Angela Merkels Brief an Recep Tayyip Erdoğan
Prima Panzer on the rocks
Durch einen Zufall geriet ein vertraulicher Brief von Kanzlerin Angela Merkel in die Hände der RATIONALGALERIE. Offenkundig ist die Botschaft das Gegenstück zu jenem Brief des Bundesaußenministers Sigmar Gabriel an türkischstämmige Bürger in Deutschland, den er in der BILD-Zeitung veröffentlichte. Gabriel hat seinen Brief "Sie gehören zu uns" überschrieben. Angela Merkel setzt über den ihren an den türkischen Staatspräsidenten die zarte Zeile „Du gehörst zu mir“. Auch wenn es ein Bruch des Briefgeheimnisses bedeutet, sieht es die RATIONALGALERIE doch als ihre staatsbürgerliche Pflicht an, das ungewöhnliche Dokument der Öffentlichkeit zu übergeben.
Du gehörst zu mir!
Lieber Erdi,
mach Dir keine Sorgen. Zwar sieht es in der deutschen Öffentlichkeit so aus, als ob wir uns über Deine Sicherheitsmaßnahmen heftig aufregen würden. Aber wegen so einem Bisschen Diktatur hat unsere Beziehung bisher nicht gelitten, und das sollte sie auch in Zukunft nicht. Mein Ziehvater, der unvergessene Helmut Kohl, hat in seiner Kanzlerzeit die Militärdiktatur der 80er Jahre in Eurem Land mit solidarischem Stillschweigen quittiert, und so sollten wir uns heute auch verhalten. Zumal Dein Kampf gegen den Terror in Deinem Land doch sogar von einer zivilen Regierung geführt wird.
Natürlich hat sich diese diplomatische Zurückhaltung damals ausgezahlt: Zu keiner Zeit wurde die NATO-Mitgliedschaft der Türkei infrage gestellt. Brav blieb die Türkei in all den Jahren Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft. Bis heute ist auf Euch Verlass: Im Afghanistankrieg seid Ihr tapfer dabei und Eure Unterstützung der Rebellen in Syrien bleibt unvergessen. Auch im Kampf gegen das internationale Flüchtlingsunwesen seid ihr vorbildlich: Energisch ist Eure Marine in der Ägäis an der Front beim Aufklärungseinsatz, den die NATO-Verteidigungsminister jüngst beschlossen haben.
Jetzt schlagen die Medien-Wellen hoch, weil meine Regierung angeblich geplante und bereits bestehende Rüstungsprojekte mit der Türkei vorläufig auf Eis gelegt hätte. Ja, glaubst Du denn, das ließen die Leute von Rheinmetall mit sich machen? Da ist doch noch der milliardenschwere Auftrag über das Schutzsystem für die Leopard-Panzer in der Pipeline, von denen Ihr Hunderte bei uns gekauft habt. Da wollen wir nicht wortbrüchig werden. Und die 54 Waffenlieferungen im Wert von rund 21,8 Millionen Euro, die wir in diesem Jahr längst genehmigt haben, sind der Beweis: Wir lassen einen NATO-Bruder doch nicht hängen.
Und wenn Deine Regierung schnell grünes Licht für die Kooperation zwischen Eurem staatlichen Rüstungsunternehmen MKEK (Makina ve Kimya Endüstrisi Kurumu) und unserer Rheinmetall AG gibt, dann mangelt es Euch nie mehr an Munition und auch diese bürokratischen Exportgenehmigungen fallen weg: Wir produzieren das Zeug einfach direkt bei Euch. Dass wir Euren neuen Kampfpanzer „Altay“ mit deutschen Dieselmotoren von MTU aus Friedrichshafen ausrüsten, versteht sich ebenso wie die Lieferung der guten Rheinmetall 120-mm-Glattrohrkanone (kurz Rh120) für Euer Projekt.
Sieh mal Erdi,
der Gabriel hat in seinem Brief geschrieben: „Die Freundschaft zwischen Deutschen und Türken ist ein großer Schatz.“ Und gesagt hat er auch: Die Türkei „verlässt den Boden europäischer Werte“. Das muss man nur richtig verstehen. Zum einen ist Wahlkampf. Zum anderen geht es bei den Waffen-Lieferungen ja wirklich um echte Werte. Und dass Du mein Schatz bist, habe ich ja wohl schon in der ärgerlichen Böhmermann-Gedicht-Affäre bewiesen: Da war mir Deine Ehre allemal wertvoller als die deutsche Meinungsfreiheit.
