Scheiß-Kolonialismus! Gegen revisionistische Verharmlosungen deutscher Gewaltgeschichte

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Scheiß-Kolonialismus! Gegen revisionistische Verharmlosungen deutscher Gewaltgeschichte
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Scheiß-Kolonialismus!

Gegen revisionistische Verharmlosungen deutscher Gewaltgeschichte

von Henning Melber

Helen Zille ist die Großnichte des Berliner Malers Heinrich Zille. Sie ist die ehemalige Parteivorsitzende und eine populäre Oppositionspolitikerin der südafrikanischen Democratic Alliance (DA). Vor einigen Monaten bekam sie ihr Fett ab. Auf dem Rückweg von Singapur setzte sie im März 2017 noch vor Flugantritt beeindruckt von den dortigen Errungenschaften einen tweet ab. Darin stellte sie kategorisch fest, nicht alles am Kolonialismus sei schlecht gewesen.

Bis sie in Südafrika landete, war der shitstorm in vollem Gange. Immerhin haben Generationen von Schwarzen unter einem System der menschenverachtenden Apartheid hautnah erfahren, was eine rassistische Fremdherrschaft an Entwürdigung, Ausbeutung und Unterdrückung für die rechtlose kolonisierte Mehrheit bedeutet. Doch Zille zeigte wenig Einsicht.

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Immerhin, so beharrte die frühere Bürgermeisterin Kapstadts und heutige Premierministerin der Westlichen Kapprovinz, habe der Kolonialismus Infrastruktur geschaffen, Straßen und Schulen gebaut, ein Gesundheitssystem eingeführt und damit den Lebensstandard gehoben.

Zu ihrer Verteidigung führte sie auch an, dass sie als einstige Kritikerin der Apartheid kaum im Verdacht stünde Unrecht zu relativieren.

Ihre Uneinsichtigkeit hatte einen Preis. Nach wochenlangem Tauziehen initiierte die DA ein Disziplinarverfahren.

Zille wurde im Juni aus allen Führungsgremien der Partei wegen parteischädigenden Verhaltens ausgeschlossen. Schließlich hatte die DA während der Kommunalwahlen 2016 erste nennenswerte Unterstützung unter der wachsenden Wählerschaft einer städtischen schwarzen Mittelschicht erhalten, deren Unzufriedenheit über die Macht- und Geldgier unter der ANC-Führung dazu führte, sich politisch neu zu orientieren.

Zilles Erfahrung könnte ein Lehrstück dafür sein, wie die Sicht von unterschiedlich Betroffenen sich fundamental unterscheidet.

Nachfahren von Tätern glauben sich mitunter erlauben zu können, die verinnerlichten Empfindsamkeiten von Opfergenerationen und deren Nachfahren zu verharmlosen, indem sie diese eines vermeintlich Besseren belehren. Dass dies auf eine Relativierung von Gewaltgeschichte hinaus läuft und damit tendenziell die Wurzeln eigener Privilegien negiert, mag ihnen noch nicht einmal bewusst sein.

Daran, dass es fundamental falsch und verwerflich ist, ändert es aber Nichts.

► Koloniale deutsche Gewaltgeschichte

In Deutschland ist in den letzten Jahren die koloniale Vergangenheit stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Großen Anteil daran hatten die seit der Jahrhundertwende deutlich intensiver werdenden Bemühungen von Afrodeutschen und von postkolonialen Initiativen, die meist in lokalen Bezügen jeweils vor Ort (wie z.B. in Münster, Hamburg, Freiburg, Berlin, Heidelberg, Potsdam, München aber auch andernorts) an die koloniale Hypothek und die rassistisch aufgeladenen Verbindungslinien erinnern. Vieles im deutschen Alltag erinnert noch immer an die Kolonialgeschichte auch hierzulande, wenngleich diese nur selten bewusst gemacht wird. Doch das vielzitierte Diktum von William Faulkner (aus dem Theaterstück "Requiem für eine Nonne") gilt auch in diesem Fall: "Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen".

