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Aktualisiert: vor 17 Minuten 3 Sekunden

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20. Dezember 2024 - 15:23

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Kategorien: Externe Ticker

Ehrung unserer Chefredaktion: „Mit Sachlichkeit statt Krawall“

20. Dezember 2024 - 12:50

Bei der Wahl zur „Chefredaktion des Jahres national“ hat unsere Chefredaktion das Siegertreppchen erklommen. Wir freuen uns über die renommierte Auszeichnung des medium magazins!

Die Chefredaktion von netzpolitik.org: Anna Biselli und Daniel Leisegang – netzpolitik.org

Jedes Jahr zeichnet die Redaktion des medium magazins Journalist:innen und Redaktionen aus. In der Rubrik Chefredaktion national sind Anna Biselli und Daniel Leisegang in diesem Jahr auf dem dritten Platz.

In der Begründung der unabhängigen Jury heißt es:

Ob Medienfreiheitsgesetz, „Staatstrojaner“, „fließende Gesundheitsdaten“ oder „Chatkontrolle“: Die beiden treiben die kritische Begleitung der Netzpolitik öffentlich voran. Beispielhaft unter ihrer Führung waren u. a. der Podcast „Systemeinstellungen“ oder die Databroker-Files über den Handel mit Standortdaten: komplexe Recherche auf den Punkt gebracht, mit Sachlichkeit statt Krawall.

Wir freuen uns sehr über diese Auszeichnung und sehen sie als Ansporn dafür, auch im kommenden Jahr sachlich und zumindest ein klein wenig krawallig weiterzumachen!

„Journalistinnen und Journalisten des Jahres“ gibt es seit 2004

Das medium magazin erscheint seit 1986 bundesweit. Seit 2004 vergibt die Branchenzeitschrift den undotierten Preis „Journalistinnen und Journalisten des Jahres“ in verschiedenen Kategorien. Zu den ersten Preisträgerinnen und Preisträgern gehörten Frank Schirrmacher (FAZ), Alice Schwarzer (Emma) sowie Michael Ebert und Timm Klotzek (Neon).

Unter den Erstplatzierten in diesem Jahr sind unter anderem der ehemalige Chefmoderator von „RTL aktuell“, Peter Kloeppel, für sein Lebenswerk, die Chefredaktion der taz sowie die Wissenschaftsjournalistin Eva Wolfangel.

Als beste journalistische Recherche des Jahres hat die Jury den „Geheimplan gegen Deutschland“ des Correctiv-Teams um Anette Dowideit, Justus von Daniels und Jean Peters ausgezeichnet.

Die Liste aller „Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2024“ ist in der aktuellen Ausgabe des medium magazins zu finden. Die Preisverleihung findet am 19. Mai 2025 in Berlin statt.

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Kategorien: Externe Ticker

Programme zur Bundestagswahl: So wollen die Parteien die Demokratie stärken – oder gefährden

20. Dezember 2024 - 11:40

Eine robuste Zivilgesellschaft – oder doch lieber ein heftiger Überwachungsapparat? Wir haben uns angeschaut, wie die Parteien in ihren Wahlprogrammen die Demokratie gegen eine faschistische Machtübernahme abhärten wollen. Und welche Kontrollinstrumente sie einer autoritären Regierung hinterlassen würden.

Suchbild: Wer ist hier noch Demokrat? – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Sven Simon

Die Rechten sind auf dem Vormarsch. Die AfD wird nach aktuellen Prognosen zweitstärkste Kraft im Bundestag. Die außerparlamentarische rechte Bewegung fühlt sich im Aufwind. Es ist höchste Zeit, unsere Demokratie gegen eine faschistische Machtübernahme abzuhärten.

Das ist den Demokraten im Bundestag durchaus bewusst. Deshalb haben sie gestern einer Verfassungsänderung zugestimmt, die unter anderem die Amtszeit und die Zahl von Richter*innen am Bundesverfassungsgericht fixiert – damit die Verfassungshüter*innen auch im Falle einer antidemokratischen Machtübernahme handlungsfähig bleiben.

Welche weiteren Pläne die im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien haben, um eine totalitäre Herrschaft zu verhindern und eine einigermaßen freie und offene Gesellschaft zu erhalten, zeigen die Wahlprogramme zur kommenden Bundestagswahl. Darin finden sich allerdings auch zahlreiche Wünsche nach Kontrollinstrumenten, die einer potenziellen faschistischen Diktatur mächtige Werkzeuge an die Hand geben würden. Die Forderungen sind allerdings nur Absichtserklärungen und nicht immer decken sie sich mit dem Handeln der Parteien in den vergangenen drei Jahren.

Ausbildung zu Demokrat*innen

Die Fähigkeit zur demokratischen Entscheidungsfindung ist dem Menschen nicht in die Wiege gelegt. Man muss sie lernen. Im demokratischen Disput.

Die SPD will deshalb Jungdemokrat*innen schon ab 16 Jahren zur Bundestagswahl schicken und Jugendliche auf allen Ebenen in politische Prozesse einbetten. Zur Demokratiebildung sollen Schüler*innen Lernprozesse und Lerninhalte aktiv mitgestalten können. „Wir fördern Bildungsangebote, die demokratische Werte vermitteln und Menschen befähigen, aktiv an der Demokratie teilzuhaben“, heißt es dazu im Programmentwurf.

Die Grünen sind ebenfalls für ein Wahlrecht ab 16 Jahren und wollen Beteiligungsgremien wie Kinder- und Jugendparlamente besonders auf kommunaler Ebene stärken. In den Schulen wollen sie eine Reihe von Skills lehren lassen, die für Jungdemokrat*innen essenziell sind: digitale Fähigkeiten, Medienkompetenz, Bildung für nachhaltige Entwicklung und politische Bildung. Für letzteres spielten zudem die Landeszentralen und die Bundeszentrale für politische Bildung eine wichtige Rolle, „die wir in ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit stärken wollen“.

Nützlich zur demokratischen Bildung sind auch die Bürgerräte, die die SPD als „festen Bestandteil unserer Demokratie etablieren“ will. Im Losverfahren eingeladene Bürger*innen finden hier Kompromisse zu schwierigen Themen, die sie dann den Parlamenten vorstellen dürfen. Die Grünen wollen ebenfalls mit Bürgerräten den Rat von „Expert*innen des Alltags“ in Parlamente einbringen.

Die Linke, auch für ein Wahlalter 16, will zudem ein Wahlrecht für alle, die schon fünf Jahre in Deutschland leben. Die Partei wünscht sich Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene. Die Bürger*innen sollen damit auch „gegen parlamentarische Entscheidungen ein Veto einlegen“ können.

Erinnerungskultur

Mit dem Kaiserreich, dem Dritten Reich und der DDR hat Deutschland jetzt schon drei autoritäre Regimes hinter sich. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wovor wir uns hüten sollten. Die CDU will deshalb Schüler*innen dazu verpflichten, Gedenkstätten zu besuchen und den „Erinnerungsansatz“ um die Geschichte des Kolonialismus erweitern.

Die Grünen schreiben in ihrem Programmentwurf, dass sie es allen Schüler*innen ermöglichen wollen, eine Gedenkstätte zu besuchen – und das auch finanziell unterstützen. Zudem soll die Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit in einem Lern- und Erinnerungszentrum und mithilfe lokaler Initiativen in die Gesellschaft getragen werden. „Wir wollen die deutsche Erinnerungskultur weiter für die Realität der Einwanderungsgesellschaft öffnen und die Erinnerung an die Opfer von rechter Gewalt dauerhaft darin aufnehmen“, heißt es zudem. Und: „Die Auseinandersetzung mit dem DDR-Unrecht werden wir konsequent fortführen und die Errichtung des Mahnmals für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft vorantreiben.“

Die FDP will die Schüler*innen nicht nur zum Besuch einer Holocaust-Gedenkstätte, sondern auch zum Besuch einer DDR-Gedenkstätte und einer Synagoge verpflichten. Um Weltoffenheit und Dialog zu fördern, will die Partei Erasmus-Programme für Schüler*innen und Auszubildende ausbauen.

Die SPD-Führung möchte die drei Formen von Terror made in Germany – Kaiser, Hitler, DDR – weiter aufarbeiten. Zudem schreibt sie in ihrem Programmentwurf: „Geschichtsverfälschungen und Desinformation gefährden die Demokratie im Kern. Deshalb brauchen wir eine bessere historische Bildung zur Stärkung des kritischen Geschichtsbewusstseins.“ Außerdem will sie historische Forschung stärken, zum Beispiel an Universitäten, Gedenkstätten oder Museen. „Wir stellen sicher, dass diese Einrichtungen ausreichend finanziert werden. Gleichzeitig schützen wir ihre Aufsichtsgremien vor rechtsextremen Einflussnahmen“, heißt es im Programmentwurf.

Mitbestimmung im Betrieb

Betriebsräte sind nicht nur eine ausgezeichnete Demokratieschule, sondern auch mögliche Horte ganz praktischen Widerstands gegen faschistische Bestrebungen. Mit nichts lässt sich ein Regime so gut aufhalten wie mit einem Generalstreik.

Die SPD möchte die Mitbestimmung der Betriebsräte um bestimmte Themenfelder erweitern, zum Beispiel den Einsatz von KI, und Betriebsrats-Gründer*innen besser schützen. Die Grünen wollen den betrieblichen Mitbestimmungsrechten weitere Themen wie Klima- und Umweltschutz und Gleichstellung hinzufügen. Die Linke setzt Betriebsschließungen und Investitionen auf die Liste.

Demokratie abhärten

Die Verankerung der Regularien zum Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz war ein erster guter Schritt. Doch es gibt noch einige weitere, die man zur Sicherung der Demokratie gehen kann.

Die CDU will beispielsweise kommunale Amts- und Mandatsträger schützen und unterstützen. Die Grünen fügen den besonders bedrohten und deshalb künftig deutlicher zu schützenden Individuen noch die zivilgesellschaftlich engagierten hinzu.

Um die Unabhängigkeit der Justiz zu sichern, wollen die Grünen ministerielle Weisungen an Staatsanwält*innen transparenter machen. Außerdem will die Partei unbestimmte „rechtsstaatliche Regelungen ergreifen, damit die Justiz vor Verfassungsfeind*innen geschützt ist“.

Die SPD will Verfassungsfeinde aus dem Staatsdienst ausschließen. Die Linke setzt zur Stärkung der Demokratie auf den Kampf gegen Korruption. Unternehmensspenden und Parteisponsoring sollen verboten werden, private Spenden auf 25.000 Euro pro Jahr begrenzt. „Abgeordneten muss es verboten sein, Spenden anzunehmen. Die Nebenverdienste von Abgeordneten sind auf Euro und Cent zeitnah zu veröffentlichen“, heißt es außerdem im Programmentwurf.

Außerdem schreibt die Partei: „Keine Demokratie ohne freie Rede! Die Linke verteidigt Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit. Das schließt den Schutz von Whistleblowern ein! Ohne diese Freiheiten gibt es keinen demokratischen Diskurs.“

Transparenz

Ein demokratischer Staat ist ein transparenter Staat. Nur wenn der Zugang zu wichtigen Informationen möglichst offen ist, kann es informierte Entscheidungen und ein gleichberechtigtes Miteinander geben.

Die Linke fordert ein Recht auf Open Data und dazu ein Transparenzgesetz: „Bei öffentlichen Dienstleistungen und Verwaltungen anfallende Daten müssen anonymisiert kostenfrei zur Verfügung gestellt werden.“ Auch die Ergebnisse öffentlich geförderter Forschung müssten kostenfrei öffentlich zugänglich sein.

Die CDU will ebenfalls staatliche Daten automatisiert erheben und frei zur Verfügung stellen – dabei geht es ihr allerdings vor allem um die Nutzung für KI-Innovationen.

Die Linke will außerdem ein öffentlich einsehbares Finanzregister aufbauen, das die wahren Eigentümer von Immobilien, Unternehmensanteilen und anderen großen Vermögen registriert. Zudem soll auch der Quellcode von Verwaltungssoftware für jedermensch einsehbar sein.

Gesetzesvorlagen der Bundesregierung soll eine Auflistung der Interessenvertreter*innen sowie der Sachverständigen beigefügt werden, die daran mitgewirkt haben. Polizist*innen müssen, geht es nach der Linken, individuell gekennzeichnet sein, und Einsatzprotokolle und Polizeivideos in Treuhandstellen hinterlegt werden.

Die Grünen wollen ebenfalls mehr Open-Source-Code in der Verwaltung. Für Unternehmen soll es ein Transparenzregister geben. Die möglichen finanziellen Interessen von Politiker*innen sollen offengelegt und Lobbytreffen sichtbar werden, Sitzungen der Fachausschüsse sollen in der Regel öffentlich stattfinden. Parteispenden und Sponsoring wollen die Grünen bei einem zu bestimmenden Jahreshöchstbetrag deckeln.

Die Rolle der Medien

Eine Grundlage demokratischen Engagements ist der Zugang zu unabhängig erstellten Informationen und verschiedenen Perspektiven. Die diesbezügliche Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) ist umstritten. Von konservativen und rechten Kräften wird ihm einseitige Parteinahme vorgeworfen. Die CDU will entsprechend den ÖRR verpflichten, bei seinem„Kernauftrag: Sparsamkeit, mehr Meinungsvielfalt und Neutralität“ zu bleiben. Die FDP will ihn ebenfalls „schlanker“ aufstellen.

Die SPD will hingegen den ÖRR stärken. Außerdem möchte die Partei regionale Medien fördern und innovative Medienformate unterstützen, „um die Teilhabe und Vielfalt im Mediensystem zu sichern“. Außerdem soll die Medienkompetenz aller Altersgruppen gestärkt werden, „um Manipulation und Desinformation entgegenzuwirken“.

Im Kampf gegen Desinformation müsse sich staatliche Aufsicht zurückhalten, um kein Gefühl von Zensur aufkommen zu lassen. „Aber der Staat kann wirksame Moderation von Plattformen einfordern, unabhängige Medien fördern, die unter anderem auch Faktenchecks durchführen, die Zusammenarbeit und den Ausbau mit Berufsverbänden und Gremien der Selbstregulierung, beispielsweise dem Presserat, stärken.“ Die Partei will außerdem eine strikte Durchsetzung der Bot-Kennzeichnungspflicht aus der KI-Verordnung, sowie verpflichtende Tools zum Faktencheck auf großen Plattformen.

Die Grünen wollen ebenfalls, dass große Plattformen „Produktverantwortung übernehmen“, vor allem auch im Kampf gegen falsche Nachrichten. Außerdem möchte die Partei ebenfalls den Regionaljournalismus fördern. Den ÖRR will die Partei reformieren und auskömmlich finanzieren.

Die Linke will die Programmvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk erhalten, einschließlich Arte, 3-Sat und Kulturradios. Gleichzeitig soll es aber öffentliche Gelder nur bei transparenten Finanzen geben. Non-Profit-Journalismus soll als gemeinnützig anerkannt werden. Geht es nach der Linken, müssen durch Künstliche Intelligenz erzeugte Medieninhalte gekennzeichnet werden und die Plattformen bei Falschinformationen und Rechtsverstößen durch solche Inhalte haften.

Eine starke Zivilgesellschaft

Wenn den Nazis erst einmal der Staat gehört, kann die Gegenbewegung nur noch aus der Zivilgesellschaft kommen. Entsprechend wichtig ist es, dass diese gut vernetzt und stark organisiert ist. Der AfD scheint das klar zu sein. So fordert sie eine Liste von direkt oder mittelbar staatlich unterstützten NGOs für eine „detaillierte Prüfung“, um „unnötige und ideologiebasierte Ausgaben“ einzusparen. „Selbst ernannte ‚Faktenprüfer‘ und Meinungswächter dürfen keine staatliche Finanzierung erhalten“, heißt es im Programmentwurf.

Die CDU will, dass zivilgesellschaftliche Organisationen, die vom Bund gefördert werden, „ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und zum Existenzrecht Israels abgeben“ müssen. Gleichzeitig will sie aber „Vereinen mehr Vertrauen entgegenbringen“. Die notarielle Beglaubigung von Anträgen auf Satzungsänderung oder Vorstandswechsel soll entfallen. „Genehmigungen und Auflagen für öffentliche Veranstaltungen machen wir einfacher“, heißt es weiter im Programm.

Die SPD will mit einem Demokratiefördergesetz die Grundlage schaffen, zivilgesellschaftliche Initiativen nachhaltig zu unterstützen. „Das Gemeinnützigkeitsrecht wollen wir modernisieren“, heißt es im Entwurf.

Die Grünen sehen in einer lebendigen Zivilgesellschaft ein Fundament der Demokratie. „Durch eine verlässliche Förderung der demokratischen Zivilgesellschaft stärken wir unsere demokratische Kultur“, schreibt die Partei. Programme wie „Demokratie leben!“ will sie mit einem Demokratiefördergesetz absichern. Außerdem soll die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen entbürokratisiert werden und der Katalog der gemeinnützigen Zwecke erweitert. Auch die Teilnahme an der Willensbildung soll gemeinnützig sein und Organisationen sollen sich auch gelegentlich außerhalb ihres gemeinnützigen Zwecks politisch äußern dürfen.

Die Linke fordert ebenfalls eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts. „Die Mitwirkung an der politischen Willensbildung muss ausdrücklich möglich sein, ob zur Verfolgung eigener Zwecke oder darüber hinaus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Organisationen, denen die Gemeinnützigkeit für ihre selbstlose politische Einmischung entzogen wurde, müssen sie zurückerhalten (z.B. Attac oder Campact)“, schreibt die Partei in ihrem Programmentwurf.

Datenbanken

Grundlage totalitärer Herrschaft ist eine umfassende Datenbasis. Wer ist wann wo und tut dort was? Dabei sind nicht nur die Daten selbst, sondern auch deren Verarbeitung relevant: Sogenannte KI kann die Kontrolltechnologien zu menschenunmöglicher Effizienz führen. Dennoch sind einige Parteien bereit, auch persönliche Informationen mit KI verarbeiten zu lassen.

Die CDU zum Beispiel will KI-Technologie zur automatisierten Besteuerung bereitstellen. Auch die Verwaltung und die Jobcenter sollen ihre Daten mit KI verarbeiten. Bürger*innen will die CDU zu einer digitalen BundID verpflichten, Smart Meter sollen den Stromverbrauch kontrollieren. „Der Schutz der Bevölkerung und die Sicherheitsinteressen unseres Staates müssen Vorrang vor Datenschutzinteressen des Einzelnen haben“, schreibt die Partei in ihrem Wahlprogramm. Niemand, der gegen Gesetze verstoße, dürfe durch die Anonymität des Internets Schutz erlangen.

Die Bezahlkarte für Geflüchtete, die ebenfalls eine Sammlung sensibelster Daten mit sich bringt, soll „flächendeckend und restriktiv“ ausgerollt werden. Gleichzeitig will die CDU die Hüter*innen des Datenschutzes schwächen: „Die bestehenden Doppelstrukturen zum Datenschutz auf Bundes- und Landesebene müssen abgebaut werden“, schreibt die Partei.

Die SPD wünscht sich einen digitalen Datenaustausch zwischen allen Behörden. Auch sie will eine digitale Identität für alle Bundesbürger*innen. Darin werden CDU und SPD von der FDP und auch den Grünen unterstützt. „Um das große Potenzial von Datenkollaboration für Innovation und Produktivität zu heben, muss die Umsetzung des Datenschutzes einfacher und weniger bürokratisch werden“, schreiben die Grünen außerdem.

