„Values and deals“ Anm. zu einem verborgenen Aspekt des syrischen Krieges

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Kai Ehlers
Kai Ehlers
Offline
Verbunden: 18.07.2014 - 21:31
„Values and deals“ Anm. zu einem verborgenen Aspekt des syrischen Krieges
DruckversionPDF version

„Values and deals“

Anmerkungen zu einem verborgenen Aspekt des syrischen Krieges

Dass es in Syrien nicht um das Wohlergehen der dort lebenden Menschen geht, bedarf keiner Beweise: 400.000 Tote, 11,6 Millionen Menschen auf der Flucht, ein zerstörtes Land. Diese Tatsachen sprechen für sich. Dass dem Terrorismus mit Bomben nicht beizukommen ist, gleich, wo sie produziert, von wem sie abgeworfen werden und wie entschlossen sich alle Beteiligten geben, ist ebenso offensichtlich. Dass es um den geostrategischen Zugriff auf diesen Raum geht, um Zugriff auf Ressourcen, um den Zugang zum Mittelmeer wie auch zum Indischen Ozean, ist auch klar. Das alles kann selbstverständlich nicht oft genug wiederholt werden.

Aber etwas Drittes rückt in den aktuellen Absprachen zwischen USA und Russland um einen Waffenstillstand zur Zeit in Syrien zutage, was einer genaueren Betrachtung bedarf. Deutlich wurde das durch einen irritierenden Auftritt Baschar al-Assads unmittelbar nach Bekanntgabe der zwischen den USA und Russland getroffenen Absichtserklärungen ihre Parteigänger – „Rebellen“ hier, Assads Truppen dort – zu einer Einstellung der Kämpfe veranlassen zu wollen:

Der syrische Staat“, ließ Assad bei einem, wie die FAZ zu Recht als besonders bemerkenswert hervorhebt, „seltenen öffentlichen Auftritt“ demonstrativ verlauten, „ist entschlossen, jedes Gebiet von den Terroristen zurückzuerobern“. Die syrischen Streitkräfte, so Assad  weiter,  würden ihre „Arbeit unerbittlich und ohne Zögern, unabhängig von inneren oder  äußeren Umständen“  fortsetzen. (Zitiert nach FAZ, 13.09.2016)

Was war das? Die Ansage eines unverbesserlichen „Schlächters“? Eine Provokation? Verzweiflung? Eine Dummheit? Ein abgesprochener Auftritt? Wenn abgesprochen, dann mit wem und wofür?

► Schweigen zu Assad

Bei genauerem Nachforschen fällt auf, dass in den aktuellen Verlautbarungen zu den Waffenstillstandsverhandlungen nichts darüber ausgesagt wird, welche Rolle Assad in der von Amerikanern und Russen angekündigten Wende spielen soll, nachdem zuvor aggressiv über die Rolle Assads als Staatspräsident gestritten wurde.

Die russische Position war bisher eindeutig: Syrien ist ein souveräner Staat, Assad sein gewählter Präsident. Niemand hat das Recht zu intervenieren und einen „Regimechange“ zu erzwingen. Eine Ablösung Assads kann nur durch Wahlen erfolgen.

Die amerikanische Position war ebenso eindeutig. Sie ist durch das schon unter G.W. Bush entwickelte „Project of the New American Century“ (PNAC) unmissverständlich und schamlos genug propagiert worden und durch die Praxis der Interventionen im Iran, in Afghanistan, im Irak und in Libyen ausreichend belegt. Krönung dieses Projektes, mit dem der mesopotamische Raum für US-amerikanische Interessen aufbereitet werden sollte, sollte die „Demokratisierung“ Syriens werden. Auch dies ist sattsam bekannt.

Weniger bekannt ist, wie Assad selbst zu dieser Frage steht. Hier lohnt ein Blick auf ein von der „Deutschen Welle“ gezeigtes Interview, das Assad dem US-Sender NBC im Juli 2016, also schon unter den Vorzeichen einer möglichen amerikanisch-russischen Annäherung, zu der Frage gab, wie er zu dieser Annäherung stehe.

