sich nicht um ein Sofortprogramm handelt, dass vielmehr die Besiedlung des Raumes mit Deutschen etwa 30 Jahre nach dem Kriege erreicht sein soll. Wie aus dem Plan hervorgeht, sollen 14 Mio. Fremdvölkische in dem Raum verbleiben. Ob diese jedoch innerhalb der vorgesehenen Zeit von 30 Jahren wirklich umgevolkt und eingedeutscht werden, erscheint mehr als zweifelhaft, da auch nach dem vorliegenden Plan die Anzahl der deutschen Siedler nicht gerade beträchtlich ist. (…) Die Kernfrage der ganzen Ostsiedlung ist«, sorgt sich der Jurist, »ob es uns gelingt, im deutschen Volke den Siedlungstrieb nach dem Osten wieder zu erwecken.«[55]

Ebenso planmäßig wie an die Ansiedlung von Deutschen im Osten ging Berlin an die Vertreibung und Ausrottung von Slawen, insbesondere Russen, heran. Dabei gab es durchaus unterschiedliche Positionen in Nazi-Führungskreisen, was die Härte und Brutalität anlangte, um zum Ziel zu kommen. Über das Ziel jedoch herrschte Übereinstimmung. Es ging um das Zurückdrängen des russischen und das Ausdehnen des deutschen Einflusses, und zwar territorial, ethnisch-völkisch und kulturell. SS-Sturmbannführer Giselher Wirsing spricht sich in einem vertraulichen Papier vom August 1942 dafür aus, bei der Inbesitznahme Russlands eher behutsam vorzugehen. »Die Kolonialzeit im Stile der britischen weltgeschichtlichen Epoche neigt sich ihrem Ende zu. Reine Ausbeutungskolonien können sich in gewissen Teilen Afrikas halten«, schreibt er, meint aber, dass dies in »asiatischen Zonen« nicht mehr so einfach und widerspruchslos möglich sei. Wirsing geht es um den Aufbau einer Ordnung, die »ein Höchstmass von produktiver Leistung erzielen könne«. Mit brachial-kolonialen Mitteln sei da kein Durchkommen, umso weniger, als die weit verbreitete Meinung irrig sei, »der Russe« würde »von Natur aus völlig bedürfnislos« sein. »In Wirklichkeit besitzt das russische Volk eine gerade besonders hervorstechende primitive Freude am Eigentum und Besitz jeder Art.« Dies gebe Hoffnung, so einmal der Bolschewismus beseitigt sei, ein deutschen und europäischen Werten aufgeschlossenes Volk zu formen, das zum Nutzen des Deutschen eingesetzt werden könne.[56]  Über eine mögliche direkte Eindeutschung äußert sich Wirsing in besagter Denkschrift nicht.

Die Wirklichkeit war noch brutaler. Der Historiker Hans-Heinrich Nolte nennt in seinem Klassiker Kleine Geschichte Rußlands allein 17 Mio. durch die deutsche Soldateska getötete Zivilisten. Davon wurden 7 Mio. ermordet, 7 Mio. verhungerten und 3 Mio. gelten als vermisst. Ein demografischer Vergleich der Jahre 1941 und 1946 kommt unter Berücksichtigung durchschnittlicher Geburts- und Todesraten auf einen Bevölkerungsverlust in der Sowjetunion von 26,6 Mio. Menschen.[57]  Die EinwohnerInnenzahl sank in diesem Zeitraum von 196,7 auf 170,5 Mio.. Kollektive Gewaltmaßnahmen und Losungen wie »Keine Schonung!« oder »Keine Gefangenen!« begleiteten den Vormarsch der Wehrmacht. Am Ende des Zweiten Weltkrieges lag die Sowjetunion in Schutt und Asche.

Für Alle, die mehr wissen möchten, anbei weiterführende Informationen:

► KenFM im Gespräch mit: Hannes Hofbauer ("Feindbild Russland") (1:44:55)

>> Videoaufzeichnung.