Antidiskriminierung

Faschismus lebt davon, Menschen auszugrenzen. Die Dichotomie von „Wir“ und „Die“ speist seine Energie. Deshalb ist die Inklusion aller Menschen in ein gemeinsames Miteinander eine mächtige Waffe gegen totalitäre Regime.

Die Grünen wollen dafür den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität in Artikel 3 des Grundgesetzes verankern „und Hasskriminalität gegen LSBTIQ* entschlossen bekämpfen. Dazu verbessern wir die Erfassung von queerfeindlichen Straftaten“, schreiben sie in ihrem Programmentwurf.

Laut der Linken ist „Inklusion genau der benötigte Gegenentwurf zu sozialer Spaltung, zu Rassismus, Neofaschismus und Ausgrenzung“. Die Partei möchte deshalb unter anderem alle neuen Gesetze auf ihre Auswirkung auf die Geschlechtergerechtigkeit untersuchen lassen. „Darüber hinaus wollen wir ein bundesweites Antidiskriminierungsgesetz und eine Novelle des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes“, schreibt die Partei. Die Novelle soll die Klagefristen verlängern, ein Verbandsklagerecht einführen, die Diskriminierungsformen „Staatsangehörigkeit“, „Aufenthaltsstatus“, „familiärer Status“ und „sozialer Status“ umfassen und auch staatliches Handeln einbeziehen.

Die Linke will außerdem ein Verbot rassistischer Polizeikontrollen und dazu die Abschaffung von anlasslosen polizeilichen Kontrollbefugnissen sowie verpflichtende Antidiskriminierungsschulungen im gesamten öffentlichen Dienst. „In Artikel 3 des Grundgesetzes soll eine Schutz- und Förderklausel für von rassistischer Diskriminierung Betroffene eingefügt werden“, schreibt die Partei.

Die SPD will derweil zivilgesellschaftliche Beratungsangebote ausbauen, die Antidiskriminierungsstelle des Bundes stärken, und diese auch auf Anti-Feminismus ansetzen.

Mutmaßliche Sicherheit

Wer Sicherheit sucht, bekommt sicher Kontrolle. KI-gestützte Videoüberwachung des öffentlichen Raums, Telekommunikationsüberwachung, Elektroschockpistolen: Ein potenzielles faschistisches Regime kann sich mit solchen Möglichkeiten extrem gut gegen Kritiker*innen und destabilisierende Strömungen abhärten. Dennoch sind derartige Forderungen bei vielen Parteien im Repertoire.

Die CDU schreibt: „Wir fordern den Ausbau des Videoschutzes an öffentlichen Gefahrenorten und Systeme zur automatisierten Gesichtserkennung an Bahnhöfen, Flughäfen und anderen Kriminalitätsschwerpunkten“. Dazu sollen IP-Adressen auf Vorrat gespeichert werden und Sicherheitsbehörden dürfen Daten mit KI analysieren. „Die Möglichkeit zur Überwachung der Telekommunikation und zur Funkzellenauswertung weiten wir aus“, schreibt die Partei in ihrem Programm. Den Polizeibeauftragten des Bundes will sie abschaffen, dafür die Beamt*innen mit Tasern und Bodycams ausrüsten, die auch in Wohnungen filmen dürfen.

Auch die SPD will der Polizei KI-basierte Datenanalyse erlauben und Log-in-Fallen einsetzen, die bei der Anmeldung in einem Benutzerkonto die IP-Adresse erfassen. „Zudem stärken wir die Kompetenzen der Sicherheitsbehörden gegen Cybercrime. Dadurch verbessern wir die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern und stärken die Verteidigung gegen Cyberangriffe auf Menschen und Wirtschaft – insbesondere IP-Adressen und Port-Nummern“, schreibt die Partei in ihrem Entwurf. Golem.de geht davon aus, dass sich die Partei damit vom bürgerrechtsschonenden Quick-Freeze verabschiedet und pro Vorratsdatenspeicherung positioniert. Der unzusammenhängende Einschub von „IP-Adressen und Port-Nummern“ deutet in diese Richtung.

Die Grünen hingegen lehnen die Kontrollmaßnahmen Vorratsdatenspeicherung und Chatkontrolle ab und wollen stattdessen Quick-Freeze und ein Ticketsystem, das die Gründe für Kontrollen darlegt, das soll polizeiliches Handeln transparenter machen. „In der Aus- und Fortbildung wollen wir für Diversität sensibilisieren“, schreibt die Partei zudem.

Gleichzeitig heißt es aber: „Wir werden unsere Sicherheitsbehörden im Kampf gegen den Terrorismus stärken und das BKA und den Verfassungsschutz dafür mit ausreichend Personal, Technik und rechtsstaatlichen Befugnissen ausstatten, damit sie Terrorist*innen ausfindig machen und Anschlagspläne rechtzeitig aufdecken können. Top-Gefährder*innen müssen stets im Blick der Sicherheitsbehörden sein, lückenlos überwacht und – wo immer möglich – aus dem Verkehr gezogen werden.“

Die Linke hält dagegen: „Wer Strafgesetze verschärfen will, spricht von Sicherheit. Statt Sicherheit werden aber immer lückenlosere Überwachungsphantasien umgesetzt, von Videokameras bis zur Kontrolle der Chats auf dem privaten Handy. Wir wollen keine Sicherheitspolitik, die in die Privatsphäre der Menschen eingreift.“ Die Linke stellt sich ebenfalls gegen Vorratsdatenspeicherung und Chatkontrolle und lehnt zudem Bestandsdatenauskunft, Staatstrojaner, nicht-individualisierte Funkzellenabfragen, Rasterfahndung, biometrische Videoüberwachung, Taser und Gummigeschosse ab. Der polizeiliche Einsatz von Pfefferspray soll massiv begrenzt und im Zusammenhang mit Versammlungen und Veranstaltungen verboten werden.

Den Verfassungsschutz will die Linke durch eine unabhängige Beobachtungsstelle „Autoritarismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ersetzen. „Als erster Schritt muss das V-Leute-System des Inlandsgeheimdienstes und seine Verstrickungen mit der extremen Rechten aufgedeckt und beendet werden“, schreibt die Partei.

Die FDP hat auch noch eine gute Idee, mit der sich ausufernde Überwachung begrenzen lässt: „Bei jeder neuen Befugnis für die Sicherheitsbehörden müssen zunächst die Auswirkungen auf die Bürgerrechte und die technische Realisierbarkeit geprüft werden. Zu diesem Zweck braucht es eine dauerhaft fortgeschriebene Überwachungsgesamtrechnung“, schreibt sie in ihrem Programm. Die FDP stellt sich ebenfalls gegen automatisierte Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, Chatkontrollen, Uploadfilter, Vorratsdatenspeicherung „und andere Formen der anlasslosen Datenerfassung“.

Grenzregime

Totalitäre Regierungen leben von harten Grenzen. Die helfen, Feindbilder im Ausland aufzubauen und halten im Zweifelsfall nicht nur Staatsgegner draußen, sondern auch die eigene Bevölkerung drin. Die AfD schreibt in ihrem Programm, sie würde „unsere Grenzen wieder selbst kontrollieren und die Bundespolizei als Grenzbehörde einsetzen um illegale Einreisen wirksam zu unterbinden und illegal einreisende Personen konsequent an der Grenze zurückweisen zu können“.

Die CDU klingt diesbezüglich ganz ähnlich. „Wir setzen einen faktischen Aufnahmestopp sofort durch. Dazu weisen wir diejenigen an den deutschen Grenzen zurück, die aus einem anderen Mitgliedstaat der EU oder dem Schengen-Raum nach Deutschland einreisen und bei uns einen Asylantrag stellen wollen“, schreibt sie in ihrem Programm. Zugleich will die Partei in „modernste Grenzsicherungstechnik“ wie etwa in Drohnen, Nachtsicht- und Wärmebildkameras investieren.

Ausreisepflichtige Ausländer *innen sollen in Ausreisegewahrsam genommen werden, die EU-Außengrenzen baulich und technisch verstärkt. „Frontex muss eine echte Grenzpolizei und Küstenwache mit hoheitlichen Befugnissen und deutlich aufgestocktem Personal werden“, schreibt die Partei zudem.

Die Grünen hingegen setzen auf ein effektives Menschenrechtsmonitoring und ein konsequentes Vorgehen gegen illegale Pushbacks an den europäischen Grenzen. Aber selbst sie wollen „rechtsstaatliche Kontrollen an den Außengrenzen und eine zuverlässige Registrierung der Menschen“.

Die Linke wünscht sich, dass Frontex aufgelöst und durch ein ziviles europäisches Seenotrettungsprogramm ersetzt wird. Bestehende Instrumente zur Überwachung des Mittelmeers und der Außengrenzen will die Partei in den Dienst der Seenotrettung stellen. Systematische Binnengrenzkontrollen und Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den Grenzen seien unzulässig.

Kampf gegen rechts

Deutschland hat nicht nur das Dritte Reich erfunden, sondern auch den Antifaschismus. Diese Idee des Kampfes der humanistischen Kräfte gegen den autoritären Wandel ist inzwischen über 100 Jahre alt. Beim Aufstieg des Dritten Reichs scheiterte sie an der Zersplitterung derer, die nur als Allianz stark genug gewesen wären. Wie es diesmal ausgeht, wird sich zeigen. Zumindest haben die meisten Parteien antifaschistische Aktionen in ihren Wahlprogrammen.

Die Linke als wohl antifaschistischste Kraft im aktuellen Bundestag schreibt in ihrem Programm: „Protest und Aufklärung gegen rechts sind eine Bedingung von Demokratie und dürfen nicht mehr kriminalisiert werden. Projekte der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, Opferberatungen und zivilgesellschaftliche Demokratiebündnisse, Migrant*innenselbstorganisationen sowie Antifa-Initiativen müssen mit einem echten wirksamen Demokratiefördergesetz stärker unterstützt und langfristig finanziell abgesichert werden.“

Die Partei will die parlamentarische Aufklärung des Rechtsterrors vorantreiben und Druck machen für die Freigabe aller Akten der Geheimdienste zum Beispiel zum Oktoberfest-Attentat und zum NSU-Komplex. „Wir fordern das Verbot militanter, bewaffneter, neonazistischer Organisationen und unterstützen, dass das Bundesverfassungsgericht ein Verbot der AfD prüfen soll“, schreibt die Partei.

Die SPD will vor allem mit Prävention extremistische Tendenzen und Demokratiefeindlichkeit frühzeitig bekämpfen. Außerdem will sie dafür sorgen, dass die Finanzquellen rechtsextremistischer Netzwerke offengelegt und ausgetrocknet werden. „Wir wollen, dass die Strukturen rechtsextremistischer Gruppen konsequent aufgedeckt und unterbunden werden. Hierfür überprüfen wir, ob die bisherigen Befugnisse der Sicherheitsbehörden ausreichen“, heißt es weiter im Programmentwurf.

Die Grünen setzen ebenfalls auf Prävention und zudem auf „Programme wie ,Demokratie leben!‘, die über Islamismus aufklären, Angebote für Aussteiger*innen aus der rechtsextremen Szene oder Deradikalisierungsprogramme für den Justizvollzug“. Diese Arbeit will die Partei mit einem Demokratiefördergesetz gesetzlich absichern.

Selbst die CDU will Rechtsextremisten, Reichsbürger und sogenannte Selbstverwalter „mit voller Härte“ auf der Basis des 2020 gestarteten Maßnahmenpakets gegen Rechtsextremismus bekämpfen.

Die Programme der Parteien in Reihenfolge der aktuellen Wahlprognosen

CDU (beschlossen)
AfD (Entwurf, soll am 11./12.1. auf Parteitag verabschiedet werden)
SPD (Entwurf, soll am 11.1. auf Parteitag verabschiedet werden)
Grüne (Entwurf, soll am 26.1. auf Parteitag verabschiedet werden)
BSW (Programm liegt zur Erstellung des Textes nicht vor. Es soll voraussichtlich Anfang des neuen Jahres fertig sein. Jetzt am Wochenende wird es ein Kurzprogramm geben)
FDP (beschlossen)
Die Linke (Entwurf, soll am 18.1. auf Parteitag verabschiedet werden)

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Facebook: Moderator:innen leiden unter schweren psychischen Erkrankungen

19. Dezember 2024 - 13:52

Depression, Angststörungen, Traumata: Bei mehr als 140 ehemaligen Content-Moderator:innen wurden schwere Folgeschäden ihrer Arbeit festgestellt. In Kenia verklagen sie ihre ehemaligen Arbeitgeber, den Plattformkonzern Meta und die Outsourcing-Firma Sama.

Seit bald zwei Jahren läuft ein Gerichtsverfahren ehemaliger Moderator:innen gegen Facebook in Kenia – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Barefoot Communications

Im Gerichtsverfahren gegen ihre früheren Arbeitgeber haben zahlreiche Content-Moderator:innen in Kenia vorgebracht, dass sie unter schweren posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Diese seien durch ihre Arbeit verursacht worden, berichtet der Guardian. Die mehr als 140 Sicherheitsexpert:innen werfen dem Sozialen Netzwerk Facebook und der Outsourcing-Firma Sama aus den USA vor, sie nicht ausreichend vor den traumatisierenden Auswirkungen ihrer Tätigkeit geschützt zu haben.

Um die Social-Media-Plattform des Meta-Konzerns sicher zu halten, mussten die Arbeiter:innen in den Jahren 2019 bis 2023 acht bis zehn Stunden am Tag verstörende Inhalte sichten und moderieren. Dazu gehören Darstellungen von Tierquälerei, Gewalt, Vergewaltigung, Folter und Hinrichtungen. Angestellt waren sie nicht bei Facebook direkt, sondern bei dem Outsourcing-Dienstleister Sama, der damals Samasource hieß.

Bereits Anfang 2023 hatten insgesamt 184 Moderator:innen die beiden Firmen verklagt, nachdem sie überraschend entlassen worden waren. Sama beendete damals sein Geschäft im Bereich der Content-Moderation, nachdem Whistleblower Daniel Motaung die schlechten Arbeitsbedingungen öffentlich machte und es heftige internationale Kritik gab. Die entlassenen Fachleute für Social-Media-Sicherheit werfen den Unternehmen unter anderem unrechtmäßige Kündigungen, eine unfaire Beschäftigungspraxis, psychologische Folgeschäden, moderne Sklaverei und Menschenhandel vor.

Schlechte Bezahlung, schlechter Schutz

Dem Guardian zufolge untersuchte der Leiter der Abteilung für psychische Gesundheit am Kenyatta National Hospital in Nairobi, Dr. Ian Kanyanya, insgesamt 144 der Kläger:innen. Der Mediziner sei zu dem Schluss gekommen, dass es unter ihnen keine Person gäbe, die nicht schwere Folgen zu spüren habe, darunter auch Angststörungen und Depressionen. Mindestens 40 der Betroffenen hätten infolge der Erkrankungen Probleme mit Alkohol und Drogen entwickelt.

Die schlechten Arbeitsbedingungen im Tech-Outsourcing, wozu neben Content-Moderation auch Datenarbeit hinter KI-Anwendungen wie ChatGPT zählen, sind seit Jahren Anlass für Kritik. Die Kläger:innen in Kenia berichten nicht nur von mangelnden Schutzmaßnahmen und fehlender psychologischer Betreuung, sondern auch von erheblichem Arbeitsdruck, permanentem Monitoring und schlechter Bezahlung. Sie hätten um ein vielfaches weniger verdient, als Facebook-Moderator:innen in den USA.

Whistleblower Daniel Motaung, der Sama und Meta ebenfalls verklagt hat, wirft den Unternehmen auch vor, ihn und andere Kolleg:innen unter Vorspielung falscher Tatsachen aus ihren Heimatländern für den Job nach Kenia gelockt zu haben. Unterstützt werden die Moderator:innen von der britischen Nichtregierungsorganisation Foxglove Legal.

Vermittlungsgespräche waren gescheitert

Im August 2023 hatte ein Gericht in Nairobi die Parteien aufgefordert, sich außergerichtlich zu einigen. Die Unternehmen seien jedoch kaum auf die Forderungen der Moderator:innen eingegangen und hätten auf Zeit gespielt, sagte damals Mercy Mutemi, die Rechtsanwältin der Gruppe. Ende 2023 waren die Vermittlungsgespräche gescheitert.

Meta versuchte in dem Verfahren, die Verantwortung für die Arbeitsbedingungen von sich zu weisen. Da der Konzern lediglich der Auftraggeber war und die Moderator:innen bei Sama beschäftigt gewesen seien, trage er keine Verantwortung als Arbeitgeber und unterliege nicht der kenianischen Gerichtsbarkeit. Erst im September 2024 wies das Berufungsgericht in Nairobi die Beschwerde von Meta ab und machte so den Weg frei für das ordentliche Verfahren. Klargestellt ist inzwischen auch, dass Meta Verantwortung als Arbeitgeber trägt, weil es die Standards, Prozesse und Software für die Arbeit vorgegeben hat.

Auf Anfrage von netzpolitik.org teilte eine Meta-Sprecherin mit, das Unternehmen kommentiere keine laufenden Verfahrehn. Sama reagierte auf eine kurzfristige Presseanfrage am Donnerstagvormittag nicht. Wir tragen die Antwort hier ggf. nach.

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Gegen den autoritären Ordnungsstaat: Die volle Härte der Zivilgesellschaft

19. Dezember 2024 - 10:23

„Law and Order“-Politik bietet nicht mehr als Scheinlösungen. Und sie ist brandgefährlich, weil sie die Grund- und Freiheitsrechte aller schleift. Wir halten dagegen. Und wir geben der Zivilgesellschaft eine Stimme. Das aber geht nur mit deiner Unterstützung.

Wir halten menschenfeindlicher Politik den Spiegel vor. – Fotomontage, netzpolitik.org

Bevor politische Debatten ans Eingemachte gehen können, ertönt oftmals der Ruf nach Law and Order. „Mit der vollen Härte des Rechtsstaats“ werde man das Problem angehen. Das ist Symbolpolitik vom Feinsten. Denn die markige Forderung ist so inhaltsleer wie gefährlich.

Inhaltsleer ist sie, weil sie Scheinlösungen für gesellschaftliche Probleme liefert. Exemplarisch zeigt dies die jüngste Debatte um das „Sicherheitspaket“ der Ampel-Regierung. Es verschärft das Waffenrecht und ermöglicht so verdachtsunabhängige Durchsuchungen in bestimmten Zonen. Bundeskriminalamt und Bundespolizei sollen das Internet per Foto nach Personen im öffentlichen Internet absuchen. (Auch wenn das erstmal am Bundesrat gescheitert ist, weil es einigen Ländern nicht weit genug ging). Und Asylsuchende werden teils Sozialleistungen gestrichen, sobald ihre Abschiebung angeordnet wurde.

Keine dieser Maßnahmen verhindert, dass Menschen andere Menschen mit Messern angreifen. Mit dieser Rechtfertigung hat die Ampel ihr „Sicherheitspaket“ aber nach dem Messerangriff von Solingen durch den Bundestag gedrückt. Weil Wahlen anstehen, weil Rechtsradikale den kurzen politischen Prozess herbeischreien und weil wirklich wirksame Maßnahmen nun mal kompliziert und langwierig wären.