Assads Antwort verblüfft, wenn er den Unterschied zwischen den beiden Mächten auf den frappierenden Nenner bringt, den er „value and deal“ nennt - „value“ als Motivation für die russische, „deal“ für die amerikanische Intervention. ["Because their politics, I mean, the Russian politics, is not based on making deals. It's based on values," Reuters cited Assad as saying.]

In den Worten der „Deutschen Welle“ klingt das so: „Anders als die Politik der USA fuße die russische Politik nicht darauf, Abmachungen zu treffen (deal), sondern auf Werten. Damaskus und Moskau teilten ein gemeinsames Interesse am Kampf gegen den Terrorismus, der überall zuschlagen könne, so Assad.

Die Russen, so Assad weiter, seien vom syrischen Staat eingeladen worden, die Amerikaner nicht. Ein souveränes Land habe das Recht einzuladen, wen es für richtig halte. Wer nicht eingeladen werde, habe kein Recht einzugreifen und halte sich illegal im Lande auf.

► Polare strategische Optionen

Auf den Punkt gebracht, stellen sich die strategischen Optionen, die hier aufeinandertreffen, so dar: Russland verfolgt, man ist versucht zu sagen, seit undenklichen Zeiten, jedenfalls lange vor Putins Antritt als Präsident, schon seit  Michail Gorbatschow, selbst unter Boris Jelzin, die Linie der Schaffung einer neuen globalen Ordnung, einer Reform der UN unter dem leitenden Gedanken der Souveränität der Nationen, der Selbstbestimmung der Völker in kooperativer Solidarität unter dem Schirm der UN.

Im gleichen Zeitraum, spiegelverkehrt sozusagen, nehmen die USA sich heraus, die UN, die Souveränität kleinerer Staaten, das internationale Recht  beiseitezuschieben und die von ihnen propagierte Politik des „Regimechanges“ mit der Folge der Fraktionierung der globalen Ordnung zu betreiben. Syrien war auf dieser Line, wie gesagt, die letzte geplante Station. G.W. Bush setzte dabei auf unmittelbare militärische Gewalt. Der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Barack Obama ging dazu über, internationales Recht mit einer drohnengesteuerten globalen Lynchpraxis zu liquidieren.

Mit der Zerschlagung „Libyens“ war für Russland das Hinnehmbare erreicht. Aber es war nicht nur nicht das Hinnehmbare erreicht, Russland ist zwischen auch soweit zu Kräften gekommen, dass es sich erlauben kann, der von den USA betriebenen Politik der Fraktionierung nicht nur verbal, sondern konkret, auch machtpolitisch entgegenzutreten.

Als Ergebnis bleibt die Frage, was jetzt mit Assad geschieht, wenn die USA und Russland als die beiden entscheidenden Mächte sich jetzt darauf einigen eine „Wende" herbeiführen zu wollen. Ist Assad dann das Bauernopfer, das Russland unter Aufgabe seiner bisherigen Position bringt? Oder sind die USA auf die Linie Russlands eingeschwenkt, wonach das syrische Problem, der gesamte mesopotamische Aufruhr nur zu befrieden ist, wenn die syrische Souveränität geachtet wird, wenn Wahlen zu einem neuen syrischen Staatspräsidenten unter Aufsicht der UN durchgeführt werden? Assad würde dem, wie er in dem oben zitierten Interview mehrfach bekräftigt, zustimmen, wenn die Souveränität und des Landes erhalten bliebe und seine Einheit wiederhergestellt werde.

