«Mund halten und Steuern zahlen, das sind die ersten Pflichten des Staatsbürgers. Die Mütter haben dann noch, wenn möglich, recht viele Kinder in die Welt zu setzen, damit der Staat ohne jede Verantwortung darüber frei verfügen kann und die heilige Staatsmedizin die nötigen Versuchskaninchen bekommt. Eine Mutter darf sich nur nicht einbilden, dass die Kinder ihr Eigentum sind.» (-Hugo Wegener)
netzpolitik.org
Anlasslose Massenüberwachung: Auch Ungarn scheitert mit Chatkontrolle im EU-Rat
Die Chatkontrolle hat im EU-Rat nicht die nötige Zustimmung bekommen. Datenschutz- und Menschenrechtsorganisationen können erst einmal aufatmen: Die gefährlichen Überwachungspläne stecken fest – bis zur nächsten Abstimmung.
Chatkontrolle wäre wie eine Kameraüberwachung beim Briefeschreiben, bevor der Brief in den Umschlag gesteckt wird. (Symbolbild) – Public Domain generiert von netzpolitik.org mit MidjourneyIm Rat der EU hat die Chatkontrolle heute weiterhin nicht die erforderliche Zustimmung erhalten, welche die Überwachungsverordnung nach Jahren in den Verhandlungstrilog mit Kommission und Parlament bringen würde. Damit ist die Ratspräsidentschaft Ungarn wie andere vor ihr an diesem Versuch gescheitert. Das liegt auch daran, dass die Ratsentwürfe bislang immer nur kosmetische Änderungen enthalten haben, welche die von mehreren Staaten formulierte Kritik nicht aufnehmen.
Zu den Ländern, die derzeit gegen die Chatkontrolle sind – und sich bei der Abstimmung enthalten haben – gehören nach Informationen von netzpolitik.org neben Deutschland, Belgien, Luxemburg, Polen, Tschechien, Slowenien, Estland, Finnland und Österreich auch die Niederlande. Letztere hatten sich zuletzt deutlich gegen die Chatkontrolle ausgesprochen. Die Gegner-Länder repräsentieren mehr als 35 Prozent aller EU-Einwohner:innen. Stimmen sie dem Verordnungstext nicht zu, kann dieser nicht angenommen werden. Die Verhandlungen um den Text gehen deshalb weiter, bis mehr Länder zustimmen oder er zurückgezogen wird.
Kein echter KompromissEine Kernkritik dieser Länder richtet sich gegen das Client-Side-Scanning, also die Durchleuchtung von Inhalten direkt auf dem Gerät der Bürger:innen. Der aktuelle ungarische Entwurf, den wir hier im Volltext veröffentlichen (PDF), sieht vor, dass es Client-Side-Scanning für visuelle Inhalte und URLs geben soll. Text- und Audioinhalte sollen nicht gescannt werden. Verschlüsselte Inhalte sollen nur gescannt werden, wenn Nutzer:innen dem zustimmen. Tun sie das nicht, könnten sie aber keine Links, Bilder oder Videos mehr in den Apps verschicken.
Das eigentliche Problem bleibt damit bestehen: Das Gesetz würde eine umfassende Infrastruktur für die anlasslose Überwachung privater Kommunikation aufbauen. Würde die Verordnung umgesetzt, wäre das ein herber Schlag gegen Ende-zu-Ende-Verschlüsselung in Europa.
Elina Eickstädt, Sprecherin des Chaos Computer Clubs, sagt gegenüber netzpolitik.org: „Die Enthaltungen haben gezeigt, dass für viele Länder das Gesetz erst zustimmungsfähig wird, sobald das Scannen von Ende-zu-Ende-verschlüsselter Kommunikation nicht mehr enthalten ist.“ Die Enthaltung der Bundesregierung sei eine „kleine Enttäuschung, aber leider keine Überraschung“, so Eickstädt weiter. Sie hätte sich hier eine klarere Ablehnung Deutschlands gewünscht.
Kritik hält anGegen die Vorschläge von Kommission und Rat gibt es schon lange breite Kritik. Der verschlüsselte Messenger Signal hatte angekündigt, sich aus Europa zurückzuziehen, wenn das Gesetz in dieser Form kommen sollte. Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt haben immer wieder vor dem Vorhaben gewarnt, genau so wie Verbände von Informatiker:innen. Selbst der niederländische Geheimdienst warnte vor der Chatkontrolle.
Auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) spricht sich in einer Pressemitteilung erneut gegen die Chatkontrolle aus. David Albrecht, Mitglied im DAV-Ausschuss für das Recht der Inneren Sicherheit, sagt: „Verschlüsselte Kommunikation würde unter der Chatkontrolle ein Ende finden. Der ungarische Vorschlag ist, wie alle anderen vor ihm, ein nicht hinnehmbarer Eingriff in Bürgerrechte und Privatsphäre. Das automatische Scannen jedes digitalen Datenaustauschs darf keine Praxis in der EU werden.“
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Hätte, hätte: Doch kein Gesetz gegen digitale Gewalt
Das Gesetz gegen digitale Gewalt ist schwach gestartet und im Rohr krepiert. Kurz vor Ende der Legislaturperiode hat das Justizministerium das nur fast fertige Papier eines Entwurfs veröffentlicht. Ein Nachruf.
Papier für die Nachwelt. – Public Domain DALL-E-3 („woman at computer, bauhaus style reduced minimalist geometric shape“), Montage: netzpolitik.orgFrüher in der Schule, zum Ende einer Klassenarbeit, haben die Lehrer*innen gesagt: „Soo, die Zeit ist um. Es ist nicht schlimm, wenn ihr nicht fertig geworden seid. Schreibt noch den Satz zu Ende und gebt dann ab.“
Genau das ist nun auch mit dem Gesetz über digitale Gewalt passiert. Die Zeit der Ampelkoalition ist um. Das Bundesjustizministerium ist mit dem Gesetzentwurf nicht fertig geworden. Der letzte Stand des Vorhabens wurde nun für die Nachwelt veröffentlicht. Das Papier markiert das leise Ende eines einst ambitionierten Vorhabens. Die künftige Regierung kann sich davon inspirieren lassen, oder die Rückseite als Schmierpapier verwenden.
Was sind meine Augenbrauen damals erfreut gehüpft, als ich vor drei Jahren im Koalitionsvertrag der Ampel las:
Mit einem Gesetz gegen digitale Gewalt werden wir rechtliche Hürden für Betroffene, wie Lücken bei Auskunftsrechten, abbauen und umfassende Beratungsangebote aufsetzen.
Das klang vielversprechend. Umfassende Beratung? Genau, was den Betroffenen fehlt. Rechtliche Hürden? Gerade bei bildbasierter Gewalt ein Riesenthema, ebenso bei Überwachung durch (Ex-)Partner*innen per Spyware. Darüber berichten wir seit Jahren.
Ein fader Geschmack auf der Zunge kam auf, als das Justizministerium im April 2023 erstmals Eckpunkte vorlegte. Darin war keine Rede mehr von Beratungsangeboten, das wäre ja auch teuer geworden. Der Abbau rechtlicher Hürden kreiste um Auskunftsansprüche für Betroffene. Das heißt, Betroffene sollten vor Gericht erwirken können, dass Online-Anbieter etwa IP-Adressen von Verdächtigen herausrücken. Mit sogenannten Accountsperren lag noch ein höchstens semi-nützliches Werkzeug für Betroffene mit im Korb.
Was war nochmal digitale Gewalt?Die größte Kritik an den Eckpunkten war jedoch: Da stand „digitale Gewalt“ drauf, aber da steckte kaum „digitale Gewalt“ drin. Digitale Gewalt ist ein Sammelbegriff für mehrere Formen zwischenmenschlicher Gewalt, die Frauen und andere marginalisierte Gruppen der Gesellschaft besonders treffen. Dazu gehören Stalking, Doxing, Belästigungen, Bedrohungen, Ortung und Überwachung, Veröffentlichung intimer Fotos oder Videos, auch per Deepfake.
Bloß, im Eckpunktepapier selbst war keine Spur mehr von der Geschlechterdimension des Phänomens. Viele Formen digitaler Gewalt waren schlicht nicht abgebildet. Stattdessen sprach aus den Eckpunkten eine große Unschärfe. Die geplanten Auskunftsansprüche bezogen sich sogar auf Urheberrechtsverletzungen und Inhalte von Messengern. Als ein das Thema völlig verfehlendes Beispiel nannte das Justizministerium selbst eine unwahre Restaurantkritik. Seit wann sind Beschwerden über angeblich labberige Pizzen bitte digitale Gewalt? Was für ein Facepalm-Moment.
Das Feedback von Fachleuten und Zivilgesellschaft war entsprechend umfassend. In der Folge geschah lange nichts, bis Anfang Dezember die Ampelkoalition zerbrach. Und dann war klar: Das wird wohl nichts mehr mit dem Gesetz gegen digitale Gewalt, wie mit vielen anderen Ampel-Vorhaben auch. Was sich dennoch seit dem Eckpunktepapier am Vorhaben geändert hat, lässt sich nun einem 40-seitigen PDF nachlesen.
Spontan das Thema gewecheltSchon die verschiedenen Titel zeigen, dass hier wenig ausgegoren ist. Ist es nun ein Gesetzentwurf oder doch nur ein Diskussionsentwurf? Ist es ein Gesetz „gegen digitale Gewalt“ oder ein „Gesetz zur Stärkung der privaten Rechtsverfolgung im Internet“? Im Zweifel von allem ein bisschen, man ist eben nicht fertig geworden.
Die halbgare Umbenennung – weg vom Begriff „digitale Gewalt“ – dürfte eine Reaktion auf die Kritik sein, dass das Gesetz sich nicht wirklich mit digitaler Gewalt befasse. Der neue Name, „Stärkung der privaten Rechtsverfolgung“, ist zwar folgerichtig, aber zugleich eine Enttäuschung. Denn vorgenommen hatte man sich eigentlich etwas anderes.
Als wäre die Aufgabe der Klassenarbeit eine Gedichtanalyse gewesen, aber man hat stattdessen – vielleicht mit ein paar eingestreuten Reimen – den Schwänzeltanz der Bienen erklärt.
Die Papiere aus dem Justizministerium sind nicht mehr das, was meine Augenbrauen hüpfen ließ, als ich 2021 den Koalitionsvertrag las. Sie sind nicht das, worauf zahlreiche Betroffene, vor allem Frauen, seit Langem hoffen.
Kein Interesse, Teilpunkte zu vergebenAllzu sehr wie eine Baustelle wirkt auch die Begrenzung des Gesetzes auf eine konkrete Reihe von Tatbeständen. Aus den Begründungen geht hervor: Hier sollte das Phänomen digitale Gewalt modelliert werden – mit dem, was unter anderem das Strafrecht hergibt. Auch das Urheberrecht ist weiterhin dabei. Das Ergebnis lässt sich schwerlich als gelungen beschreiben.
Konkret gehören zur Liste etwa „Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten“ (also auch entsprechende rechtsextreme Hetze?), „Verbreitung pornographischer Inhalte“ (also auch Pornoseiten ohne Ausweiskontrollen?) sowie „Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte“ (also auch Pädokriminalität?). Kurzum: Sowohl der neue Entwurf als auch die alten Eckpunkte haben ein Problem mit dem Fokus. Worum soll es hier bitte gehen?
Früher in der Schule haben sich Lehrer*innen auch unfertige Klassenarbeiten vorgenommen. Sie haben sich mit viel Geduld und Wohlwollen angeschaut, wofür es immerhin ein paar Teilpunkte geben könnte. Die Gedichtanalyse analysiert gar kein Gedicht, beinhaltet aber immerhin ein paar saubere Paarreime? Halber Punkt!
Aber das Diskussionspapier aus dem Justizministerium ist keine Klassenarbeit. Ich wünsche mir keine Teilpunkte nach dem Motto: „Das BMJ hat sich sehr bemüht“. Ich wünsche mir ein rundum durchdachtes und gutes Gesetz gegen digitale Gewalt.
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Elektronische Patientenakte: „Das widerspricht der informationellen Selbstbestimmung“
Die Fachärztin Silke Lüder glaubt nicht an die Versprechen der elektronischen Patientenakte für alle. Stattdessen sorgt sie sich um die Folgen schlechter Aufklärung, das Ende der ärztlichen Schweigepflicht und Forschungsmüll.
Stecken Versicherte ihre Gesundheitskarte in das Lesegerät einer Apotheke, dürfen die drei Tage lang auf die ePA zugreifen. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / imagebrokerIm Februar 2025 kommt die elektronische Patientenakte für alle, die ihr nicht widersprechen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wirbt intensiv für das Vorhaben. Sein Versprechen: Alle wichtigen Gesundheitsdaten und damit die gesamte Krankengeschichte einer Person sind fortan an einem Ort einsehbar. Das mache Behandlungen effizienter und verbessere unterm Strich die Gesundheitsversorgung. Und Versicherte könnten genau nachvollziehen, welche Diagnosen gestellt und welche Leistungen für sie abgerechnet wurden.
Silke Lüder (Foto: Privat)Wir haben mit Silke Lüder über die elektronische Patientenakte für alle (ePA) gesprochen. Sie ist Fachärztin für Allgemeinmedizin in Hamburg und kann auf ihre langjährige Erfahrung als Hausärztin zurückblicken. Sie ist außerdem Delegierte auf den Deutschen Ärztetagen und seit 2012 stellvertretende Bundesvorsitzende der Freien Ärzteschaft e. V. Mehrfach stand sie als Sachverständige dem Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages Rede und Antwort.
netzpolitik.org: Frau Lüder, die elektronische Patientenakte klingt nach einer Win-win-Situation für alle Beteiligten, oder?
Silke Lüder: Im Augenblick hat man eher das Gefühl, dass die Win-Situation sehr einseitig verteilt ist. Das Projekt läuft jetzt seit zwanzig Jahren. Und es war eher eines aus der Kategorie „Pleiten, Pech und Pannen“ mit Milliardenkosten, die niemand genau beziffern kann. Profitiert haben bisher die beteiligten Firmen, vor allem aus dem Bereich der Praxisverwaltungssysteme. Sie haben ihre Umsätze deutlich erhöhen können. In der medizinischen Behandlung sind die Vorteile bisher nicht angekommen.
netzpolitik.org: Kann die ePA denn keine der vielen Beschwerden im Gesundheitswesen lindern?
Silke Lüder: Seit zwei Jahrzehnten sehen wir, dass die Gesundheitsversorgung in Deutschland sich stetig verschlechtert. Im Jahr 2003 führte die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das Fallpauschalen-System in den Kliniken ein. Unterstützt wurde sie damals übrigens vom heutigen Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Die Folgen waren dramatisch. Es kam zu sprichwörtlichen „blutigen Entlassungen“. Patienten mussten vorzeitig die Kliniken verlassen. Und in den Krankenhäusern fehlt schon seit langem Zeit für individuelle Behandlung.
Ähnliches spielt sich im ambulanten Sektor unter den Bedingungen der Pauschalierung ab. Auch hier ist Zeitmangel für den einzelnen Patienten ein großes Problem. Das wird sich mit der geplanten „ePA für alle“ mit doppelter Datenverwaltung und zeitraubendem Suchen in einer unvollständigen PDF-Sammlung nicht verbessern, befürchte ich. Ganz im Gegenteil.
netzpolitik.org: Nach einem Testlauf in verschiedenen Modellregionen soll die ePA spätestens Mitte Februar bundesweit ausgerollt werden. Sind die Praxen ausreichend fit dafür?
Silke Lüder: Die Praxen werden zum großen Teil „fit“ sein. Sie werden ja massiv mit finanziellen Strafen dazu genötigt, jede Art teurer Software für den Start der ePA anzuschaffen.