Zivilgesellschaftliche Organisationen kritisieren das „Sicherheitspaket“ umfassend und einhellig. Sie sehen darin ein „gefährliches Überwachungsvorhaben“, das die Grund- und Freiheitsrechte massiv beschneidet. Weil es der Polizei willkürliche Kontrollen und Durchsuchungen erlaubt. Weil Sicherheitsbehörden biometrische Superdatenbanken anlegen dürften. Weil es zu Wohnungslosigkeit und Verelendung von Schutzsuchenden führt.

Und genau darin liegt die große Gefahr der Law-and-Order-Politik. Denn das Rechtsstaatsprinzip zeichnet sich dadurch aus, dass staatliche Gewalt an Grund- und Menschenrechte gebunden ist. Sie sind der Mindeststandard in einer Demokratie. Der autoritäre Ordnungsstaat aber schleift die Grund- und Menschenrechte. Er höhlt den Rechtsstaat aus und gefährdet die Demokratie.

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Wir entlarven die autoritären Scheinlösungen. Und im Kampf für Grund- und Freiheitsrechte geben wir der Zivilgesellschaft eine Stimme. Sie ist es, die mit Sachverstand und Durchblick die Maßnahmen kritisiert und wirksame gesellschaftliche Lösungen erarbeitet – als Gesprächspartner in den Medien, als Sachverständige in Bundestagsanhörungen und als Sprecherin auf Demonstrationen. Und die bei alledem nicht den Humor verliert.

Damit die Zivilgesellschaft weiterhin Gehör findet, braucht es deine Spende. Aktuell fehlen uns noch rund 250.000 Euro, damit wir unsere Arbeit im kommenden Jahr wie gewohnt fortsetzen können.

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Nach Beschluss der Bundesländer: Geplanter Kinderschutz-Modus erntet Kritik

18. Dezember 2024 - 10:04

Von den Ministerpräsident*innen gab es jüngst grünes Licht für die Novelle des Jugendmedienschutzes. Betriebssysteme sollen einen Kinderschutz-Modus anbieten, und die Medienaufsicht bekommt mehr Instrumente gegen Pornoseiten. Verbände und Fachleute warnen.

Mehr Filter. – Public Domain DALL-E-3 („annoyed boy with smartphone, bauhaus style reduced minimalist geometric shape“)

Die Novelle des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV) hat vergangene Woche mit dem Okay der Länderchef*innen die nächste Hürde genommen. Es fehlt noch die Zustimmung der Landesparlamente.

Zu den spannendsten Neuerungen gehören drei Maßnahmen: Zum einen müssen Anbieter von gängigen Betriebssystemen eine Art Kinderschutz-Modus anbieten, der den Zugang zu angeblich nicht jugendfreien Inhalten erschweren soll. Zum anderen bekommt die Medienaufsicht zwei mächtige, neue Werkzeuge an die Hand, um gegen widerspenstige Pornoseiten vorzugehen.

Die Regelung für Betriebssysteme dürfte etwa Windows, Android, iOS und MacOS treffen – denn laut Novelle erfasst sind „Betriebssysteme, die von Kindern und Jugendlichen üblicherweise genutzt werden“.

Einmal aktiviert, soll der Kinderschutz-Modus auf einem Gerät den Zugang zum Internet via Browser sowie den Zugang zu Apps auf Marktplätzen begrenzen. Via Browser sollen nur Online-Suchmaschinen verfügbar sein, die einen geschützten Modus anbieten – also beispielsweise keine Pornoseiten in den Suchergebnissen auflisten. Apps sollen nur mit entsprechendem Alterslabel zugänglich sein.

Filter machen Fehler

Gerade die geplanten Regeln auf Ebene von Betriebssystemen stießen bei Verbänden bereits in der Vergangenheit auf Kritik – und das tun sie immer noch.

Vor Overblocking warnt etwa Felix Falk, Geschäftsführer von game, dem Verband der deutschen Games-Branche, auf Anfrage von netzpoltik.org. Als Overblocking bezeichnet man die versehentliche Sperrung von unbedenklichen Inhalten.

Dass Jugendschutz-Filter ein strukturelles Problem mit Overblocking haben, zeigten bereits mehrere Recherchen von netzpolitik.org, etwa zu gefilterten Suchergebnissen auf Google und YouTube und zum Jugendschutz-Filter JusProg. Aus den Recherchen geht hervor: Immer wieder fallen den Filtern unverfängliche Inhalte zum Opfer. Darunter sind sogar ausdrückliche Aufklärungsinhalte und Anlaufstellen, die Jugendlichen auf Informationssuche sehr helfen würden.

Der Verband game kritisiert zudem die Jugendschutz-Pläne mit Blick auf Europa. Demnach harmonisiere bereits das EU-Gesetz über digitale Dienste (DSA) die Regeln für Plattformen, „sodass für die Bundesländer hier gar kein Regulierungsspielraum mehr besteht“. Der Verband betrachtet es als „höchst fraglich, ob der JMStV in dieser Fassung mit dem Europarecht überhaupt vereinbar ist“.

Ähnliche Bedenken äußert Bitkom, der Verband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche. Die Jugendschutz-Pläne würden zudem nicht internationalen Standards entsprechen und etwa abweichende Altersstufen vorsehen.

„Trügerisches Sicherheitsgefühl“

Eine Art Lob kommt von Alexandra Koch-Skiba, Leiterin der Beschwerdestelle von eco, dem Verband der Internetwirtschaft. Demnach seien die nun geplanten Regeln „praktikabler“ als die ersten Vorschläge. Eltern oder Bezugspersonen bekämen ein zusätzliches Werkzeug, das sie bei Bedarf aktiv einsetzen können. „Diese bewusste Entscheidung stärkt die Nutzerautonomie und entspricht dem Erziehungsrecht der Eltern.“

Die FSM (Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter) fächert eine ganze Reihe von Kritikpunkten auf. So könnte die Jugendschutzvorrichtung „ein trügerisches Sicherheitsgefühl bei Eltern erzeugen“. Die FSM warnt zudem: Ein pauschales Schnutzniveau nach starren Altersgrenzen wie „ab 6“, „ab 12“ und „ab 16“ passe nicht zur Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen. „Dies trägt nicht dazu bei, Schutz, Befähigung und Teilhabe in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.“ Es gehe auch darum, dass junge Menschen an der digitalisierten Lebenswelt teilhaben können, ihre Informationsfreiheit gewahrt wird und sie Medienkompetenz entwickeln können.

Mit konkreteren Vorhersagen hält sich die FSM jedoch zunächst zurück, weil die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) – ein Organ des Landesmedienanstalten – noch zahlreiche Dinge festlegen müsse. „Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich deshalb über die tatsächlichen Auswirkungen nur spekulieren.“ Als positiven Aspekt erwähnt die FSM etwa, dass es im Zuge der Novelle mehr Aufmerksamkeit für technischen Jugendmedienschutz gebe.

Was wird aus offenen Betriebssystemen?

Nach wie vor unklar ist, was die neuen Regeln für freie und quelloffene Betriebssysteme wie etwa Linux oder alternative App-Marktplätze wie etwa F-Droid bedeuten. Hier liegt es im Ermessen der Medienaufsicht, festzustellen, ob sie „üblicherweise“ von Jugendlichen genutzt werden oder nicht. „Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht vorhersehbar, wann Anbieter freier Betriebssysteme eine entsprechende Jugendschutzvorrichtung vorhalten müssen“, schätzt der Verband eco.

Für Johannes Näder von der Free Software Foundation Europe (FSFE) bringt die Novelle rechtliche Unsicherheit. „Wer gilt als Anbieter und ist verpflichtet, die Vorgaben umzusetzen? Wem drohen bei Nichtbeachtung Bußgelder?“, schreibt er auf Anfrage. Der Ansatz der Novelle bei Betriebssystemen sei falsch und unverhältnismäßig.

Außerdem fehle die Vorgabe, dass Jugendschutzprogramme als freie Software umzusetzen sein sollten. „Nur durch Freie Software und Offene Standards können Nutzende überprüfen, dass die jeweilige Software das gewünschte Sicherheitsniveau bietet“, betont Näder.

Mehr Netzsperren für Pornoseiten

Unabhängig vom Thema Betriebssysteme sind die neuen Werkzeuge, die der novellierte JMStV im Vorgehen gegen Pornoseiten vorsieht. Seit Jahren setzt sich die Landesmedienanstalt NRW dafür ein, dass die weltgrößten Pornoseiten wie xHamster, XVideos und Pornhub in Deutschland ordnungsgemäß die Ausweise ihrer Besucher*innen kontrollieren – oder deren Gesichter biometrisch scannen lassen.

Das Vorgehen war bislang weniger erfolgreich, zumindest scheinbar. Zwar finden auch Jugendliche nach wie vor massenhaft Pornos im Internet; in dieser Hinsicht kann die Medienaufsicht keinen Erfolg verbuchen. Allerdings kann sich die Aufsicht in Folge ihres beharrlichen Vorgehens künftig über ein erweitertes Arsenal an Instrumenten freuen.

Zu den schärfsten Schwertern der Medienaufsicht gehört die Anordnung von Netzsperren bei Providern. Bislang war das ein zäher Prozess. Betroffene Plattformen konnten im Handumdrehen Ausweichdomains einrichten und somit der Handhabe der Medienaufsicht entgehen. Zuletzt hat das etwa xHamster eindrücklich vorgeführt.

Eine Welle von Overblocking rollt heran

Genau hier setzt die Novelle an. Demnach gibt es Netzsperren künftig auch für Angebote, „die mit bereits zur Sperrung angeordneten Angeboten ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich sind“. In anderen Worten ausgedrückt: für Ausweichdomains. Das wirft die Frage auf, wer künftig schneller ist: Die Medienaufsicht mit ihren Netzsperren oder die Pornoseiten mit ihren Ausweichdomains? Das bisher eher in Zeitlupe ablaufende Katz- und Mausspiel dürfte dadurch dynamischer werden. Wir haben die Pressestelle von Pornhub um ein Statement gebeten und werden es ergänzen, wenn wir eines erhalten.

Der Griff um den Geldhahn

Ein neues, scharfes Schwert im Instrumentarium der Medienaufsicht ist der Griff nach dem Geldhahn, wie aus der Novelle hervorgeht. So soll die Medienaufsicht künftig auch Finanzdienstleistern die Mitwirkung an Zahlungen für widerspenstige Angebote untersagen dürfen. Gerade das dürfte bei Pornoseiten Bauchschmerzen auslösen, denn auf Geldflüsse sind sie angewiesen.

Im Jahr 2020 haben sich etwa Visa und Mastercard – aus freien Stücken – von Pornhub zurückgezogen; im selben Jahr beendete Klarna die Zusammenarbeit mit xHamster. Beides korrelierte mit deutlichen Nachbesserungen hinter den Kulissen der Pornoseiten, etwa dem Verbot anonymer Uploads.

Die Free Speech Coalition Europe vertritt die Interessen der Pornobranche in Europa, dahinter steht die Porno-Darstellerin und Produzentin Paulita Pappel. Die Bemühungen der Medienaufsicht gegen die größten Pornoseiten bewirken in ihren Augen das Gegenteil, schreibt Pappel auf Anfrage. Die Jugend werde damit nicht geschützt – stattdessen würden illegale Plattformen gefördert, auf die Nutzer*innen im Zweifel ausweichen würden. Zugleich würde die Porno-Branche diskriminiert. „Die Lösungen sind schon erfunden“, schreibt Pappel und verweist etwa auf gerätebasierte Filter.

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Big-Tech und das US-Militär: Ein verlockendes Geschäft

18. Dezember 2024 - 8:00

Immer mehr Tech-Giganten wie OpenAI, Meta, Google und Palantir liefern ihre Technologien an das US-Militär. Das einstige Tabu wird zur Normalität – trotz interner Proteste und ethischer Bedenken. Was treibt die Tech-Branche in die Arme des Rüstungssektors?

Viele Tech-CEOs pflegen gute Beziehungen mit dem US-Verteidigungsministerium. Hier zu sehen (v.l.n.r.): Jeff Bezos (Amazon), Sam Altman (OpenAI), Sundar Pichai (Alphabet/Google) und Mark Zuckerberg (Meta). – Alle Rechte vorbehalten Bildkomponenten: IMAGO; Montage: Ben Bergleiter

Die Tech-Industrie und der US-amerikanische Rüstungssektor pflegen eine komplizierte Beziehung. Die Weltverbesserungsideale des Silicon Valleys scheinen eine Zusammenarbeit mit dem Militär zu verbieten. Sie dürfen nicht, sie sollten nicht, doch sie können einfach nicht voneinander lassen – zu verlockend das schier unendlich wirkende Budget des Pentagons, zu intelligent die technologischen Spielzeuge aus dem Silicon Valley.

Was teilweise noch als Tabu galt, wird zunehmend normalisiert: Immer mehr Tech-Unternehmen stellen ihre sogenannten KI-Technologien dem US-Militär zur Verfügung. In den vergangenen Wochen haben gleich mehrere Unternehmen eine Zusammenarbeit mit dem Rüstungssektor angekündigt, unter ihnen die Tech-Giganten OpenAI und Meta. Die Entscheidung stellt einen Kurswechsel in der KI-Branche dar, was militärische Verwendungszwecke angeht, denn bisher waren viele Firmen noch recht zaghaft im Umgang mit dem Militär.

Einige Unternehmen im Silicon Valley priesen in den Anfängen ihrer KI-Ambitionen noch hohe Ideale, nur um sie dann später fallen zu lassen. Das lässt sich gut am Beispiel von Google skizzieren. Als das Unternehmen 2014 den KI-Pionier DeepMind kaufte, verpflichtete es sich, die Technologie des Start-ups nicht für militärische Zwecke zur Verfügung zu stellen. Vier Jahre später nahm Google allerdings am „Project Maven“ teil, einem Projekt des Pentagons für die Entwicklung von autonomen Kampfdrohnen.

Interner Protest bei Google

Der interne Protest darüber war so groß, dass CEO Sundar Pichai schließlich die Teilnahme zurückzog und firmeneigene KI-Prinzipien festsetzte. In diesen heißt es, dass Google sich nicht an „Waffen oder anderen Technologien, deren Hauptzweck oder Einsatz darin besteht, Menschen zu verletzen oder dies unmittelbar zu erleichtern“, beteiligen wird.

Dieses Prinzip hindert das Unternehmen jedoch nicht daran, weiterhin Geschäfte mit dem Verteidigungsministerium zu machen: Aktuell liefert Google beispielsweise seine Cloud-Computing-Technologie an das Pentagon, das nach eigener Aussage eine Verwendung für Kampfzwecke nicht ausschließt. Google reizt dadurch die Grenzen seiner eigenen Prinzipien aus. Dieselbe Technologie liefert das Unternehmen auch an das israelische Verteidigungsministerium, was für erneute interne Kritik bei Google gesorgt hat.

Auch der CEO von OpenAI, Sam Altman, muss sich aktuell mit internen Widerständen gegen seine Zusammenarbeit mit dem Rüstungssektor auseinandersetzen. Er hatte bei der Vorstellung von OpenAI vor neun Jahren angekündigt, die entwickelten Technologien sollten „der Menschheit als Ganzes zugutekommen“ und nicht für militärische Zwecke eingesetzt werden. Im Januar dieses Jahres strich OpenAI allerdings stillschweigend Stellen in ihren Nutzungsregeln, die militärische Verwendungen verbieten.

Wird OpenAI das reale Skynet?

Anfang Dezember kündigte Altman dann eine Kooperation mit dem Rüstungs-Tech-Start-up Anduril an, das unter anderem autonome Raketen und Drohnen für das US-Militär entwickelt. Er betonte, dass die Technologien seines Unternehmens zur Entwicklung von Verteidigungssystemen gegen Drohnen eingesetzt werden sollen. In einem OpenAI-internen Austauschforum kritisierten einige Mitarbeitende ihren Arbeitgeber für die Zusammenarbeit und fragten, wie man garantieren könne, dass die Systeme nicht auch gegen Menschen eingesetzt würden.

Ein Mitarbeiter merkte an, dass defensive Anwendungsfälle immer noch eine Militarisierung der sogenannten KI darstellen würden. Er erinnerte daran, dass das fiktive KI-System Skynet, das sich in den Terminator-Filmen gegen die Menschheit wendet, ursprünglich auch zur Abwehr von Luftangriffen auf Nordamerika entwickelt wurde. Das Management von OpenAI erkannte die Kritik ihrer Mitarbeitenden an, bemerkte im gleichen Forum allerdings auch, dass es wichtig sei, den Militärs von demokratisch geführten Staaten die bestmöglichen Technologien zur Verfügung zu stellen.

Die Guten gegen die Bösen

Das Argument, dass man die Waffe lieber den demokratischen „Good Guys“ als den autoritären Feinden anvertraut, scheint aktuell für immer mehr US-amerikanische Tech-Unternehmen zu ziehen. Manche brauchen für diese Erkenntnis allerdings etwas externe Denkhilfe: Meta hatte sich ursprünglich geweigert, sein öffentlich verfügbares Sprachmodell „Llama“ für den Einsatz für militärische Zwecke zu erlauben. Dem chinesischen Militär schien das allerdings egal gewesen zu sein, denn die nutzten das Modell als Basis für die Entwicklung eines eigenen Sprachmodells namens „ChatBIT“.

Drei Tage, nachdem das öffentlich bekannt wurde, löschte Meta die entsprechenden Verbote in den Nutzungsbedingungen und kündigte in einem Blogpost Partnerschaften mit US-Rüstungskonzernen wie Lockheed-Martin sowie dem Überwachungs- und Militärtechnik-Unternehmen Palantir an. Plötzlich entdeckte Meta seinen uramerikanischen Patriotismus: „Als amerikanisches Unternehmen, das seinen Erfolg zu einem nicht geringen Teil dem Unternehmergeist und den demokratischen Werten der Vereinigten Staaten verdankt, möchte Meta seinen Beitrag zur Sicherheit und zum wirtschaftlichen Wohlstand Amerikas – und auch seiner engsten Verbündeten – leisten“, heißt es in dem Blogpost von Anfang November.

Im Angesicht des öffentlichen und politischen Drucks, dem Meta wohl ausgesetzt war, wirkte diese Kehrtwende wenig überraschend. Etwas unerwarteter kam hingegen die Ankündigung des Sprachmodell-Entwicklers Anthropic über eine Zusammenarbeit mit Palantir, um ihre Large-Language-Modelle an den Rüstungssektor zu verkaufen.

Anthropic wurde 2021 von ehemaligen Mitarbeitenden von OpenAI gegründet, die fanden, dass CEO Sam Altman die Sicherheit von sogenannten KI-Technologien nicht ernst genug nahm. Einen dieses Jahr im US-Bundesstaat Kalifornien vorgeschlagenen „AI Safety Act“, den OpenAI ablehnte, befürwortete Anthropic. Mit dieser Vergangenheit erscheint eine Zusammenarbeit mit dem umstrittenen Überwachungsunternehmen Palantir und dem US-amerikanischen Rüstungssektor nicht gerade naheliegend.

Eine protektionistische KI-Politik

Doch auch der CEO von Anthropic, Dario Amodei, entdeckte jüngst einen ausgeprägten Patriotismus für sich, der über alle Sicherheitsbedenken hinweghalf. In seinem im Oktober veröffentlichten Essay „Machines of Loving Grace – How AI Could Transform the World for the Better“ plädiert er für eine protektionistische KI-Politik, die eine Vormachtstellung der USA auf dem Gebiet garantieren soll. Eine demokratische Allianz solle demnach für „stabile militärische Überlegenheit“ sorgen und KI-Technologie selektiv mit Nationen teilen, die sich bereit erklären, „die Strategie der demokratiefördernden Koalition“ zu unterstützen.

