Wie ich lernte Putin zu schätzen
Die Geschichte einer Zwangs-Beziehung
Persönliche Storys über Russland kommen nicht ohne Zwang aus: Wo man auch hinliest: Repression von Moskau bis Wladiwostok und zurück. So ist es auch mir gegangen, nur irgendwie anders. Begonnen hatte die Beziehung zwischen Wladimir Wladimirowitsch Putin und mir erst mal mit Wegsehen. Fotos des russischen Präsidenten waren nicht nach meinem Geschmack: Der nackte Oberkörper des Chefs aller Russen erinnerte mich an Arnold Schwarzenegger, und den konnte ich noch nie leiden. Putins Fotos zu Pferd, im Tarnanzug und mit einem Präzisionsgewehr in der Armbeuge oder jenes mit einem sibirischen Tiger zu Füßen schrieen geradezu Macho! Macho! – Und Machismo, Männlichkeitswahn ist so was von out! Also, das konnte nichts werden, mit mir und Putin. Musste es ja auch nicht.
Doch dann fing es langsam an mir aus den Ohren zu hängen: Putin war auf allen Kanälen zu finden und immer war er schuld. Es gab Tage, da glaubte ich, das schlechte Wetter sei auch von ihm gemacht und meinte seinen Namen im Wetterbericht zu hören: Kaltwetter-Front! Kennt man doch: Sibirien und Front! So denken die in Moskau, und nur so.
Älter werden hat viele Nachteile. Ein Vorteil, wenn einen die Demenz nicht erwischt, ist unbestreitbar eine große Portion von gelebter Erfahrung. Mit den Jahren habe ich eine Reihe von öffentlich erklärten Bösewichtern erlebt. Hồ Chí Minh war so einer, der Chef des Vietcong. Den mochten die USA aber gar nicht. Fidel Castro war auch so einer. Den mochten der USA überhaupt nicht. Nelson Mandela, den führten die USA noch bis ins Jahr 2008 auf ihrer Terror-Liste, der war bis zu seiner Heiligsprechung nach US-Maßstäben lange ein Schurke. Aber ich konnte die drei total gut leiden. Nicht zuletzt weil sie Feinde der USA waren. Aber nur weil einer von den USA zum Feind gemacht wird, wie Putin seit er den Jelzin-Verschleuderungskurs gestoppt hat, muss ich ich den jetzt gut finden? Niemals! So simpel bin ich nicht gestrickt!
Aber die Putin-Geschichten rückten mir zunehmend auf den Pelz. Er kam in den öffentlichen deutschen Verdacht, die Krim erobert zu haben. Und wenn man der Mehrheit der deutschen Kommentatoren glaubte, dann war die Krim nur ein Sprungbrett für Putin, um erst die Ukraine, dann das Baltikum und danach über Polen marschierend auch uns Deutsche zu unterjochen. Bei diesem Szenario meldete sich wieder mein Alter: Das kannte ich doch alles. Von den 50er Jahren bis zu den 90ern war die Sowjetunion, glaubte man der veröffentlichten Meinung, immer auf dem Sprung das ganze Deutschland zu erobern, einen Teil hatte sie ja schon eingesackt. Und Russland ist ja gewissermaßen ein Nachfolgestaat der Sowjetunion. Aber die Sowjets sind nie gekommen. Obwohl auch ich mich als Bundeswehrsoldat mit Atomraketen, der guten alten „Honest John“ aus dem Korea-Krieg, bewaffnet, heftig auf den russischen Überfall vorbereitet hatte. Ob es an meiner tapferen Bereitschaft lag, dass die Russen einfach nicht kamen? Immerhin schossen unseres Raketen 45 Kilometer weit. Da hätten wir von unserem Standort aus glatt Hannover atomar verseuchen können. Aber danach, danach wäre sofort Moskau dran gewesen, bestimmt!
Also habe ich, von Ängsten gejagt, den Fall der Krim genauer untersucht und fand dort keine richtige Unterjochung. Eher eine freudige Rückkehr der Krim-Merhheits-Bevölkerung nach Russland. Auch ist die Krimkrise jetzt gut zwei Jahre her und Putin ist immer noch nicht in einen der baltischen Staaten einmarschiert. Obwohl das, glaubte man den atlantischen Kommentatoren, eigentlich längst hätte geschehen müssen. Aber vielleicht ist das ja der tapferen Bereitschaft der Kameraden des Taktischen Luftwaffengeschwaders 33 (TaktLwG 33) in Büchel bei Cochem zu verdanken, die dort seit Ende der 60er Jahre gemeinsam mit den Amerikanern jederzeit die dort gelagerten B61-Atombomben in ihre Jagdbomber laden und umgehend die Russen atomar vernichten könnten. Beim Nachdenken fällt mir allerdings auf: In den 60er Jahren war Putin doch noch gar nicht Kreml-Chef. Seltsam.