Anmerkungen:

[4] Hans-Heinrich Nolte, Kleine Geschichte Russlands. Stuttgart 2003, S.156

[5] Alex Peter Schmid, Churchills privater Krieg – Intervention und Konterrevolution im russischen Bürgerkrieg November 1918 – März 1920. Zürich/Freiburg i. Br. 1974, S.13. Zit. in: Bernhard Rode, Das Eurasische Schachbrett. Amerikas neuer Kalter Krieg gegen Rußland. Tübingen 2012, S.262

[6] ebd.

[7] Nolte 2003, S.152

[8] Halford John Mackinder, TheGeographical Pivot auf History, in: The Geographical Journal, London, April 1904

[9] Vgl. auch: Mathias Bröckers / Paul Schreyer, Wir sind die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren. Frankfurt/Main 2014, S.41

[10] Halford John Mackinder, Democratic Ideals andReality. A Study in the Politics of Reconstruction. Washington 1942, S.194

[11] Walther Rathenau, Deutsche Gefahren und neue Ziele (1913). In: Ders., Gesammelte Schriften in fünf Bänden, Bd. 1 1918, S.267f. Zit. in: Reinhard Opitz (Hg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900–1945. Bonn 1994, S.205

[12] Da spielt Rathenau auf Deutsch-Südwestafrika an, das heutige Namibia, das zwischen 1884 und 1915 deutsche Kolonie war.

[13] Rathenau 1913, S.205

[14] Gerd Koenen, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945. München 2005, S.64

[15] Alfons Paquet, Nach Osten! In: Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften, hg. von Ernst Jäckh, 23. Heft. Stuttgart-Berlin 1915. Zit in: Koenen 2005, S.64

[16] Koenen 2005, S.65

[17] Denkschrift von August Thyssen. Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Rdl 19305, B. 19ff. Zit. in: Opitz 1994, S.?222

[18] Gemeint sind damit die Ukrainer.

[19] Gemeinsame Denkschrift von Hermann Schumacher und Hugo Stinnes. Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Reichskanzlei 2476, B. 179-210. Zit. in: Opitz 1994, S.277

[20] Vejas G. Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Frankfurt/Main-Wien 2009, S.34. Zit. in: Wolfram Dornik, Die wirtschaftliche Ausbeutung Osteuropas durch die Mittelmächte im Ersten Weltkrieg. Vortrag bei den Zeitgeschichtetagen, Wien 2010, Manuskript S.4

[21] Erlass des Reichskanzlers vom 11. August 1914. Zit. in: Wolfgang Schumann/Ludwig Nestler (Hg.), Weltherrschaft im Visier, Dokumente zu den Europa- und Herrschaftsplänen des deutschen Imperialismus von der Jahrhundertwende bis Mai 1945, Berlin 1975, S.79. Zit. in: Erhard Crome, Die Welt, Europa und Deutschland. In: Peter Strutynski (Hg.), Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen. Köln 2014, S.99

[22] Oleh Fedyshyn: Germany’s Drive to the East and the Ukrainian Revolution 1917–1918. New Brunswick/New Jersey 1971, S.21

[23] Paul Rohrbach / Axel Schmidt, Die russische Revolution, Bd. 7. Stuttgart 1917, S.7. Zit. in: Opitz 1994, S.413

[24] Fritz Platten, Lenins Reise durch Deutschland im plombierten Wagen. Frankfurt/Main 1985. Siehe auch - weiter:  (4.5.2015)

[25] Zit. in: Koenen 2005, S.120

[26] Kappeler Andreas, Kleine Geschichte der Ukraine. München 1994, S.172

[27] Manfred Weißbecker, Der Feind im Osten. In: junge Welt vom 20. April 2015

[28] Unsere Russen, unsere Deutschen, Bilder vom Anderen 1800 bis 2000. Berlin 2008, S.119

[29] Friedrich Naumann, Mitteleuropa. Berlin 1915, S.1f.

[30] William Engdahl, Mit der Ölwaffe zur Weltmacht. Der Weg zur neuen Weltordnung. Wiesbaden 1992, S.105

[31] Engdahl 1992, S.105f.