Bisher ist die Industrie allerdings noch nicht in der Lage, die dafür notwendigen Tools zu liefern. Bisher hatten die Firmen noch keine Zulassung. Und ihre Programme konnten sie auch noch nicht in einer realen Testumgebung testen. Der bundesweite Rollout wird sich daher wohl auch noch verschieben, vermutlich bis in den April, wie man in den Testregionen hört.
Die Folgen schlechter Aufklärungnetzpolitik.org: Wie bewerten Sie, dass Versicherte einer ePA widersprechen müssen, um sie nicht zu erhalten?
Silke Lüder: Bei der Entscheidung über die Organspende hat der Bundestag jüngst die Freiwilligkeitslösung beibehalten. Also das Opt-in. Die Begründung ist interessant: Schweigen ist demnach keine Zustimmung.
Bei der ePA gelten andere Regeln, obwohl den meisten gesetzlich Versicherten vermutlich nicht einmal richtig klar ist, was die digitale Akte für sie bedeutet. Daran konnte auch die völlig unzutreffende Werbekampagne des Bundesgesundheitsministeriums wenig ändern. Denn sie informiert nicht darüber, dass die Daten der Versicherten künftig zentral gespeichert werden. Und dass Pharma- und Tech-Konzerne grundsätzlich damit forschen dürfen. Informationelle Selbstbestimmung hat Grundrechtsstatus in Deutschland. Dieses Recht ist nicht gesichert mit der jetzigen Widerspruchslösung.
Soll ich’s wirklich machen oder lass ich’s lieber sein?
netzpolitik.org: Der Verbraucherzentrale Bundesverband kritisierte in der vergangenen Woche, dass die Krankenkassen den Versicherten eine informierte Entscheidung zur ePA erschweren. Was ist Ihr Eindruck?
Silke Lüder: Das ist eine völlig berechtigte Kritik. Viele unserer Patienten befürchten augenblicklich zwei Dinge, wenn sie der ePA widersprechen: Dass sie weniger Leistungen bekommen und dass ihre Behandlung schlechter wird, wenn sie die zentrale Datenspeicherung ablehnen. Das ist beides nicht der Fall, aber dieser Eindruck ist Folge der schlechten Aufklärung.
netzpolitik.org: Insgesamt gibt es verschiedene Widerspruchsmöglichkeiten für die Versicherten, unter anderem gegen die ePA selbst, aber auch gegen die Medikationsliste oder gegen die Nutzung der Daten zu Forschungszwecken. Behalten Sie da noch den Überblick?
Silke Lüder: Jedem auch noch so gut informierten Menschen fällt es schwer, die verschiedenen Widerspruchsmöglichkeiten zu überblicken. Und ihre Daten können Versicherte ja nur dann verwalten, wenn sie ein recht aktuelles Handy besitzen mit einer NFC-Funktion. Dann müssen sie sich die ePA-App ihrer Krankenversicherung holen. Und sie brauchen die PIN-Nummer, die sie mit Hilfe von Postident oder ihrem elektronischen Personalausweis bekommen. Insgesamt wird das nur ein kleiner Teil der Versicherten machen. Und damit ist die informationelle Selbstbestimmung aus meiner Sicht ebenfalls eingeschränkt.
„Die ärztliche Schweigepflicht besteht nicht mehr“netzpolitik.org: Versicherte können in der ePA bestimmte Dokumente ausblenden und einzelnen Ärzt:innen oder Institutionen den Zugriff komplett verwehren. Wie können Ärzt:innen da noch sicher sein, die richtigen Diagnosen zu treffen?
Silke Lüder: Die ePA in der geplanten Form hat für Ärztinnen und Ärzte jede medizinische und juristische Verbindlichkeit verloren. Gleichzeitig muss klar sein, dass die jetzigen Kommunikationswege in der Medizin weiterlaufen wie bisher. Die werden durch die ePA nicht ersetzt. Auch in Zukunft bekommt jeder Hausarzt von den Fachärzten oder der Klinik einen Bericht, wenn er einen Patienten dahin überwiesen hat. Die Verpflichtung bleibt bestehen. Und auch wir haben unseren Patienten immer alle Berichte wieder mitgegeben, nachdem wir sie eingescannt haben. Die haben dann selbst den Überblick über ihre Daten. Dezentral und buchstäblich in ihrer Hand. Das finde ich deutlich sinnvoller.
netzpolitik.org: Praxen und Krankenhäuser sollen dabei helfen, dass Dokumente in die ePA gelangen. Außerdem sollen sie die Versicherten ausführlich über die digitale Patientenakte aufklären. Welcher Zusatzaufwand kommt auf die Behandelnden und ihre Mitarbeitenden zu?
Silke Lüder: Fehlende Behandlungszeit ist ein Hauptproblem im Gesundheitswesen. Natürlich wird es nicht möglich sein, dass Praxen und Kliniken die Aufklärungspflicht der Krankenkassen übernehmen.
netzpolitik.org: Apotheken sollen standardmäßig drei Tage lang die ePA einsehen können, wenn Versicherte ein Rezept einlösen. Verstößt das nicht gegen die ärztliche Schweigepflicht?
Silke Lüder: Die ärztliche Schweigepflicht gibt es seit rund 2.500 Jahren. Bei den neuen Zugriffsregelungen für die sensibelsten Arztbriefe besteht die in Zukunft nicht mehr. Alle Mitarbeiter im Gesundheitswesen können erstmal auf sämtliche Daten zugreifen, die bisher der Schweigepflicht unterlagen. Dafür reicht es, wenn die Versicherten ihre Gesundheitskarte in das Kartenlesegerät stecken.
Und nicht nur die Apotheken können dann die Daten einsehen, sondern auch alle anderen Einrichtungen. Masseure, Pflegemitarbeiter, medizinische Fußpfleger und viele mehr. Als Betroffener kann man nicht erkennen, welche Mitarbeiter die Daten zu Gesicht bekommen. Und überhaupt registriert man den Zugriff nur, wenn man sich eingehend mit der ePA-App vertraut macht. Wer rechnet aber schon damit, dass die Apothekenmitarbeiterin nach Einlösen eines e-Rezeptes drei Tage lang einsehen kann, was die Frauenärztin oder der Psychiater in der ePA hinterlegt hat?
„Mit ePA-Daten entsteht eher Forschungsmüll“netzpolitik.org: Die in der ePA abgelegten Daten werden auch der Forschung zur Verfügung gestellt. Karl Lauterbach sieht hier große Chancen im Einsatz von KI.
Silke Lüder: Die Einschätzung des Gesundheitsministers zum KI-Training teilt er möglicherweise nur selbst. Und es ist schlichtweg skandalös, dass Lauterbach offenbar auch mit US-Konzernen wie Meta, Open AI und Google spricht, die ihre KI-Systeme mit den Gesundheitsdaten von zig Millionen Versicherten trainieren wollen.
netzpolitik.org: Ist die Losung „So viele Daten wie möglich in einen Topf“ aus Ihrer Sicht der richtige Ansatz für eine bessere Gesundheitsversorgung?
Silke Lüder: Daten heilen nicht, auch wenn der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn und der derzeitige Minister Lauterbach sich da augenscheinlich einig sind. Führende Forschungsexperten wie Jürgen Windeler, der kürzlich auf dem Kongress der Freien Ärzteschaft in Berlin vorgetragen kann, bestreiten das. Gute medizinische Forschung ist auf sinnvolle Fragestellungen, gute Daten und vergleichende Forschungsansätze angewiesen. Bei Forschung mit den ePA-Daten entsteht eher Forschungsmüll.
netzpolitik.org: Wie sollte die ePA aus Ihrer Sicht aussehen, damit sie sowohl den Bedürfnissen der Behandelnden als auch denen der Versicherten gerecht wird?
Silke Lüder: Es gibt Methoden, Daten dezentral zu speichern und auszuwerten. Das wird sowohl den Bedürfnissen der Behandelnden als auch der Patienten gerecht. Solche Ansätze werden aber nicht weiterverfolgt. Man will einfach den großen Datenpool haben. Die Krankheitsdaten von 84 Millionen Bürgerinnen und Bürgern können aber auf Dauer nicht geschützt werden. Es ist daher wohl auch nur eine Frage der Zeit, bis es hier zu einem größeren Sicherheitsvorfall kommt.
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Neues aus dem Fernsehrat (109): Digitale Potenziale für eine Demokratisierung des medialen „Service public“
Der Beitrag öffentlich-rechtlicher Medien zu demokratischer Öffentlichkeit und Gesellschaft darf im Zeitalter digitaler Plattformen nicht alleine anhand ihrer Inhalte beurteilt werden. Vielmehr gilt es sie auch als Dienstleister eines grenzüberschreitenden, gemeinwohlorientierten Ökosystems zu verstehen. Eine Analyse für die Eidgenössische Medienkommission EMEK.
Neue Aufgaben für öffentlich-rechtliche Medien im Zeitalter digitaler Plattformöffentlichkeiten – CC-BY 4.0 Erstellt mit DALL-E 2Die Serie „Neues aus dem Fernsehrat“ beleuchtet seit dem Jahr 2016 die digitale Transformation öffentlich-rechtlicher Medien. Hier entlang zu allen Beiträgen der Reihe.
Die Eidgenössische Medienkommission EMEK ist eine unabhängige außerparlamentarische Expertenkommission des Schweizer Bundesrats mit der Aufgabe, die schweizerische Medienlandschaft zu beobachten, zu analysieren und Empfehlungen zu ausgewählten Fragen abzugeben. Sie hatte mich damit beauftragt, digitale Potenziale für die Weiterentwicklung von öffentlich-rechtlichen Medien – in der Schweiz auch bezeichnet als ‚Service-public Medien‘ – zu skizzieren.
Das Ergebnis ist unter dem Titel „Digitalisierung als Demokratisierung“ seit heute auf der Webseite der EMEK frei im Volltext zugänglich. Im Folgenden die Zusammenfassung als Appetizer dafür, einen Blick in die Langfassung zu werfen:
Es dient der Vielfalt und Qualität demokratischer Öffentlichkeit in einer offenen Gesellschaft, wenn nicht einzelne Medien(typen) mit ihren jeweils spezifischen Abhängigkeiten dominieren, sondern sich unterschiedliche Medien(abhängigkeiten) mit relevanter Reichweite wechselseitig kontrollieren. Neben privaten, primär profitorientierten Medien(plattformen) leisten öffentlich-rechtliche bzw. Service-public-Medien deshalb auch im Zeitalter digitaler Plattformöffentlichkeit einen Beitrag zu Medienvielfalt und demokratischer Öffentlichkeit, sofern es ihnen (1) gelingt ihren demokratischen Auftrag in zeitgemäße mediale Alltagspraxis zu übersetzen, sowie (2) mit ihren Angeboten relevante Reichweiten erzielen.
Die digitale Transformation von Service-public-Medien ist damit Herausforderung und Chance zugleich: öffnen sie sich und ihre Kommunikationsinfrastruktur dem Publikum und anderen gemeinnützigen und, in bestimmten Bereichen, auch kommerziellen Medien gegenüber, bieten sie nicht nur eine Ausweichroute zu großen kommerziellen Plattformen, sondern es eröffnen sich auch neue digitale Demokratisierungspotenziale. Voraussetzung dafür ist jedoch, etablierte kommerzielle Angebote nicht einfach zu kopieren, sondern Online-Angebote zu bauen, die den demokratischen Auftrag in digitale Plattformtechnik gießen, beispielsweise durch Etablierung alternativer, vielfaltsfördernder Algorithmen jenseits von profitgetriebener Engagement-Logik.
Einher mit der Öffnung öffentlich-rechtlicher Portale für Drittinhalte gehen neue Aufgaben und Rollen für Service-public-Medien, wie die Kuratierung von Public-Value-Inhalten aus dem unüberschaubar großen Angebot frei verfügbarer Online-Inhalte oder die Gestaltung und Moderation von digital-öffentlichen Diskursräumen in Erfüllung des Auftrags, zu demokratischer Meinungsbildung beizutragen.
Diese neuen Aufgaben erfordern den Aufbau einer neuen digitalen Distributionsinfrastruktur. Insoweit diese auf Basis offener Standards, Protokolle und Software entwickelt und betrieben wird, birgt sie das Potenzial für Digitalen Public Value jenseits programmlich-inhaltlicher Angebote: Offene Software ermöglicht Kooperation – auch im Europäischen Rahmen – ohne aufwändige (Vor-)Abstimmungsprozesse oder starke wechselseitige Abhängigkeiten.
Im Ergebnis gilt es demnach Auftragserfüllung von Service-public-Medien nicht nur anhand inhaltlich-programmlicher Angebote, sondern auch anhand ihres Beitrags zu einem (potenziell grenzüberschreitenden), gemeinwohlorientierten Medienökosystem zu beurteilen; ein Medienökosystem in dem öffentlich-rechtliche Medien neue Aufgaben wie Infrastruktur-Provider oder Kurator übernehmen und sich gleichzeitig als ermöglichender – aber nicht determinierend steuernder – Akteur in einem heterarchischen und offenen Netzwerk verstehen.
Zur Langfassung der Analyse auf der Webseite der EKEM hier entlang.
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Beirat Digitalstrategie: Fundamentale Kritik an der Digitalpolitik der Ampel
Zwei Jahre lang hat der Beirat Digitalstrategie die digitalpolitischen Vorhaben der Ampel-Regierung eng begleitet. Im Abschlussbericht empfehlen die Expert:innen der nächsten Regierung grundlegende Kurskorrekturen.
Digitalminister Volker Wissing: O Captain? Our Captain? – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Political-MomentsEinen „umfassenden digitalen Aufbruch“ – das versprach die Ampel-Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit. Was sie am Ende ihrer Legislatur bekommt: eine Fundamentalkritik ihrer Digitalpolitik. Und zwar von jenem Beirat Digitalstrategie Deutschland, den sie selbst vor gut zwei Jahren eingesetzt hat.
Das 17-köpfige Gremium aus Vertreter:innen der Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft begleitet die Umsetzung der Digitalstrategie, die die Ampel im August 2022 vorlegte. In ihrem Abschlussbericht, den sie gemeinsam mit dem DigitalService des Bundes verfasst haben, beleuchten die Beiratsmitglieder aber nicht den aktuellen Stand der 19 Leuchtturmprojekte der Ampel, sondern sie nehmen die zugrunde liegenden politischen Prozesse ins Visier.
Hier liege einiges im Argen, betonen Beiratsmitglieder auch in einem Pressegespräch am Dienstag. Die Ampel habe ihre digitalpolitischen Ziele weitestgehend verfehlt. Wenn die nächste Regierung es besser machen wolle, müsse diese ihre Strategie grundlegend anders angehen.
Drei zentrale Empfehlungen durchziehen den knapp 20-seitigen Beiratsbericht: Erstens brauche es einen klar ausgerichteten strategischen Kurs, zweitens eine zentrale Steuerung des Umsetzungsprozesses und drittens eine frühzeitige Einbindung von Nutzenden, Fachleuten und Stakeholdern. Statt zahlreicher Leuchttürme empfiehlt der Beirat zur Orientierung zudem die Konzentration auf eine übergeordnete Vision.
Eine Strategie ohne StrategieWichtiger Ausgangspunkt der Grundsatzkritik ist die Digitalstrategie selbst. Mit ihr habe die Ampel keine wirkliche Strategie vorgelegt, so die einhellige Meinung beim Pressegespräch, sondern „eine Ansammlung von über 140 Einzelmaßnahmen“ aus unterschiedlichen Ministerien.
Selbst den Beiratsmitgliedern sei bis zum Ende nicht ersichtlich gewesen, was ein Leuchtturmprojekt auszeichnet und nach welchen Kriterien die Ampel diese ausgewählt hat, betont Stefan Heumann am Dienstag. Er sitzt für die Denkfabrik Agora Digitale Transformation im Beirat. Zu den Leuchtturmprojekten zählen unter anderem Vorhaben wie der Gigabitausbau, ein digitaler Familienassistent, ein „digitales Gefechtsfeld“ für die Bundeswehr und ein Ökosystem für Mobilitätsdaten.