So sollen die „ärgsten Feinde“ der Demokratie von der Welt isoliert und dazu gebracht werden, einen Kampf gegen einen „überlegenen Gegner“ aufzugeben. Den ärgsten Feind auf dem Gebiet der KI-Entwicklung sieht Amodei aktuell in China, dem man den Zugang zu „wichtigen Ressourcen wie Chips und Halbleiterausrüstung“ blockieren müsse. Er bekennt sich damit zu dem „Chip-Krieg“ der USA und anderer westlicher Mächte mit China.

Dass Anthropics Ankündigung, mit dem US-amerikanischen Rüstungssektor zusammenzuarbeiten, nur zwei Tage nach der diesjährigen US-Wahl veröffentlicht wurde, dürfte kein Zufall sein. Auch wenn der Chip-Krieg zuletzt stark von der Biden-Regierung vorangetrieben wurde, war es doch die erste Amtszeit unter Trump, die zu dem Handelskrieg geführt hat. In den vergangenen Tagen gab es Annäherungsversuche – so lud Trump den chinesischen Präsidenten Xi Jinping zu seiner Vereidigung im Januar ein –, doch seine weiteren Ankündigungen lassen nicht auf eine kurzfristige Entspannung des Konflikts schließen.

Die Rolle von Trump

Nach der gewonnenen Wahl schmiegen sich nun immer mehr Tech-CEOs an Trump. Allen voran natürlich sein Tech-Bro vom Dienst, Elon Musk, der nach Wahlkampfspenden im dreistelligen Millionenbereich nun einen Posten als Berater für Regierungseffizienz ergattert hat. Auch Jeff Bezos und Mark Zuckerberg haben ihre Begeisterung für Trump mittlerweile für sich entdeckt und versuchen, ihre frühere Kritik an ihm durch Sympathiebekundungen zu retuschieren.

Sich jetzt präventiv mit der Trump-Regierung anzufreunden, dürfte sehr profitabel für Tech-Unternehmen sein, denn sie vergibt in Zukunft die heiß begehrten Regierungsaufträge an Privatunternehmen. Das spendabelste Ministerium ist das der Verteidigung: Ihm stehen im aktuellen Haushaltsjahr über eine Billion US-Dollar zur Verfügung. Die Hälfte davon gibt sie an die sogenannten Government Contractors, also an Vertragspartner der Regierung. Um an diesem gigantischen Topf teilhaben zu können, nähern sich viele Tech-Unternehmen aktuell Trump und gleichzeitig dem Rüstungssektor an.

Doch auch nicht-staatliche Akteure investieren zur Zeit massiv in die Militär-Tech-Branche: Von 2021 bis 2023 haben private Investoren über 108 Milliarden US-Dollar in Militär-Tech-Unternehmen gesteckt, analysierte die Datenfirma PitchBook. Bis 2027 werden die Investitionen voraussichtlich auf knapp 185 Milliarden steigen. Angeführt und angeheizt wird der Anlagetrend von einer Gruppe aus Risikokapitalgebern, die an einer Militarisierung der Tech-Branche interessiert sind.

Das militarisierte Silicon Valley

Die sowieso schon maskulin anmutende Tech-Bro-Kultur des Silicon Valleys transformiert sich durch die täglich aufploppenden Militär-Tech-Start-ups zu einem in Testosteron getränkten Teenagertraum: Ausflüge zu Schießanlagen, Tech-Demos mit Explosionen und Partybusse zu Stripclubs definieren la belle vie in Kaliforniens reichstem Tal – primär für Männer, berichtet die Washington Post.

Von einer aktuellen Militarisierung des Silicon Valleys kann aber eigentlich streng genommen nicht die Rede sein, denn der Ort ist bereits vom US-Militär erschaffen worden. In den 1950er Jahren verwandelte es eine Fläche von Obstplantagen in Kalifornien in eine Produktionsstätte für Mainframes und Mikroprozessoren. Während des aufkommenden Internet-Zeitalters in den 1980ern und 1990ern verließen Firmen wie Apple und Co. ihre militärischen Wurzeln, indem sie ihre Produkte primär an private Haushalte vermarkteten, schreibt Margaret O’Mara im Buch „The Code: Silicon Valley and the Remaking of America“.

Mit dem durch 9/11 ausgelösten „War on Terror“ interessierte sich das Pentagon dann aber brennend für die technologischen Früchte ihres Plantagen-Tals und schuf zusammen mit der CIA eine verlässliche Pipeline zwischen Tech-Industrie und dem Militär. Eins der Unternehmen, die während dieser Zeit gegründet wurden, war Palantir.

Wandel in der Branche?

Nach den Protesten bei Google über die Teilnahme am autonomen Kampfdrohnen-Projekt „Maven“ 2018 hinterfragten viele Tech-Arbeiter:innen ihre indirekte Tätigkeit für das US-Militär. Eine von ihnen war Liz O’Sullivan: Sie kündigte ihren Job bei einem Tech-Unternehmen, weil ihr Arbeitgeber Technologie für autonome Waffen an das Militär verkaufen wollte.

In einem Artikel begründete sie ihre Entscheidung und unterstrich die Gefahren von autonomen Waffensystemen: Sie seien anfällig für Unfälle, hackbar, intransparent entwickelt, hätten kein Konzept von Moral und würden die Art der Kriegsführung durch ihre übermenschlichen Rechenkapazitäten eskalieren. Damals plädierte sie für einen Wandel in der Branche: „Ich hoffe wirklich, dass die Industrie ihren Kurs ändert und sich bereit erklärt, Verantwortung für ihre Arbeit zu übernehmen, um sicherzustellen, dass die Dinge, die wir im privaten Sektor bauen, nicht zum Töten von Menschen verwendet werden.“

Jetzt, fünf Jahre später, ist die von O’Sullivan erhoffte Entmilitarisierung ausgeblieben. Die Tech-Industrie scheint vom Rüstungssektor sehr angetan zu sein. Doch die kollektive Macht der Tech-Arbeiterschaft konnte Google bereits 2018 dazu bringen, aus Project Maven auszusteigen. Aktuell rufen aus den Hallen der großen Tech-Giganten wieder kritische Stimmen – vielleicht werden sie ja sogar erhört.

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Vereinte Nationen: Cybercrime-Konvention vor der endgültigen Abstimmung

17. Dezember 2024 - 17:51

Die umstrittene und von Kritikern als gefährlich eingestufte Cybercrime Convention wird im Plenum der UN-Generalversammlung abgestimmt. Die Europäische Kommission und Deutschland werden ihr zustimmen.

Das Plenum der UN-Generalversammlung. – CC-BY 2.0 United Nations General Assembly

Heute wird die UN-Generalversammlung im Plenum über die mehrere Jahre verhandelte Cybercrime Convention abstimmen. Zahlreiche Menschenrechts- und Bürgerrechtsorganisationen hatten die Inhalte der geplanten UN-Konvention zur Computerkriminalität jahrelang scharf kritisiert.

Sie verweisen auf die Gefahr, dass die Konvention etwa in Ländern wie Russland für die Unterdrückung und Verfolgung von Oppositionellen missbraucht werden kann und dass international verbindliche Menschenrechtsnormen nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Das UN-Übereinkommen sei zudem der Sicherheit im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien nicht förderlich, sondern berge sogar die Gefahr, die IT-Sicherheit zu verschlechtern und Staatstrojaner-Anbietern neue Türen zu öffnen. Es drohten auch erhebliche Gefahren wegen des starken Ausbaus von Überwachungsmaßnahmen und von grenzüberschreitendem Datenaustausch.

Internationale Menschenrechtsverbände und digitale Bürgerrechtsorganisationen hatten daher die EU und ihre Mitgliedstaaten aufgefordert, gegen den Entwurf der Cybercrime-Konvention zu stimmen.

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Aus dem Auswärtigen Amt (AA) heißt es gegenüber netzpolitik.org, dass sich die Bundesregierung im Rahmen der Verhandlungen zur UN-Cybercrime-Konvention für die feste Verankerung von Menschenrechtsstandards und Garantien eingesetzt hätte. „Gemeinsam mit der EU-Kommission, unseren EU-Partnern sowie like-minded Staaten wie den USA, Kanada, Großbritannien, Japan und Norwegen, haben wir in diesem Sinne konkrete Verbesserungen im Textentwurf erreichen können“, betont das AA.

Die Gefahr einer missbräuchlichen Anwendung sei dadurch deutlich reduziert worden. Die Versuche, wesentliche Bestimmungen der Konvention zu streichen oder zu verwässern, seien zudem verhindert worden. Das beträfe die Menschenrechtsstandards und den „Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Online-Missbrauch“, so das AA.

Die Abstimmungsentscheidung Deutschlands wird im Rahmen des Verhandlungsmandats der Europäischen Kommission auf europäischer Ebene getroffen. Deutschland wird sich an die dabei getroffene Abstimmungsentscheidung halten. Auch die US-Amerikaner wollen das Abkommen unter gewissen Bedingungen unterstützen.

„Nach wie vor äußerst mangelhaft“

Am 8. August 2024 waren die letzten inhaltlichen Verhandlungen bei den Vereinten Nationen über das internationale Abkommen beendet worden. Sollte die Abstimmung heute (mit Live-Stream, Tagesordnungspunkt 108) verlaufen wie geplant, wäre die Konvention danach ein offizieller völkerrechtlicher Vertrag unter dem Dach der Vereinten Nationen. Die nötigen vierzig Ratifikationen, um den Vertrag in Kraft zu setzen, sollten keine Probleme bereiten. Tritt der Vertrag dann in Kraft, müssen alle unterzeichnenden Staaten Überwachungs- und Abhörmöglichkeiten gemäß der Übereinkunft schaffen.

Staatstrojaner sind außen vor

David Kaye, der ehemalige Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Meinungsfreiheit, nennt den UN-Vertrag trotz einiger Verhandlungserfolge der demokratischen Staaten „nach wie vor äußerst mangelhaft, sowohl in seiner Formulierung als auch in seiner Substanz“. Es sei für viele Beobachter „schockierend, dass demokratische Staaten ihn unterstützen“ würden.

Auch Tanja Fachathaler von epicenter.works, die den UN-Verhandlungsprozess für die Zivilgesellschaft über mehrere Jahre hinweg begleitet hatte, sieht die Annahme der Cybercrime Convention als offizielles Abkommen der Vereinten Nationen als ein „denkbar schlechtes Zeichen“. Zu viele Bestimmungen darin seien hochproblematisch und stünden im Widerspruch zu den Grundprinzipien der UN-Charta, erklärt sie gegenüber netzpolitik.org. Auch die geopolitische Bedeutung sei alarmierend: „Russland nennt die Konvention bereits jetzt einen erfolgreichen Blue Print für weitere Regulierungspläne, die es in der UN vorantreiben will.“

Fachathaler betont: „Es ist daher besonders wichtig, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union erst einmal das Tempo reduzieren und sich in aller Ruhe die nächsten Entwicklungen ansehen, anstatt falschen Eifer an den Tag zu legen und den Vertrag schnell zu ratifizieren.“ Die EU-Mitgliedstaaten sollten zunächst betrachten, welche Staaten die Konvention besonders schnell ratifizieren und wie das Abkommen gelebt wird, wenn es einmal in Kraft ist. Vor allem aber sollten sie sich fragen, wie es um den Schutz von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit steht, so Fachathaler.

Sie fordert, dass sich die EU-Mitgliedstaaten aktiv für nötige Verbesserungen einsetzen sollten, wie sie seitens der Zivilgesellschaft von Beginn an gefordert worden seien. „Erst danach sollte eine neuerliche Evaluierung vorgenommen werden, ob man dem Abkommen beitreten kann und möchte.“ Dabei sollten vor allem die nationalen Parlamente in der EU ausreichend Zeit für eine genaue Prüfung bekommen.

Damit wären die Europäer nicht allein. Auch die US-Amerikaner stellen Bedingungen für ihre Unterstützung des Abkommens und wollen die Entwicklungen in der Umsetzungspraxis abwarten.

Im neuen Jahr wird eine Zeremonie zur Unterzeichnung der Konvention in Vietnam stattfinden. Das asiatische Land hatte sich als Austragungsort aufgestellt.

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Mahnerin für Transparenz: Teresa Anjinho wird neue EU-Bürgerbeauftragte

17. Dezember 2024 - 15:02

Sie wird überwachen, ob sich die Institutionen der Union an Transparenzregeln und Beamt:innen bei Wechseln zu Lobby-Jobs an Anti-Drehtür-Regeln halten. Ihre Vorgängerin Emily O’Reilly hat lange Jahre starke Arbeit geleistet – kann Teresa Anjinho dem gerecht werden?

Anjinho bei ihrer Anhörung im Europäischen Parlament. – Alle Rechte vorbehalten EU-Parlament

Teresa Anjinho wird neue Europäische Bürgerbeauftragte. Das EU-Parlament stimmte heute für die Portugiesin. In den kommenden fünf Jahren wird sie die Belange europäischer Bürger:innen gegenüber den EU-Institutionen vertreten. Wenn Menschen etwa Probleme damit haben, Dokumente von Behörden zu bekommen, auf die sie eigentlich Anrecht hätten, können sie sich an sie wenden. Dabei kann sie aber nur ermahnen und rügen.

Anjinho ist momentan Mitglied im Aufsichtsausschuss des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung. Die Juristin war zuvor in ihrem Heimatland Portugal bereits Parlamentsabgeordnete, Staatssekretärin für Justiz und stellvertretende Bürgerbeauftragte. Am 27. Februar 2025 wird sie in ihr neues Amt eingeschworen.

Rüge für Pfizer-SMS

Anjinho ersetzt Emily O’Reilly, die diese Rolle seit 2013 innehatte. O’Reilly hat die Position sehr stark vertreten. Für Journalist:innen besonders wichtig war, dass sie die Europäische Kommission wiederholt wegen mangelnder Transparenz gerügt hat.

So etwa im Fall der SMS, mit denen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen während der Corona-Pandemie den Kauf von Impfdosen vom Pharmariesen Pfizer vereinbarte. Die hatte unser damaliger Kollege Alexander Fanta nach dem europäischen Recht auf Informationsfreiheit angefordert. Die Kommission blockierte – bis heute. Die New York Times hat die EU-Institution deshalb verklagt, das Verfahren läuft momentan noch.

In einem anderen Fall untersuchte O’Reilly Frontex, die europäische Grenzschutzagentur. Dabei ging es um die Frage, ob die Behörde genug Rücksicht auf Risiken für Menschenrechte genommen hatte.

Wird Anjinho so weitermachen?

Auch das Parlament nahm sie sich vor: Vor zwei Jahren verpasste O’Reilly dem Parlament eine Rüge, weil es Dokumente aus Verhandlungen mit den anderen Institutionen nicht rechtzeitig genug herausgegeben hatte. Die Trilogverhandlungen zwischen Kommission, Rat und Parlament sind weiterhin der intransparenteste Teil des EU-Gesetzgebungsprozesses.

Die Frage ist nun, ob Anjinho ihre Position ebenso energetisch vertreten wird, wie O’Reilly das in den vergangenen Jahren getan hat.

Gratulation gab es von Seiten der christdemokratischen EVP-Fraktion. Die hatte, zusammen mit den Sozialdemokraten der S&D, die Kandidatur von Anjinho unterstützt. „Für das Amt ist nicht nur eine exzellente juristische Qualifikation, sondern vor allem der direkte Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern entscheidend. Genau das bringt Frau Anjinho mit“, sagte Alexandra Mehnert, die im zuständigen Petitionsausschuss sitzt. „Ich gratuliere ihr herzlich zu der Wahl und freue mich auf die kommenden Jahre der Zusammenarbeit!“

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Wahl in Rumänien: EU-Kommission eröffnet Verfahren gegen Tiktok

17. Dezember 2024 - 12:48

Nach Manipulationsvorwürfen wurde die Präsidentschaftswahl in Rumänien abgesagt. Jetzt startet die EU-Kommission deshalb eine Untersuchung der Social-Media-Plattform Tiktok. Sie soll klären, ob im Wahlkampf der Empfehlungsalgorithmus manipuliert wurde und wie die Plattform mit politischer Werbung umging.

Călin Georgescu hat Rumänien durcheinandergewürfelt. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Xinhua

Die Europäische Kommission untersucht Tiktok. Grund dafür sind Vorkommnisse rund um die Präsidentschaftswahlen in Rumänien. Eigentlich hätten die Menschen in dem Land vor einigen Wochen einen neuen Präsidenten oder eine neue Präsidentin wählen sollen. Das oberste rumänische Gericht hatte die Wahl aber nach der ersten von zwei Runden abgesagt.

In der ersten Runde hatte ein bis dahin beinahe unbekannter Kandidat, Călin Georgescu, völlig unerwartet die meisten Stimmen gewonnen. Georgescu ist ein rechtsextremer, prorussischer Verschwörungstheoretiker. Der aktuelle Präsident Rumäniens veröffentlichte kurz darauf Unterlagen des Geheimdienstes. Laut diesen hatte eine massive, von außerhalb des Landes gesteuerte Operation die erste Runde der Wahl beeinflusst.

Wie geht Tiktok mit Werbung um?

Die Kommission untersucht nun zwei verschiedene Dinge: Die Empfehlungssysteme von Tiktok und den Umgang der Plattform mit politischer Werbung. Man habe die Untersuchung wegen der veröffentlichten Dokumente und wegen Hinweisen aus der Zivilgesellschaft und von rumänischen Behörden eröffnet, sagte heute ein Beamter der Kommission.

In beiden Punkten will sie untersuchen, ob Tiktok genug getan hat, um sich auf die besonderen Herausforderungen einer Wahl in Rumänien vorzubereiten – ob die Plattform etwa genug Moderator:innen hat, die Rumänisch sprechen. Außerdem soll geklärt werden, ob automatisierte Accounts, also Bots, die Empfehlungssysteme der Plattform manipuliert haben.

Grundlage für die Untersuchung ist der Digital Services Act (DSA). Mit diesem Gesetz hat die EU großen Online-Plattformen umfangreiche Vorgaben gemacht, wie sie ihre eigenen Regeln auf ihren Plattformen aufrechterhalten müssen.

Tiktok muss Daten aufbewahren

Die Kommission hat wegen der Wahl schon mehrmals Informationen von Tiktok angefragt. Beamt:innen der Kommission reisten außerdem nach Rumänien und trafen sich dort mit Vertreter:innen von rumänischen Geheimdiensten und DSA-Aufsichtsbehörden. Dabei habe die Plattform auch die Möglichkeit gehabt, auf die von den rumänischen Behörden veröffentlichen Dokumente zu reagieren, so der Kommissionsbeamte: „Auf Basis all dieser Dokumente haben wir entschieden, dass unser Verdacht bleibt.“

Die Kommission hat Tiktok außerdem angeordnet, Daten zu Wahlen in der EU aufzubewahren. Die Anordnung gilt vom November bis Ende März des kommenden Jahres – in diesem Zeitraum stehen in der EU auch noch Wahlen in Kroatien und in Deutschland an. Die Kommission ist auch in Kontakt mit den Behörden in diesen Ländern, um sie auf neue Risiken und Bedrohungen vorzubereiten, hieß es gestern aus der Kommission.