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Diejenigen, die sich seit Jahrzehnten um die bewusste Bearbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit bemühen, konnten mittlerweile einen teilweisen Erfolg feiern. Neben anderen Faktoren hatte ihre Beharrlichkeit dazu beigetragen, dass sich zur Jahresmitte 2015 die Bundesregierung durch das Auswärtige Amt zu einem besonders dunklen Kapitel der überseeischen deutschen Gewaltgeschichte bekannte. Unter wachsendem Druck auch etablierter Medien wurde endlich eingeräumt, dass der Krieg gegen die Ovaherero und Nama im damaligen "Deutsch Südwestafrika" (dem heutigen Namibia) zwischen 1904 und 1908 ein Völkermord war. Seither verhandeln Sonderbeauftragte der deutschen und namibischen Regierung um eine angemessene Konsequenz aus diesem Tatbestand.

Dass es in den anderen deutschen Kolonien - insbesondere dem damaligen "Deutsch-Ostafrika" mit einer Politik der verbrannten Erde zur Niederschlagung des Maji-Maji-Widerstandes - ähnlich gelagerte Fälle von Kriegsverbrechen gegeben hat, mag diesen Verhandlungen besondere Brisanz verleihen. Auch werden die seitherigen Diskussionen in Deutschland im europäischen Ausland mit großem Interesse verfolgt. Immerhin haben diese den potenziellen Charakter eines Präzedenzfalles, was den Umgang mit kolonialen Gräueln betrifft. In London, Paris, Brüssel, Lissabon, Den Haag, Rom, Madrid und andernorts kommt dies der eigenen Kolonialvergangenheit bedrohlich nahe. Es darf vermutet werden, dass dies wohl auch schon Thema der EU-Außenminister gewesen ist. Und auch in den ehemaligen Siedlerkolonien von Australien, Kanada und den USA wird es gewiss nicht unbeachtet bleiben, was bei den deutsch-namibischen Verhandlungen letztlich heraus kommt.

► Deutsch-namibische Feilschereien

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Die Bundesregierung begründet dies damit, dass es einzig der namibischen Seite überlassen bleibt, wer aus Namibia mit ihr verhandelt. Sie glaubt damit fein aus dem Schneider zu sein. Doch die Weigerung, sich anderweitig mit diesen Gruppen auseinander zu setzen, straft sie Lügen. Initiativen der Ovaherero und Nama, den Völkermord zum Gegenstand eines Gerichtsverfahrens zu machen, scheiterten bislang. Anfang 2017 hatten sie eine Entschädigungsklage gemäß eines US-amerikanischen Gesetzes bei einem Gericht in New York eingereicht. Doch die Anhörung musste bereits zwei Mal verschoben werden, weil die deutsche Seite die Annahme der Klageschrift verweigerte und den Terminen fern blieb.

Für den 13. Oktober wurde die Anhörung ein weiteres Mal anberaumt. Es bedarf keiner prophetischen Gabe vorher zu sagen, dass auch dann die deutsche Seite nicht anwesend sein wird.

Doch auch die offiziellen deutsch-namibischen Gesprächsrunden verlaufen keinesfalls so harmonisch, wie es die Stellungnahmen des deutschen Sonderbeauftragten und früheren CDU-Politikers Ruprecht Polenz vorgaukeln. Zum einen war die zeitliche Maßgabe bei Verhandlungsbeginn, eine gütliche Einigung möglichst noch in der Ära des Bundespräsidenten Gauck zu finden, der dann zu einer offiziellen Entschuldigungsgeste nach Namibia reisen könnte, ein Ärgernis. Schließlich steht es der deutschen Regierung nicht zu, der namibischen Seite vorzuschreiben, wie lange etwas zu dauern habe, das sich halbwegs adäquat um begangenes Unrecht in Namibia kümmern soll.