Um bei den nautischen Metaphern zu bleiben: Weil eine Gesamtstrategie fehle, gingen selbst zentrale Digitalisierungsvorhaben über Bord. So etwa das Vorhaben der digitalen Identitäten. Sie ermöglichen es Bürger:innen, sich online auszuweisen und Behördengänge mit dem Smartphone zu erledigen. Das sei kein „nice to have“, sagt Heumann, sondern eine notwendige Voraussetzung für die Verwaltungsdigitalisierung. Das Thema müsse die nächste Regierung klarer priorisieren, „damit Digitalvorhaben nicht gegen Sicherheit verhandelt werden“.
Das Bundesinnenministerium hatte Ende vergangenen Jahres unter anderem den Online-Ausweis fürs Smartphone aus Kostengründen gestoppt, plant aber zugleich einen „Sicherheitshaushalt“ mit einer zusätzlichen Milliarde Euro für die Sicherheitsbehörden.
Wo ist der Käpt‘n?Immerhin sei es in den vergangenen Jahren gelungen, einige Digitalisierungsprojekte umzusetzen. Dies sogar in Absprache zwischen Ressorts und über Bundesländergrenzen hinweg, wie der Beirat betont. Als Beispiel nennen Mitglieder das Leuchtturmprojekt „Zivilgerichtliche Online-Verfahren“. Bürger:innen können hier Zahlungsklagen von niedrigem Streitwert digital einreichen.
Andere Projekte seien aber auf halbem Wege ins Stocken geraten. So etwa das Auslandsportal des Auswärtigen Amtes, wo Fachkräfte im Ausland digitale Visa-Anträge stellen können. Damit die digitalisierten Prozesse sich bis ins Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die einzelnen Ausländerbehörden fortsetzen, hätte das Bundesinnenministerium einbezogen werden müssen. Das sei aber nicht passiert.
An den zuständigen Fachkräften in den Ministerien habe das nicht gelegen, betont der Beirat. „Beim Auslandsportal haben Leute ganze Wochenenden durchgearbeitet“, sagt Alexander Rabe, Geschäftsführer bei eco – Verband der Internetwirtschaft. Allerdings habe eine koordinierte Steuerung gefehlt, also der Käpt’n auf der Brücke. „Es bedarf einer kompetenten Steuerung, das mag banal klingen, aber das haben wir derzeit mit dem Bundesdigitalministerium nicht“, so Raabe.
Noch-Digitalminister Volker Wissing (parteilos) kann dies nur teilweise angelastet werden: SPD, Grüne und FDP hatten sich erst nach sieben Monaten im Amt auf eine hochgradig komplexe und kleinteilige Aufteilung der Zuständigkeiten für Digitalvorhaben geeinigt. Bei vielen Themen lag die Federführung mindestens bei zwei Ministerien, neben dem Digitalministerium zum Beispiel noch beim Wirtschafts-, Finanz- oder Innenministerium sowie dem Kanzleramt.
Zentrale Steuerung und klare ArbeitsteilungDer nächsten Regierung empfiehlt der Beirat daher eine „steuernde, zentrale Instanz“, die mit einem eigenen Digitalbudget ausgestattet ist. Das müsse nicht unbedingt ein Digitalministerium sein – hier gehen die Meinungen im Beirat auseinander –, sondern könnte auch anders ausgestaltet sein.
Die Ministerien sollten sich derweil auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren: die politische Steuerung und Gesetzgebung. „Wir brauchen hier nicht weniger als eine Prozessrevolution mit klaren Aufgabentrennungen“, betont Raabe.
Gleichzeitig müssten die Silos der einzelnen Ministerien aufgebrochen werden, damit die Ressorts stärker miteinander ins Gespräch kommen. Derzeit gebe es nicht einmal eine kollaborative Austauschplattform zwischen den Ministerien. „Es ist nicht einmal möglich, gemeinsam ressortübergreifend an einem Textdokument zu arbeiten“, so Ann Cathrin Riedel, Geschäftsführerin bei NExT e.V., im Pressegespräch.
Eine Vision entwickelnAußerdem empfiehlt der Beirat der kommenden Regierung, nur einen großen Leuchtturm aufzustellen. Das sollte kein bestimmtes Digitalisierungsprojekt sein, betont Riedel. Sinnvoller wäre es, eine Vision zu entwickeln, die ein übergreifendes Ziel vorgibt.
Dabei sollte die nächste Regierung Stakeholder, Expert:innen und Zielgruppen von Beginn an einbinden. Das habe die Ampel versäumt: „Viele Projekte definieren ihre Zielgruppen nicht klar und bleiben zu allgemein bei der Adressierung ihrer Vorhaben“, kritisiert der Bericht.
Etliche der Leuchtturmprojekte hätten sich nicht mit der Frage befasst, inwiefern sie Wirkung entfalten. Meist hätten nicht einmal Metriken vorgelegen, kritisiert Christina Lang, Geschäftsführerin des DigitalService des Bundes. Buzzwords wie „digitale Souveränität“ gäben keine Messlatte vor, ergänzt Stefan Heumann.
Auch aus diesem Grund habe der Beirat keine qualitative Bewertung darüber erstellt, wo die Leuchtturmprojekte derzeit stehen und wo es jeweils noch hakt. „Wir können in den Istzustand gar nicht hineinschauen“, sagt Ann Cathrin Riedel.
„Ehrliche und offene Einblicke“„Es war ein mutiger Schritt der Ampel, einen unabhängigen Beirat zu bestellen, der auch ein Stachel sein sollte“, sagt Stefan Heumann. „Aber auch wir kamen zu spät in den Prozess hinein.“ Das sei frustrierend gewesen, weil der Beirat meist sehr grundsätzliche Fragen stellen musste.
Immerhin betonen die Beiratsmitglieder die gute Zusammenarbeit untereinander. „Für uns alle war die Zusammenarbeit von einem zielorientierten Output geprägt“, sagt Alexander Rabe, „das hat Spaß gemacht.“
Und etwas hinzugelernt haben sie nach eigenem Bekunden auch. Am Ende ihres Berichts zeigen sich die Mitglieder „dankbar für die tiefen, ehrlichen und offenen Einblicke in das Innenleben der Verwaltung, die unsere kritische Begleitung der Digitalisierung Deutschlands künftig präziser und besser machen werden.“
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Going Dark: Digital-NGOs stellen sich gegen Forderungen nach Entschlüsselung
Kürzlich hatte eine EU-Arbeitsgruppe weitreichende Überwachungsbefugnisse für Ermittlungsbehörden gefordert. Vor diesen Vorschlägen warnen nun Dutzende zivilgesellschaftliche Organisationen. Eine derartige Massenüberwachung sei nicht mit demokratischen Grundsätzen vereinbar.
Die inzwischen aus der EU-Kommission ausgeschiedene Ylva Johansson war maßgeblich an der Entschlüsselungsinitiative beteiligt. (Archivbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / BelgaEuropäische Ermittlungsbehörden dürften keine uneingeschränkten Befugnisse erhalten, die zu Massenüberwachung und Grundrechtsverletzungen führen würden. Das fordern über drei Dutzend zivilgesellschaftliche Organisationen in einem offenen Brief an die EU-Justiz- und Innenminister:innen.
Die Sorgen der NGOs haben einen handfesten Grund. Im Auftrag der EU hatte eine Hochrangige Gruppe (High-Level Group, HLG) untersucht, wie sich dem sogenannten „Going Dark“-Phänomen begegnen lässt. Mit diesem Begriff bezeichnen Polizeien und Geheimdienste die Schwierigkeit, auf verschlüsselte Daten zuzugreifen. Seit inzwischen Jahrzehnten drängen sie darauf, diese Hürde einzureißen.
In diesen Kanon stimmt auch die europäische HLG ein. Die weitgehend aus Sicherheitsbehörden kommenden Expert:innen hatten in ihren Empfehlungen sowie einem jüngst veröffentlichten Abschlussbericht eine einschlägige Wunschliste erstellt. Neben umfangreichen Speicherpflichten für beliebige Online-Dienste müsse letztlich ein „rechtmäßiger Zugang durch Design (‚lawful access by design‘)“ garantieren, dass Ermittlungsbehörden selbst auf verschlüsselte Inhalte zugreifen können, so ihre Kernforderungen.
Kaum umsetzbare ForderungenWie sich das technisch und ohne negative Nebenwirkungen umsetzen ließe, lässt die HLG offen. Aus gutem Grund: Sicherheitsexpert:innen sehen solche Ansätze als Quadratur des Kreises, denn Verschlüsselung ist entweder sicher oder eben nicht. Insbesondere das Konzept eines standardisierten „rechtmäßigen Zugangs durch Design“ bereitet den NGOs Sorgen. „In der Praxis würde dies die systematische Schwächung aller digitalen Sicherheitssysteme erfordern, einschließlich, aber nicht beschränkt auf die Verschlüsselung“, warnen die Unterzeichner:innen.
Generell würden Hintertüren jeglicher Art „die Sicherheit und Vertraulichkeit elektronischer Daten und Kommunikationen untergraben, die Sicherheit aller Menschen gefährden und die Grundrechte der Menschen stark einschränken“, heißt es in dem offenen Brief. Unterstützt wird dieser von einem breiten Bündnis, mit an Bord sind Digital-NGOs wie der Chaos Computer Club (CCC), epicenter.works oder European Digital Rights (EDRi), aber auch der Deutsche Anwaltverein (DAV), die Europäische Rundfunkunion (EBU) oder der Europäische Verband der Zeitungsverleger (ENPA).
Rechtliche HürdenNeben den technischen Problemen stünden solche Ansätze im Widerspruch zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Dieser hatte zuletzt die anlasslose Massenüberwachung in Russland für illegal erklärt. Vor allem in demokratischen Gesellschaften sei eine allgemeine Verpflichtung zur Schwächung von Verschlüsselung unverhältnismäßig, so das Gericht. „Wir empfehlen daher, alle Maßnahmen zu verwerfen, die den Schutz der Verschlüsselung umgehen oder abschwächen könnten, da sie die Sicherheit und den Schutz der Privatsphäre von Millionen von Menschen und öffentlichen Einrichtungen gefährden und unweigerlich das gesamte Ökosystem der digitalen Informationen schädigen würden“, schreiben die NGOs.
Auch die vorgeschlagenen, EU-weit harmonisierten Regeln zur Vorratsdatenspeicherung müssten einschlägigen Gerichtsurteilen genügen, sollte die EU erwartungsgemäß erneut einen Anlauf für die anlasslose Massenspeicherung unternehmen, mahnen die NGOs. Mit ihren Vorschlägen würde die HLG weit übers Ziel hinausschießen: Eine Ausweitung der Speicherpflichten auf praktisch alle Online-Dienste, einschließlich des Internets der Dinge und sonstiger internetbasierter Dienste, wäre „besonders besorgniserregend, da sie eine ungezielte und wahllose Vorratsdatenspeicherung personenbezogener Daten erfordern würde“.
Diese umfassende und allgemeine Überwachung würde in den Köpfen der Menschen das Gefühl erzeugen, dass ihr Privatleben ständig überwacht werde und könne nicht als mit den rechtlichen Anforderungen vereinbar angesehen werden, heißt es in dem Brief. Jeder Eingriff in die Grundrechte müsse den Grundsätzen der Rechtmäßigkeit, der strikten Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Eine anlasslose Speicherung personenbezogener Daten auf Vorrat, mit denen sich etwa detaillierte Profile von Menschen erstellen ließen, entspreche diesen Grundsätzen nicht.
Hohes MissbrauchspotenzialErst recht gelte dies für sogenannte Berufsgeheimnisträger:innen, die besonderen Schutz genießen. „Es besteht die Gefahr, dass diese Maßnahmen missbraucht werden, um Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Anwälte, Aktivisten und politische Dissidenten zu verfolgen“, warnen die NGOs. Angesichts des Pegasus-Skandals, bei dem in mehreren europäischen Ländern politisch unliebsame Menschen mutmaßlich illegal mit der Spähsoftware überwacht worden waren, scheint die Furcht nicht weit hergeholt zu sein.
Zugleich würde sich die EU mit einer geschwächten Verschlüsselung auch ins eigene Fleisch schneiden, führt der Brief aus. Schließlich haben in den vergangenen Jahren Gerätehersteller und Diensteanbieter erhebliche Ressourcen in die Verbesserung der Sicherheit ihrer Geräte und der Zuverlässigkeit ihrer Dienste investiert – auf Druck von Nutzer:innen, Aufsichtsbehörden und nicht zuletzt der Politik. Doch umfassende Überwachungsauflagen würden Ansätze wie die Datenschutz-Grundverordnung oder den auf IT-Sicherheit abzielenden Cyber Resilience Act gehörig untergraben.
Unsichere digitale WerkzeugeDies hätte wohl Auswirkungen auf Nutzer:innen wie auf Anbieter:innen, so die NGOs. Auf der einen Seite wäre es für erstere kaum möglich, künftig vertrauenswürdige digitale Werkzeuge zu wählen. Auf der anderen Seite könnten sich zuverlässige Anbieter sicherer Dienste entweder aus dem EU-Markt zurückziehen oder müssten ganz schließen. „Dies wäre natürlich äußerst schädlich für die Initiativen und Ambitionen der EU im Bereich der Cybersicherheit“, schreiben die NGOs.
Es stehe außer Frage, dass die den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung stehenden Ermittlungsmaßnahmen dem digitalen Zeitalter angemessen sein müssten, heißt es in dem Brief. Effizienz sollte jedoch nicht auf Kosten von Grundrechten, des Rechtsschutzes und der europäischen Wirtschaft erreicht werden. „Wir sind davon überzeugt, dass diese Ziele von allgemeinem Interesse mit weniger einschneidenden Maßnahmen erreicht werden können als mit einer Massenüberwachung und einer systematischen Schwächung essenzieller Sicherheitsgarantien.“
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Analyse zur EU-Wahl: Intransparentes Targeting bei politischer Werbung
Europäische Nichtregierungsorganisationen kritisieren ein erhebliches Ausmaß gezielter politischer Werbung bei der EU-Wahl. In einem neuen Bericht fordern sie, dass die EU geltende Regeln besser durchsetzt. Unter anderem schaffen Parteien und Plattformen noch immer nicht genug Transparenz.
Die Wähler:innen in der EU sind das Ziel von intransparentem Targeting – CC0 Midjourney, Prompt: a dart bord with stars of the european union2024 war ein Super-Wahljahr: Rund die Hälfte der Weltbevölkerung war aufgefordert, eine neue Regierung zu wählen. Viel wurde dabei über die Rolle von Sozialen Medien diskutiert, zuletzt über vermutete russische Einflussnahme via TikTok in Rumänien. Auch das Europaparlament wurde in diesem Jahr neu gewählt. Welche Rolle im EU-Wahlkampf Online-Werbung und politisches Targeting auf wichtigen Social-Media-Plattformen gespielt haben, hat in den vergangenen Monaten die Bürgerrechtsorganisation Civil Liberties Union for Europe zusammen mit anderen NGOs untersucht.
Grundlage für den heute veröffentlichten Bericht sind detaillierte Untersuchungen des Social-Media-Wahlkampfs in sechs EU-Ländern, die von Nichtregierungsorganisationen in Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Spanien, Polen und Ungarn durchgeführt wurden. Als technischer Partner unterstützte die britische NGO Who Targets Me die Forschung. Sie stellt ein Browser-Tool bereit, mit dem Menschen automatisiert Werbeanzeigen aus ihrem Facebook-Feed erfassen lassen und den Forscher:innen als Datenspende zur Verfügung stellen können.