Auseinandersetzung im Parlament

Auch das Europäische Parlament hat sich schon mit Tiktok und den Wahlen in Rumänien beschäftigt. Vor zwei Wochen, also vor der Annullierung der ersten Wahlrunde, waren zwei Vertreter:innen der Plattform in den Binnenmarktausschuss des Parlaments geladen.

„Die Integrität von Wahlen ist für Tiktok sehr wichtig“, sagte eine der Vertreter:innen. Tiktok habe mehr als 6.000 Moderator:innen, 95 davon würden Rumänisch sprechen. Dazu kämen 20 Faktenprüfer:innen.

Von Seiten der Abgeordneten gab es teils scharfe Anschuldigungen. „Wie kann Tiktok hier sitzen und so tun, als ob ihm die Integrität von Wahlen wichtig ist?“, so etwa die Grünen-Abgeordnete Kim van Sparrentak. Für sie ist eine große Schwäche des DSA, dass er kein schnelles Eingreifen in Probleme wie in Rumänien ermöglicht.

Schon mehrere Verfahren

Die heutige Untersuchung ist die dritte, die die EU-Kommission gegen Tiktok eröffnet. Im Februar hatte sie angekündigt, zu untersuchen, wie Tiktok Minderjährige auf seiner Plattform schützt.

Im April ging es dann um „Tiktok Lite“, eine neue App, die Tiktok in Frankreich und Spanien gestartet hatte. Manche Features dieser App könnten gegen DSA-Regeln verstoßen, hatte die Kommission damals gewarnt. Tiktok verpflichtete sich freiwillig, diese Features zurückzuziehen. Die Kommission schloss dieses zweite Verfahren daraufhin.

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Kategorien: Externe Ticker

Gegen digitale Spaltung: Glasfaser statt gläserne Bürger

16. Dezember 2024 - 17:00

Während immer mehr Überwachungsgesetze auf dem Tisch landen, haben viele Bürger:innen nicht einmal funktionierendes Breitband. Wie lässt sich digitale Spaltung verhindern? Damit Infrastruktur nicht nur nach den Wünschen der Industrie geht, braucht es eine starke zivilgesellschaftliche Stimme.

Lieber eine gut ausgeleuchtete Glasfaserinfrastruktur als eine durchleuchtete Gesellschaft. – Fotomontage, netzpolitik.org

Es war eine Nachricht mit bemerkenswerten Leerstellen, die schnell die Runde machte: Erstmals habe die Bundesnetzagentur einen Netzanbieter verpflichtet, einen Haushalt in Niedersachsen mit gesetzlich garantiertem Basis-Breitband ans Internet anzuschließen, teilte die Behörde knapp mit. Schön und gut. Doch wer, wie, warum und wo genau, das alles blieb offen. Bis wir recherchiert haben, dass ausgerechnet der Satellitenbetreiber Starlink des umstrittenen US-Milliardärs Elon Musk den Neubau in Mittelstenahe versorgen soll.

Die Episode ist nur ein Mosaikstein in der Debatte zu den Grenzen des freien Markts und angemessener staatlicher Intervention. Ohne moderne digitale Infrastruktur ist kein Staat mehr zu machen und digitale Teilhabe hat viele Formen – sie beginnt bei der Grundversorgung mit Internet.

EU-Debatte vor der Tür

Deutschland steht nicht alleine vor dem Problem, seine alternden Netze möglichst rasch und möglichst flächendeckend auf den neuesten Stand zu bringen. Auch die EU-Kommission erhöht mittlerweile den Druck auf die Mitgliedsländer, um die Ziele der Digitalen Dekade zu erreichen: Bis zum Ende des Jahrzehnts sollen alle EU-Haushalte eine Gigabit-Anbindung und alle bevölkerten Gebiete 5G-Mobilfunknetze haben.

Umstritten aber ist und bleibt die Frage, wie das am schnellsten und vor allem am billigsten geht. Schließlich geht es um viel Geld, europaweit werden mindestens dreistellige Milliardenbeträge notwendig sein. Kein Wunder, dass die Lobbyabteilungen vor allem großer Telekommunikationsunternehmen zunehmend mit ausgefeilten Policy-Papieren um sich werfen. Darin versprechen sie, dass Deregulierung und Konsolidierung des Marktes die Bits nur so fließen lassen werden. Anders gesagt: Hände weg, der Wettbewerb macht es schon.

Zumindest bei einem in der EU-Kommission sind die Unternehmen dabei auf offene Ohren gestoßen – dem aus der Industrie stammenden Thierry Breton. Zwar ist der Franzose jüngst aus der Kommission ausgeschieden. Doch mit seinem auffallend Großindustrie-freundlichen Weißbuch zu digitaler Infrastruktur hat Breton die Grundlage für eine Reform gelegt, was auch immer das letztlich heißen mag.

Unabhängig voneinander drängen zwei lang erwartete Berichte italienischer Ex-Premiers – Mario Draghi und Enrico Letta – ebenfalls darauf, den Markt zu entfesseln. Sonst drohe Europa, zu weit hinter die USA und China zurückzufallen, warnen sie.

Damit dürfte die Diskussion rund um den anstehenden Digital Networks Act im Groben abgesteckt sein. Sind wir bereit, womöglich Rückschritte in Kauf zu nehmen, etwa beim Verbraucherschutz oder bei der Angebotsvielfalt, um ein bestimmtes Ausbauziel zu erreichen? Soll am Ende vielleicht nur eine Handvoll richtig großer Telekommunikationsunternehmen, die so lange herbeigewünschten „europäischen Champions“, EU-weit die Infrastruktur betreiben – und damit eine neue Machtposition auch gegenüber Inhalteanbietern im Internet erlangen?

Zivilgesellschaft wirkt!

Dass es sich um eine politisch wie wirtschaftlich brisante und komplexe Angelegenheit handelt, wird in offiziellen und inoffiziellen Gesprächen mit Vertreter:innen der EU-Kommission mehr als deutlich. Ebenfalls deutlich wird, dass sie meist bemerkenswert gut vertraut sind mit Kritik aus der Zivilgesellschaft: Weil sie genau wissen, dass ihnen jemand auf die Finger schaut. Und weil sie genau wissen, welches Mobilisierungspotenzial die Netz-Community hat, die sich für ein offenes Netz einsetzt.

Dank eurer Unterstützung können wir dranbleiben, selbst – und erst recht wenn – die Themen sperrig sind oder die große Medienkarawane vorbeigezogen ist. Wir können etwa die Bundesnetzagentur an ihre Aufsichtsfunktion erinnern, wenn die Telekom Deutschland schon wieder mit der Netzneutralität experimentiert. Wir können recherchieren, mit welchem Aufwand einzelne unterversorgte Haushalte ans Internet angeschlossen werden. Wir können dokumentieren, wie es dem staatlichen Förderprogramm geht, das die deutschen Versorgungslücken seit bald zehn Jahren zu schließen versucht.

Und wir können und müssen auf EU-Ebene am Ball bleiben. Dort werden die entscheidenden Weichen gestellt, in den kommenden Jahren auch im Telekommunikationssektor. Wir brauchen eure Spende, damit diese Weichen nicht nur nach den Wünschen der Großindustrie ausgerichtet werden. Zivilgesellschaftliche Kritik braucht eine Stimme, und die wollen wir sein.

Seit Jahren berichten wir nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Brüssel über Netzpolitik. Damit wir weiter scheinbar obskure Veranstaltungen besuchen oder mitunter schwer verdauliche Papiere lesen und aufarbeiten können, brauchen wir Deine Spende. Sonst schreibt sich die Industrie ihre Regeln selbst.

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„Ein digitales Gefängnis“: Wie die serbische Regierung die Zivilgesellschaft ausspioniert

16. Dezember 2024 - 14:51

Amnesty International enthüllt, dass Journalist:innen und Aktivist:innen in Serbien in erheblichem Ausmaß mit Staatstrojanern wie Pegasus und NoviSpy ausgespäht werden. In der Kritik steht neben der serbischen Regierung die Firma Cellebrite, zu deren Kunden auch deutsche Behörden gehören.

Massenproteste in Belgrad gegen ein Lithium-Abkommen mit der EU, August 2024 – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Aleksandar Djorovic

Zahlreiche Menschen aus der serbischen Zivilgesellschaft sind Opfer von illegaler staatlicher Überwachung geworden, darunter kritische Journalist:innen und Umwelt-Aktivist:innen. Das deckt eine heute veröffentlichte Untersuchung des Security Lab von Amnesty International auf.

Die Sicherheitsforscher:innen der Nichtregierungsorganisation haben unter anderem die Staatstrojaner NoviSpy und Pegasus auf Smartphones von Personen gefunden, die sich kritisch über Regierungsprojekte äußern. Mit der Spähsoftware lassen sich beispielsweise alle Inhalte von Telefonen auslesen, laufende Kommunikation mitschneiden und Mikrofone unbemerkt anschalten. In mehreren Fällen wurden offenbar die Telefone von Menschen infiziert, während sie sich Gebäuden von Sicherheitsbehörden befanden.

„Unsere Untersuchung zeigt, wie die serbischen Behörden Überwachungstechnologien und digitale Repressionstaktiken als Instrumente einer umfassenderen staatlichen Kontrolle und Repression gegen die Zivilgesellschaft eingesetzt haben“, sagt Dinushika Dissanayake, die stellvertretende Regionaldirektorin für Europa bei Amnesty International. Serbien ist seit 2012 EU-Beitrittskandidat, wird seit einigen Jahren aber immer autoritärer regiert.

Aktivist:innen berichten von den traumatisierenden und einschüchternden Folgen, die die Überwachung hat. Eine Person vergleicht die Situation mit einem „digitalen Gefängnis“. Die Überwachung habe zwei mögliche Auswirkungen: „Entweder man entscheidet sich für Selbstzensur, was die eigene Arbeit erheblich beeinträchtigt, oder man entscheidet sich dafür, sich trotzdem zu äußern, wobei man dann mit den Konsequenzen rechnen muss.“

Gehackt während der Polizeikontrolle

Ein Opfer der staatlichen Überwachung war laut Amnesty der Umwelt- und Antikorruptionsaktivist Nikola Ristić. Sein Telefon wurde den Untersuchungen von Amnesty International zufolge mit Cellebrites UFED geknackt und mit NoviSpy überwacht.

Auch der Investigativjournalist Slaviša Milanov gehörte zu den überwachten Personen. Am 24. Februar 2024 wurde er von der Polizei wegen des angeblichen Verdachts auf Trunkenheit am Steuer festgenommen. Der unabhängige Journalist sollte einen Test machen, um zu belegen, dass er nicht unter Alkoholeinfluss Auto gefahren sei.

Sein ausgeschaltetes Telefon musste Milanov an der Rezeption der Polizeiwache zurücklassen. Als er wieder auf freiem Fuß war, bemerkte er Veränderungen am Gerät. Unter anderem war die Datenfunktion des Telefons abgestellt. Der Journalist ließ sein Telefon daraufhin von Amnestys Security Lab untersuchen Die Sicherheitsforscher:innen entdeckten Belege dafür, dass es während seiner Befragung mit Cellebrites UFED-Produkt entsperrt wurde. Außerdem wurde das Gerät mit dem Staatstrojaner NoviSpy infiziert.

„Diese Taktik der heimlichen Installation von Spionagesoftware auf den Geräten von Personen während der Festnahme oder Befragung scheint bei den Behörden weit verbreitet zu sein“, konstatiert Amnesty International in einer Pressemitteilung. Ein Aktivist, der sich mit der Gruppe Krokodil für Verständigung im Westbalkan einsetzt, sei gehackt worden, während er bei einem Gespräch mit dem Inlandsgeheimdienst BIA gewesen sein.

Der Geheimdienst hatte den Aktivisten im Oktober 2024 in das BIA-Büro in Belgrad eingeladen, nachdem dieser sich über einen Angriff durch eine russischsprachige Gruppe beschwert hatte. Die Untersuchung des Amnesty International Security Labs konnte nachweisen, dass das Handy der Person während des Gesprächs mit NoviSpy infiziert wurde. Die Sicherheitsforscher:innen konnten Screenshots von E-Mail-Konten sowie Signal- und WhatsApp-Nachrichten sicherstellen, die mit der Spähsoftware erstellt wurden.

Amnesty: Cellebrite-Software ermöglicht Überwachung

Andere Aktivist:innen wurden der Untersuchung zufolge mit dem berüchtigten Pegasus-Trojaner infiziert, der von der israelischen NSO Group hergestellt wird. Als Sicherheitsforscher:innen vom Citizen Lab und von Amnesty International die Spähsoftware vor einigen Jahren auf den Telefonen hunderter Politiker:innen, Journalist:innen und Menschenrechtler:innen entdeckten, löste dies einen weltweiten Skandal aus. Auch das Umfeld des ermordeten saudischen Journalisten Jamal Kashoggi wurde mit Pegasus überwacht.

Im aktuellen Bericht nimmt Amnesty eine andere Firma in den Blick, die 1999 ebenfalls in Israel gegründet wurde und inzwischen Niederlassungen auf der ganzen Welt hat: Cellebrite. Das Unternehmen stellt sogenannte Forensik-Produkte her, mit denen sich digitale Geräte aufbrechen und Daten sichern lassen. Cellebrite hat Verträge mit zahlreichen Regierungen weltweit und vermarktet sich selbst als Werkzeug für den rechtsstaatlichen Einsatz.

Auch deutsche Behörden nutzen laut Recherchen von netzpolitik.org Produkte von Cellebrite. Unter anderem in Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen werden die Werkzeuge der Firma genutzt, um Telefone von Asylbewerber:innen zu knacken. Dies soll helfen, ihre Identität festzustellen. Fachleute bezweifeln jedoch den Nutzen der Maßnahme und bezeichnen sie als „reine Schikane“ gegen Asylbewerber:innen.

Amnesty International hat Cellebrite nach eigenen Angaben mit dem Ergebnis der Untersuchung in Serbien konfrontiert. Das Unternehmen betonte demzufolge, dass seine Produkte lediglich für einen rechtskonformen Einsatz lizensiert würden und es die Berichte über möglichen Missbrauch untersuchen werde. Die Produkte würden keine Spyware installieren oder Echtzeit-Überwachung wie ein Staatstrojaner liefern.

Amnesty wiederum betont, dass Cellebrites Produkte trotzdem eine wichtige Rolle bei illegaler Überwachung spielen könnten. Die Nachforschungen würden zeigen, „wie die Produkte von Cellebrite dazu missbraucht werden können, Spionagesoftware zu installieren und in großem Umfang Daten von Mobiltelefonen zu sammeln, auch außerhalb von gerechtfertigten strafrechtlichen Ermittlungen, was eine große Gefahr für die Menschenrechte darstellt“.

Umweltproteste im Visier des Staates

„Unsere Recherchen zeigen: Die globale Überwachungsindustrie ist weiterhin außer Kontrolle“, kommentiert Lena Rohrbach von Amnesty International Deutschland den Bericht gegenüber netzpolitik.org. Es brauche dringend eine effektive Regulierung der Branche und des Einsatzes von Überwachungsinstrumenten. „Cellebrite und andere Unternehmen müssen endlich ihrer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht nachkommen und sicherstellen, dass ihre Produkte nicht für Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden.“

Konsequenzen fordert Rohrbach auch in Serbien: „Die serbischen Behörden müssen sofort aufhören, hochgradig invasive Überwachungssoftware einzusetzen und Journalistinnen und Umweltschützerinnen auszuspionieren.“ Die serbische Regierung müsse die Betroffenen entschädigen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.

Serbien ist seit gut zwölf Jahren Beitrittskandidat für die Europäische Union. Unter dem seit 2017 regierenden nationalistischen Präsident Aleksandar Vučić orientierte sich das Land jedoch stärker in Richtung Russland und verzeichnete große Rückschritte bei der Achtung der Menschenrechte. Vučić regiert in Teilen autokratisch und geht immer wieder hart gegen Opposition und Zivilgesellschaft vor.

Besonders die Umweltbewegung ist derzeit im Visier des Staates. Im Sommer 2024 schlossen die Europäische Union und Serbien ein weitreichendes Abkommen über die Förderung von Lithium im Land. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hatte den Deal eingefädelt. Das Leichtmetall wird für die Energiewende und für die Akkus in E-Autos und digitalen Geräten benötigt, doch viele Menschen vor Ort fürchten katastrophale Folgen für die Umwelt.

Zehntausende demonstrieren gegen das Abkommen, bis heute. Schon länger übt die serbische Regierung massiven Druck auf führende Köpfe der Bewegung aus. Schon vor Monaten hatte ein Umweltaktivist von Überwachung und anonymen Todesdrohungen berichtet. Die Enthüllungen von Amnesty zeigen nun, dass die nationalistische Regierung Überwachungswerkzeuge systematisch einsetzt, um die Zivilgesellschaft zu schwächen.

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Neues BKA-System: Polizeiliche Gesichtserkennung geht steil

16. Dezember 2024 - 8:27

Die Zahl von Abfragen und Gespeicherten im BKA-Gesichtserkennungssystem nimmt weiter zu. Ein Upgrade mit einer Fehlerrate nahe Null macht 50 Lichtbildexpert:innen arbeitslos. Nur die KI-Verordnung der EU ist noch im Weg.

Gesichtserkennungssysteme werden immer leistungsfähiger. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / YAY Images

Deutsche Polizeien nutzen das Gesichtserkennungssystem (GES) des Bundeskriminalamtes (BKA) immer zahlreicher für Abfragen. Im Jahr 2023 wurden über die Plattform insgesamt 117.894 Suchen durchgeführt, davon 74.803 durch die Landeskriminalämter, 26.187 durch das BKA und 16.904 durch die Bundespolizei. Dies stellt einen deutlichen Anstieg gegenüber 2022 dar, als insgesamt 91.767 Anfragen gestellt wurden.

Die Statistik war bereits durch die Antwort auf eine Kleine Anfrage im Bundestag bekannt. Auf weitere Nachfrage von netzpolitik.org differenzierte ein BKA-Sprecher auch die Suchläufe für die einzelnen Behörden: Demnach führten Landeskriminalämter im Jahr 2023 74.803 Abfragen durch, das BKA 26.187. Von der Bundespolizei stammten 16.904 Abfragen, was gegenüber dem Vorjahr mehr als eine Verdopplung darstellt.

Die Zunahme der durchgeführten Recherchen erklärt das BKA damit, dass bei den Polizeibehörden „das Bewusstsein über Gesichtserkennung als Hilfsmittel zunimmt“. Jedoch stieg die Zahl der identifizierten Personen nur leicht: Im Jahr 2023 wurden insgesamt 3.796 Personen mithilfe der Gesichtserkennung ausfindig gemacht oder verifiziert, im Jahr 2022 waren es 3.599. Die meisten positiven Treffer (2.113) erzielte wie in den Vorjahren die Bundespolizei, gefolgt von den Landeskriminalämtern (1.674) und dem BKA (9).

Lichtbilddatei wächst weiter

Das bislang ausschließlich retrograd funktionierende GES steht seit 2008 allen deutschen Polizeibehörden zur Verfügung. Es soll helfen, Straftaten aufzuklären oder die Identität von Asylsuchenden zu verifizieren. Neben Fotos aus der erkennungsdienstlichen Behandlung können auch Handyfotos oder Aufnahmen von Videokameras im öffentlichen Raum für die Abfrage genutzt werden.