Auch der Ausgangspunkt, nach Eingeständnis eines Völkermords eine Entschuldigung dafür zum Verhandlungsgegenstand zu erklären, hat eine paternalistische Anmaßung, die verblüfft. Dahinter verbirgt sich immer noch die schon vor fast 15 Jahren ausgegebene Handlungsmaxime des damaligen grünen Außenministers Joseph (Joschka) Fischer, dass es "keine entschädigungsrelevante Entschuldigung" geben dürfe. So bekräftigte Polenz Ende Juli 2017 in einem Interview mit der Deutschen Welle, dass es keine finanziellen Entschädigungsleistungen für den Völkermord geben wird. Er betonte, dass sich "Erwartungen auf ein realistisches Maß konzentrieren ... und nicht unrealistisch die Verhandlungen belasten" sollen.

Stattdessen ist von "Wiedergutmachungen", wie der Einrichtung einer deutsch-namibischen Zukunftsstiftung, die Rede, die Projekte zum Gedenken an den Völkermord fördern soll. Dazu käme eine Erweiterung der entwicklungspolitischen Zuwendungen. Schon seit mehr als 20 Jahren verkündet die Bundesregierung gebetsmühlenhaft eifrig, dass Namibia pro Kopf der Bevölkerung die höchsten Entwicklungsgelder in Afrika erhält (was bei 2,3 Millionen Einwohner*innen nicht unbedingt darauf schließen lässt, dass es sich dabei um gigantische Summen handelt).

Laut Polenz betrachtet die Bundesregierung die ganze Angelegenheit "nicht als eine Rechtsfrage - und ‚'Entschädigungen' ist ein Rechtsbegriff - sondern als eine politisch-moralische Frage. Das ist nicht weniger, sondern etwas anderes." Dass politische Moral auch zu Entschädigungsleistungen als Folge eines Schuldeingeständnisses führen könnte, wird damit ausgeschlossen. - Nicht verwunderlich angesichts der Forderungen von Nachkommen der Opfer des Nazi-Terrors in Italien, Polen und Griechenland, die ebenfalls weiterhin zurückgewiesen werden. Polenz spricht deshalb lieber von der moralischen Verpflichtung, Wunden zu heilen.

Das sieht der namibische Sonderbeauftragte Zed Ngavirue etwas anders. Er erklärt im Interview mit der Deutschen Welle Ende Juli 2017: "Beim Ausdruck ‚'Die Wunden heilen' schwingt vielleicht mit, dass Deutschland glauben könnte, dass dies durch das Rezept eines Arztes in Berlin geschehen könnte. Aber aus unserer Sicht kann die Frage von Entschädigungen nicht allein durch das Rezept eines Arztes in Berlin entschieden werden."

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Deutschland hatte Ende Juni 2017 der namibischen Seite ihre aktuellen Vorstellungen in einem Grundsatzpapier übermittelt, über dessen Inhalt Vertraulichkeit vereinbart wurde. Doch schon vorab zu Mitte Juni brach der deutsche Botschafter in Namibia diese Abmachung - bezeichnenderweise in einer Ansprache zur Jahreshauptversammlung des deutschen Schulvereins in Windhoek. Den Deutschsprachigen im Lande wurde so ein Privileg zuteil, das aus Sicht der namibischen Regierung als Vertrauensbruch gewertet werden muss.

Mindestens so aufschlussreich wie dieser gänzlich undiplomatische faux pas sind die Kernpunkte dessen, was Botschafter Christian-Matthias Schlaga den Anwesenden übermittelte. So würde aus deutscher Sicht die Suche nach einer gemeinsamen Sprache über "die Art und Weise der Nutzung des Begriffes ‚Völkermord" im Mittelpunkt stehen. Deutschland wäre bereit, "sich für die ... in deutschem Namen verübten Verbrechen zu entschuldigen". Wichtig wäre dabei allerdings, "dass diese Entschuldigung von Namibia als Schlusspunkt der politisch-moralischen Diskussion akzeptiert wird". Das Ziel sei, "dass die Geschichte nicht länger als ‚dunkle Wolke' über allen Bemühungen hängt".