Im Fokus der Untersuchung stehen YouTube und Facebook. Letzteres ist aufgrund seiner riesigen Nutzer:innenschaft und der umfangreichen Optionen, Personen zielgerichtet Anzeigen auszuspielen, laut dem Bericht noch immer die wichtigste Plattform für den digitalen Wahlkampf. Andere Plattformen konnten aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Daten bei der Analyse nicht einbezogen werden. X (ehemals Twitter) beispielsweise sieht sich gerade mit einem Aufsichtsverfahren der EU-Kommission konfrontiert, weil es Anforderungen an die Werbetransparenz nicht erfüllt. TikTok wiederum erlaubt gar keine Wahlwerbung – zumindest offiziell, denn der chinesische Plattformkonzern Bytedance hat Probleme, diese Regel konsequent durchzusetzen.
Insgesamt warnt die Civil Liberties Union davor, dass intransparentes Targeting bei politischer Werbung die Integrität des demokratischen Diskurses gefährdet. Die Nichtregierungsorganisation empfiehlt daher eine drastische Beschränkung der Targeting-Möglichkeiten, mehr Transparenz von Parteien und Plattformen sowie eine stärkere Durchsetzung und Harmonisierung von EU-Regeln.
Bis zu 500 unterschiedliche ZielgruppenEtwa 350 Millionen Menschen waren im Juni 2024 zur Wahl eines neuen Europaparlaments aufgerufen. Die EU hat dabei einen drastischen Rechtsruck erlebt, im neuen EU-Parlament sind konservative, nationalistische und antidemokratische Kräfte so stark wie nie.
Die Erklärung hierfür allein in Sozialen Medien zu suchen, wäre verkürzt. Doch politisches Targeting steht aufgrund des hohen Manipulationspotenzials und Datenschutzbedenken seit langem in der Kritik. Die Berliner Datenschutzbeauftragte Meike Kamp hatte vor der EU-Wahl deshalb die deutschen Parteien aufgefordert, auf Targeted Advertising zu verzichten – ohne Erfolg. Den Untersuchungen der NGOs zufolge setzten bei der EU-Wahl Parteien des gesamten politischen Spektrums in erheblichem Maße auf zielgerichtete Werbung in Sozialen Medien.
Insbesondere zwei Targeting-Werkzeuge von Facebook gehören inzwischen zum Standard-Repertoire der politischen Werbung: sogenannte Custom Audiences und Lookalike Audiences. Bei der erstgenannten Werbeform stellen die Werbetreibenden benutzerdefinierte Zielgruppen zusammen, zum Beispiel anhand von Likes für die Facebook-Seite einer Partei oder von Interaktionen mit bestimmten Posts. Werbetriebende können zudem Listen mit eigenen Mailadressen oder Telefonnummern nutzen, um zum Beispiel Unterstützer:innen auf der Plattform gezielt ansprechen zu können.
Lookalike Audiences wiederum erlauben es beispielsweise, Zielgruppen zusammenstellen, die ihrem Datenprofil nach genau denjenigen Gruppen entsprechen, die bereits Fans der Partei sind. Ein Werbetreibender kann bis zu 500 verschiedene Custom Audiences bespielen. Die Civil Liberties Union warnt, dass beide Targeting-Instrumente dafür genutzt werden können, jeweils unterschiedlichen Zielgruppen mit unterschiedlichen Versprechen zu umwerben. Im Bundestagswahlkampf 2021 hatte beispielsweise die FDP unterschiedliche Aussagen zum Thema Klimaschutz ausgespielt, je nach vermuteter Affinität der Zielgruppe.
Auch das Targeting anhand von Alter und Interessen habe bei der EU-Wahl eine große Rolle gespielt, so der Bericht. Facebook hatte auf politischen Druck hin 2022 zumindest die Möglichkeit eingeschränkt, detailliertes Targeting mit sensiblen Daten vorzunehmen. Google war noch weiter gegangen und hatte bei der EU-Wahl die Targeting-Möglichkeiten deutlich eingeschränkt. Auf Google-Diensten wurde die Zielgruppen-Auswahl nur noch anhand von Geografie, Alter, Geschlecht sowie Kontext-Targeting angeboten, also zum Beispiel Werbung bei bestimmten Suchbegriffen oder Videoformaten. Die Civil Liberties Union begrüßt diese Einschränkung sehr, kritisiert aber, dass das Targeting nach Geschlecht weiter möglich sei.
Die bulgarische Nichtregierungsorganisation BHC hatte mehrere Fälle gefunden, in denen politische Werbetreibende nach Geschlecht unterschieden und bestimmte Inhalte zum Thema Kindergesundheit nur an Frauen ausgespielt hatten. „Männer und Frauen sollten gleichermaßen über die Haltung einer bestimmten Partei zur Gesundheit von Kindern informiert sein“, fordert deshalb die Civil Liberties Union. Außerdem sollten alle Menschen die gleichen Versprechen erhalten, egal ob ihre Unterstützung für eine Partei als gesichert, möglich oder unwahrscheinlich angesehen wird.
„Wir wissen es schlicht nicht“Die gute Nachricht, zumindest in Relation: Im Vergleich zur US-Wahl im Herbst scheint das Ausmaß der manipulativen Wahlwerbung in Europa deutlich geringer ausgefallen zu sein. In den USA hatten insbesondere die republikanische Partei und Pro-Trump-Organisationen mit gezielten Desinformations- und Demobilisierungskampagnen gegen die demokratische Bewerberin Kamala Harris Stimmung gemacht. Die Plattformen haben diese Strategien mit ihren umfangreichen Targeting-Möglichkeiten verstärkt und dabei wenig gegen Lügen und Hass unternommen.
So schaltete beispielsweise eine von Elon Musk mitfinanzierte Organisation unterschiedliche Werbeanzeigen zum Nahostkonflikt bei arabischen und jüdischen Communitys im Land. Die Anzeigen gaben sich dabei als Werbung von Harris-Unterstützer:innen aus und stellten die Politikerin mal als glühende Palästina-Verfechterin und mal als beinharte Israel-Unterstüzerin dar, deren Nahost-Politik überwiegend von ihrem jüdischen Ehemann bestimmt werde. Andere Werbeanzeigen verbreiteten falsche Wahlversprechen der Politikerin.
Derart undemokratische Wahlwerbung ist den Nichtregierungsorganisationen bei der EU-Wahl nicht untergekommen. Das sei allerdings kein Grund zur Entwarnung, meint Orsolya Reich von der Civil Liberties Union. Die Exzesse unfairer Wahlkampftaktiken in den USA ließen sich zum einen mit landesspezifischen Faktoren wie dem polarisierten Wahlsystem erklären. Zum anderen fehle aufgrund der Intransparenz von Plattformen und Parteien die Datengrundlage, um mit Sicherheit sagen zu können, wie der EU-Wahlkampf auf den Plattformen eigentlich gelaufen sei.
„Wir wissen schlicht nicht, wie ausgefeilt, unfair oder manipulativ das Targeting in Europa ist“, kritisiert Reich die Intransparenz der beteiligten Akteur:innen. Politische Parteien seien grundsätzlich nicht bereit, ihre Kampagnenmethoden öffentlich zu machen. Social-Media-Plattformen würden nicht erklären, nach welchen Kriterien Werbetreibende ihre Zielgruppen zusammenstellen und wie die Algorithmen funktionieren, die darüber entscheiden, wer auf ihrer Plattform was zu sehen bekommt.
Kritik an IntransparenzZwar stellen Alphabet und Meta wie von der EU vorgeschrieben Datenbanken bereit, in denen Werbeanzeigen auf ihren Plattformen dokumentiert werden. Außerdem halten sie getrennte Verzeichnisse für politische Werbung vor. Allerdings lasse die Informationstiefe und Benutzerfreundlichkeit der Werbebibliotheken stark zu wünschen übrig, so die Kritik der Nichtregierungsorganisationen.
Bei Googles Werbedatenbank fehle beispielsweise eine Stichwortsuche. Nutzer:innen müssen stattdessen den genauen Namen der Werbetreibenden angeben, um illegitime Aktivität aufdecken zu können. „Diese Einschränkung behindert massiv die Fähigkeit, ein breites Spektrum an politischer Werbung wirksam zu überwachen und zu analysieren.“
Metas Werbebibliothek biete mit einer Stichwortsuche und unterschiedlichen Filtermöglichkeiten eine deutlich bessere Funktionalität. Allerdings biete die Datenbank zu wenig Informationen zu den Targeting-Kriterien, nach denen Werbetreibende die Zielgruppen zusammengestellt haben. So werde zwar angegeben, dass eine Anzeige in mehreren Versionen unter Verwendung von Custom-Audience-Listen geschaltet wurde, nicht jedoch, welcher Art diese Listen sind. Also: Ob sie zum Beispiel mit eigenen Daten der Werbetreibenden oder aus Nutzerinteraktionen wie dem Liken einer Fanpage erstellt wurden.
Außerdem kritisiert Liberties, dass Meta aggregierte Targeting-Daten für einen bestimmten Werbetreibenden nur 90 Tage lang verfügbar macht, was die Nachforschungsmöglichkeiten einschränke. Auch die von Facebook angebotene Funktion „Warum sehe ich diese Anzeige?“ sei irreführend. Anstatt Einblicke in aussagekräftigere Targeting-Kriterien zu bieten, liste die Funktion in der Regel oberflächliche Informationen wie Stadt und Alter auf. „Diese Auslassung verschleiert die wichtigeren Faktoren, die Einfluss darauf haben, wie Anzeigen ausgeliefert werden, und schränkt die Transparenz für Nutzer und Forscher gleichermaßen ein“, kritisiert der Bericht. Nutzer:innen werde unterdessen suggeriert, die Infos seien vollständig.
EU muss Regeln besser durchsetzenInsgesamt sehen die Nichtregierungsorganisationen den demokratischen Diskurs und somit auch die Integrität von Wahlen durch das intransparente Targeting weiterhin gefährdet. Sie appellieren deshalb an die Europäische Union, bestehende Regeln effektiv durchzusetzen und, wo nötig, nachzubessern.
Mit Blick auf die Wirksamkeit der bestehenden Vorgaben kommt der Bericht zu einem durchwachsenen Urteil. Demzufolge gehen die Civil Liberties Union und ihre Partnerorganisationen davon aus, dass beispielsweise beim Einsatz von Metas Custom-Audience-Funktion regelmäßig gegen Datenschutzrecht verstoßen wird. Bürger:innen müssten schließlich explizit eingewilligt haben, damit Parteien ihre Daten mit Meta teilen dürfen. Das Erstellen von Custom Audiences auf Basis von Likes für politische Inhalte wiederum verstößt nach Ansicht der NGOs gegen den Schutz der DSGVO für besonders sensible Daten.
Angesichts der Mängel bei der Transparenz über das politische Targeting sehen die NGOs auch Handlungsbedarf beim Digital Services Act. Die EU müsse hier bei Tech-Konzernen für eine strikte Durchsetzung der Vorgaben sorgen. Der Bericht empfiehlt der EU außerdem, insbesondere große Plattformen und Suchmaschinen zu mehr Transparenz über die Algorithmen zu zwingen, die für die Auslieferung der Werbung zuständig sind.
Eine 2023 verabschiedete EU-Verordnung, die das Targeting und die Transparenz politischer Werbung regelt, wird größtenteils erst im Oktober 2025 wirksam. Die Civil Liberties Union kritisiert, dass bislang nur wenige Mitgliedstaaten Gesetze zur nationalen Umsetzung der Regeln auf den Weg gebracht hätten. Auch Deutschland hat dies vor dem Ende der Ampel-Koalition nicht mehr geschafft. Dass eine neue Regierung dies bis Oktober 2025 aufholt, gilt als ausgeschlossen.
Für die in Deutschland anstehende Bundestagswahl kommen die neuen Regeln aber ohnehin zu spät. Für die größte Veränderung bei der politischen Werbung sorgt deshalb gerade kein neues Gesetz, sondern Google: Vor wenigen Wochen kündigte der Plattformkonzern an, bis zum Wirksamwerden der neuen EU-Regeln im Oktober 2025 gar keine politische Werbung mehr zuzulassen. Neben Parteien und Politiker:innen wird es also noch mehr als ohnehin schon von Meta abhängen, ob wir einen transparenten und fairen Online-Wahlkampf erleben werden.
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Schwarz-grüne Landesregierung: Schleswig-Holstein führt gleich mehrere Arten von Gesichtserkennung ein
Die schwarz-grüne Landesregierung von Schleswig-Holstein wird die automatisierte Analyse biometrischer Merkmale ausbauen. Das besagt das gestern vorgestellte „Sicherheits- und Migrationspaket“.
Die identifizierende Vermessung eines Gesichts ist eine komplexe Aufgabe – sogenannte KI ist mittlerweile recht gut darin. – Public Domain MidjourneyDie schwarz-grüne Landesregierung von Schleswig-Holstein hat gestern ein „Sicherheits- und Migrationspaket“ vorgestellt, das unter anderem verschiedene Arten der biometrischen Gesichtserkennung erlaubt. Nach dem zugrundeliegenden „Maßnahmenkonzept“ soll die Polizei von Schleswig-Holstein künftig „Daten aus öffentlich zugänglichen Quellen des Internets mit den polizeilichen Fahndungsdaten“ abgleichen dürfen.
Das Ansinnen war auch Teil des Überwachungspakets der damals noch existierenden Ampel-Regierung im Bund. Dieser Teil war zunächst im Bundesrat gescheitert, doch nun haben sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und die Innenminister*innen der Länder darauf geeinigt, ihn doch vor der Wahl noch durchzuwinken.
Im Prinzip besagt die Idee, dass die Polizei ein eigenes Clearview oder PimEyes bekommen soll. Diese Suchmaschinen durchforsten das frei zugängliche Internet und nehmen die biometrischen Merkmale aller gefundenen Gesichter in eine Datenbank auf. Lädt man ein Bild einer Person hoch, bekommt man daraufhin alle Bilder angezeigt, auf denen die mutmaßlich gleiche Person im Netz zu sehen ist.
Klarer Verstoß gegen EU-DatenschutzWas die Gesichtersuchmaschinen tun, ist allerdings illegal – eine nicht erlaubte Verarbeitung von persönlichen Daten und somit ein klarer Verstoß gegen EU-Datenschutzregeln. Damit die Polizei, wie von Schleswig-Holstein und auch den übrigen Ländern gewünscht, Fotos aus dem Internet mit Fahndungsbildern abgleichen kann, müsste sie selbst eine derart fragwürdige Datenbank aufbauen. Die EU-KI-Verordnung verbietet aber „die Verwendung von KI-Systemen, die Datenbanken zur Gesichtserkennung durch das ungezielte Auslesen von Gesichtsbildern aus dem Internet oder von Überwachungsmaterial erstellen oder erweitern“.
Des Weiteren sollen Aufzeichnungen, die mittels Überwachungstechnik bei Großveranstaltungen oder Kriminalitätsschwerpunkten gewonnen wurden, nahezu in Echtzeit mit polizeilichen Fahndungsdaten abgeglichen werden können, so das Maßnahmenkonzept. Die Landesregierung von Hessen verabschiedet vermutlich noch diese Woche ein Gesetz, das ebenfalls Echtzeit-Gesichtserkennung erlaubt.
Schleswig-Holstein wird neben dem Abgleich von Fahndungs- mit Internetfotos und der Echtzeit-Gesichtserkennung in anfallenden Überwachungsbildern noch ein drittes System zur Gesichtserkennung einführen: Die Landesregierung will vier Fahrzeuge anschaffen, die mit Kameras und integriertem Gesichtserkennungssystem ausgestattet sind. Diese sollen bei Großveranstaltungen oder an Kriminalitätsschwerpunkten aufgestellt werden und den Strom der Passant*innen nach gesuchten Personen durchforsten.
