Im Wartesaal: Stelle der Begegnung

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Helmut S. - ADMIN
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Im Wartesaal: Stelle der Begegnung
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Im Wartesaal: Stelle der Begegnung

Irgendwo hinsetzen, das Geschehen beobachten

Über Langeweile und Freiheit

Von Gerhard Mersmann | Forum-M7.com

Das Phänomen der Langeweile lässt sich denjenigen schwer beschreiben, die reizüberflutet sozialisiert wurden. Ich habe einmal einen Test gemacht und jungen Frauen die Verfilmung von Tennessee Williams 'Endstation Sehnsucht' vorgespielt. [1]. Wer diese Art der Gestaltung kennt, weiß, dass dort immer wieder Sätze im Raum stehen, die in sich ruhen und auf die nicht gleich eine Reaktion kommt. Das Warten, das Verarbeiten, das Schweigen, alles gehört zu dem Konzept des Verstehens.

JETZT-Selbstdenken-Bewusstwerdung-Wahrnehmung-Selbstbewusstsein-Selbstvertrauen-Revolte-Widerstand-Psychotipps-Zukunft-Kritisches-Netzwerk-Zukunftssorgen

Auf gewisse Weise verweigern wir die erforderliche Akzeptanz des unerträglichen JETZT.
Der Gedanke muss sein, im JETZT zu bleiben, sich umzublicken und im JETZT zu agieren.

Meine Testpersonen hielten das nicht lange aus. Sie protestierten umgehend und wiesen darauf hin, dass sie das nicht lange aushalten würden. Als ich sie um mehr Geduld bat, strengten sie sich einige Minuten länger an. Doch dann brach der Sturm los. Der Versuch musste abgebrochen werden. Sie ertrugen es einfach nicht.

Ähnliche Beobachtungen können überall gemacht werden. Irgendwo sitzen, Beobachten und Warten, das alles existiert nicht mehr. Das ist kein Tadel. Denn mein Motiv, der Langeweile, die eine ganz andere, für heutige Verhältnisse unvorstellbare war, zu entfliehen und nach einem anderen Leben zu suchen, entsprang auch der Ungeduld.

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Wie gesagt, es gab ja nichts. Außer einem Klub, in dem gute Musik, die selbstverständlich nicht im Radio zu hören war, gespielt wurde und mit Menschen zu sprechen, die die Monotonie und die Hierarchie auch nicht mehr aushielten, gab es an den Wochenenden nichts. Ich wiederhole: Nichts. Und wenn ich zu dem Klub wollte, musste ich in eine andere Stadt, die 25 Kilometer entfernt war. Und da ich kein oder kaum Geld hatte und am Wochenende sowieso keine Busse fuhren, musste ich trampen. Manchmal, wenn ich ankam und der Klub noch nicht geschlossen hatte, blieben mir ein bis zwei Stunden. Dann konnte ich montags auf ein ereignisreiches Wochenende zurückblicken. Manchmal kam ich aber auch gar nicht an.

Was blieb, war die Fähigkeit, tatsächlich irgendwo zu sitzen, weil es nicht mehr weiterging und keine Information kam. Wenn die Freundin nicht in dem Zug saß, in dem sie kommen wollte und der nächste erst in einer Stunde kam. Dann blieb nichts anderes als zu warten. Und dann sah ich die damals als Gastarbeiter bezeichneten Männer, die sich auf dem Bahnhof trafen, weil der irgendwie der Hafen ihrer Hoffnungen und Sehnsüchte war.

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Da kamen die Leute an und von dort wollten sie auch irgendwann wieder zurück, was den wenigsten gelang. Sie, die dort herumsaßen wie ich so oft, waren die ersten Kontakte zu einer anderen Welt, die ich knüpfte. Ich lernte, wie die vergeblichen Wege, wie der Wartesaal zu einer Stelle der Begegnung wurde. Dort, wo ich aufwuchs, konnte ich das bereits kultivieren. Und ich habe es immer so gemacht, bis heute. Irgendwo hinsetzen, das Geschehen beobachten und als das betrachten, was es ist: eine wichtige Episode der Existenz. Dann dauert es nicht lange, und ich werde vom Beobachter zum Akteur.