► Die "dunkle Wolke" Kolonialismus

Der anhaltende Eiertanz der deutschen Verhandlungsseite findet ihr Pendant in wachsenden Gegentendenzen innerhalb der deutschen Öffentlichkeit, den Terraingewinn der postkolonialen Initiativen rückgängig zu machen. Kolonialapologetische Verharmlosungen feiern seit dem offiziellen Eingeständnis eines Völkermords fröhliche Urstände.

Gleich unmittelbar danach räumte der "SPIEGEL" dem bislang eher kolonialkritischen Journalisten Bartholomäus Grill sechs Heftseiten ein, um ihm im Gespräch mit einem in Namibia ansässigen deutschen Farmer und prominenten Leugner des Völkermords ein Forum zu bieten. Grills Ausgangsfrage war dabei, ob es den Völkermord "überhaupt gegeben habe". Seither werden hartnäckig ernstgemeinte Versuche zum Umgang mit dieser Gewaltgeschichte immer wieder diskreditiert und der deutsche Kolonialismus, wie schon früher, in verharmlosender Weise abgetan.

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Aktuelles Beispiel ist der 2017 erschienene Sammelband "Die Deutschen und ihre Kolonien". Darin wird die deutsche Kolonialherrschaft als "Abenteuer" oder "Episode" verniedlicht. [sic!, H.S.]

Auch wird - laut einer erstaunlich positiv zustimmenden Besprechung in der ansonsten eher kritisch-linken Monatszeitschrift "WeltTrends" - öfters darauf hingewiesen, "dass die Deutschen ihre spezielle Einstellung zur Arbeit, die mehr als Lebenssinn denn Lebensunterhalt stiftendes Element gedacht wird, auf die Einheimischen übertragen wollten". - Am deutschen Wesen...

In diese Trendwende gehört auch, dass die maßgeblich von postkolonialen Initiativen vorgetragenen Forderungen nach Namensumbenennung von Straßen in zahlreichen deutschen Städten, die noch immer koloniale Sendboten ehren, attackiert werden.

Für den Journalisten Alan Posener, der regelmäßig in der "Welt" zu Wort kommt, "war nicht alles schlecht am Kolonialismus". Für ihn ist Helen Zille "ein bewundernswerter Mensch", die "Opfer der Ideologie des Antiimperialismus" wurde. Posener wirft den Postcolonial Studies (PCS) vor, die Vergangenheit "durchaus rassistisch" zu kolonisieren: "Jeder Hinweis auf Leistungen der Weißen wird getilgt. Straßennamen werden geändert, Standbilder niedergerissen, Autoren verworfen, Professoren terrorisiert. Eine Art Neusprech wird eingeführt, um die Menschen daran zu hindern, anders zu denken, als es die PCS-Meisterdenker wollen".

Der Gralshüter des europäischen Zivilisationsgedankens bezichtigt diejenigen, die den deutschen Kolonialismus als eine tendenzielle Vorstufe zur Ideologie und Praxis der Nazi-Diktatur verstehen des unterschwelligen Antisemitismus. Ihm zufolge dient der Hinweis auf tendenzielle Verbindungslinien zwischen dem Völkermord in Namibia und dem Holocaust einer Leugnung der Singularität der Shoa. - Als ob für die Ovaherero und Nama der an diesen begangene Völkermord kein singuläres Ereignis gewesen sei.

Er attackiert auch die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die sich im Juli 2017 aus der Expertenkommission des Humboldt Forums mit einer deutlichen Erklärung verabschiedete. Um den Ort, an dem die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlins Mitte im neu her gerichteten Stadtschloss die ethnographischen Sammlungen vergangener Jahrhunderte als Dokument der Weltkulturen integrieren möchte, ist seither ein fundamentaler Streit entstanden, der auch mit der bislang eher mangelnden Provenienzforschung (also der Suche nach der Herkunft und Art des Erwerbs von Kulturgegenständen) zu tun hat. Posener findet es hingegen wichtiger zu fragen, "ob die Europäer viele Gegenstände nicht eher gerettet als geraubt haben".