[32] Bernhard Rode, Das Eurasische Schachbrett. Amerikas neuer Kalter Krieg gegen Rußland. Tübingen 2012, S.269

[33] http://de.wikipedia.org/wiki/Friedensvertrag_von_Versailles (3.5.2015)

[34] Theodor Heuss, Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus. Stuttgart-Berlin-Leipzig 1932, S.152. Zit. in: weiter. (3.5.2015)

[35] 25-Punkte Programm der NSDAP, beim Deutschen Historischen Museum. Zit. in Wikipedia.

[36] Hans Grimm, Volk ohne Raum. München 1926

[37] Nolte 2003, S.246

[38] http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Haushofer (5.5.2015)

[39] Der Deutsche Handel vom 17. Oktober 1939. Zit. in: Helmut Krausnick / Harold Deutsch (Hg.), Tagebücher eines Abwehr­offiziers 1938–1940. Stuttgart 1970, S.576. Zit. in Wikipedia.  (3.5.2015)

[40] Koenen 2005, S.396

[41] Adolf Hitler, Mein Kampf, 2. Bd., 1927, S.?739. Zit. in: Koenen 2005, S.397

[42] Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20.Jahrhunderts. München 1930, S.113

[43] Nolte 2003, S.247

[44] Niederschrift Heinrich Himmlers »Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten«. Aus: Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Film 3570. Zit. in: Opitz 1994, S.653

[45] Unsere Russen 2008, S.137

[46] Nolte 2003, S.253

[47] Siehe Peter Scholl-Latour, Russland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam. Berlin 2007 (2014), Landkarte nach S.204 im Buchinneren

[48] Vertrauliche Denkschrift »Die Zukunft der deutschen Herrschaft in Russland von SS-Sturmbannführer Dr. Giselher Wirsing«. Ende August 1942, aus: Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Film AA 10579. Zit. in: Opitz 1994, S.909, 916, 917

[49] Gerhard Ritter (Hg.), Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942. Bonn 1951, S.?41 und 42; zit. in: Opitz 1994, S.857f.

[50] Aus den Richtlinien für die Zivilverwaltung in den besetzten Ostgebieten (Braune Mappe). Aus: Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Film 734, Bl. 669ff. Zit in: Opitz 1994, S.819f.

[51] Der Name bezog sich auf eine frühe Besiedlung der Krim durch Ostgoten, deren Spur sich allerdings im 7.Jahrhundert verliert.

[52] Karl Heinz Roth / Jan-Peter Abraham, Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941–1944. Hamburg 2011

[53] Roth/Abraham 2011, S.80

[54] Gespräche mit Waldviertler Bauern in den frühen 1980er Jahren.

[55] »Stellungnahme und Gedanken zum Generalplan Ost des Reichsführers SS« von Dr. Wetzel, Regierungsrat im Reichsministerium für die besetzen Ostgebiete. Aus: Prozessakten des Nürnberger Gerichtshofs, NG-2326. Zit. in: Opitz 1994, S.869

[56] Vertrauliche Denkschrift »Die Zukunft der deutschen Herrschaft in Russland von SS-Sturmbannführer Dr. Giselher Wirsing«. Ende August 1942, aus: Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Film AA 10579. Zit. in: Opitz 1994, S.912f.

[57] Nolte 2003, S.250, 263


Bild- und Grafikquellen: Buchcover und Portrait des Verfassers Hannes Hofbauer: © Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft mbH, Wien
 

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Anja Böttcher
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Verbunden: 13.07.2016 - 10:50
Feindbild Russland - Rezension


Historisch sorgfältige Nachzeichnung der verheerenden Geschichte eines Feindbildes


Als ich erstmals von Hannes Hofbauers Buch hörte, ging ich von einer tagespolitisch gehaltenen Darstellung auf allenfalls besserem journalistischem Niveau aus. Erst Schilderungen von Bekannten konnte ich entnehmen, dass diese 300 Seiten umfassende historische Nachzeichnung des wohl verhängnisvollsten Feindbildes der deutschen Geschichte mit ihrem ausgiebigen Quellen- und Anmerkungsapparat eine durch und durch solide Historiographie eines ideologischen Konstrukts bietet, welche gerade deshalb im Leser ein tiefes Erschrecken darüber auslöst, wie zäh sich Feindbilder gerade durch ihre politisch konstituierende Funktion in Machtapparaten erhalten.