Außerdem erlaubt Schleswig-Holstein mit dem „Sicherheits- und Migrationspaket“ dem Landesamt für Verfassungsschutz den Einsatz von Staatstrojanern in Form der sog. „Quellen-TKÜ“, mit denen dieses in Endgeräte eindringen kann, um die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von Nachrichten auszuhebeln. Zudem sollen technische Systeme mit sogenannter Künstlicher Intelligenz eingesetzt werden, um große Datenmengen zu bearbeiten, wie es in Bayern bereits im Testbetrieb praktiziert wird.
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Offener Brief: Sachverständige wehren sich gegen AfD-Antwortzwang
Die AfD hat sich beim Ältestenrat beschwert: Eine Sachverständige habe der Partei in einer Anhörung im Bundestag nicht geantwortet. Der Ältestenrat reagierte mit einem Antwortzwang. Dagegen wehren sich nun zahlreiche Sachverständige.
Aline Blankertz als Sachverständige im Digitalausschuss, hinter ihr rechts der Abgeordnete Eugen Schmidt, der sie persönlich diffamierte. – Public Domain BundestagZahlreiche Menschen, die in der Vergangenheit als Sachverständige im Bundestag gesprochen haben, wehren sich dagegen, in Zukunft der rechtsradikalen AfD in Anhörungen antworten zu müssen. Im Einladungsschreiben des Bundestages an Sachverständige ist neuerdings ein Passus enthalten, der dies einfordert.
Hintergrund des offenen Briefes (PDF) ist das Verhalten von AfD-Abgeordneten im Digitalausschuss. Dort hatte der AfD-Mann Eugen Schmidt versucht, die Sachverständige Aline Blankertz in einer Anhörung Mitte November als linksradikal zu delegitimieren. Er wollte wissen, ob sie auch dann für Transparenz sei, wenn es um Daten zu Herkunft von Menschen gehe, die in Deutschland eingebürgert wurden, und hatte diese Frage völkisch aufgeladen, indem Einbürgerungen als Belastung dargestellt wurden. Blankertz antwortete daraufhin: „Meine Antwort richtet sich an alle demokratischen Parteien und lautet: Nein.“
https://netzpolitik.org/wp-upload/2024/12/video-blankertz-schmidt-anhoerung.mp4
Blankertz hatte schon im Juni einer Abgeordneten der rechtsradikalen Partei die Antwort verweigert. In einem Gastbeitrag, den Blankertz bei netzpolitik.org veröffentlichte, forderte sie zudem, dass Digitalpolitik Teil der Brandmauer gehen Rechtsextreme sein müsse.
Laut der Vorsitzenden des Digitalausschusses, Tabea Rößner (Grüne), hatte die AfD den Fall zuletzt in den Ältestenrat des Bundestages eskaliert. Der Angriff auf Blankertz durch den AfD-Abgeordneten Schmidt blieb jedoch ohne Folgen.
„Individuelle Gewissensfreiheit der Sachverständigen“Im heute veröffentlichten offenen Brief wehren sich die 28 Sachverständigen dagegen, dass mit dem Einladungstext „eine Gleichbehandlung aller Parteien und aller Abgeordneten eingefordert wird, die nicht mit der individuellen Gewissens- und Entscheidungsfreiheit der Sachverständigen zu vereinbaren“ sei. Die Expertise stünde außerdem allen Abgeordneten schriftlich in den Stellungnahmen zur Verfügung. „Diese Fachkompetenz in den politischen Prozess einzubringen, ist aber nicht gleichbedeutend damit, jede einzelne Frage aller Abgeordneten beantworten zu müssen“, so die Sachverständigen.
Im offenen Brief heißt es weiter:
Gleichzeitig vereint uns die Sorge, dass nicht jeder Abgeordnete, der durch Wahlen einen Sitz im Deutschen Bundestag erlangt, gleichermaßen für die zentralen und unverbrüchlichen Werte unseres Grundgesetzes eintritt: den Schutz der Menschenwürde, des Rechtsstaats und der Demokratie. Es gibt politische Positionen, deren Gleichbehandlung Sachverständigen nicht vorgeschrieben werden sollte – insbesondere Positionen, die demokratische Prozesse instrumentalisieren, um eine völkisch-nationalistische Politik zu betreiben, gegen Minderheiten hetzen und Rassismus verbreiten.
„Individuelle Antwortfreiheit anerkennen“Die Forderung im Einladungsschreiben normalisiere die politischen Kräfte im Parlament, die nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen würden. „Darauf müssen auch Sachverständige im Bundestag nach ihrem Gewissen und ihren persönlichen ethischen Grundsätzen angemessen reagieren und dabei auf den Schutz der Sitzungsleitung vertrauen dürfen“, heißt es in dem Schreiben.
Zu den Unterzeichnenden des offenen Briefes gehören neben Aline Blankertz viele weitere namhafte Expert:innen aus der digitalen Zivilgesellschaft sowie von Datenschutz- und Menschenrechtsorganisationen. Sie fordern den Bundestag auf, eine neue Formulierung zu finden, welche die individuelle Antwortfreiheit anerkenne.
Offenlegung: Unter den Unterzeichner:innen ist auch ein Mitglied unserer Redaktion sowie eine freie Autorin, die regelmäßig auf netzpolitik.org veröffentlicht.
Gegen Multi-CookieFinger weg von unserem Privatleben
Dokument
An
die Präsidentin des 20. Deutschen Bundestags,
den Ausschuss für Digitales des Deutschen Bundestags und seine Vorsitzenden,
alle weiteren Ausschüsse des Deutschen Bundestags und ihre Vorsitzenden
Sehr geehrte Frau Bas,
sehr geehrte Frau Rößner,
sehr geehrte Vorsitzende der weiteren Ausschüsse des Bundestags,
wir, die Unterzeichnenden dieses Brief, haben in der Vergangenheit im Ausschuss für Digitales oder in anderen Ausschüssen des Bundestags als Sachverständige Stellung genommen zu Sachfragen, politischen Prozessen und Gesetzgebungsverfahren.
Gemeinsam wenden wir uns heute an Sie als Reaktion auf die Änderungen in den Einladungsschreiben an Sachverständige, wie sie spätestens seit der öffentlichen Anhörung zum Thema „Daten-Governance-Gesetz“ am 13. November 2024 versandt werden. Nach unserem Verständnis ist die Änderung eine Reaktion auf eine Eskalation zum Ältestenrat durch die AfD, nachdem Sachverständige Antworten auf Fragen von AfD-Abgeordneten verweigerten. In dem Anschreiben heißt es:
„Weiterhin möchte ich Sie vorsorglich darauf hinweisen, dass es der seit Jahrzehnten etablierten parlamentarischen Praxis entspricht, dass die eingeladenen Sachverständigen die Fragen aller im Ausschuss vertretenden Fraktionen, Gruppen und fraktionslosen Abgeordneten beantworten. Denn die Expertise der Sachverständigen soll dem gesamten Ausschuss zur Verfügung stehen.“
Die Expertise der Sachverständigen steht schriftlich und mündlich selbstverständlich allen Abgeordneten und auch allen weiteren an der Ausschussarbeit Interessierten zur Verfügung. Diese Fachkompetenz in den politischen Prozess einzubringen, ist aber nicht gleichbedeutend damit, jede einzelne Frage aller Abgeordneten beantworten zu müssen.
Wir teilen die Motivation, die Anhörungen im Bundestag als Ort der sachlichen Auseinandersetzung zu bewahren. Zugleich möchten wir unserer Sorge Ausdruck verleihen, dass mit dieser Formulierung eine Gleichbehandlung aller Parteien und aller Abgeordneten eingefordert wird, die nicht mit der individuellen Gewissens- und Entscheidungsfreiheit der Sachverständigen zu vereinbaren ist.
Uns vereint ein tiefer Respekt vor der Arbeit der Ausschüsse und den parlamentarischen Prozessen unserer Demokratie. Diese sind geprägt vom parlamentarischen Recht auf Selbstorganisation, dem wir in keiner Weise vorgreifen möchten. Wir waren und sind bestrebt, die Arbeit des Deutschen Bundestags durch ernsthaftes und gewissenhaftes Einbringen unserer Expertise zu unterstützen. Gleichzeitig vereint uns die Sorge, dass nicht jeder Abgeordnete, der durch Wahlen einen Sitz im Deutschen Bundestag erlangt, gleichermaßen für die zentralen und unverbrüchlichen Werte unseres Grundgesetzes eintritt: den Schutz der Menschenwürde, des Rechtsstaats und der Demokratie. Es gibt politische Positionen, deren Gleichbehandlung Sachverständigen nicht vorgeschrieben werden sollte – insbesondere Positionen, die demokratische Prozesse instrumentalisieren, um eine völkisch-nationalistische Politik zu betreiben, gegen Minderheiten hetzen und Rassismus verbreiten.
Wir haben in der Vergangenheit einen individuellen Umgang mit Fragen aus politischen Lagern mit solchen Positionen gefunden. Dieser Umgang umfasst ein weites Spektrum – einschließlich der Weigerung, unseren Sachverstand für bestimmte Abgeordnete zur Verfügung zu stellen, sowie die kritische Einordnung der politischen Motive einer Frage. Ähnliches gilt für schriftliche Fragen, in denen ebenfalls tendenziöse Formulierungen enthalten waren.
Die neue Formulierung im Einladungsschreiben drückt jedoch die Erwartung einer ausnahmslosen Gleichbehandlung aller im Ausschuss vertretenden Fraktionen, Gruppen und fraktionslosen Abgeordneten aus. Damit normalisiert sie die politischen Kräfte im Parlament, denen nicht die gleiche Annahme entgegengebracht werden kann, nämlich auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu stehen. Darauf müssen auch Sachverständige im Bundestag nach ihrem Gewissen und ihren persönlichen ethischen Grundsätzen angemessen reagieren und dabei auf den Schutz der Sitzungsleitung vertrauen dürfen.
Wir wenden uns daher mit der Bitte an Sie, die neu aufgenommenen Änderungen in den Einladungsschreiben zu überdenken und zu streichen oder durch eine Formulierung zu ersetzen, die die individuelle Antwortfreiheit von Sachverständigen anerkennt.
Mit freundlichen Grüßen
Die Unterzeichnenden
- Aline Blankertz, Structural Integrity
- Kirsten Bock
- Dr. Stefan Brink, wida/Berlin
- Geraldine de Bastion
- Kai Dittmann
- Elina Eickstädt
- Dr. Malte Engeler, Structural Integrity
- Jürgen Geuter, Otherwise Network e.V.
- Dr. Sven Herpig
- Dr. Stefan Heumann
- Dr. Julian Jaursch
- Bianca Kastl
- Dr. Vivian Kube, Rechtsanwältin und FragDenStaat
- Dr. Kim Manuel Künstner
- Dr. Constanze Kurz, Chaos Computer Club
- Sarah Lincoln
- Elisa Lindinger, SUPERRR
- Dr. Bijan Moini
- Dr. Marc Petit
- Dr. Julia Pohle
- Dr. Simon Pschorr
- Dr. Sarah Rachut
- Frederick Richter, LL.M.
- Dr. Simone Ruf
- Arne Semsrott, FragDenStaat
- Teresa Widlok
- Svea Windwehr, D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt
- Lilith Wittmann
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Digitalität von A bis Z: „Eine Einladung zum kritischen Mit- und Weiterdenken“
Die Herausgeber fragen sich: Braucht es inmitten der digitalen Transformation, in Zeiten von autonomen Algorithmen und wirklichkeitsveränderndem Code noch menschengemachten Text über Text, ein Buch über Digitalität? Wenn es auf diese Art gemacht ist: Ja! Eine Buchempfehlung.
Alles andere als angestaubt: ein gedrucktes Buch über Digitales. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Diomari MadularaDavon, dass „die digitale Transformation alle Bereiche der Gesellschaft betrifft und von Grund auf neu formiert“, muss man Leser:innen dieses Mediums wahrscheinlich nicht erst überzeugen. Davon, dass es darüber eine Enzyklopädie braucht, noch dazu gedruckt auf Papier, vielleicht schon eher. Dabei ist es gerade bei dem Band „Digitalität von A bis Z“ auch der Charakter des gedruckten Buches, der zum Blättern und Nachschlagen einlädt und so wunderbar zu dessen Anspruch passt: Kurze Essays, zu jedem Schlagwort gerade einmal zehn Seiten, die als „Einladung zum kritischen Mit- und Weiterdenken“ angelegt sind und einen schnell in ihren Bann ziehen.
So etwa der Beitrag von Roland Meyer, Bild- und Medienwissenschaftler, der unter dem Schlagwort Bilder über technische Verfahren und menschliche Erwartungen schreibt: Wir alle haben eine Vorstellung darüber, wie der Mond auszusehen hat, wenn wir ihn fotografieren. Und da Smartphone-Kameras bei Weltraum-Fotografie an ihre Grenzen stoßen, hilft „KI“, indem sie die unzähligen, bereits existierenden Mond-Fotografien nimmt und wenige Pixel in den uns vertrauten Erdtrabanten verwandelt. Davon ausgehend denkt Meyer über eine veränderte Funktion von Bildern insgesamt nach, auch durch unsere zusätzliche digitale Vernetzung.
Oder das Kapitel Yolo von Eva Gredel, Juniorprofessorin für Germanistische Linguistik, die den digitalen Sprachwandel anhand der Sprach- und Diskussionskultur in der Wikipedia analysiert: Das Internet-übliche Duzen, die nachrangige Bedeutung von Rechtschreibung und Grammatik sowie ein Englisch-Deutsch-Sprachmix gelten manchen als Verfall in einen reduzierten „Netzjargon“. Gredel beschreibt dies jedoch nicht als Verlustgeschichte, sondern zeigt, wie Nutzer:innen problemlos zwischen verschiedenen Stilen wechseln und digitaler Sprachwandel somit eher bereichert.
Vertrautes und UnerwartetesSo behandelt der Band digitale Phänomene wie Hacken, Maschinelles Lernen, Hypertext. Mit Information, Politik, Raum, Wissen oder Vertrauen werden aber auch noch grundlegendere Gegenstände auf ihre Veränderung durch die Digitalisierung untersucht. Und schließlich finden sich zwischendurch auch spannende Themen, die im öffentlichen Bewusstsein zu Digitalisierung kaum vorkommen: Etwa die prä-digitale Geschichte der Algorithmen von Christian Schröter, Stefan Höltgens Beitrag zum Feld der Computerarchäologie, der „Erforschung historischer Computersysteme“ oder das Affective Computing, das Eva Weber-Guskar im Beitrag Emotionen behandelt. Bei diesem werden Gefühle analysiert oder simuliert, wodurch man sich in kritischer Erweiterung des Rationalität-Begriffs auch im Forschungsfeld der künstlichen Intelligenz befindet.
Etwas an seine Grenzen stößt der Band in seinem Format als Buch dann, wenn es um Hochaktuelles geht: etwa EU-Regulierungen oder die gerade allgegenwärtige Künstliche Intelligenz. Letztere erfährt bei Sebastian Rosengrün eine kundige, kritische Betrachtung und doch wirkt der dort verhandelte Stand schon kurz nach Erscheinen im September 2024 etwas veraltet.
Dennoch bieten die insgesamt 42 Kapitel – Mitherausgeber Christian Schröter verrät auf Nachfrage des Rezensenten, dass „dem Zufall hier vielleicht etwas nachgeholfen wurde“ – einen gleichermaßen zugänglichen wie fundierten Einstieg in die Geschichte und Theorie der Digitalisierung. Neben interessierten Laien profitieren aber auch Kenner:innen von der Lektüre, der weiterführenden Literatur, den Querverweisen und den dargestellten Diskussionslinien von Fachdebatten. Abschließend sei so ergänzend zur grundsätzlichen Empfehlung der Lektüre von Digitalität von A bis Z gesagt: Lest die gedruckte Variante!