Die abgefragten biometrischen Daten liegen in der INPOL-Datei. Diese größte deutsche Polizeidatenbank wird ebenfalls vom BKA für alle angeschlossenen Behörden zentral geführt. Auch die Zahl der dort gespeicherten Gesichtsbilder ist im Jahr 2023 wieder deutlich gestiegen. Mit Stand vom 8. März 2024 waren in INPOL insgesamt 7.293.861 Lichtbilder zu 5.099.635 Personen gespeichert – gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme um rund zehn Prozent. Von den gespeicherten Bildern stammen 3.061.861 aus „nicht-polizeilichen Quellen“, erklärt das BKA. Einen Großteil davon dürften Asylanträge ausmachen.

Fehlerrate schon jetzt unter ein Prozent

Im Jahr 2014 betrug die Fehlerrate des GES noch rund 30 Prozent, heute soll sie auf unter ein Prozent gesunken sein. Das berichtete eine Mitarbeiterin des BKA auf der Herbsttagung der Wiesbadener Bundeshörde im November. In den kommenden Jahren soll das System dann gar keine Fehler machen: Das BKA hat im September 2024 ein auf Künstlicher Intelligenz basiertes, erneuertes GES eingeführt, das BKA-Chef Holger Münch als eines der leistungsstärksten weltweit bezeichnet.

Es soll präzise Identifizierungen selbst unter schwierigen Bedingungen wie schlechten Lichtverhältnissen, schwierigen Blickwinkeln und bei Altersunterschieden bis zu 30 Jahren ermöglichen.

„Weitere Automatisierungsmaßnahmen“ angekündigt

Auf der Herbsttagung hat Münch unter dem Motto „Wie wir die Welle reiten“ weitere Details zu dem neuen GES mitgeteilt. Demnach ist die Treffergenauigkeit bei sogenannten 1:n-Recherchen so hoch, dass ein nachfolgender manueller Abgleich durch Lichtbildexpert:innen eigentlich überflüssig wäre. Diese menschliche Endkontrolle soll nur aufgrund von Vorgaben der von der EU erlassenen KI-Verordnung weiterhin erfolgen, wie BKA-Präsident Münch betonte. „Aufgrund von rechtlichen Vorgaben werden jedoch Mitarbeitende Aufgaben weiterhin manuell erledigen müssen“, heißt es aber auch in der Präsentation der BKA-Expertin.

Trotzdem werden in der Abteilung für die Verifizierung zahlreiche Stellen abgebaut. Auf der Herbsttagung sprachen BKA-Mitarbeiter hierzu von jetzt schon 15 „freigesetzten“ Mitarbeiter:innen, Ende 2026 soll diese Zahl bei 50 Personen liegen. Anschließend seien „weitere Automatisierungsmaßnahmen“ vorgesehen.

Laut Münch wurde für diesen Prozess ein „Personalprojekt“ ins Leben gerufen, um den Wandel in der Abteilung für Gesichtserkennung zu begleiten und für die obsolet werdenden Mitarbeiter:innen neue, anspruchsvollere Tätigkeiten zu schaffen.

Münch will System weiter „entfesseln“

Der BKA-Chef bezeichnet die Einführung KI-gestützter Biometrie-Methoden als „Kreativität“, die es „weiter zu entfesseln“ gelte. Dazu verweist Münch auf den Fall der als RAF-Terroristin verhafteten Daniela Klette. Ein Investigativjournalist hatte eine Spur Klettes entdeckt, indem er alte Fahndungsfotos von ihr über den privaten Anbieter PimEyes mit Fotos in Sozialen Netzwerken abglich. Auf diese Weise habe der Podcaster „Befugnisdefizite“ der Polizei aufgedeckt, so Münch.

Auch deutsche Polizeien sollen jetzt die Möglichkeit zur Internetsuche mit Gesichtsbildern erhalten, hierzu hatte der Bundestag das sogenannte „Sicherheitspaket“ beschlossen. Einen ersten Anlauf hatte der Bundesrat noch gekippt, da es vielen Ländern nicht weit genug ging. Nun soll das Paket aber noch einen zweiten Anlauf nehmen.

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Polizei Gelsenkirchen: Wenn das Stadion zum Politik-Schauplatz wird

15. Dezember 2024 - 13:33

Gelsenkirchens Fußballclub Schalke 04 ist wichtig für die Stadt und seine Fans. Dabei gibt es reichlich Auseinandersetzungen mit der Polizei, die das für öffentlichkeitswirksame Maßnahmen nutzt – ob Fotofahndung oder harsche Pressemitteilungen.

Schalke-Fans mit ihrem Banner. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Nordphoto

In Gelsenkirchen ist seit Januar Tim Frommeyer Polizeipräsident. Er steht dabei vor komplexen Herausforderungen: Neben der Bekämpfung von Kriminalität, die Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul häufig als „Clankriminalität“ bezeichnet, prägen Spannungen mit der organisierten Fanszene des FC Schalke 04 seinen Arbeitsalltag. Eine Entspannung in diesem Konflikt ist bisher nicht in Sicht.

Schalke 04 ist wichtig in Gelsenkirchen, der Verein hat auch im deutschen Fußball und eine besondere Bedeutung. Mit einem Zuschauerschnitt von über 61.000 Fans pro Heimspiel bleibt der Verein eine zentrale Kraft, auch in der 2. Bundesliga. Im europäischen Vergleich belegte Schalke 04 in dieser Saison den 14. Platz im UEFA-Ranking der absoluten Zuschauerzahlen und war damit der einzige Zweitligist unter den Top 16.

Mit Fußball-Maßnahmen wird Politik gemacht

Frommeyer nutzt das Thema und die Auseinandersetzungen darum offenbar: Mit gezielter Medienpräsenz, umstrittenen Entscheidungen, digitaler Fotofahndung nach verdächtigen Fans und der Empfehlung an die UEFA zu Spielverlegungen sorgt Frommeyer für heftige Diskussionen. Dadurch spielt die Polizei in der ärmsten Stadt Deutschlands nicht nur die Rolle des Ordnungshüters, sondern zunehmend auch die einer politischen Kraft.

Während Frommeyer die Aufmerksamkeit durch das Thema nutzt, zeigte er bei seiner traditionellen Vorstellung im Stadtrat stellenweise wenig Verständnis für kritische Fragen. Besonders zeigte sich das bei der Diskussion um einen möglichen Ausschluss Gelsenkirchens von Champions-League-Spielen.

Nachdem es beim Spiel zwischen Schachtjor Donezk und Atalanta Bergamo auf Schalke zu Auseinandersetzungen zwischen den Fans kam, kündigte Frommeyer an: „Eine mögliche Konsequenz der Vorfälle könnte eine Empfehlung an die UEFA sein, in Zukunft keine ‚Gastspiele‘ fremder Vereine mehr auf Schalke durchzuführen“ – ein Schritt, der finanzielle Verluste für Schalke und einen Imageschaden für die Stadt bedeuten würde. Die Forderung wurde direkt nach dem Spiel über die Pressestelle der Polizei veröffentlicht.

Was die Polizei sagt, stimmt?

Das Verhalten der „sogenannten Fans“ bezeichnete Frommeyer als „asozial“ – ein Begriff, der aufgrund seiner historischen Konnotationen umstritten ist. Der Duden ordnet das Adjektiv als diskriminierend ein. Der Autor Matthias Heine schreibt in seiner Veröffentlichung „Verbrannte Wörter“ : „Wer das Wort asozial leichtfertig benutzt, offenbart Gedankenlosigkeit und mangelhafte Geschichtskenntnisse“.

Von der Lokalredaktion der WAZ wurde die Pressemeldung der Polizei ungeachtet dessen inhaltlich übernommen. Es erfolgte keine kritische Bewertung, journalistische Einordnung oder abweichende Einschätzung.

Beim Antrittsbesuch des Polizeipräsidenten im Stadtrat kritisierte der sportpolitische Sprecher der SPD Daniel Siebel sowohl die einseitige Berichterstattung der Lokalzeitung über den Vorfall als auch die Wortwahl der Polizei: „Statt dem Aufruf des Deutschen Journalistenverbandes zu folgen, nämlich Polizeiberichte als eine von mehreren möglichen Quellen zu nutzen und nicht als alleinige, hätte die WAZ das gemacht, dann wäre die Headline vielleicht nicht ‚gewaltorientierte Schalker griffen friedliche Atalanta-Fans an‘, sondern hätte man vielleicht erfahren, dass auf beiden Seiten gewaltorientierte Fans sind.“

Nach dem zunächst freundlichen Empfang des Polizeipräsidenten im Stadtrat zeigte er sich sichtlich irritiert von der Kritik: „Wenn wir in jeder Situation erst mal hinterfragt werden, ob denn das eventuell auch stimmen sollte, was die Polizei da geäußert hat, finde ich das eine etwas verquere Herangehensweise“, sagte Tim Frommeyer. „Das muss ich auch klar sagen. Also ich gehe schon davon aus, dass der Großteil der Menschen in dieser Stadt und darüber hinaus davon ausgeht, dass wenn die Polizei etwas äußert, das auch genau so passiert“.

Die Debatte um Stadionkultur

Doch der Konflikt zwischen organisierten Fangruppen und der Polizei eskaliert nicht nur medial immer wieder. Seit August 2023 wurden Choreografien in der Nordkurve verboten – eine Reaktion der Polizei auf Verstöße gegen Absprachen zur Nutzung von Pyrotechnik. Dabei ist die Nordkurve seit Jahrzehnten ein zentraler Ort der Fankultur.

Am Rande der Nordkurve befindet sich auch die Leitstelle von Polizei und Feuerwehr. Seit der Eröffnung der Arena 2001 war es über 20 Jahre möglich, die ganze Breite der Nordkurve für Choreografien zu nutzen. Jetzt besteht die Polizei auf die Rundumsicht aus der Leitstelle, die bei Choreografien zeitweise verhängt wurde, obwohl das gesamte Stadion mit hochauflösenden Kameras überwacht wird.

Durch diese Kameras entstehen viele Aufnahmen. Das zeigt etwa ein Ereignis aus dem Mai 2023 – als noch Choreografien genehmigt wurden. Nach der Bundesliga-Partie zwischen dem FC Schalke 04 und Eintracht Frankfurt kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Fans. Es gab mehrere Verletzte. Im Anschluss arbeitete eine Ermittlungskommission über ein Jahr an der Suche nach Verdächtigen, bevor im April 2024 die Fotos von 69 verdächtigen Personen im Internet veröffentlicht wurden. Die „Bild“ druckte nach der Veröffentlichung der Fahndung durch die Polizei zahlreiche Fotos der gesuchten Personen auf einer kompletten Zeitungsseite ab.

Fotofahndung und die Erzählung vom gefährlichen Fußballstadion

Diese Fotofahndung hat heftige Kritik ausgelöst. Verschiedene Fangruppen und die Ultras haben das Vorgehen im Stadion mit Sprüchen auf Transparenten kritisiert. Kritiker bemängeln, dass die Veröffentlichung von Bildern unbeteiligter Personen Persönlichkeitsrechte verletzen könnte. Darunter auch die Königsblaue Hilfe, ein Fanhile-Verein, der bei Problemen mit Polizei und Justiz unterstützt: „Diese Massenfahndung aufgrund des schnell konstruierten Vorwurfs des Landfriedensbruch stellt für uns eine neue Qualität polizeilicher Repression dar, die Schrauben werden angesichts der EM im Sommer enger gedreht. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme darf zumindest stark angezweifelt werden!“

Die Polizei argumentiert, dass die Fotofahndung ein notwendiges Instrument zur Aufklärung von Straftaten sei. Fans halten dagegen, Menschen seien bei vergangenen Fotofahndungen fälschlich an den Pranger gestellt worden. Die Debatte um Datenschutz und Rechte der Betroffenen bleibt bestehen.

Sie zeigt sich auch in der Diskussion um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Oktober. Darin erklärte das Gericht Teile des BKA-Gesetzes für verfassungswidrig. Fans begrüßten das Urteil, da es Grundlagen der umstrittenen „Gewalttäter Sport“-Datei infrage stellt. Diese ermöglicht es, Fans aufgrund bloßer Verdachtsmomente zu erfassen – selbst wenn Verfahren später eingestellt werden. Die Konsequenzen reichen von polizeilichen Befragungen bis zu Reisebeschränkungen oder Stadionverboten.

Die Polizeiführung in Gelsenkirchen zeigt sich bisher unbeeindruckt von der Gerichtsentscheidung, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung stärkt und bestimmte Datensammlungen als verfassungswidrig erklärt. Der Polizeipräsident Tim Frommeyer will nach seinen Äußerungen im Stadtrat offenbar weiter an dem bestehenden Verfahren festhalten.

Sicherheitsgipfel ohne Fans

Beim jüngsten Sicherheitsgipfel mit Vertretern von Politik und Sport wurde das Urteil des Bundesverfassungsgerichts kaum thematisiert. Stattdessen beschloss man die Einführung einer zentralen Stadionverbotskommission und bestätigte das Verbot von Pyrotechnik – einem anderen Dauerkonflikt.

Während die Polizei in Gelsenkirchen strikt gegen Pyrotechnik vorgeht, zeigen sich Vertreter der Feuerwehr offener für Vereinbarungen mit den Fans. Öffentlich äußern wollen sie sich dazu aber nicht. Ein kontrolliertes Abbrennen im Stadion, wie es in Dänemark oder Norwegen praktiziert wird, bleibt unrealistisch.

Vertreter der Fanszene waren bei dem Sicherheitsgipfel nicht eingeladen. Sie kritisieren, dass Fußballspiele als besonders gefährliche Ereignisse dargestellt werden. „Es gibt keine Statistik, auch keine Polizeistatistik, die darauf hindeuten würde, dass das Stadionerlebnis in Deutschland unsicher sei. Selbst Polizeizahlen belegen, dass Fußballstadien zu den sichersten Orten des Landes gehören, anders als vergleichbare Massenveranstaltungen, wie Volksfeste oder zuletzt das Oktoberfest“ kritisiert Thomas Kessen von der bundesweiten Fanorganisation „Unsere Kurve“. Im Vergleich zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, auf Volksfesten wie dem Oktoberfest höher ist als in deutschen Fußballstadien.

Kessen wünscht sich einen Dialog: „Wann definieren wir ‚Hochrisikospiele‘ endlich gemeinsam und erarbeiten auch die entsprechenden Vorgehensweisen und Lösungen endlich gemeinsam mit allen Beteiligten? Die in vielen Bundesländern bereits praktizierten ‚Stadionallianzen‘ zeigen deutlich, was durch den Einbezug weiterer Beteiligter erreicht werden kann. Wer an einer belastbaren Lösung interessiert ist, der sollte nicht auf Schlagzeilen und dumpfen Populismus setzen,“ fordert Kessen.

Stadionallianzen wurden erstmals in der Saison 2017/18 in Baden-Württemberg eingeführt. Seitdem haben sich weitere Bundesländer diesem Ansatz angeschlossen. Aktuell bestehen Stadionallianzen in sieben Bundesländern, darunter Niedersachsen, Bayern, Hessen und Sachsen. Beispielsweise führte Sachsen im Juni 2023 eine Tagung im Rudolf-Harbig-Stadion in Dresden durch, um die Einführung des Modells der Stadionallianzen an den sächsischen Vereinsstandorten der ersten bis vierten Liga voranzutreiben. In Gelsenkirchen gibt es solche Initiativen bisher nicht. Die Polizei setzt hier augenscheinlich auf einseitige Kommunikation ihrer Botschaften.

Gelsenkirchen hat andere Probleme

Wie seine Vorgängerin Britta Zur nutzt Frommeyer die sozialen Medien geschickt zur Selbstdarstellung und politischen Einflussnahme. Zunächst fällt die Inszenierung der Verantwortlichen bei der Veröffentlichung der Behördenfotos auf. Ein ehemaliger Pressefotograf der Funke Mediengruppe ist dafür zuständig. Unter Zurs Leitung nutzte die Polizei Gelsenkirchen Plattformen wie Twitter, Instagram und Facebook, um über Einsätze zu informieren und eigene Positionen in die Öffentlichkeit zu bringen.

Ein Beispiel für diese Strategie ist ein Tweet der Polizei Gelsenkirchen nach Zurs Amtseinführung: „Unsere Präsidentin schießt scharf mit Worten, wenn es sein muss. Dafür braucht sie keine Waffe.“ Das folgt dem Ansatz, polizeiliche Themen zu kommunizieren, bevor es andere tun.

Britta Zur nutzte Gelsenkirchen als Sprungbrett. Sie wurde erst Ordnungsdezernentin in Düsseldorf und ist inzwischen zur Bahntochter DB Sicherheit gewechselt. Maßnahmen gegen Fußballfans scheinen eine bewährte Strategie für Aufmerksamkeit zu sein. Doch während solcher Aktionen mediale Resonanz finden, bleibt die Bekämpfung organisierter und Jugendkriminalität eine deutlich größere Herausforderung.

Michael Voregger, Jahrgang 1961, ist freiberuflicher Medientrainer, Autor, Podcaster, Sozialwissenschaftler und Journalist. Er lebt und arbeitet in Gelsenkirchen. Als Journalist liefert er Beiträge zu den Themenschwerpunkten Internet, Digitalisierung und Medien (WDR, Deutschlandradio, die taz, etc.). Er führt Workshops zu Medienthemen online und in Präsenz für Stiftungen, Verbände und Landesmedienanstalten durch. Er ist anerkannter Projektleiter bei der Landesanstalt für Medien NRW und hat die Sendelizenz für den Bürgerfunk.

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KW 50: Die Woche, in der wir eure Hilfe brauchen

14. Dezember 2024 - 14:01

Die 50. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 20 neue Texte mit insgesamt 126.651 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.

Fraktal, generiert mit MandelBrowser von Tomasz Śmigielski

Liebe Leser:innen,

die meisten von Euch kennen wahrscheinlich den Spruch: „Am Ende des Geldes ist noch so viel Monat übrig.“ Bei spendenfinanzierten Organisationen wie uns müsste es eher heißen: „Am Ende des Jahres ist noch so viel Spende offen.“ In dieser Situation sind wir nun wieder. Fast 300.000 Euro fehlen uns noch in diesem Jahr. Das ist eine Menge Holz und das schaffen wir nur mit eurer Unterstützung.

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Stirb langsam: Warum es mit X nun zu Ende geht

Soziale Netzwerke sind wegen des Netzwerkeffekts nur schwer totzukriegen. Doch dem Twitter-Nachfolger X von Elon Musk droht nun genau das. Wie konnte das passieren? Welche Plattformen könnten die Nachfolge antreten? Eine Analyse über Aufstieg und Fall sozialer Netzwerke. Von Markus Reuter –
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Stirb langsam: Warum es mit X nun zu Ende geht

14. Dezember 2024 - 6:46

Soziale Netzwerke sind wegen des Netzwerkeffekts nur schwer totzukriegen. Doch dem Twitter-Nachfolger X von Elon Musk droht nun genau das. Wie konnte das passieren? Welche Plattformen könnten die Nachfolge antreten? Eine Analyse über Aufstieg und Fall sozialer Netzwerke.