► Souveränität für alle?

rojava_kurdistan_kurden_kurds_autonomie_selbstbestimmung_demokratie_syria_syrien_tuerkei_irak_iraq_voelkerrecht_abdullah_oecalan_kritisches_netzwerk_souveraenitaet.pngHier erhebt sich die weiter führende prinzipielle Frage, ob der zweiten Seite des heute geltenden Völkerrechtes, nämlich dem Recht auf Selbstbestimmung einer Minderheit, einer Bevölkerungsgruppe, eines Volkes die gleiche Gültigkeit zugestanden wird wie der staatlichen Souveränität. Im syrischen Konfliktfeld betrifft das die Kurden, die heute drei verschiedenen Staaten leben – in der Türkei, im Iran und eben auch in Syrien, wo die syrischen Kurden sich inzwischen im Zuge des Zerfalls der syrischen Staatlichkeit zur autonomen, im Gegensatz zu ihrer gesamten Umgebung rätedemokratisch orientierten Republik „Rojava“ erklärt haben – ohne bisher als eigener Staat anerkannt worden zu sein.

Würde „Rojava“ von einem souveränen Syrien anerkannt, dann könnte ihre Verfassung nicht nur zu einem Modell für ganz Syrien werden, es könnte sich darüber hinaus die Lösung der syrischen Frage als internationales, als übergreifendes Beispiel erweisen, das auch für andere vergleichbare Fälle Maßstäbe lieferte, nicht zuletzt auch für die Ukraine. Im Prinzip geht es dort ja um das gleiche Problem, um das Recht nämlich von Teilen der Bevölkerung des ukrainischen Landes auf Autonomie, sowohl der Krim als auch des abgetrennten Ostens, um das Recht auf Loslösung und staatliche Eigenständigkeit oder gar Anschluss an ein anderes Land.

Unter dem Stichwort „Value“ oder „Deal“ hat Assad die unterschiedlichen Positionen von Russland und den USA zu diesen Fragen durchaus treffend auf den Nenner gebracht. Die Frage ist nur, ob er selbst bereit ist, die Souveränität, die er für den syrischen Staat in Anspruch nimmt, in Form des Selbstbestimmungsrechtes auf Autonomie oder gar Abtrennung auch für Rojava gelten zu lassen.

Ähnlich ist die Frage an alle Kräfte zu stellen, die in den syrischen Konflikt verwickelt sind – angefangen bei den USA und Russland über die Türkei zum Iran, die allesamt nicht bereit sind, den Kurden ein Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen, sie nur als Schützenhilfe gegen den „IS“ instrumentalisieren wie die USA und bei nächster Gelegenheit fallen lassen, oder gar, wie die Türkei, sie als „Terroristen“ bekämpfen.

Was also als Herausforderung aus dem syrischen Kampffeld hervortritt, ist die Notwendigkeit einer völkerrechtlichen Ordnung, die staatliche Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker in ein neues Verhältnis zueinander bringt. Das könnte geschehen, in dem als drittes Element das Selbstbestimmungsrecht des Individuums mit in den Zusammenhang eingeht – eine Aufgabe der Zukunft.

Im syrischen Krieg, heißt das alles, geht es nicht nur um das Abstecken von Interessensphären, nicht nur um den unmittelbaren Zugriff auf Ressourcen, hier geht es darüber hinaus um die viel weiter führende Frage, WIE das geschieht.

Wie werden die divergierenden Interessen einer vielfältiger werdenden Welt in Zukunft miteinander in Übereinstimmung gebracht – durch nackte Gewalt oder durch internationale Kooperation und darauf beruhende Vereinbarungen. In der Antwort auf diese Frage liegt zugleich die mögliche Lösung des terroristischen Problems, die nur eine Zukunft hat, wenn die Welt nicht dem Diktat einer einzigen globalen Macht unterworfen ist.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de


► Quelle:  veröffentlicht am 16.09.2016 auf meinem Blog www.kai-ehlers.de > Artikel. Ebenso bei russland.NEWS (vormals russland.RU).

► Bild- und Grafikquellen:

1. NO WESTERN INTERVENTION - HANDS OFF SYRIA. Der Urheber dieser Grafik ist nicht eindeutig ermittelbar, sie findet sich auf vielen Seiten.