Florian Arnold / Johannes C. Bernhardt / Daniel Martin Feige / Christian Schröter (Hg.), Digitalität von A bis Z, Transcript Verlag, 448 Seiten, 29 Euro, ISBN: 978-3-8376-6765-3
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Weil das Internet unser Zuhause ist: Datenschutz ist Heimatschutz
Der Überwachungsstaat wird nicht erst dann zum Problem, wenn die Faschisten ihn übernehmen. Wie kein anderes Medium berichten wir über die Gefahren technischer Kontrolle, über autoritäre Grenzverletzungen und den Einsatz von Technologie gegen Marginalisierte. Dafür brauchen wir deine Unterstützung!
Wir halten menschenfeindlicher Politik den Spiegel vor. – netzpolitik.orgWer netzpolitik.org liest, weiß: Mahnen und Warnen gehört zu unserem Wesenskern. Das macht uns nicht immer nur Freund:innen. Gerade dann, wenn wir in der Vergangenheit vor den Missbrauchsgefahren staatlicher und privater Überwachungsinfrastrukturen durch Rechtsextreme gewarnt haben, wurden wir manches Mal belächelt. Panikmache! Aluhüte! Datenschutz-Taliban!
Mittlerweile sind Faschisten an vielen Orten der Welt auf dem Vormarsch. Im Januar übernimmt in den USA Donald Trump ein zweites Mal die Macht. Er macht keinen Hehl daraus, dass er das Land einem weiteren autoritär-libertären Umbau unterziehen will. Dabei helfen könnten ihm Tech-Konzerne, die sich bereits eifrig bei ihm anbiedern. Auch die US-Sicherheitsbehörden mit dem mächtigsten Überwachungsapparat der Welt will Trump gegen Minderheiten, Migrant:innen und politische Gegner:innen einsetzen.
In Deutschland ist der Rechtsradikalismus heute so stark wie seit 1945 nicht. Ausgrenzung, Menschenhass und Nationalismus sind längst nicht nur am rechten Rand zu finden. Mit der AfD hat erstmals eine gesichert rechtsextreme Partei eine Landtagswahl gewonnen. Die vermeintliche Alternative sitzt in fast allen Landesparlamenten, Meinungsforschende sehen sie aktuell bundesweit als zweistärkste Kraft.
Der schlüsselfertige ÜberwachungsstaatVor diesem Hintergrund wirkt es geradezu fahrlässig, mit welcher Geschwindigkeit eine Regierung nach der anderen hierzulande die Möglichkeiten der digitalen Überwachung ausbaut. Vorratsdatenspeicherung, Staatstrojaner, Videoüberwachung, Biometrie, Predictive Policing – spätestens seit dem 11. September 2001 kennt die Debatte nur noch eine Richtung: Mehr Überwachung! Mehr Daten! Mehr Kontrolle!
Vielen Innenpolitiker:innen ist jede verschlüsselte E-Mail ein Dorn im Auge. Mit dem neuesten „Sicherheitspaket“ hat auch die selbsternannte Fortschrittskoalition eine autoritäre Wende eingeleitet, von der konservative Innenminister wie Horst Seehofer nur träumten. Versprechen von Evaluation, demokratischer Kontrolle und evidenzbasierter Sicherheitspolitik hat sie hingegen nicht eingelöst.
Dass der Überwachungsausbau dazu beiträgt, Straftaten und Terroranschläge zu verhindern, ist wissenschaftlich mindestens umstritten, in Teilen sogar widerlegt. Sicher ist hingegen: Falls Nazis die Macht übernehmen, werden sie die Kontrolltechnologien zu nutzen wissen. Wir steuern auf den schlüsselfertigen Überwachungsstaat zu, errichtet von Demokrat:innen.
Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: „Wir müssen jetzt erstmal Werkzeuge entwickeln, damit wir unsere Gegner verfolgen können.“ Er wird sagen: „Danke, dass ihr das alles für uns vorbereitet habt!“
Schon heute ein ProblemZum Problem wird die ausufernde Überwachung aber nicht erst, wenn Faschist:innen die Macht übernehmen sollten.
Schon heute erleben wir, wie der Staat seine Macht unverhältnismäßig gegen progressive Kräfte einsetzt – gegen Klima-Aktivist:innen, gegen kritische Journalist:innen oder Pastor:innen, die Kirchenasyl gewähren.
Schon heute müssen wir regelmäßig über rechtsextreme und menschenverachtende Chatgruppen von Polizist:innen berichten. Es häufen sich die Fälle, in denen Polizist:innen die umfangreichen Datenbestände ihrer Behörden missbrauchen, um politische Gegner:innen einzuschüchtern. Und wer den falschen Nachnamen oder die falsche Hautfarbe hat, landet schnell in einer diskriminierenden Polizeikontrolle oder in der Datenbank zur sogenannten Clan-Kriminalität.
Und schon heute testet Europa die neuesten Kontrolltechnologien an Geflüchteten. Die EU rüstet die Außengrenzen der Festung Europa mit Drohnen, Robotern und Satellitenüberwachung auf. Deutsche Behörden dringen ohne jede Rücksicht in die Privatsphäre von Geflüchteten ein. Und ein bayerischer Ministerpräsident will mit Hilfe von Bezahlkarten Asylsuchenden vorschreiben, dass sie Leberkäse statt Alkohol kaufen sollen.
Was uns wirklich schütztSeit inzwischen 20 Jahren recherchieren und schreiben wir an – gegen solche Exzesse staatlicher Machtausübung und gegen die Kontrollfantasien autoritärer Kräfte. Datenschutz ist kein Allheilmittel dagegen. Aber er ist ein zentrales Menschenrecht. Das schützt nicht nur unsere Intim- und Privatsphäre, sondern auch uns als Individuum gegenüber dem Staat, in dem wir leben und in dem wir zuhause sind. Oder, um ein von den Rechten vereinnahmtes Wort zu gebrauchen: Datenschutz schützt unsere Heimat. Weil das Internet unser Zuhause ist. Und darüber hinaus.
Jedenfalls dann, wenn wir Heimat nicht wie die Ewiggestrigen verstehen, die permanent von Leitkultur, Grenzkontrollen und Abschiebungen reden. Stattdessen verstehen wir Heimat als einen Ort, der zum Zuhause von allen werden kann. Einen Ort, an dem das Recht auf Sicherheit und Geborgenheit nicht vom Pass oder der Hautfarbe abhängt. Einen Ort, an dem jede:r sich frei entfalten kann.
Wenn wir uns vor Überwachung und technischer Kontrolle schützen, dann schützen wir auch den Raum für solche Utopien. Datenschutz macht es erst möglich, dass wir uns frei informieren, austauschen und organisieren können. Und ja, er ermöglicht es uns auch, notwendigen Widerstand zu organisieren.
Deshalb bitten wir dich um deine Unterstützung. Mit deiner Spende für netzpolitik.org unterstützt du unsere Aufklärungsarbeit, unser Eintreten für Datenschutz und unseren Kampf gegen jeden Autoritarismus.
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Videoüberwachung des öffentlichen Raums: Jetzt soll die Echtzeit-Gesichtserkennung kommen
Die Bilder hessischer Überwachungskameras sollen künftig automatisch live nach bestimmten Personen durchsucht werden. Und die Bundes-CDU fordert eine derartige biometrische Fernidentifizierung an deutschen Bahnhöfen.
Videoüberwachung in Frankfurt am Main. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Jochen TackDas „Gesetz zur Stärkung der Inneren Sicherheit“ steht im hessischen Landtag kurz vor der Verabschiedung. Morgen findet die zweite Lesung dazu statt, am Donnerstag soll die finale folgen. Das Gesetz erlaubt unter anderem Videoüberwachung rund um Flughäfen und an sogenannten, polizeilich definierten „Angsträumen“, Drohneneinsätze zur Telekommunikationsüberwachung und zum Filmen von Wohnungen, elektronische Fußfesseln für Gefährder.
Ein aktueller Änderungsantrag der Regierungsfraktionen CDU und SPD, der vermutlich morgen angenommen wird, macht den Gesetzentwurf noch einmal deutlich brisanter. Demnach sollen die Bilder von Kameras, die den öffentlichen Raum in Hessen überwachen, zum Beispiel im Frankfurter Bahnhofsviertel, mit sogenannter KI in Echtzeit nach den Gesichtern bestimmter Personen durchsucht werden dürfen.
Die Software soll prüfen, wer sich verdächtig bewegt oder mutmaßlich gefährliche Gegenstände bei sich trägt und nach Auftrag einer Beamt*in die Person dann über alle einlaufenden Streams hinweg verfolgen. Zur Gefahrenabwehr dürfen die aufgenommenen Bilder auch automatisiert mit polizeilichen Datenbanken abgeglichen werden.
Anlasslose biometrische MassenanalyseAktuell sind in den polizeilichen Datenbanken hauptsächlich die biometrischen Merkmale von Menschen gespeichert, die zuvor Gegenstand einer erkennungsdienstlichen Behandlung waren. Künftig sollen, geht es nach Bundesinnenministerin Nancy Faeser und den Innenminister*innen der Länder, in einer weiteren polizeilich zugänglichen Datenbank alle Gesichter erfasst werden, von denen öffentlich einsehbare Fotos im Internet existieren.
Zur Terroristenjagd, zum Auffinden von Vermissten und mutmaßlich bedrohten Personen sollen die hessischen Polizist*innen das Videoüberwachungssystem auch mit Fahndungsfotos füttern können, nach denen das anfallende Material gescannt wird. Carsten Linnemann, Generalsekretär der Bundes-CDU, denkt in eine ganz ähnliche Richtung. Er sieht als einen der ersten Schritte einer potenziell CDU-geführten nächsten Bundesregierung den Aufbau von biometrischer Echtzeitidentifikation an Bahnhöfen. „Wir sorgen durch Gesichtserkennung mittels KI für sichere Bahnhöfe“, sagte er dem Handelsblatt.
Der automatische Abgleich wäre ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte Unschuldiger. Ein Test am Berliner Südkreuz erbrachte 2017/2018 eine Falsch-Positiv-Rate von etwa 0,1 Prozent. Das heißt, von 1.000 Passant*innen löst eine aus Versehen Alarm aus. Allein auf den 5.400 Bahnhöfen der deutschen Bahn bewegen sich allerdings täglich etwa 21 Millionen Menschen – das heißt durchschnittlich alle vier Sekunden würde jemand Opfer einer unbegründeten Ausweiskontrolle oder sogar Leibesvisitation.
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TikTok und die Politik: Soziale Spaltung durch Social Media
Die etablierten Parteien haben eine Brandmauer zur AfD hochgezogen. Wann aber kommt die Brandmauer zu TikTok? Die Plattform geht kaum gegen Falschinformationen und Hetze vor. Integre Nutzende werden daher stets im Hintertreffen bleiben, schreibt unser Gastautor.
Olaf Scholz und seine Aktentasche bei TikTok. (Screenshot des TikTok-Kanals) – CC-BY 4.0Mit ihrem alternativen Verhältnis zu Wahrheit, Toleranz und Humanität fährt die AfD Wahlerfolge ein. Ihr Klientel nutzt kaum noch klassische Medien zur Information, sondern Social Media. Dank deren Algorithmen verbreiten sich Falschinformationen und Hetze in Filterblasen und setzen sich fest. Facebook, X oder Telegram machen es vor. TikTok aber ist der Meister der Skrupellosigkeit. In der Europäischen Union nutzen 142 Millionen Menschen TikTok, also fast jeder Dritte.
Die russische und die chinesische Regierung nehmen mit Desinformationstruppen Einfluss auf das, was auf TikTok ausgesendet und konsumiert wird. TikTok wird von Extremisten zur Verbreitung ihres Gedankenguts verwendet und trägt so zur Radikalisierung der politischen Debatte bei. Diese Form der Kommunikation ist ein großes Risiko für unsere Demokratie.
In Rumänien erreichte Călin Georgescu als bis dahin im öffentlichen Diskurs völlig unbekannter Kandidat bei Präsidentschaftswahlen Ende November 23 Prozent der abgegebenen Stimmen in der ersten Runde. Dies schaffte er mit einer fast ausschließlich über TikTok betriebenen Kampagne, in der rumänische Faschisten aus der NS-Zeit und der russische Präsident Putin gehuldigt wurden.
Die AfD kam bei der vergangenen Europawahl bei 16- bis 24-Jährigen auf 16 Prozent. In dieser Altersklasse ist TikTok die meistgenutzte App. Die AfD-Fraktion im Bundestag hat aktuell bei TikTok mehr als 400.000 Follower; alle fünf anderen im Bundestag vertretenen Fraktionen kommen zusammen gerade mal auf rund 220.000. Von März 2023 bis März 2024 wurden die Clips der AfD-Fraktion rund 458.000 Mal aufgerufen, die der anderen fünf Fraktionen zusammen 223.000 Mal.
Etablierte Politiker als schlechte VorbilderUm TikTok nicht den Rechten zu überlassen, meinen Politiker, mit ihrer dortigen Präsenz der AfD und deren Propaganda etwas entgegensetzen zu können. Gesundheitsminister Karl Lauterbach machte den Anfang. Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Aktentasche folgten (@TeamBundeskanzler). Selbst Robert Habeck und seine Grünen wollen über TikTok einen Meinungswandel herbeiführen.
Habeck auf TikTok verblüfft besonders, hatte er doch 2019 Twitter und Facebook vorläufig wegen Hass, Falschinformationen und unsicherer Datenverarbeitung verlassen. Inzwischen ist es auch dorthin zurückgekehrt.
Deutsche Sicherheitsbehörden, insbesondere die Verfassungsschutzämter, sehen diese Aktivitäten kritisch, ebenso die Datenschutzbehörden. Bußgelder auf europäischer Ebene gegen TikTok haben offenbar keinen Einfluss auf die Nutzung in Deutschland. TikTok behauptet fälschlich, sich an die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zu halten. Die Regeln zum Kinderschutz werden nicht beachtet. Valide Rechtsgrundlagen für die Verarbeitung bestehen nicht. Weder die uninformierten Einwilligungen noch Vertragskonstrukte, geschweige denn ein „berechtigtes Interesse“ können die Verarbeitung durch TikTok legitimieren. Schon gar nicht die Verarbeitung sensitiver Daten, etwa in Bezug auf politische Meinungen.
Viele Fragen, kaum AntwortenDas Verbot politischer Werbung, zu dem sich TikTok selbst bekennt, wird regelmäßig missachtet. Von „Privacy by Design“ und „Privacy by Default“ kann keine Rede sein. Bei Sicherheitsfeatures wie etwa der Kennzeichnung von Videos mit drastischen Bildern, gefährlichen Stunts und KI-generiertem Inhalt bestehen Defizite. Filteroptionen für unerwünschte oder schädliche Inhalte fehlen.
2023 verhängte die französische Datenschutzaufsichtsbehörde CNIL gegen TikTok ein Bußgeld in Höhe von 210 Millionen Euro wegen der Cookie-Banner bei seiner Browserversion. Gravierend ist die fehlende Transparenz: Aufsichtsbehörden, Politik oder Nutzende – niemand hat auch nur ansatzweise Kenntnis darüber, welche Datenverarbeitung für welche Zwecke erfolgt. Gemäß Analysen werden bei jedem Videoaufruf rund 60 Datenpunkte gesammelt; knapp 600 Datenpunkte werden über jedes Video gespeichert.
Die auf künstlicher Intelligenz basierenden Algorithmen der Plattform sind nicht nachvollziehbar. Bei Werbeanzeigen werden chinesische Marken wie Shein oder Temu bevorzugt. Die Datentransfers nach China und die dort völlig ungewissen Auswertungen und Nutzungen sind ein weiterer Datenschutzverstoß. Da mögen die TikTok-Funktionäre noch so treuherzig beteuern, solche Transfers gäbe es nicht. Rechtmäßigkeitsvoraussetzung ist, dass sie dies nachvollziehbar belegen können.