Seit der Übernahme wurden so viele unterschiedliche Fehler gemacht, dass eine Reparatur Twitters kaum mehr möglich ist. (Symbolbild) – Public Domain generiert mit Midjourney durch netzpolitik.org

Friendster, MySpace, StudiVZ und Digg waren alle einmal wichtige soziale Netzwerke, heute verblasst die Erinnerung an sie. Soziale Netzwerke kommen und gehen. Doch ihre Art zu sterben hat unterschiedliche Ursachen. Ist Elon Musks Plattform X als nächstes dran?

Früher hieß die Plattform einmal Twitter. Sie hatte das besondere Merkmal, dass dort Nachrichten aus der ganzen Welt in Echtzeit zu finden waren: Egal ob in Hongkong Straßenhändler in der „Fishball Revolution“ protestierten, eine Landespolitikerin in den USA zurücktrat oder Kim Kardashian eine neue Sendung ankündigte: Auf Twitter kursierte diese Nachricht oftmals vor der Berichterstattung in klassischen Medien. Und nicht nur das: Nutzer:innen konnten sich ihren Nachrichtenmix selbst zusammenstellen, in Echtzeit sozialen Bewegungen und spannenden Akteur:innen folgen und immer live am Ball sein. Diese globale Öffentlichkeit machte die Faszination von Twitter aus.

Twitter-Eigentümer Elon Musk zerstört das seit er den Laden übernommen hat. Die Folge: Der Exodus scheint mittlerweile unaufhaltsam. In mehreren Wellen hat das soziale Netzwerk seit dem Machtwechsel vor zwei Jahren etwa zehn Prozent seiner Nutzer:innen verloren. Unter Protest verabschiedet haben sich Sportvereine, Prominente, Universitäten, Journalist:innen, NGOs, Bibliotheken, Institutionen, Medien, Holocaust-Gedenkstätten, Unternehmen, Kirchen, Regierungsstellen und sogar Polizeien.

Noch hat Musks Netzwerk mehr als 300 Millionen registrierte Accounts. Das klingt nach viel – doch der Schein trügt. Die Säulen der Vorherrschaft sind bei X filigraner als bei anderen Netzwerken und ab einem gewissen Kipppunkt könnte es ganz schnell abwärts gehen.

In dieser Analyse schauen wir uns an, was bei X gerade passiert, welche Effekte dort wirken, welche Gründe der Exodus hat – und welche Zukunft X und seinen potenziellen Nachfolgern bevorstehen könnte.

Warum kann es plötzlich ganz schnell gehen?

János Török und János Kertész von der Central European University in Budapest haben im Jahr 2017 wissenschaftlich beschrieben, wie soziale Netzwerke kaskadenartig zusammenbrechen. Die Studie beruht auf Daten des in Ungarn einstmals sehr beliebten sozialen Netzwerks iWiW, dessen Nutzer:innen ab etwa 2010 zu Facebook abwanderten.

In ihrer Studie stellten die Forscher fest, dass zuerst lose gebundene Nutzer:innen verschwinden, dann aber soziale Ansteckung und kollektive Prozesse bei der Abwanderung eine große Rolle spielen. Das heißt konkret, dass der Weggang eines Kontakts weitere Kontakte dazu bringen kann, das Netzwerk zu verlassen. Zudem konnten die Wissenschaftler Schwellenwerte erkennen, ab denen der Zusammenbruch eines sozialen Netzwerkes sehr schnell geht.

Warum sind etablierte Netzwerke so dominant?

Ab wann Abwanderung für ein Netzwerk gefährlich wird, lässt sich durch die verschiedenen Netzwerkeffekte und Strukturen beschreiben. Benjamin Sandofsky, selbst ehemaliger Angestellter bei Twitter, hat das in einem lesenswerten und kenntnisreichen Artikel beschrieben. Sein Text, den ich über den Newsletter „Krasse Links“ gefunden habe, ist eine der Grundlagen für diesen Artikel.

Grundsätzlich lässt der sogenannte Netzwerkeffekt den Wert eines sozialen Netzwerkes oder einer Dienstleistung für die Nutzer:innen steigen, je mehr Nutzer:innen dort angemeldet sind. Warum einen alternativen Dienst wählen, wenn man dort fast niemanden erreichen kann? Ein neues Netzwerkes kann nur dann für viele attraktiv werden, wenn ein Schwellenwert überschritten wird, um einen eigenen Netzwerkeffekt auszulösen.

Netzwerkeffekte lassen sich bei unterschiedlichen Geschäftsmodelle im Internet beobachten. Die Übernachtungsseite Booking.com zum Beispiel wird nicht so viel benutzt, weil das Buchen von Hotels dort besonders revolutionär ist, sondern weil der Dienst mit 29 Millionen Unterkünften einfach sehr, sehr viele Angebote bündelt. Dieser eine Anlaufpunkt erspart aufwendige Recherchen.

Auch für Anbieter von Hotels und Ferienwohnungen wirkt hier ein Netzwerkeffekt: Auf der Plattform erreichen sie eine große Anzahl potenzieller Kund:innen; müssen sich nicht selbst um die Sichtbarkeit in Suchmaschinen kümmern. Diese indirekten Netzwerkeffekte halten sie bei Booking.com – trotz mittlerweile hoher durchschnittlicher Provisionen von 15 Prozent.

Auch der Messenger WhatsApp ist nicht etwa so erfolgreich, weil es keine ähnlichen Apps gäbe, sondern weil er einfach die meisten Nutzer:innen hat – und Nutzer:innen am liebsten mit einer einzigen App möglichst alle ihre Kontakte erreichen wollen. In der Realität haben aber viele Menschen schon heute mehrere Messenger-Apps auf ihren Smartphones, um mit all ihren Kontakten kommunizieren zu können. Dies können Signal oder Threema sein, um mit einer aktivistischen oder datenschutzinteressierten Bubble in Kontakt zu sein. Oder auch regionale Platzhirsche wie Viber, um mit Menschen in Osteuropa oder den Philippinen zu kommunizieren. WhatsApp hat also durchaus Konkurrenz. Der Messenger geht aber nicht weg, weil seine Netzwerkeffekte so dominant sind.

Was für Typen von Netzwerken gibt es?

Die Macht von Netzwerken wird nicht durch die schiere Anzahl an Personen (Nodes) und deren Aktivität bestimmt, sondern durch die Anzahl ihrer Verbindungen (Connections). Nach Metcalfe’s Law erhöht sich mit der Anzahl der Verbindungen also der Wert eines Netzwerkes. Auf diese Weise können mehr Nutzer:innen diesen Wert praktisch exponentiell ansteigen lassen.

Bei zwei Nutzern gibt es eine Verbindung, bei fünf Nutzern zehn und bei 12 Nutzern schon 66 Verbindungen. - CC0 Woody993, Wikipedia / Montage: netzpolitik.org

Dieses simple Modell mag zwar für ein Telefonnetz zutreffen, lässt sich aber nicht direkt auf soziale Netzwerke übertragen. Denn auf vielen sozialen Netzwerken möchten nicht alle Menschen wirklich alle anderen erreichen. Es gibt deswegen auch das Reedsche Gesetz, das dem Rechnung tragen soll. Demnach verdoppelt sich der Nutzwert eines Netzwerkes im Vergleich zur Anzahl seiner Nutzer:innen.

Aber auch dieses Modell ist nicht ganz passgenau, denn der Wert eines sozialen Netzwerkes liegt ja nicht nur in der bloßen Anzahl möglicher Verbindungen, sondern in der Anzahl erwünschter Verbindungen. So bilden Netzwerke wie Facebook eher erweiterte Freundeskreise und Bekanntschaften ab. Deswegen ist Facebook laut Benjamin Sandofsky ein Sparse Network, bei dem längst nicht das Maximum aller möglichen Verbindungen zwischen den einzelnen Nutzer:innen im Mittelpunkt steht.

Die 66 Verbindungen sehen bei Facebook nicht so dicht aus. - sandofsky.com / Montage: netzpolitik.org

Nochmal anders verhält es sich bei X. Die Art der Verbindungen im Netzwerk führt zu der Antwort, warum X ab einem gewissen Punkt Gefahr läuft, sehr schnell seine Relevanz zu verlieren. Denn X ist hochgradig von asymmetrischen Verbindungen abhängig. Im Gegensatz zu Facebook spielen Verbindungen zu großen Accounts mit vielen Follower:innen eine entscheidende Rolle.

Damit folgt X einer anderen Logik als WhatsApp oder Facebook. Während Facebook mit Fokus auf das soziale Umfeld einen Social Graph abbildet, haben wir es beim Twitter-Nachfolger mit einem Interest Graph zu tun. Hier folgen Menschen ihren Interessen folgend Accounts, von denen sie Informationen erhalten, sei es über Politik, Promis, Medien oder Wissenschaft. Kontakte zu Bekannten und Freund:innen gibt es auch,  sie stehen aber nicht im Vordergrund.

Ein auf Interessen basiertes Netzwerk für Kurznachrichten kann zwar eine hohe Bedeutung für manche Zielgruppen aus Journalismus, Aktivismus oder Politik haben. Es hat aber nicht das Wachstumspotenzial von beispielsweise Facebook, Instagram oder TikTok. In seinen besten Zeiten hatte Twitter nur einen Bruchteil der Nutzer:innen im Vergleich zu diesen Netzwerken. Es war aber dennoch dominant in seiner spezifischen Funktion.

Warum ist X jetzt besonders gefährdet?

Die Verbindungen bei X sind also hochgradig asymmetrisch. Accounts mit nur wenigen eigenen Follower:innen können Accounts mit einem Gefolgschaft von mehreren Millionen folgen. Das sind typischerweise Institutionen, Politiker:innen, NGOs, Journalist:innen, Medien, Sportler:innen und Sportvereine, Unternehmen und Prominente aller Art. Das erhöht den Stellenwert dieser einzelnen Super-Knotenpunkte im Netzwerk – und ist die Achillesferse von X.

Entscheiden sich Lady Gaga mit ihren mehr als 80 Millionen Follower:innen oder CNN mit seinen 60 Millionen oder Real Madrid mit etwa 50 Millionen Follower:innen, X zu verlassen und in Zukunft auf einem anderen Netzwerk zu posten, so kann das dem Wert von X überproportional schaden.

Nun mag der Abgang einzelner großer Accounts noch keine erdrutschartigen Effekte entfalten. Kommt es aber zu einem größeren Exodus bekannter Accounts bei gleichzeitiger Etablierung eines neuen Netzwerkes, dann kann sehr schnell ein Kipppunkt erreicht sein. Dann bricht die gesellschaftliche und informationspolitische Relevanz von X in kurzer Zeit in sich zusammen. In diesem Fall fällt es auch nicht mehr ins Gewicht, wenn noch 280 Millionen Accounts auf dem Netzwerk verbleiben und das Konkurrenznetzwerk bloß 40 Millionen Accounts hat, solange darunter die relevanten Akteur:innen sind.

Der X-Odus ist in vollem Gange. (Symbolbild) - Public Domain generiert mit Midjourney von netzpolitik.org Was hat den Reiz von Twitter ausgemacht?

Sandofsky beschreibt in seinem Artikel sehr anschaulich, wie Twitter einst von der Nerd-Plattform zur Nachrichtenquelle in Echtzeit wurde – mit dem Tweet eines im Wasser gelandeten Flugzeuges im Hudson River im Jahr 2009. Der arabische Frühling und zahlreiche weitere politische Ereignisse zementierten Twitters zentrale Rolle als globale Nachrichten-Öffentlichkeit. Der Rest ist Geschichte.

Sandofsky hebt hier die Rolle der Super-Connectoren hervor, die damals mit ihrer Reichweite dazu beitrugen, dass sich die Nachricht vom notgelandeten Flugzeug in Sekundenschnelle über den Globus verteilte. Er schreibt weiter, aus dem Englischen übersetzt:

Netzwerkeffekte machen einen Dienst nicht unbesiegbar. Twitter ist zu 40 Prozent ein soziales Netzwerk, zu 40 Prozent ein Interest Graph und zu 20 Prozent ein kulturelles Phänomen. Ich würde Twitters Niedergang also irgendwo zwischen Digg und MySpace ansiedeln. Wir befinden uns vielleicht erst am Anfang eines mehrjährigen Prozesses, aber wenn Twitter seine Super-Connectoren verliert, wird sich die Entwicklung meiner Meinung nach schnell beschleunigen.

Bislang haben die Twitter-Alternativen Mastodon, Threads und Bluesky während Nachrichtenlagen ein eher schwaches Bild abgeliefert, wenn es um Echtzeit-Informationen ging. Doch das ändert sich gerade, nicht bei Mastodon und Threads, aber bei Bluesky. So hat X laut dem Guardian zuletzt 2,7 Millionen aktive Nutzer:innen in den USA verloren, gleichzeitig hat Bluesky 2,5 Millionen aktive gewonnen.

Dieser Exodus macht sich nun auch in der Informationsdichte auf Bluesky bemerkbar. So lassen sich zum Beispiel die pro-europäischen Demokratieproteste in Georgien heute auf dem Netzwerk einigermaßen gut verfolgen – ohne ständig bei Twitter zu schauen, ob man etwas verpasst hat. Solche Entwicklungen sind ein weiteres Anzeichen dafür, dass X angezählt ist.

Die Chance ist jetzt

Welche Fehlentscheidungen hat Musk getroffen?

Wenn Netzwerke sterben, dann hat dies nicht nur mit aufstrebenden neuen Konkurrenten zu tun, die bessere Funktionen liefern. Eine Rolle spielen auch Fehlentscheidungen beim Netzwerk selbst, wachsende Kommerzialisierung und Ausbeutung der Nutzer:innenschaft (Enshittfication). Und es geht auch um die Langsamkeit und Selbstzufriedenheit von Platzhirschen, die die Zeichen der Zeit nicht erkennen.

Während MySpace in seiner selbstkonfigurierbaren Design-Knalligkeit einfach irgendwann over the Top, unsicher und schlecht zu bedienen war, hatte man bei Digg eine ganze Reihe falscher Produktentscheidungen getroffen, die dem Kern der Community und des Netzwerkes widersprachen.

Über den Niedergang von Twitter nach der Übernahme durch den Milliardär Elon Musk ist viel geschrieben worden. Zu den großen Fehlern gehören nicht nur die Schließung der Schnittstelle von Twitter und die Entlassung des Moderation- und Sicherheitssteams, sondern auch die vollkommene Entwertung verifizierter Accounts bei zugleich algorithmischer Verstärkung zahlender Hass-Accounts. Gleichzeitig zensierte die Plattform missliebige Inhalte wie Links zu konkurrierenden Plattformen, indem es diese nicht mehr erlaubte oder die Reichweite solcher Postings einschränkte.

X förderte, während der Eigentümer dabei laut „Meinungsfreiheit“ rief, in den letzten zwei Jahren Hass, Desinformation, Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungsideologien und machte das einstmals florierende Netzwerk zu einem unwirtlichen und feindlichen Ort, in dem eine demokratische Debatte nicht mehr möglich ist. Auch Musk selbst beteiligt sich an solchen Inhalten und vermittelt Nutzer:innen gezielt das Gefühl, dass er alles persönlich bestimmen kann. Von der Reichweite von Inhalten bis zum Wegnehmen von Accounts.

Somit kommt X als rechtsradikales Propaganda-Werkzeug des reichsten Mannes der Welt daher. Der Eindruck drängt sich auf, dass bleibende Nutzer:innen sich damit irgendwie gemein machen. Das wiederum führt dazu, dass immer mehr Menschen und Institutionen damit hadern – und das Netzwerk verlassen. Sandofsky geht soweit, dass er X auf dem Weg zu einem neuen 8chan sieht.

Die Enshittyfication Twitters. (Symbolbild) - Public Domain generiert von netzpolitik.org mit Midjourney Wer profitiert vom Exodus?

Wenn in so einer Situation ein möglicher Konkurrent bereit steht und der Leidensdruck der Nutzer:innen groß genug ist, dann gehen erste Nutzer:innen zu diesem Konkurrenten und legen sich dort einen Account an. Dies geschah in mehreren Wellen. Die Early Adopter verschwanden schon direkt bei Musks Übernahme vor allem zu Mastodon, weitere Wellen folgten. Davon profitierten vor allem Meta-Tochter Threads und Bluesky. In einer dieser Wellen stiegen nach erstem Zögern auch erste Medien wie Correctiv oder netzpolitik.org bei X aus.

Seit der von Donald Trump gewonnenen und von Musk unterstützten Wahl gehen auch große Medienhäuser wie der Guardian und zahlreiche Prominente, zuletzt auch in Deutschland. Der Exodus hat an Fahrt gewonnen und dabei kommt vor allem Bluesky immer mehr aus der Nische: Mehr als 200 Bundestagsabgeordnete haben auf dem Netzwerk mit dem Schmetterlingslogo schon einen Account angelegt, die Wissenschaft kommt, die britischen Parlamente, internationale NGOs und immer mehr Journalist:innen. Mehr als 25 Millionen Accounts sind mittlerweile bei Bluesky registriert.

Die Nutzer:innen genießen auf Bluesky derzeit eine Stimmung wie auf Twitter vor zehn Jahren: Freiheit von fremdbestimmten Algorithmen und eine Atmosphäre, in der gemeinsame Kommunikation, Debatte und Information im Vordergrund stehen. Wenn sich Bluesky weiter so entwickelt, könnte sich dort eine neue globale Öffentlichkeit nach dem Vorbild von Twitter formieren.

Millionen Menschen stürmen Bluesky

Hätte Twitter/X den Exodus vermeiden können?

Gibt es noch eine Chance für X, den Exodus aufzuhalten? Das ist angesichts der notorischen Unbelehrbarkeit von Musk unwahrscheinlich. Die zunehmenden Hasskommentare und die aggressive Stimmung auf X schrecken viele Menschen ab. Hinzu kommt, dass viele auch die dominante Rolle des Eigentümers und seiner willkürlichen Entscheidungen leid sind; sie haben einfach keine Lust mehr auf Musk und seine Plattform.

Dabei zeigen andere Beispiele, dass dominante Netzwerke durchaus effektiv auf Konkurrenten reagieren können. Kommen neue Netzwerke mit beliebten Funktionen auf den Markt, dann reagieren Platzhirsche teils aggressiv: Entweder kaufen sie ein Netzwerk einfach auf oder integrieren zum Verwechseln ähnliche Funktionen bei sich selbst.

Wenn die Meta-Tochter Threads also von heute auf morgen eine chronologische Timeline und selbstbestimmte Feeds, dann liegt das nicht daran, dass Meta plötzlich gegen bevormundende algorithmische Sortierung ist. Der Grund ist der Erfolg dieser Funktion bei Bluesky.

Diese Strategie lässt sich immer wieder beobachten. So hatte Meta-Tochter Instagram hat als Reaktion auf Vine die Unterstützung von Videos eingeführt, als Reaktion auf Snapchat die sogenannten Stories – und als Reaktion auf TikTok die Reels. Und was kam dabei raus? Vine gibt es nicht mehr; Snapchat konnte Instagram nicht vom Thron stürzen, TikTok allerdings prosperiert weiter. Auch Twitter hat in der Vergangenheit andere Apps und Netzwerke abgewehrt, so zum Beispiel den Corona-Shooting-Star Clubhouse, den Twitter mit den Twitter Spaces erledigte.

Wird jetzt alles Friede, Freude, Eierkuchen? Eher nicht. - Public Domain generiert von netzpolitik.org mit Midjourney Wie geht es jetzt weiter?