► Der Streit um das Humboldt Forum

Savoy jedoch kritisiert die unzureichende Provenienzaufklärung. In einem Interview in der "Süddeutschen Zeitung" erklärte sie unter anderem, die Sammeltätigkeit unter dem Label Humboldt "mit all den Schweinereien und Hoffnungen, die damit verbunden sind" seien wir, "das ist Europa". Das würde wie Atommüll unter einer Bleidecke begraben, "damit bloß keine Strahlung nach Außen dringt. Das Humboldt-Forum ist wie Tschernobyl." Dieser breit publizierte Frontalangriff wird auch von dem Aktionsbündnis "No Humboldt 21" unterstützt, dem 88 migrationsgesellschaftliche Organisationen angehören.

henning_melber_der_weissheit_letzter_schluss_rassismus_kolonialer_blick_namibia_kritisches_netzwerk_kolonialgeschichte_kolonialherrschaft_kolonialismus_kolonialpolitik_kolonisation.jpgDie Reaktionen auf solche Kritik, deren Zusammenhang mit dem Völkermord in Namibia offenkundig ist, sind aufschlussreich. Schließlich geht es auch hier ans Eingemachte einer bislang halbwegs unangetasteten deutschen Erinnerungskultur und deren geschichtlichen Räume, was die vermeintlich "guten alten Zeiten" vor dem Nazi-Regime betrifft.

So fordert ein Meinungsartikel in der Welt "Glamour und Magie statt freudloser und hyperkorrekter Kolonialismus-Debatten" und moniert: "Alles wird auf einmal grundsätzlich diskutiert - aber eben nur ja nicht ästhetisch."

Die Frage, "ob nun nicht endlich, endlich eine Debatte darüber beginnen müsse, inwieweit die Niederschlagung des sogenannten Hereroaufstands Völkermord war", möge zwar seine Berechtigung haben, "führt aber vom eigentlich Wichtigen völlig weg". Es ginge doch "um Schätze", um "Pracht und Herrlichkeit". Deren Zurschaustellung in einem kapitalen "Bau aus der Blüte des Barock", der "gewissermaßen diese geschundene Stadt wieder ganz macht, müsste eigentlich Anlass höchsten Jubels sein". Der zentrale Gedächtnisort biete die Chance, "das Einssein von nationaler Zugehörigkeit und Weltbürgertum in einem großen Fest der Brüderlichkeit zu zelebrieren".

Solch Perspektive erfordert eine beachtliche Verdrängungsleistung. So relativierte Mit-Gründungsintendant Horst Bredenkamp laut einem Bericht der Deutschen Welle die harsche Kritik von Savoy mit dem Hinweis, die Berliner "Sammlungsgeschichte" von 460 Jahren umfasse "nur" 34 Jahre deutscher Kolonialherrschaft. "Es ist ein Spiel, die Kolonialzeit in den Mittelpunkt zu stellen", erklärte er in einem Rundfunkinterview. Demgegenüber gestand Ko-Intendant Hermann Parzinger ein: "Natürlich ist es kein Spiel, sich mit der Kolonialzeit zu beschäftigen."

henning_melber_reinhart_koessler_voelkermord_und_was_dann_namibischer_vergangenheitsbearbeitung_namibia_kolonialismus_kritisches_netzwerk_massenvernichtung_schutzgebiet_dekolonisierung.jpgHingegen kritisiert Parzinger in einem Artikel der September-Ausgabe der Zeitschrift "Cicero" die postkoloniale Kritik als "wohlfeile Selbstprofilierung". Sie würde "die pauschale - und im Übrigen historisch unzutreffende und unwissenschaftliche - Aburteilung jeglicher völkerkundlicher Sammlung als in ihrer Gesamtheit unrechtmäßig" betreiben. Die Einsicht, "dass Handlungsbedarf besteht", sei "in den letzten Jahren enorm gewachsen". Aber "es ist wohlfeil, diese Anstrengungen jetzt mit dem Verweis auf Versäumnisse in der Vergangenheit zu diskreditieren". Ein "postkolonialer Institutionenhass, der sich derzeit gerne auf Völkerkundemuseen kapriziert" helfe nicht weiter.