Offensichtlich ist seit dem 18. Jahrhundert kein anderes nationales Stereotyp in Deutschland, aber auch in den angelsächsischen Ländern, so sehr vermachtet gewesen wie das Russland betreffende. Die Abgrenzung von diesem Koloss eines Landes bot seit dem 18. Jahrhundert eine dankbare Projektionsfläche einer vermeintlich "asiatischen Gefahr", mit deren Hilfe die deutschen (und angelsächsischen) Eliten in Phasen innenpolitischer Legitimationskrisen [von der Französischen Revolution bis zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis heute] durch das paranoide Schreckgespenst des 'barbarischen Riesenlands im Osten' innenpolitische Konsolidierungen versuchten, die dann am Ende in unglaublich blutigen Kriegen endeten. Zum letzten Mal unter den Nationalsozialisten, die eine vernichtende Blutspur von 55 Millionen Menschen legten, von denen ganze 27,5 Millionen Bürger der Sowjetunion waren, deren mit Abstand größter Nachfolgestaat die Russische Föderation heute ist.

So zählebig und gleich wie der Konfrontationswillen westlicher Politikakteure selbst erscheinen auch die mit Russland verbundenen ideologischen Schemata.zu sein, durch die stets gegen das Land mobilisiert wird. Seit jeher dominierte das Russlandbild die Dichotomie einer martialischen, groben und mit physischer Zerstörungskraft auftretenden Führungsfigur versus einer ungebildeten, primitiven, unselbständigen und amorphen Bevölkerungsmasse, die über keinerlei selbständiges Denkvermögen verfügt und folglich durch nichts besser bedient wäre als mit einer Befreiung von außen. Das westliche Selbstbild dagegen erscheint unschwer erkennbar von Hybris und Arroganz geprägt. Die ideologischen Begriffspaare wie Rückständigkeit versus Progressivität und Brutalität versus Zivilisiertheit kontrastieren dabei mit der geschichtlich realen Gewalttätigkeit westlicher Angriffskriege, die immer wieder in Russland unsägliches Leid verursachten.

Nach dieser Lektüre kommt jedem wachen Leser das penetrante Russland-Bashing im Leitmediendiskurs der Gegenwart, gegen das zum Glück die Bevölkerung mehrheitlich wütend und ausdauernd protestiert, noch einmal doppelt so geschichtsvergessen und unbegreiflich vor. Warum sich so flächendeckend deutsche Journalisten gegen die Erkenntnis weigern, dass wer aus der Geschichte nichts lernt, gezwungen ist, sie zu wiederholen, während das Gros der Bevölkerung das klar erkannt hat und sich deutlich dagegen positioniert, bleibt mir komplett unverständlich. Die Verlockung auf eine Karriere im politisch-medialen Mainstream kann doch selbst in Zeiten ökonomischer Unsicherheit nicht derart verlockend sein, dass es sich lohnte, einen für ganz Europa möglicherweise vernichtenden Krieg herbeizuschreiben - wovor vor ihrem Tod gestandene Politiker wie Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr eindringlich warnten.

Es bleibt zu hoffen, dass Bücher wie die von Hofbauer dazu beitragen, dass die Bevölkerung langfristig gegenüber den verhetzenden Stimmen in den Medien einen sachlichen und differenzierten Umgang mit Russland erzwingen kann, der erst die Grundvoraussetzung einer ernsthaften partnerschaftlichen Kooperation wäre.

Anja Böttcher, Juli 2016

Hannes Hofbauer: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung. Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft mbH, Wien 2016, 303 Seiten, 19,95 Euro.
 

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