Dieses Mal gibt es bei X allerdings wenig Potenzial für eine Verteidigung der eigenen Netzwerkmacht. Zu viel ist kaputt gegangen in den vergangenen zwei Jahren. Das muss allerdings nicht das Ende von X bedeuten, eher das Ende von dem, was X und vor allem Twitter einmal waren. Der Zerfall kann sich über Jahre ziehen – selbst StudiVZ wurde erst im Jahr 2022 endgültig dicht gemacht.

Künftig könnte X ein Ort wie Truth Social werden, ein Propaganda-Spielplatz des reichsten Mannes der Welt, den demokratische Kräfte lieber meiden. Ob jemals wieder so eine Plattform für Debatten einer globalen Öffentlichkeit entsteht? Es sieht derzeit eher nach größeren fragmentierten Öffentlichkeiten aus: Mastodon das Lagerfeuer für die eher nerdige Klientel, Threads als eher unpolitische Kurznachrichten-Plattform und Bluesky als Informationsnetzwerk.

Spannend wird dabei auch die Frage sein, wie sich diejenigen verhalten, die jetzt auf X für Hass, Desinformation und rechte Hetze sorgen. Denn klar ist, dass die rechten Kräfte die demokratischen, progressiven Accounts brauchen. Einerseits um von deren Empörung durch Reichweite zu profitieren und andererseits, um ihre rechtsradikalen Positionen in den Mainstream-Diskurs einzuspeisen. Es dürfte nicht lange dauern, bis sie auch bei Bluesky & Co anklopfen. Dann kommt es darauf an, wie abwehrbereit diese sozialen Netzwerke und die Nutzer:innen darauf reagieren.

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Digitalzwang: Es gibt ein Recht auf eine analoge Alternative

13. Dezember 2024 - 11:48

Ein juristisches Gutachten klärt, in welchen Fällen digitale Dienstleistungen auch analog angeboten werden müssen. Es kommt zu dem Schluss, dass ein Verbot von Digitalzwang ins Grundgesetz gehört.

Digitalzwang schließt auch, aber lange nicht nur, ältere Menschen aus. – CC-BY 4.0 Mullana

Menschen, die auf bestimmte Dienstleistungen angewiesen sind, haben ein Recht darauf, diese auch offline nutzen zu können. Das besagt ein juristisches Gutachten des Netzwerk Datenschutzexpertise. Der Verein digitalcourage, der das Gutachten initiierte, sieht dadurch seine Kampagne gegen Digitalzwang deutlich gestärkt.

Das Gutachten, das von Thilo Weichert und Karin Schuler erstellt wurde, klärt, unter welchen Voraussetzungen eine analoge Alternative zum digitalen Angebot verpflichtend ist. Die Grundannahme ist: Es gibt Menschen, die digitale Angebote nicht wahrnehmen können, weil sie sich zum Beispiel die nötigen Geräte und Anschlüsse nicht leisten können, nicht über die nötige Medienkompetenz verfügen oder aufgrund einer Beeinträchtigung Schwierigkeiten mit bestimmten Angeboten haben.

Andere versuchen, digitale Angebote zu meiden, weil sie sich darum sorgen, was mit ihren Daten geschieht. Laut statistischem Bundesamt hatten 2022 sechs Prozent der Menschen zwischen 16 und 74 noch nie das Internet genutzt.

Ein analoges Angebot zum Schutz vor Diskriminierung

Gleichzeitig kann, so das Gutachten, Digitalisierung zu größerer Wirtschaftlichkeit und zu mehr Bürgernähe führen. Es gelte also, eine Balance zu finden. „Selbstverständlich kann ein Grundrecht auf eine analoge Alternative zu digitalen Verfahren nicht voraussetzungslos und unbeschränkt bestehen“, heißt es in dem Gutachten.

Das Recht auf ein analoges Angebot begründen die Autor*innen des Gutachtens unter anderem im Recht auf Datenschutz, im Diskriminierungsverbot, in der staatlichen Schutzpflicht gegenüber Menschen mit Behinderungen, Senioren oder sozial Benachteiligten, im Anspruch auf Daseinsvorsorge, im Recht auf Informationsfreiheit und Meinungsäußerung sowie im Rechtsstaatsprinzip.

Das Gutachten versammelt beispielhaft einige Dienstleistungen, die nur noch digital angeboten werden. Die Energiepreispauschale wurde 2023 beispielsweise nur an Studierende ausgezahlt, die sich bei BundID registriert hatten. Die bayerische Künstlerförderung ist nur digital beantragbar. Einige Banken nehmen keine Papierüberweisungen mehr an.

Viele Services gibt es nur noch digital

Es gibt Anbieter von Strom, Wasser, Gas oder Telekommunikation, die ausschließlich digital mit ihren Kund*innen kommunizieren. Ohne Smartphone-App lassen sich Pakete nicht mehr aus Packstationen befreien. In vielen Arztpraxen lassen sich Termine nur noch online vereinbaren. Die Bahncard gibt es nicht mehr als Karte. Eintrittskarten für einige Museen oder Schwimmbäder lassen sich nur noch elektronisch kaufen.

„Digitalisierung darf nicht zu einer digitalen Spaltung der Gesellschaft führen“, sagt Karin Schuler. Ihr Co-Autor Thilo Weichert, der auch Co-Vorsitzender von digitalcourage ist, fügt hinzu: „Zur Verdeutlichung ist es sinnvoll, ein Verbot digitaler Diskriminierung verfassungsrechtlich zu fixieren.“ Dieses Anliegen, ein Verbot von Digitalzwang ins Grundgesetz aufzunehmen, unterstützt auch der Verein digitalcourage, der zu diesem Zweck eine Unterschriftenaktion betreibt, die noch bis zum 23. Mai 2025 läuft.

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Digitale Brieftasche: Sprind-Wettbewerb geht in die finale Runde

12. Dezember 2024 - 17:59

Das Feld dünnt sich aus: Vier Teams wetteifern nun darum, einen Prototypen für eine digitale Brieftasche zu erstellen. Google und Samsung sind ausgeschieden. Die dritte und letzte Stufe des Wettbewerbs endet im September 2025.

Das Rennen um den Prototypen für die deutsche EUDI-Wallet geht in die finale Runde. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com James Thomas

Die Bundesagentur für Sprunginnovationen (Sprind) hat am Mittwoch bekannt gegeben, welche vier Unternehmen weiter einen Prototypen für eine deutsche EUDI-Wallet entwickeln. Die dritte und letzte Stufe des Innovationswettbewerbs beginnt im Dezember 2024 und endet im September 2025.

Im Rennen sind zum einen Ubique Innovation aus der Schweiz und Animo Solutions aus den Niederlanden. Beide Teams erhalten in den kommenden Monaten jeweils 450.000 Euro. Zum anderen sind noch die Lissi GmbH, die als Ausgliederung der Commerzbank gegründet wurde, und das Team wwWallet dabei, ein Kooperationsprojekt von GUnet (Greek Universities Network), Sunet (Swedish University Computer Network) und Yubico. Diese beiden Teams werden nicht finanziell gefördert, sollen aber vom Feedback der Jury und dem Netzwerk der Sprind profitieren.

Google und Samsung sind ausgeschieden

Im Mai dieses Jahres waren insgesamt elf Teams an den Start gegangen, sechs von ihnen erhielten in der ersten Runde eine Finanzierung. Unter den fünf Teams, die keine Förderung bezogen, war neben einer Abteilung von Samsung auch das Android-Team des Tech-Konzerns Google. Beide Teams sind nach der zweiten Runde ausgeschieden. Die Gründe für diese Jury-Entscheidung sind nicht bekannt.

Über die Entscheidung, Google an den Start gehen zu lassen, hatte es im Mai innerhalb der Jury Unstimmigkeiten gegeben. Ein entsprechender Hinweis findet sich auf der Sprind-Website:

Bei der Bewertung der Bewerbung des Google-Teams äußerte die Jury Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes. Ein Jurymitglied sprach sich aufgrund von Datenschutz- und Wettbewerbsbedenken deutlich gegen Google aus. Da das Team alle Bewertungskriterien und Anforderungen (einschließlich der Datenschutzanforderungen) erfüllte, beschloss die Mehrheit der Jurymitglieder, das Team zur Teilnahme an Stufe 1 einzuladen und diesen Aspekt (neben anderen) zum Ende der Stufe 1 erneut zu bewerten.

Datenschützer:innen fürchten, dass eine digitale Brieftasche die Überidentifikation im Internet befördert. Außerdem hatte die Jury ausschließlich Unternehmen zum Innovationswettbewerb zugelassen. Der Einfluss der Zivilgesellschaft beschränkt sich damit auf wenige Plätze in der Jury. Dabei war der Zivilgesellschaft zu Beginn des Verfahrens noch das genaue Gegenteil zugesagt worden.

Der Jury gehören zehn Personen an, darunter sind Christiane Fritsch von der ING Deutschland, Brian Behlendorf von der Open Source Security Foundation, Thomas Lohninger von der Bürgerrechtsorganisation epicenter.works und Uwe Kraus vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Die Namen aller Jury-Mitglieder sind auf der Sprind-Website genannt.

Eine digitale Brieftasche bis Ende 2026

Bis zum Herbst 2026 müssen die EU-Mitgliedstaaten ihren Bürger:innen eine digitale Brieftasche anbieten. Mit ihr sollen sie sich online wie offline ausweisen und digitale Nachweise speichern können.

Das EU-Gesetz, das dem ganzen Prozess zugrunde liegt, trat im Mai dieses Jahres in Kraft. Die novellierte eIDAS-Verordnung sieht vor, dass die Wallet freiwillig und kostenlos sowie interoperabel sein soll. Außerdem sollen die Nutzer:innen transparent darüber bestimmen können, welche Daten sie an wen weitergeben. Es liegt nun an den Mitgliedstaaten, die Verordnung in nationale Gesetze zu gießen. In Deutschland wird das voraussichtlich erst die nächste Regierung übernehmen.

Wenn am Ende des Innovationswettbewerbs der Prototyp für die deutsche Wallet vorliegt, soll daraus laut Bundesinnenministerium in einem „iterativen Prozess“ schrittweise eine „vollfunktionsfähige EUDI-Wallet“ hervorgehen, die den rechtlichen Anforderungen entspricht.

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National Once Only Technical System: Staatsvertrag überbrückt Gräben zwischen Verwaltungen

12. Dezember 2024 - 17:20

Auf der Ministerpräsidentenkonferenz in Berlin beschlossen Bund und Länder den Staatsvertrag für das National Once Only Technical System. Damit wollen sie die technische Infrastruktur schaffen, um Registermodernisierung und Verwaltungsdigitalisierung anzuschieben.

Die Ministerpräsidenten Alexander Schweitzer (SPD, Rheinland-Pfalz) und Michael Kretschmer (CDU, Sachsen) erwähnten auf der Pressekonferenz zur MPK den Staatsvertrag zum NOOTS nur am Rand. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO/Bernd Elmenthaler

Neben den großen Themen Rundfunk-Beiträge und Migrationspolitik stand bei der Ministerpräsidentenkonferenz die Digitalisierung der Verwaltung auf der Agenda. Dabei ging es um nichts weniger als die neue „Datenautobahn“, so die Einschätzung der Senatskanzlei Hamburg auf Anfrage von netzpolitik.org. Die Rede ist vom sogenannten National-Once-Only-Technical-System, kurz NOOTS. Über das System sollen Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen Daten untereinander austauschen können. Gestern beschlossen Bund und Länder den dazugehörigen Staatsvertrag.

Vorgabe für das NOOTS ist die EU-Verordnung zum Single-Digital-Gateway und das europäische Once-Only-Technical-System (EU-OOTS). Nach dem Once-Only-Prinzip sollen Bürger:innen und Unternehmen der Verwaltung ihre Daten ein einziges Mal übermitteln und nicht stets erneut angeben müssen. Stattdessen können sie den Behörden erlauben, die Daten in den Registern abzufragen, ohne Bürger:innen und Unternehmen zu involvieren. Der Staatsvertrag ist die Voraussetzung für grenzüberschreitende Nachweisabrufe innerhalb der EU.

Dafür wollen Bund und Länder eine IT-Infrastruktur aufbauen, in der alle öffentlichen Stellen unabhängig vom Ressort und ebenenübergreifend Daten und Nachweise abrufen können. Eine Schwierigkeit ist die dezentrale Organisation von Datenbeständen der deutschen Verwaltung. Zum NOOTS sollen laut Architektur-Zielbild für das Jahr 2025 Komponenten wie die Registerdaten-Navigation, das Identitäts- und Zugangsmanagement für Behörden sowie das Identitätsmanagement für Personen und das Datenschutzcockpit gehören. Gerade letzteres kritisieren Fachleute massiv.

Verteilen von Aufgaben und Kosten

Den Betrieb des NOOTS soll das Bundesverwaltungsamt übernehmen, das dabei auf einen öffentlichen IT-Dienstleister setzen wird. Zudem wird das Bund-Länder-Gremium, der IT-Planungsrat, eine Steuerungsgruppe NOOTS einrichten. Die soll über Anschlussbedingungen, Betrieb und Weiterentwicklung der technischen Infrastruktur entscheiden.

Finanzieren werden das Mammutprojekt Bund und Länder gemeinsam. Für die Jahre 2025 und 2026 greifen sie dabei zu hundert Prozent auf das Budget für die Föderale IT-Kooperation (FITKO) zu, ab 2027 wollen sie 53,4 Prozent der Gesamtkosten mit Mitteln aus dem FITKO-Budget decken, 46,6 Prozent soll der Bund tragen. Wie hoch die Kosten für das NOOTS ausfallen werden, ist jedoch noch nicht absehbar, wie etwa Brandenburg anmerkt.

Dass der Bund sich an der Finanzierung mit gut 47 Prozent beteiligen will, begrüßen vor allem Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Gleichzeitig kritisieren die Länder, wie die Koordination der Zuständigkeiten im Staatsvertrag festgeschrieben ist. Die vorgegebenen Entscheidungswege seien „zu aufwändig“ und könnten „die Umsetzung des NOOTS im Weiteren unnötig verzögern“. Was im Einzelnen damit gemeint ist, ist noch unklar, da der Text des Staatsvertrages noch nicht veröffentlicht ist.

Warum überhaupt ein Staatsvertrag?

Für das NOOTS braucht es eine Rechtsgrundlage, entweder als Änderung des Grundgesetzes oder als Staatsvertrag. Denn grundsätzlich enthält das Grundgesetz ein Verbot der Mischverwaltung, die Bundes- und Landesverwaltungen arbeiten eigenständig und auch die Verwaltungszuständigkeiten sind voneinander getrennt.

Zwar ist im Grundgesetz angelegt, dass Bund und Länder für den Aufbau gemeinsamer informationstechnischer Systeme miteinander kooperieren. Die Ausgestaltung der Zusammenarbeit für das NOOTS erfolgt jedoch erst ausschließlich durch den Staatsvertrag. Im Gespräch war noch im Sommer eine Grundgesetzänderung, damit der Bund die alleinige Kompetenz für den Betrieb des NOOTS erhält. Dafür gab es im Bundestag jedoch keine Mehrheiten.

Damit der Staatsvertrag in Kraft tritt, müssen die Bundesregierung und die Länder ihn noch förmlich zeichnen. Und die Landesparlamente sowie der Bundestag müssen ihn noch ratifizieren.

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Gegen den Trend: Überwachung ist die Mutter aller Probleme

12. Dezember 2024 - 15:58

Grundrechte statt Überwachung zu fordern, liegt gerade nicht im Trend. Doch der markige Ruf nach mehr vermeintlicher Sicherheit gefährdet unsere Gesellschaft. Deshalb halten wir dagegen. Das geht nur dank eurer Unterstützung.

Durch diese Fotomontage haben wir ca. 1.400 € Werbebudget gespart. (Symbolbild – Montage: netzpolitik.org) – CC-BY-NC-SA 4.0

Als Horst Seehofer, Vater des populistischen Migration-als-Mutter-aller-Probleme-Zitats, das Amt als Innenminister abgab, schöpften viele Hoffnung. Denn mit Nancy Faeser übernahm eine Sozialdemokratin das Haus. Und die würde wohl nicht länger die Grundrechte schleifen, als gäbe es kein Morgen.

Es kam anders. Und im Rückblick lassen sich die Überschriften unserer Texte vor und nach Seehofer kaum unterscheiden. Aus der Fortschrittsampel ist ein zersplitterter Rechtsabbiegepfeil geworden.

„Überwachung ist die Mutter aller Probleme“, sagen wir. Aber eigentlich liegt der Kern noch eine Ebene tiefer. Vielleicht sollte es heißen: Probleme immerzu nur mit der Einschränkung von Grundrechten zu beantworten, ist die Mutter aller Probleme. Das passt zwar nicht so gut auf ein Plakat, trifft es aber ziemlich gut.

Wer einen solchen Kurs fährt, muss sich am Ende nicht wundern, wenn von einer freiheitlichen Demokratie nichts mehr übrig bleibt. Und wenn sich die autoritären Fantasten über einen gefüllten Werkzeugkoffer freuen. Deshalb werden wir nicht müde, immer wieder laut zu werden, wenn Grund- und Freiheitsrechte beschnitten werden – ganz gleich, welche Parteifarbe die jeweilige:n Innenminister:innen tragen.

Überwachung und Einschränkung von Grundrechten – das gibt es nicht nur im Großen wie bei der Chatkontrolle und beim geplanten Sicherheitspaket mit seiner biometrischen Gesichtserkennung. Das gibt es auch da, wo eine Reform der Gewalttäter-Sport-Datei verschleppt wird, in der schon viele Fußballfans unrechtmäßig gespeichert wurden. Wenn schon wieder jemand die Vorratsdatenspeicherung fordert. Wenn Staatstrojaner immer tiefer in die Behördenpraxis eindringen. Wenn eine dringend nötige Überwachungsgesamtrechnung immer weiter hinausgeschoben und diskreditiert wird. Oder wenn Befugnisse unverhältnismäßig angewendet werden.

Wir schauen hin, seit Jahren.

Ob Staat oder privat

Wenn Freiheitsrechte eingeschränkt werden, bekommt das nur selten so viel Aufmerksamkeit wie die markigen Rufe nach vermeintlicher Sicherheit. Aber dank eurer Unterstützung können wir beharrlich darüber berichten.

Es sind nicht nur staatliche Stellen, die im Überwachungsfeld mitspielen. Auch private Überwachung ist eine Problemmutter. Bei den Tech-Konzernen paart sie sich bestens mit dem Streben nach immer mehr Profit. Wer alles über uns weiß, kann gut an uns verdienen und unsere Schwächen ausnutzen. Das ist der Treibstoff für den Überwachungskapitalismus.

Überwacht werden aber nicht nur Bürger:innen von Staaten und Nutzer:innen von Tech-Konzernen. Überwachung gibt es auch im Privaten. Wo Ex-Partner:innen ihren Opfern Stalkerware auf Smartphones spielen, wird sie zur physischen Gefahr. Auch dazu recherchieren wir.

Inmitten all der schlechten Nachrichten fragen wir uns immer wieder: Wie könnten andere Lösungen für all die realen Probleme aussehen? Lösungen, die ohne Grundrechtseinschränkungen funktionieren. Lösungen, die Probleme da lösen, wo sie entstehen. Ohne Angst, sondern mit Mut, Wertschätzung und Hoffnung. Weil wir die offene und solidarische Gesellschaft verteidigen und stärken müssen.

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