Lieber Erdi,
nicht nur Du hast eine Ehre, ich habe schließlich auch eine. Hatte ich doch mal geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Ja, sind denn die Bundesbürgschaften für diverse Türkei-Geschäfte vergessen? Allein im letzten Halbjahr haben wir Garantien von 680 Millionen Euro zugesagt. Sollen die jetzt etwa platzen? Der Schaden für die deutsche Wirtschaft wäre erheblich. Das wende ich ab!
Mir wäre allerdings sehr lieb, wenn Du mit diesen Nazi-Beschimpfungen aufhören könntest. Darüber regen sich bei uns alle auf. Über Deine Foltergefängnisse und Deine Kurden-Morde kann man hinwegsehen. Aber wenn Du, ausgerechnet im Wahlkampf, wieder das Nazi-Wort benutzen würdest, muss ich vielleicht eine echte Reisewarnung aussprechen. Wenn es so weiter geht, könnte ich mal selbst nach Antalya reisen. Oder mir, wie im letzten Jahr, in Eurem Flüchtlingslager an der syrischen Grenze Blümchen schenken lassen.
Lieber Erdi,
so lange Du in der NATO bleibst, ist unsere Freundschaft ungetrübt. Und die Rüstungsprojekte, die wir auf Eis gelegt haben sollen, die musst Du Dir einfach on the rocks vorstellen.
Prost, Deine Angela
► Quelle: erstveröffentlicht bei RATIONALGALERIE > Artikel vom 24.07.2017
► Bild- und Grafikquellen:
1. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan beim World Humanitarian Summit, Istanbul, May 2016. Foto: OCHA / Salih Zeki Fazlıoğlu. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-ND 2.0).
2. Protestaktion gegen die Rheinmetall AG und Waffendeals mit der Türkei, Mai 2017: KEINE PANZER FÜR ERDOGAN! Foto: Jakob Huber / Campact - https://www.campact.de/. Campact ist eine Bürgerbewegung, mit der 1,9 Millionen Menschen für progressive Politik streiten. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0).
3. Buchcover: "Der Fall Erdoğan - Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft" von Sevim Dağdelen, mit einem Vorwort von Can Dündar; erschienen am 17.10.2016; Seitenzahl: 224 ISBN: 978-3-86489-156-4; Preis: 18,00 €; auch als E-Book und AudioCD lieferbar.
Die verlorenen Menschenrechte am Bosporus – wie lange schauen Deutschland und die EU noch zu?
Nach dem Scheitern des gegen ihn gerichteten Militärputsches ist der türkische Präsident Erdoğan dabei, das NATO-Mitgliedsland Türkei systematisch in einen islamistischen Unterdrückungsstaat umzubauen. Rigoros geht er gegen Andersdenkende vor. Zehntausende Menschen wurden aus dem Staatsdienst entlassen, Massenverhaftungen sind an der Tagesordnung. Im Südosten dauert der Krieg gegen die Kurden an, in Syrien werden islamistische Terrorgruppen unterstützt. Warum hält Bundeskanzlerin Merkel weiter zu dem antidemokratischen Staatschef? Welchen Preis hat der EU-Türkei-Deal in Sachen Flüchtlingspolitik? Sevim Dağdelen beleuchtet die Machtverhältnisse am Bosporus und zeigt politische Alternativen zum unterwürfigen Umgang der Bundesregierung mit der Türkei auf.
Sevim Dağdelen ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Die Politikerin ist Sprecherin für Internationale Beziehungen sowie Beauftragte für Migration und Integration der Fraktion DIE LINKE. Die gebürtige Duisburgerin ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und stellvertretendes Mitglied im Innenausschuss des Bundestages. Sevim Dağdelen besucht regelmäßig die Türkei und den Nahen Osten und setzt sich seit Jahren aktiv für die Rechte von Minderheiten und für verfolgte Journalisten, Künstler, Gewerkschafter und Oppositionelle ein. Als Außenexpertin und Türkei-Kennerin ist sie gefragter Gast in TV und Hörfunk.
4. Protestaktion von campact: KEINE PANZER FÜR ERDOGAN! Foto: Jakob Huber / Campact - https://www.campact.de/. Campact ist eine Bürgerbewegung, mit der 1,9 Millionen Menschen für progressive Politik streiten. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0).