Abgesehen von dem Vorhaben, was im Englischen so prächtig 'Killing Time' genannt wird, gelingt es so, aus der scheinbaren Leere ein Ort der Erkenntnis zu machen. Das ist alter Stoff, der bereits von den Stoikern [auf Ganzheitlichkeit der Welterfassung gerichtete Betrachtungsweise; H.S.], zur Genüge erklärt wurde. Aber die eigene Erfahrung, sich in einer unerträglichen Langeweile zu wähnen und mit vielen neuen Einsichten aus ihr herauszutreten, weil die eigene Agenda gar keine Rolle mehr spielt, ist Reichtum. Das öffnet die Sinne.

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»Wir sind eine Gesellschaft notorisch unglücklicher Menschen:
einsam, von Ängsten gequält, deprimiert, destruktiv, abhängig.
Menschen, die froh sind, wenn es ihnen gelingt,
die Zeit totzuschlagen, die sie ständig zu sparen versuchen.«

Erich Fromm, * 1900, † 1980, „Haben oder Sein“, 1976 (ergä. durch H.S.)

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»Ihr wollt Menschen kennenlernen und verstehen wie sie ticken?
Dann studiert ihre Entschuldigungsgründe!«

Helmut Schnug, diese Methode wende ich täglich an. Mit erschreckenden Erkenntnissen! (ergä. durch H.S.)

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Ich erinnere mich an eine Episode, als wir, jung und voller Tatendrang, in einer Clique junger Männer einmal wieder auf Tour waren und in einer Großstadt so richtig auf den Putz hauen wollten. Wie bei diesen Gelegenheiten üblich, hingen wir vor der Nacht noch in einer Kneipe ab und heizten mächtig vor. Und einer stellte die Frage, was sich jeder vorstellte, einmal unbedingt machen zu wollen, was er sich wirklich wünschte, aber momentan nur ein Traum sei.

Die Antworten kamen. Sie bezogen sich auf Weltreisen, Liebesabenteuer, Luxus und Macht. Nur einer, ein Bär von einem Mann, seinerseits von Beruf Schmied, der sagte: Wenn ich könnte, wie ich wollte, dann würde ich gerne einmal einfach so dasitzen. Wir alle brachen in schallendes Gelächter aus und sein Beitrag galt lange als der running Gag.

Viel später begriff ich: er war der Klügste von allen.

Sein Wunsch ist unbezahlbar!

Monotonie und Erlösung reichen sich manchmal die Hand.

Gerhard Mersmann

[1] Detaillierte Infos zum Theaterstück in 3 Akten von 1947 + dem s/w Filmdrama von 1951 + dem Fernsehdrama von 1984. 

Endstation Sehnsucht (DRAMA FILM von 1984 auf Deutsch in voller Länge, Kammerspiel Filme)

Nach dem berühmten, preisgekrönten Drama von Tennessee Williams: Die scheinbar kultivierte Blanche DuBois besucht ihre Schwester Stella in New Orleans. Stella, verheiratet mit dem polnischen Einwanderer Stanley Kowalski, der von Blanche unverhohlen verachtet wird, ist ihrem Ehemann sexuell verfallen. Blanches affektiertes Verhalten und die Betonung ihrer vornehmen Herkunft wirken wie ein rotes Tuch auf Kowalski, der sie vernichten will. Unheil liegt in der Luft und die Katastrophe ist nicht mehr aufzuhalten ist.

»Unsere Wahrnehmung von Geschwindigkeit, Zeit, Mitmenschen.

Der Mensch ist ein Betrüger seiner selbst und betrügt auch die anderen. Die Wiedergewinnung der Langsamkeit.

Wenn wir unseren allzu hektischen und zerrissenen Alltag erfolgreich entschleunigen wollen, brauchen wir vor allem wieder mehr Mut zur Selbstbegegnung.