Wahrscheinlich hat der Putin einfach keine Zeit für einen europäischen Überfall, weil er gerade die Syrer überfallen muss. Das könnte man nach dem Konsum deutscher Medien vermuten. Zwar hat der syrische Krieg bereits im Jahr 2011 begonnen, und die Russen wurden erst im September 2015 von der syrischen Regierung gebeten, in die Kämpfe einzugreifen. Aber ist man den täglichen Nachrichten ausgesetzt und glaubt an sie, dann haben die Russen den syrischen Krieg irgendwie angefangen. Weil in diesem Krieg alles Leid der Erde zusammenkommt, weil die Nachrichten kaum auszuhalten sind und weil die atomaren Mächte USA und Russland dort jederzeit auch unmittelbar aufeinander treffen können, habe ich mir auch diesen Fall angesehen. Und fange, wie ein gründlicher Betrachter das macht, einfach mit ein paar Fragen an.
Hätten die Russen den Wunsch der syrischen Regierung ablehnen sollen? Dann wäre die Allianz der islamo-hysterischen Kräfte rund um die US-Freunde Katar und Saudi-Arabien schon längst Sieger im syrischen Krieg geworden. Könnten die Russen nicht jetzt, wo das Morden täglich schlimmer wird, einfach Schluß machen und ihr Militär nach Hause holen? Dann wäre der Krieg keineswegs zu Ende, es begönne erst das ganz große Massaker der Scharia-Freunde an den Andersgläubigen, die Erdoğan-Türkei würde sich „ihren“ Teil Syriens aneignen und Kurden umbringen, die Atom-Macht Israel würde sich einen anderen Teil Syriens nehmen und widerständige Syrer erledigen, die USA würden, vorgeblich im Kampf gegen den IS, als „Friedensmacht“ in Syrien auftreten, kurz: Wir hätten in Syrien schlimmere Verhältnisse als jene nach dem libyschen Krieg. Der hatte ja auch mit einem Sieg-Frieden der westlichen Allianz begonnen. Ein Frieden, der am 31. Oktober 2011 verkündet wurde und bis heute blutig andauert.
Je mehr Fragen ich stelle, desto mehr Antworten schreiben dem Putin die Rolle eines Retters jener Syrer zu, die zu ihrem alten, laizistischen Leben zurückkehren wollen. So ist es mit Putin und mir. Freunde für´s Leben werden wir kaum werden. Aber alte Feinde von mir, die USA und ihre Verbündeten, zwingen mich geradezu, ihn zu schätzen. Aus humanitären Gründen. Schon höre ich das Hohngelächter aus den deutschen Redaktionen von der Deutschen Welle über die ARD bis hin zum FAZ-TAZ-Verbund: Der macht es doch nur aus eigenem Interesse, der Putin, der will seinen Militärstützpunkt behalten, der will sein Erdgas verkaufen und die Konkurrenz aus Katar vom Markt fernhalten. Was gehen mich die Gründe von Putin an? Soll er doch seinen ausländischen Militärstützpunkt behalten, gegenüber den mehr als 700 der USA. Soll er doch die Konkurrenz mit den Kataris gewinnen, deren Pro-Kopf-Einkommen bei 128.530 KKP-Dollar liegt, das könnte wirklich reichen.
Mir reicht ein Krieg, der von den Freunden der USA begonnen wurde und der hoffentlich mit der Hilfe Russlands bald beendet wird. Dieses Ziel zwingt mich Wladimir Wladimirowitsch Putin zu schätzen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ulrich Gellermann, Berlin
► Quelle: RATIONALGALERIE > Artikel vom 20.10.2016.
► Bild- und Grafikquellen:
1. Wladimir Putin. Offizielles Pressefoto: Kremin.ru - http://en.kremlin.ru/. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“.
2. Putin ist ein ausgezeichneter Sportler in vielen Disziplinen. Offizielles Pressefoto: Kremin.ru - http://en.kremlin.ru/. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“.
3. Wladimir Putin am Schreibtisch. Offizielles Pressefoto: Kremin.ru - http://en.kremlin.ru/. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“.