2. UNCLE SAM (Barack Obama) und THE RUSSIAN BEAR (Wladimir Putin). Karikatur von Carlos Latuff, einem "Politischen Karikaturist", geboren November 1968 in Rio de Janeiro, Brazil. Quelle: Wikimedia Commons. Dieses Werk wurde von seinem Urheber Carlos Latuff als gemeinfrei veröffentlicht. Dies gilt weltweit. Carlos Latuff (eigentlich Carlos Henrique Latuff de Souza) gewährt jedem das bedingungslose Recht, dieses Werk für jedweden Zweck zu nutzen, es sei denn, Bedingungen sind gesetzlich erforderlich. Sein Blog > latuffcartoons.wordpress.com.

3. Cartoon: Khalaji / Fars News Agency, Iran. Quelle: SYRIA THE TRUTH > Webseite.

4. Baschar Hafiz al-Assad (* 11. September 1965 in Damaskus) ist seit dem Jahr 2000 Generalsekretär der Baath-Partei und Staatspräsident Syriens. Die Freischärler der FSA geben als Ziel den Schutz von Zivilisten und den Sturz der syrischen Baath-Regierung unter Baschar al-Assad an. Zur Erreichung ihrer Ziele greifen sie auch die staatlichen Sicherheitskräfte der Regierung an. Für die Obama-Fraktion ist die syrische Regierung ebenfalls die falsche und man setzt auf einen Sturz.

Urheber der Assad/Obama-Karikatur: DonkeyHotey. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0). The art of DonkeyHotey is a combination of caricature, photo collage and photo manipulation. The resulting work can be categorized as caricature, cartoon, illustration and art depending on the intent. Find out more about DonkeyHotey and caricature on his new website.

5. Wappen von Rojava - Coat of Arms of Rojava. Urheber: MrPenguin20. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“ (CC BY-SA 4.0).

6. "THERE ARE NO HUMANITARIAN WEAPONS." Grafik: Tjebbe van Tijen. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-ND 2.0).

7. Buchcover "Demokratische Autonomie in Nordkurdistan. Rätebewegung, Geschlechterbefreiung und Ökologie in der Praxis". Eine Erkundungsreise in den Südosten der Türkei, herausgegeben von TATORT Kurdistan. Als eigenen Beitrag zur friedlichen Lösung der kurdischen Frage hat die kurdische Freiheitsbewegung in der Türkei ein alternatives Gesellschaftsmodell entwickelt: die Demokratische Autonomie. Unter schwierigsten Bedingungen gelingt es der Bewegung in Nordkurdistan seit 2005, Strukturen für den Aufbau einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft zu schaffen.

Ihren Kern bildet ein Rätesystem, in dem sich die Bevölkerung in den Dörfern, Straßenzügen, Stadtvierteln und Stadträten basisdemokratisch organisiert. Diese Strukturen ermöglichen zwar noch keine autonome Lebensform jenseits der bestehenden staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, aber sie stellen bereits heute eine relevante zivilgesellschaftliche Gegenmacht dar. Der radikal-demokratische Aufbruch der Kurd_innen bietet so auch eine Inspiration für die Neugestaltung von Gesellschaften im Mittleren Osten und darüber hinaus. Die in dieser Broschüre dokumentierten Interviews bieten einen ersten Einblick in die konkrete Umsetzung einer linken Utopie. Weiter Infos unter: http://demokratischeautonomie.blogsport.eu/ . Zu bestellen bei ISKU unter: isku@nadir.org

8. Buchcover "Revolution in Rojava - Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo" von Anja Flach / Ercan Ayboğa / Michael Knapp. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit der Kampagne TATORT Kurdistan. 352 Seiten | EUR 19.80 | VSA Verlag (Link zum Buch)| ISBN 978-3-89965-658-9. Bestellungen bitte an: tatortkurdistanhh@googlemail.com.