So halten sich weiterhin Legitimierungsversuche einer Geschichte von Unterwerfung, Massengewalt und Raub als elementare und integrale Elemente einer deutschen Kultur, die sich durch die Exponate einer Kolonialgeschichte sogar noch als weltoffen darzustellen bemüht. Zumindest ein erklärtes Ziel haben die Gründungsintendanten jedenfalls schon vor der 2019 geplanten Eröffnung des Forums erreicht, das sie in einer gemeinsamen Stellungnahme zur Austrittserklärung Savoys formulierten: "um die Welt neu in ihrer Gesamtheit denken und erforschen zu können, ... werden auch im Humboldt Forum die Widersprüche der Formgebung, der Konflikt zwischen Innen und Außen, neue Denkprozesse und Debatten anregen". - Nur dass dabei vieles dieser Prozesse keinesfalls neu ist, sondern die verharmlosende Kolonialapologie der Vergangenheit wiederkäut.

Die Expansion Europas auf den Rest der Welt bleibt dessen ungeachtet in all seinen Auswirkungen auf die Menschen dort und auf das verinnerlichte Gefühl des Herrenmenschentums, das sich nicht nur im Rassismus einer AfD manifestiert, ein Scheiß-Kolonialismus.

Henning Melber
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Henning Melber ist Direktor emeritus der Dag Hammarskjöld Stiftung in Uppsala, Professor an den südafrikanischen Universitäten in Pretoria und Bloemfontein und derzeit auch in Kapstadt. Er kam als jugendlicher Sohn deutscher Einwanderer nach Namibia, wo er 1974 der Befreiungsbewegung SWAPO beitrat. Er ist u.a. Verfasser von "Der Weißheit letzter Schluss. Rassismus und kolonialer Blick" (Frankfurt/Main 1992), Herausgeber von "Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart" (Frankfurt/Main 2005) und Ko-Autor (gemeinsam mit Reinhart Kößler) von "Völkermord - und was dann? Die Politik deutsch-namibischer Vergangenheitsbearbeitung" (Frankfurt/Main 2017).


 
Quelle: Erstveröffentlicht auf graswurzel.net im Verlag Graswurzelrevolution, >> Oktober 2017 >> GWR-Ausgabe 422 >> Artikel. Bei Interesse bitte GWR unterstützen - weiter. Alle hier gezeigten Bilder und Grafiken sind NICHT Bestandteil des Originalartikels sondern wurden durch den KN-ADMIN Helmut Schnug eingearbeitet.

graswurzelrevolution

1. Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft

2. tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, in der durch Macht von unten alle Formen von Gewalt und Herrschaft abgeschaft werden sollen.

anarchismus_schwarze_fahne_anarchy_authority_herrschaft_hierarchie_freiheit_selbstbestimmung_revolution_kritisches_netzwerk_widerstand_staatsgewalt_resistance_pluralismus_anarchie.pngWas bedeutet Graswurzelrevolution?

Graswurzelrevolution bezeichnet eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, in der durch Macht von unten alle Formen von Gewalt und Herrschaft abgeschafft werden sollen. Wir kämpfen für eine Welt, in der die Menschen nicht länger wegen ihres Geschlechtes oder ihrer geschlechtlichen Orientierung, ihrer Sprache, Herkunft, Überzeugung, wegen einer Behinderung, aufgrund rassistischer oder antisemitischer Vorurteile diskriminiert und benachteiligt werden.