Nach chinesischem Recht kann TikTok verpflichtet werden, der dortigen Regierung auf Verlangen Daten jeder Art herauszugeben. Im Dunkeln bleibt, wie die Regierung Chinas heute auf TikTok inhaltlich Einfluss nimmt.
Meinungsfreiheit ist kein ArgumentDer Europäische Gerichtshof (EuGH) hat klargestellt, dass das Betreiben von Social-Media-Accounts auf einer datenschutzwidrigen Plattform selbst rechtswidrig ist. Das heißt, alle diejenigen, die sich über TikTok vermarkten, sind für die dadurch verursachten Datenschutzverletzungen mit verantwortlich. Seit weit mehr als zehn Jahren weisen die Datenschutzbehörden darauf hin, dass sich der Staat bei der personenbezogenen Datenverarbeitung keiner illegal verarbeitender Medien bedienen darf. Ist Politikern und allen anderen TikTokern illegal …egal?
Meinungsfreiheit ist kein Gegenargument. Äußerungen auf einer platten Plattform wie TikTok sind zweifellos grundrechtlich geschützt. Das entbindet aber Medium und Autoren nicht davon, die allgemeinen Gesetze zu beachten. Was für Lokalzeitungen, Spiegel, ARD oder RTL gilt, gilt auch für Social Media generell und TikTok speziell. Es gibt keine Regel, wonach die Reichweite eines Mediums dessen Zulässigkeit bestimmt.
Was ist zu tun?Die Annahme mancher Demokraten, der menschenverachtenden Kommunikation der AfD durch eigene Präsenz auf TikTok etwas entgegensetzen zu können, trügt: Die Meinungsmache bestimmt der Algorithmus von ByteDance. Wer mitmacht, bleibt Objekt. Solange das Unternehmen keine Neigung zeigt, gegen die Fake-Konten der AfD und anderen menschenverachtenden Netzwerken, gegen Falschinformationen und Hetze wirksam vorzugehen, bleiben integre Nutzende im Hintertreffen.
Nötig ist, das gesamte jugendschutz-, wettbewerbs- und datenschutzrechtliche Instrumentarium anzuwenden. Es ist also richtig, dass die EU-Kommission im Februar ein Verfahren wegen des Verstoßes gegen den neuen Digital Services Act (DSA) eingeleitet hat. Dabei geht es auch um die Frage, ob die Plattform Kinder süchtig macht.
Hohe Bußgelder kann ein Unternehmen wie TikTok einpreisen. Aufsichtsrechtlich möglich sind aber letzten Endes auch Verbote und Betriebsuntersagungen. Trifft die Diagnose der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats zu, dann müssen die demokratischen Instanzen auch bereit sein, das Risiko von Shitstorms einzugehen. Die Aufsichtsbehörden genießen aus guten Gründen Unabhängigkeit und sollten sie gerade hier unter Beweis stellen.
Dass die Neigung zum behördlichen Tätigwerden angesichts der breiten Akzeptanz TikToks bis hinein in die Bundesregierung nicht besonders entwickelt ist, mag erklärbar sein. Akzeptabel ist es nicht. Es ist richtig, dass die etablierte Politik eine Brandmauer zur AfD errichtet hat. Wann kommt die Brandmauer zu TikTok?
Thilo Weichert, Jurist und Politologe, Vorstandsmitglied der Deutschen Vereinigung für Datenschutz e. V. (DVD) und Mitglied des Netzwerks Datenschutzexpertise, von 2004 bis Juli 2015 Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein und damit Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) in Kiel.
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Degitalisierung: Die Einführung der Kartoffel
Die Umsetzung des Kartoffelbefehls von Friedrich II. aus dem Jahr 1756 war alles andere als ein Selbstläufer. Was uns zu Kartoffelbefehlen der heutigen Zeit bringt. Etwa die Einführung der elektronischen Patientenakte. Und zu modernem Standesdünkel.
„Es ist von uns in höchster Person die Anpflanzung der sog. Tartoffeln ernstlich anbefohlen“ – Public Domain Der König überall, Robert Warthmüller (1886)In der heutigen Episode von Degitalisierung soll es um Kartoffeln gehen. Um es genauer zu sagen, um die Einführung davon. Die Einführung der Kartoffel kann uns nämlich viel lehren über das Schmackhaft-Machen von allzu neuen Dingen, wie etwa auch der Digitalisierung.
Wir begeben uns dafür in die Zeit Friedrichs II., genannt Friedrich der Große. Der erließ per Schreiben vom 24. März 1756 eine Art Kartoffelbefehl, um den Anbau von Kartoffeln von oben zu forcieren:
Es ist von uns in höchster Person in unseren anderen Provinzen die Anpflanzung der sog. Tartoffeln, als ein sehr nützliches und sowohl für Menschen als Vieh auf sehr vielfache Weise dienliches Erd-Gewächse, ernstlich anbefohlen.
Wie bei jeder groß angelegten Einführung von irgendetwas Weltbewegenden wie Kartoffeln oder Digitalgroßprojekten wie der elektronischen Patientenakte klappte das mit der Benutzung des neuen Wunderwerks schon damals nicht allein per Befehl von oben.
Kartoffeln anbauen war das eine, die korrekte und breitflächige Nutzung aber das ganz andere. So schrieb der Zeitgenosse Joachim Nettelback in seinen Erinnerungen zur damaligen Rezeption von Kartoffeln bei der Bevölkerung:
Dagegen nahmen die guten Leute die hochgepriesenen Knollen verwundert in die Hände, rochen, schmeckten und leckten daran. Kopfschüttelnd bot sie ein Nachbar dem andern. Man brach sie auseinander und warf sie den anwesenden Hunden vor, die daran schnupperten und sie dann liegen ließen.
Nun ist es aber so, dass Kartoffeln eigentlich an sich ja etwas Gutes sind. Heutzutage schätze ich sie im Besonderen in länglichen, dünnen Streifen frittiert oder in feinen Scheiben mit heißer Luft gebacken. Speziell im 18. Jahrhundert boten Kartoffeln auch einen Ausweg heraus aus einem nicht abwechslungsreichen Speiseplan, der normalerweise aus Getreide und Alkohol bestand. Einfacher im Anbau waren sie obendrein.
Moderne KartoffelbefehleDie Umsetzung des Kartoffelbefehls von 1756 war alles andere als ein Selbstläufer. Was uns zu Kartoffelbefehlen der heutigen Zeit bringt. Etwa die Einführung der elektronischen Patientenakte.
Der Bevölkerung sollen durch Befehl von oben jetzt endlich die Vorteile der Digitalisierung des Gesundheitswesens zuteilwerden. Generell ist ein möglicher Vorteil durch die Digitalisierung zu erwarten.
Nicht wenige Politiker*innen stellen sich in letzter Zeit sogar auf den Standpunkt, dass ohne Digitalisierung das Gesundheitswesen absehbar bald quasi vollständig wegen Fachkräftemangel, Überalterung der Gesellschaft und so weiter zusammenbrechen werde. Eine Digitalisierung von oben sei also unausweichlich. Untermauert wird das mit Zahlen von „15 Millionen Babyboomern, [die] aus dem Erwerbsleben ausscheiden“ und zunehmend nicht mehr Behandelnde, sondern Patienten sein werden. Solche Zahlen nannte Karl Lauterbach etwa auf der Keynote der Digital Health Conference Ende November.
Digitalisierung sei damit in all ihren Spielarten notwendig, besonders die sogenannte Künstliche Intelligenz. Dafür müsse man jetzt unbedingt große Datenvorräte aufbauen, mit dem Ziel, den „größten“, „repräsentativsten“ und „interessantesten“ Gesundheitsdatensatz weltweit aufzubauen. OpenAI, Meta und Google würden sich auch schon sehr für diesen Datensatz interessieren.
Digitalisierung wird hier von Karl, dem Lauterbach, ähnlich heilbringend für die Bevölkerung zur Abwendung von Gesundheits- und Pflegenöten dargestellt wie die Kartoffel zur Abwendung von Hungersnöten im 18. Jahrhundert. Allerdings ist das mit dem Durchsetzen von solchen Befehlen ja inzwischen ein wesentlich demokratischerer Prozess geworden. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens, insbesondere die elektronische Patientenakte im Opt-out-Verfahren, wurde vom Bundestag in einem demokratischen Prozess beschlossen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch durch europäische Gremien im Kontext des Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS). Ganz ohne Widersprüchlichkeit sind beide Vorhaben keineswegs.
Moderne StandesdünkelAuch heute gibt es an einigen Stellen noch immer Nuancen von Standesdünkel zwischen dem gemeinen Volk und den Herrschenden.
In dieser Woche hat die Verbraucherzentrale Bundesverband zum Beispiel eine Analyse der Informationsschreiben zum Opt-out aus der elektronischen Patientenakte publiziert. Ein Widerspruch scheint eher ungewollt.
Teils sind die Formulierungen sogar eher manipulativ. Die Knappschaft etwa versieht die Formulierung zum Widerspruch mit der impliziten Frage, ob Versicherte auch tatsächlich nicht von den Vorteilen der elektronischen Patientenakte profitieren wollen. Wirklich keine Kartoffeln?
Neu ist der unterschiedliche Umgang mit dem, was das Volk zu wollen hat und den Herrschenden ohnehin nicht. Friedrich, der Kartoffelkönig, aß selbst gar keine der von ihm so angepriesenen Kartoffeln, da sind sich Historiker*innen nach Analyse der Speisepläne relativ sicher. Kartoffeln landeten erst auf dem Speiseplan seines Nachfolgers, und auch da nur für die Bediensteten.
Moderne KlassengesellschaftZu den Errungenschaften der Neuzeit gehört sicherlich die allgemeine Krankenversicherung. Ein Hauch von Klassengesellschaft ist aber mit dem deutschen Zwei-Klassen-Krankenkassensystem geblieben. Gesetzlich Versicherte müssen meist lange auf Facharzttermine warten, für privat Versicherte sieht die Situation wesentlich besser aus.
Für Promis wie Karl Lauterbach selbst scheint es auch noch weitere Bevorzugungen zu geben. Für Politiker und andere Promis sei es „praktisch egal“, ob sie privat oder gesetzlich versichert sind. So zumindest die Aussage von vor ein paar Jahren, die sich aber nicht wesentlich verändert haben dürfte.
Oftmals sind führende Gesundheitspolitiker*innen wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach oder sein Vorgänger Jens Spahn privat versichert. Von den politisch verordneten Segnungen für die gesetzlich Versicherten, wie das E-Rezept oder die elektronische Patientenakte, profitieren sie nur selten. Private Krankenkassen haben hier meist mehr Spielraum, ob und wann sie entsprechende digitalen Leistungen anbieten.
Vollste Überzeugung für das eigene Digitalprodukt, das nach Lauterbach „größte Digitalprojekt“ in Deutschland, sieht da doch irgendwie anders aus. Dabei solle dieses große Projekt doch Krebs, die „Geißel der Menschheit“, besiegen helfen.
Den Datenschatz, den größten und repräsentativsten Gesundheitsdatensatz, werden wir dann wohl aus anderen digitalen Feldern ernten müssen.
Friedrich dem Großen wurde zumindest zu seinen Zeiten diese clevere – neudeutsch: virale – Marketingstrategie zur Bewerbung der Kartoffel angedichtet: Der König habe auf seinen Gütern Kartoffeln anbauen und diese von Soldaten bewachen lassen. Das hätte die Bauern der Gegend neugierig gemacht und damit hätten sie auch den Wert der Knolle erkannt.
Es ist eine schöne Geschichte, historisch gesehen aber Desinformation. Diese Marketingstrategie stammte nämlich aus Frankreich von Antoine Parmentier.
Moderne GiftpflanzenZu Ende dieser Kolumne, in der es schon sehr viel um Kartoffeln ging, sei auch erwähnt, dass die Kartoffel auch eine Giftpflanze sein kann. Deshalb wurde die Kartoffel 2022 zur Giftpflanze des Jahres gewählt. Kartoffeln enthalten Solanin und Chaconin in den grünen Pflanzenbestandteilen, was je nach Dosis hochgiftig sein kann.
Seit dem 18. Jahrhundert haben wir den sicheren Umgang mit Kartoffeln gelernt. Wir versuchen aus Unwissen nicht mehr, die Laubblätter oder Beeren von Kartoffelsträuchern zu essen. Vergiftungserscheinungen durch die Kartoffel sind daher selten geworden.
In Hinblick auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens befinden wir uns gerade in einem Zeitabschnitt, bei dem die genauen Risiken des „größten Digitalprojekts“ mit geplantem Start ab Anfang 2025 noch nicht vollständig klar sind. Krankenkassen wie die AOK Nordwest bezeichnen die elektronische Patientenakte vollmundig zwar bereits als „absolut sicher“ – informieren aber vielleicht nicht ganz umfassend, worauf sich diese Gewissheit der Aussage bezieht.
Am Ende werden politische Befehle und vollmundige Versprechungen nicht dabei helfen, die Digitalisierung des Gesundheitswesens sicher und auf die Patient*innen zentriert umzusetzen. Angesichts der politisch beabsichtigten Geschwindigkeit, die laut dem ehemaligen Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber „zu langsam und überhastet zugleich“, ist noch nicht so ganz abzusehen, was da digital ab dem nächsten Jahr so passieren wird.
Etwas Zeit werden wir dem zu Beginn wohl geben müssen, um zu sehen, was uns da aus der Digitalisierung des Gesundheitswesens erwächst. Guten Appetit!
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#287 Off The Record: Der provokante Plan hinter den pinken Plakaten
Neonpinke Plakate, knallgelbe Frakturschrift. In diesem Jahr drehen wir auf. Wir sagen: Grundrechte zuerst. Wir fordern die „volle Härte“ der Zivilgesellschaft. Das ist auch dem BND nicht entgangen. Im Podcast geben Ole und Daniel Einblicke hinter die Kulissen der aktuellen Spendenkampagne.
https://netzpolitik.org/wp-upload/2024/12/2412-OTR-Spenden.mp3
netzpolitik.org ist bekanntlich kein Druckerzeugnis, aber dieses Jahr machen wir Druck: Mit Plakaten und Bannern, Postkarten und Stickern verlassen wir den virtuellen Raum und gestalten den öffentlichen.
Der grassierenden Politik der Ausgrenzung halten wir damit den Spiegel vor, mit Papier und Klebstoff. Und mit Parolen, die aus Hetze so etwas wie Hoffnung machen: Grundrechte zuerst. Millionenfach verschlüsseln. Geheimdienste raus – aus dem Schatten.
Zugleich macht die Kampagne auf die klaffende Lücke aufmerksam, die gestopft werden muss, damit wir unsere Arbeit nächstes Jahr fortsetzen können. Mehr als 300.000 Euro fehlen uns noch, jeder Euro hilft.
Ausgedacht haben sich das ganze, unter anderem, Ole aus aus dem Team Kreation und Daniel, Co-Chefredakteur von netzpolitik.org. In unserem Hintergrund-Podcast „Off The Record“ lassen sich die beiden zur Kampagne löchern und legen den Prozess dahinter offen:
Warum ausgerechnet pink? War diese schaurige Frakturschrift wirklich nötig? Und was war das eigentlich für eine sonderbare Begegnung, als beim Fotoshooting mit dem „Geheimdienste-raus“-Banner plötzlich BND-Angestellte auftauchten und das Gespräch suchten? – Viel Spaß beim Hören!
In dieser Folge: Daniel Leisegang, Ole Sommer und Sebastian Meineck.
Produktion: Serafin Dinges.
Titelmusik: Trummerschlunk.
Hier ist die MP3 zum Download. Wie gewohnt gibt es den Podcast auch im offenen ogg-Format.