Ja, die Langsamkeit ist ein Phänomen, das wir meistens an anderen wahrnehmen, und zwar wenn wir in Eile sind. Sie ist also dynamisch und von unserer Wahrnehmung abhängig. Dadurch dass wir, zumindest heutzutage, nur die Langsamkeit der anderen wahrnehmen — und zwar als Last, als Ärgernis — merken wir selber nicht, wie schmerzlich wir sie vermissen. Denn jeder Langsamkeit geht ein Grundgefühl voraus, nämlich Zeit zu haben. Also frei über sie verfügen zu können.« Von Thomas Eblen, im KN am 22. Januar 2023, Re-upload am 09.03.2025 >> weiter.

Schildkroete_Langsamkeit_Entschleunigung_Gelassenheit_Gemaechlichkeit_Bedaechtigkeit_Behaebigkeit_Betulichkeit_Lebenserwartung_Langsamsein_Kritisches-Netzwerk


Gerhard Mersmann, Dr. phil., (Jahrgang 1956), gebürtiger Westfale, ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen.

Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Publizistische Aktivitäten durchziehen seine gesamte Biographie. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse sind auf seinem persönlichen Blog M7 regelmäßig nachzulesen. >> https://form-7.com/ .


► Quelle: Dieser Beitrag wurde am 05. März 2025 erstveröffentlicht auf https://form-7.com/ >> Artikel. Eigentümer, Herausgeber und für den Inhalt verantwortlich ist Gerhard Mersmann.

ACHTUNG: Die Bilder, Grafiken, Illustrationen und Karikaturen sind nicht Bestandteil der Originalveröffentlichung und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten folgende Kriterien oder Lizenzen, siehe weiter unten. Grünfärbung von Zitaten im Artikel und einige zusätzliche Verlinkungen wurden ebenfalls von H.S. als Anreicherung gesetzt, ebenso die Komposition der Haupt- und Unterüberschrift(en) geändert.

► Bild- und Grafikquellen:

1. JETZT: Auf gewisse Weise verweigern wir die erforderliche Akzeptanz des unerträglichen JETZT. Der Gedanke muss sein, im JETZT zu bleiben, sich umzublicken und im JETZT zu agieren. Foto: Michael_Luenen / Michael Bußmann, NRW. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.

2. Rastlosigkeit, Reizueberflutung, Ruhelosigkeit, unerträgliche Langeweile, Ungeduld, Unruhe, Überreizung, überreizte Gefühle. Foto: freepik (detaillierter Urhebername nicht benannt!). Quelle: freepik >> https://de.freepik.com/ . Freepik-Lizenz: Die Lizenz erlaubt es Ihnen, die als kostenlos markierten Inhalte für persönliche Projekte und auch den kommerziellen Gebrauch in digitalen oder gedruckten Medien zu nutzen. Erlaubt ist eine unbegrenzte Zahl von Nutzungen, unbefristet von überall auf der Welt. Modifizierungen und abgeleitete Werke sind erlaubt. Eine Namensnennung des Urhebers (Freepik) und der Quelle (Freepik.com) ist erforderlich. >> Foto.

3. Bahnreisende in einem Abteil: Die untere Mittelschicht ist auf Bus und Bahn angewiesen ist, um zur Arbeit zu gelangen. Sehr viele "kleine Leute" fährt täglich mit Bus und Bahn zu ihrem Niedriglohnjob. Dieser Sektor ist dort wie überall im Osten, nämlich ganz besonders groß. Foto: Engin_Akyurt / Engin Akyurt (user_id:3656355). Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.

4. Erleuchtung, auch Illumination, bezeichnet eine religiös-spirituelle Erfahrung, bei der jemand den Eindruck erhält, sein Alltagsbewusstsein sei überschritten worden und er habe eine besondere, dauerhafte Einsicht in eine – wie auch immer geartete – gesamtheitliche Wirklichkeit erlangt. Im heutigen allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter „Erleuchtung“ gewöhnlich eine plötzliche Erkenntnis oder Eingebung. Foto: FunkyFocus / David, Stuttgart. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.

5. Schildkröte: "Ich mache alles langsam, chille den ganzen Tag und lebe ~150 Jahre. Ich habe keine Zeit, mich zu beeilen." Foto ohne Textinlet: Alexas_Fotos / Alexa (user_id:686414). Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto. Der Text wurde von Helmut Schnug eingearbeitet.