Wir streben an, daß Hierarchie und Kapitalismus durch eine selbstorganisierte, sozialistische Wirtschaftsordnung und der Staat durch eine föderalistische, basisdemokratische Gesellschaft ersetzt werden. Schwerpunkte unserer Arbeit lagen bisher in den Bereichen Antimilitarismus und Ökologie.

Unsere Ziele sollen - soweit es geht - in unseren Kampf- und Organisationsformen vorweggenommen und zur Anwendung gebracht werden. Um Herrschafts- und Gewaltstrukturen zurückzudrängen und zu zerstören, setzen wir gewaltfreie Aktionsformen ein. In diesem Sinne bemüht sich die anarchistische Zeitung Graswurzelrevolution seit 1972, Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreitern und weiterzuentwickeln.



► Bild- und Grafikquellen:

1. Die Herero (mit Pluralpräfix OvaHerero, früher Mbandu genannt) sind ein die Bantusprache Herero sprechendes südwestafrikanisches ehemaliges Hirtenvolk von heute etwa 120.000 Menschen. Die Mehrheit von ihnen lebt in Namibia, einige auch in Botswana und Angola. Bildbeschreibung: Überlebende Herero nach der Flucht durch die Wüste, ca. 1907. - Surviving Herero after the escape through the arid desert of Omaheke in German South-West Africa (modern day Namibia), ca. 1907. Urheber: unbekannt. Quelle: Galerie Bassenge, Berlin-Grunewald. Quelle II: Wikimedia Commons. Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für das Herkunftsland des Werks und alle weiteren Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 oder weniger Jahren nach dem Tod des Urhebers.

2. Herero aus Deutsch-Südwestafrika - Views of German South-West Africa, etwa 1907 bis 1908. Urheber / Photographer: „O. Ziegler“. Quelle: Galerie Bassenge, Berlin-Grunewald. Quelle II: Wikimedia Commons. Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für das Herkunftsland des Werks und alle weiteren Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 oder weniger Jahren nach dem Tod des Urhebers.

3. Bekanntmachung zum freiwilligen Eintritt in die Schutztruppe in Südwestafrika, Anzeige aus den Uetersener Nachrichten vom 27. Mai 1907. Urheber: unbekannt. Quelle: Wikimedia Commons. Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für das Herkunftsland des Werks und alle weiteren Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 oder weniger Jahren nach dem Tod des Urhebers.  

4. Herero aus Deutsch-Südwestafrika - Views of German South-West Africa, etwa 1907 bis 1908. Urheber / Photographer: „O. Ziegler“. Quelle: Galerie Bassenge, Berlin-Grunewald. Quelle II: Wikimedia Commons. Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für das Herkunftsland des Werks und alle weiteren Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 oder weniger Jahren nach dem Tod des Urhebers.

5. + 6. Der Krieg gegen die Herero 1904: Am 2. Oktober 1904 erließ General von Trotha den sogenannten "Schießbefehl". In einem Brief an die Herero fordert er das Volk auf, Deutsch-Südwestafrika zu verlassen. Auf seine Kapitäne wurde ein Kopfgeld ausgesetzt. Der General kündigt an, dass jeder Herero, der auf deutschem Gebiet angetroffen würde, erschossen werde. Auch auf Frauen und Kinder werde er schießen lassen. Den an die Schutztruppe gerichteten Befehl formulierte von Trotha mit Blick auf den "guten Ruf" der deutschen Soldaten davon abweichend: Über "Weiber und Kinder" solle "hinweggeschossen" werden, "um sie zum Laufen zu zwingen".

Hintergrundinformationen

Der Aufstand der Herero im Jahre 1904 war nicht die erste Auseinandersetzung, die das Deutsche Reich mit den Bewohnern seiner kolonialen Schutzgebiete in Afrika und im westlichen Pazifik zu führen hatte. Von den anderen kolonialen Kriegen des Deutschen Reiches unterscheidet sich die Niederschlagung des Herero-Aufstands jedoch durch die unerbittliche Härte des militärischen Vorgehens, das eine völlige Vernichtung des Stammes der Herero wissentlich in Kauf nahm.

Von den ca. 80 000 Herero überlebten nur wenig mehr als 15 000 den Völkermord während des Krieges und in den Konzentrationslagern. Nach ihrer Entlassung aus der Gefangenschaft wurden die Herero einem totalitären Regime unterworfen, das dem Einzelnen die persönliche Freiheit und dem Stamm der Herero seine traditionelle Lebensweise nahm.

Quelle: "Historische Bilder und Dokumente" des Bundesarchivs >> "Der Krieg gegen die Herero 1904 - 1907". >> Webseite des BArch. "Ich der große General der Deutschen Soldaten ...", Abschrift, Seite 1 und 2. Quelle: Bundesarchiv - BArch R 1001/2089 >> Brief an die Herero.

7. Buchcover: "Der Weissheit letzter Schluss: Rassismus und kolonialer Blick" von Henning Melber; Brandes & Apsel Verlag, (192/2001) ISBN-10: 3-86099-102-7;

Das Alltagsdenken in Europa ist bis heute geprägt vom kolonialen Blick auf die Kulturen anderer Kontinente. Subtil und unbewußt wird da geordnet, hierarchisiert, ausgegrenzt oder herabgesetzt. Erst durch die Abwertung des Fremden gelingt es, weiße Herrschaft und Überlegenheit zu legitimieren und in den Köpfen und Herzen festzusetzen. Daß wir heute nicht nur mit den Überresten dieser Ideologien konfrontiert sind, sondern mit ihren Weiterentwicklungen, wird in diesem Buch treffend und anschaulich dokumentiert. Melber geht es aber nicht nur um Rassismuskritik, sondern auch um Menschenrechte und Zivilgesellschaft. Kritisch greift er die Internationalismus-Debatte der letzten Jahrzehnte auf und plädiert für eine neue internationale Solidarität, ohne damit vor der Wirklichkeit der eigenen Gesellschaft zu fliehen.” (Klappentext)

8. Buchcover: "Völkermord - und was dann? Die Politik deutsch-namibischer Vergangenheitsbearbeitung" von Henning Melber und Reinhart Kößler; Brandes und Apsel Verlag, (2017); ISBN 978-3-95558-193-0; 176 S., 19,90 €

Reinhart Kößler und Henning Melber, zwei ausgewiesene Kenner Namibias und international anerkannte Wissenschaftler, bemühen sich seit Jahrzehnten um einen kritischen Umgang mit dem kolonialen Erbe des Kaiserreiches. Sie rekapitulieren den Völkermord und die mühevolle Erinnerungsarbeit, wie sie von Teilen der deutschen Zivilgesellschaft und den betroffenen Bevölkerungsgruppen Namibias schon lange eingefordert wird. Ein Buch, das exemplarisch den konsequenten Umgang mit staatlicher Gewalt in der Geschichte fordert, die bisherigen Versäumnisse dokumentiert und neue Perspektiven aufzeigt.

»Umso wichtiger ist gerade jetzt dieses Buch, weil es ohne Denkverbote die Frage untersucht, wie sich eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Völkermord überhaupt ermöglichen lässt. (…) Für die aktuellen Debatten über die Gewaltgeschichte des deutschen Kolonialismus liefert das Buch gute, fundierte Argumente (…). Es stellt auch konkrete Forderungen an Bildung, Unterricht und Forschung, sich den nicht nur in der konservativen Presse, vorherrschenden medialen Verzerrungen der Wirklichkeit im heutigen Namibia entgegen zu stellen.« (Christoph Ludszuweit, auf graswurzel.net)

9. Die schwarze Fahne ist ein traditionelles anarchistisches Symbol. Urheber: Jonathan Spangler. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 3.0 nicht portiert“ lizenziert.