Unseren Podcast könnt ihr auf vielen Wegen hören. Der einfachste: in dem Player hier auf der Seite auf Play drücken. Ihr findet uns aber ebenso bei Apple Podcasts, Spotify und Deezer oder mit dem Podcatcher eures Vertrauens, die URL lautet dann netzpolitik.org/podcast.
Wie immer freuen wir uns über Kritik, Lob und Ideen, entweder hier in den Kommentaren oder per Mail an podcast@netzpolitik.org.
Links und Infos- Alle Artikel zur diesjährigen Kampagne
- Alle Wege, um netzpolitik.org zu spenden
- Alle Merchandise-Produkte (Kunstdrucke, Poster, Sticker, Postkarten)
- Alle Infos zum Mitmachen und Mitplakatieren
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KW 49: Die Woche, als die FTC zwei Databroker abwatschte
Die 49. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 20 neue Texte mit insgesamt 617.523 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.
Liebe Leser*innen,
es gibt die Erzählung vom eher starken Datenschutz in der EU (dank DSGVO) und vom eher schwachen Datenschutz in den USA (mangels DSGVO). Da ist sicher auch etwas dran. Doch was diese Woche passiert ist, steht unter anderen Vorzeichen.
Die US-Bundesbehörde FTC (Federal Trade Commission) hat zwei Databroker auf eine Weise abgewatscht, die die EU ziemlich alt aussehen lässt. Im Mittelpunkt steht die Sammlung von Standortdaten, aus denen sich detaillierte Bewegungsprofile ableiten lassen. Diese maximal gruselige Praxis macht die Handys, die wir alle in der Tasche haben, zu Peilsendern. Wie gefährlich das ist, haben wir jüngst mit dem Bayerischen Rundfunk in den Databroker Files aufgedeckt.
Bei zumindest zwei Databrokern hat die FTC nun gesagt: Schluss damit! Die Überwachung von (leider nur) sensiblen Orten muss aufhören, darunter medizinische Einrichtungen, religiöse Organisationen, Schulen, Gefängnisse, Gewerkschaftsbüros, Orte für die LGBTQ+-Community und Militärstützpunkte. Ansonsten drohen empfindliche Geldstrafen.
Den Datenhahn abdrehenSo einen Move würde ich gerne auch in der EU sehen. Aber von den Datenschutzbehörden kommt wenig. Offenbar ist alles kompliziert und bürokratisch und überfordernd und nicht so einfach. Aber das muss nicht sein.
Würde man Tracking und Profilbildung zu Werbezwecken gleich ganz verbieten, dann hätte man auch weniger Probleme beim Vorgehen gegen Datenhandel. Denn dann wäre der Datenhahn einfach abgedreht. Diese Forderung stammt übrigens nicht vom Wunschzettel weltfremder Datenschutz-Träumer*innen, sondern unter anderem vom Verbraucherzentrale Bundesverband und dem Bundesministerium für Verbraucherschutz.
Tja.
Damit daraus etwas wird, braucht es – leider – immer noch mehr Momentum, mehr Recherchen, mehr Aufklärung. Auch deshalb arbeiten wir weiter zu den Databroker Files. Übrigens ganz intensiv diese Woche und in den nächsten Monaten. Und wir sagen: Finger weg von unserem Privatleben! (Hinter dem Link steckt ein pointierter Text; ihr könnt ihn Menschen schicken, die das Thema Datenschutz einfach nicht fühlen, vielleicht hilft er.)
Mein inzwischen täglicher Blick auf den Spendenbalken sagt: Uns fehlen noch gut 300.00 Euro, um unsere Arbeit nächstes Jahr fortzusetzen. Ufff.
Habt ihr schon gespendet? Wenn ja: vielen Dank. Ansonsten: Wir wären sehr dankbar, jeder Euro hilft! Denn wir haben noch so einiges vor, mit Databrokern und darüber hinaus.
Schönes Wochenende und bis zum nächsten Mal
Sebastian
Trugbild: Die unendliche InszenierungJunge Menschen nehmen ihr Leben als Film wahr. Und Unternehmen stellen die nötigen Requisiten für das besondere „Life as a Movie“-Gefühl. Doch das permanente Schauspiel hat seinen Preis. Von Vincent Först –
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Elon Musks Plattform ist wieder um ein paar prominente Accounts ärmer. Mit einer gemeinsamen Aktion und einem offenen Brief haben sich nicht nur Prominente und Abgeordnete, sondern auch Institutionen wie das Jüdische Museum München von der Plattform verabschiedet. Von Markus Reuter –
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Demnächst soll die Chatkontrolle wieder im EU-Rat verhandelt werden. Eines ist in jedem Fall klar: Dem Vorschlag der ungarischen Ratspräsidentschaft werden die Niederlande nicht zustimmen. Von Markus Reuter –
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Mehr als 17.000 Frauen und Mädchen waren im vergangenen Jahr „Opfer digitaler Gewalt“. So steht es im neuen Lagebild zu geschlechtsspezifischer Gewalt des BKA. Dabei taucht dort nur ein Bruchteil der Fälle auf. Von Chris Köver –
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Auf KI basierende Systeme werden auch an den EU-Außengrenzen eingesetzt. Die NGO AlgorithmWatch führt eine Datenbank über entwickelte Technologien und macht auf Intransparenz sowie potenzielle Menschenrechtsverletzungen aufmerksam. An die EU-Mitgliedstaaten stellt sie klare Forderungen. Von Ben Bergleiter –
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Ungarn will die allseits kritisierte verpflichtende Chatkontrolle im EU-Rat noch durchboxen: Der Gesetzentwurf soll heute abgestimmt werden. Die Nutzer sollen darin weiterhin zur Zustimmung gezwungen werden, um auch ihre verschlüsselten Inhalte scannen zu dürfen. Von Constanze –
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Der Beirat des Digital Services Coordinators hat das zweite Mal getagt. Und obwohl die erste Sitzung nicht lange zurückliegt, haben sich schon einige Koordinaten verschoben. Zur Orientierung gibts jetzt eine Geschäftsordnung. Und die Mitglieder stellen sich auf raue Winde ein. Von Svea Windwehr –
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In den USA gehen Behörden streng gegen zwei Datenhändler vor. Die Entscheidung könnte weitreichende Folgen für die Branche und für den Schutz von US-Amerikaner:innen haben. Menschen in der EU hingegen bleiben aufgrund der Untätigkeit von Politik und Datenschutzbehörden weitgehend ungeschützt. Von Ingo Dachwitz –
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Die größten Unternehmen der Welt beuten im Netz unsere Privatsphäre aus, angeblich nur zu Werbezwecken. Doch über Databroker fließen intimste Daten an alle, die danach fragen. Dank Deiner Spende decken wir das auf – und kämpfen gegen werbebasierte Massenüberwachung. Von netzpolitik.org –
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Alle Jahre wieder kommt Spotify mit einem individualisierten Jahresrückblick um die Ecke. Alle Jahre wieder lassen sich Menschen dazu instrumentalisieren, damit kostenlos Werbung auf Social Media zu machen. Und alle Jahre wieder verhüllt die Marketingaktion erfolgreich, wie problematisch das Unternehmen ist. Ein Kommentar. Von Ben Bergleiter –
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Die EU-Kommission macht weiterhin Probleme auf den EU-Märkten für Telekommunikation aus. Schon Ex-Kommissar Thierry Breton hatte tiefgreifende Reformen gefordert, die neue Kommission setzt die Arbeit daran nun fort. Doch nicht alle teilen ihre Sicht auf die Lage des Telekommunikations-Sektors. Von Tomas Rudl, Maximilian Henning –
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Um Probleme wie die starke Herstellerabhängigkeit anzugehen, fördern Bund und Länder vereinzelt Open-Source-Projekte in der öffentlichen IT. Im Digitalausschuss erklärten neun Sachverständige, wie der Staat verstärkt auf Open Source setzen und welches Potenzial er noch heben kann. Dafür räumten sie mit dem Vorurteil auf, Open Source sei eine Ausnahme. Von Esther Menhard –
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Nach Elon Musk suchen nun auch Jeff Bezos und Mark Zuckerberg die Nähe zu Donald Trump. Ob sie den künftigen US-Präsidenten auch bei Massendeportationen unterstützen würden, beantworten US-Technologieunternehmen nicht. Von Martin Schwarzbeck –
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Seit über einem Jahrzehnt wartet Deutschland auf die versprochene lückenlose Versorgung mit Breitband-Internet. Aktuelle Zahlen der Bundesnetzagentur zeigen, dass dieses Ziel bis heute nicht erreicht ist. Immerhin hinkt Deutschland beim 5G-Mobilfunk nicht hinterher. Von Tomas Rudl –
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In zwei Jahren soll die europäische digitale Brieftasche starten. Die Anforderungen an ihren Einsatz werden derzeit in Brüssel verhandelt. Dabei versucht die Kommission, rechtliche Vorgaben für mehr Sicherheit und Transparenz auszuhebeln, so die Kritik aus der Zivilgesellschaft. Von Daniel Leisegang –
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Eine Recherche der Nachrichtenagentur Reuters belegt, dass der Ölkonzern ExxonMobil tiefer in das Hacking von Umweltaktivist:innen verwickelt ist als bisher bekannt. Das ausgespähte Material wurde zur Diskreditierung von Klima-Klagen gegen den Konzern genutzt. Von Markus Reuter –
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Im Februar 2025 kommt die elektronische Patientenakte für alle, die ihr nicht widersprechen. Die Krankenkassen sind verpflichtet, ihre Versicherten darüber neutral zu informieren. Dieser Pflicht kommen sie in vielen Fällen nicht nach, wie der Verbraucherzentrale Bundesverband herausfand. Von Daniel Leisegang –
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Sie schützen Nutzende vor verstörenden Inhalten auf Facebook und Instagram – doch zu welchem Preis? Für Meta aktive Content-Moderator:innen berichten von niedrigen Löhnen, psychischen Strapazen und fehlender Unterstützung. In einem Brief, den wir hier veröffentlichen, fordern sie Hilfe von der EU. Von Ben Bergleiter –
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Erneut gab es keine Mehrheit für den Chatkontrolle-Vorschlag der ungarischen Ratspräsidentschaft. In der kommenden Woche könnten sich aber die Minister:innen einigen – wenn nicht weiterhin genug Länder gegen die anlasslose Überwachung sind. Von Maximilian Henning –
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Der Zombie ist zurück! Die Vorratsdatenspeicherung soll – mit der umstrittenen biometrischen Internetfahndung – noch vor der Neuwahl in einem zweiten Sicherheitspaket beschlossen werden, so Bundesinnenministerin Faeser bei der Innenministerkonferenz. Von Martin Schwarzbeck –
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Vorratsdatenspeicherung und Biometrie: Union und SPD wollen Überwachung noch vor Neuwahl ausbauen
Der Zombie ist zurück! Die Vorratsdatenspeicherung soll – mit der umstrittenen biometrischen Internetfahndung – noch vor der Neuwahl in einem zweiten Sicherheitspaket beschlossen werden, so Bundesinnenministerin Faeser bei der Innenministerkonferenz.
Deutsche Innenminister*innen: vereint im Wunsch nach mehr Überwachung. – Public Domain Screenshot IMKNancy Faeser freut sich. Die Bundesinnenministerin von der SPD sieht im Endspurt ihrer Amtszeit noch einen Sieg in Reichweite. Zum Abschluss der heutigen Innenministerkonferenz sagte sie: „Ich freue mich, dass der zweite Teil des Sicherheitspakets, der im Bundesrat aufgehalten wurde, nun jetzt noch zu Ende gebracht werden soll. Dazu gehört die Gesichts- oder Stimmerkennung von Terrorverdächtigen, Mördern, Vergewaltigern und anderen Schwerkriminellen. Biometrische Daten müssen hier zur Identifizierung mittels KI im Internet abgeglichen werden können.“ Für das Projekt ist eine umstrittene Superdatenbank aller Gesichter im Internet nötig.
Zusätzlich will Faeser kurz vor Ende der Legislaturperiode noch einen uralten Zombie aus dem Grab holen: Die Vorratsdatenspeicherung. Sie wurde in ihrer jeweiligen Ausgestaltung 2010 vom Bundesverfassungsgericht, 2014 vom Europäischen Gerichtshof und 2023 vom Bundesverwaltungsgericht für rechtswidrig erklärt.
Faeser will einen neuen Versuch, im Rahmen eines erweiterten Sicherheitspakets. Zum Abschluss der Innenministerkonferenz sagte sie: „Und was für uns aber auch wichtig ist und das soll ein solches Sicherheitspaket auch umfassen, ist eine rechtssichere Speicherpflicht für IP-Adressen.“ Laut Faeser sei die IP-Adresse oft der einzige Ermittlungsansatz um Tätern auf die Spur zu kommen. Das gelte laut Faeser insbesondere im Bereich der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und der Terrorismusbekämpfung.
Aus für Quick FreezeDie Erweiterung des Sicherheitspakets geht laut Faeser nun in den Vermittlungsausschuss. „Ich freue mich über das einheitliche Votum der Konferenz, das noch in dieser Legislaturperiode jetzt im Bund abzuschließen“, sagt sie.
Das Vorgehen zeigt auch, dass von der Ampel nichts bleibt. Denn die hatte eigentlich statt der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung ein anlassgebundenes Quick-Freeze-Verfahren für zu sichernde Daten einführen wollen. Nun positionieren sich Faeser und mit ihr die SPD klar zum möglichen kommenden Koalitionspartner CDU. Und die zieht mit, auf jeden Fall wenn es um die Vorratsdatenspeicherung geht. Es zeichnet sich ab, dass es eine schwarz-rote Mehrheit für eine allgemeine anlasslose Vorratsdatenspeicherung gibt.
Joachim Herrmann, Bayerns Innenminister und der Sprecher der Innenminister von CDU und CSU, sagte zum Abschluss der Innenministerkonferenz: „Dankbar bin ich, dass wir nunmehr den Spielraum genutzt haben, der sich für wesentliche Schritte zu mehr Befugnissen für die Sicherheitsbehörden geöffnet hat, unter anderem für die Verkehrsdatenspeicherung und angemessene Mindestspeicherfristen von IP-Adressen.“
SPD und CDU/CSU: die neue InstantkoalitionSein SPD-Pendant Andy Grote, Hamburgs Innensenator und Sprecher der Innenminister der SPD, fordert ebenfalls mehr Befugnisse für die Sicherheitsbehörden. „Dazu gehört die Speicherung von IP-Adressen und die Möglichkeit zum biometrischen Datenabgleich mit im Internet frei zugänglichen Dateien zur leichteren Identifizierung von schweren Straftätern und Terroristen. Das gilt es jetzt noch in dieser Legislaturperiode umzusetzen.“
Die neue Instantkoalition zeichnet sich auch im Bundestag ab. Dort wurde gestern über drei verschiedene Gesetzentwürfe zum Speicherung von IP-Adressen beraten. Einer kommt von der CDU/CSU.
Den Christdemokraten zufolge sollen die Provider drei Monate lang speichern müssen, welche Person sich wann mit welcher IP-Adresse im Netz bewegt – und soweit nötig auch die Port-Nummern, die anzeigen, wer wann welchen Dienst genutzt hat, also beispielsweise Mail, Filetransfer, Browser, Chatprogramm. Zudem soll die Funkzellenabfrage erleichtert werden, die Christdemokraten wollen die Bedingung streichen, dass die Erhebung der Daten in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht.
Auch zur Verfolgung weniger schwerer VerbrechenLaut Begründung des CDU/CSU-Entwurfs soll auf die gespeicherten Daten ohne Gerichtsbeschluss zugegriffen werden dürfen, auch zum Zwecke der Verfolgung „allgemeiner (nicht schwerer) Kriminalität“. Nur bevor sie mit Inhaltsdaten verknüpft werden, brauche es einen Gerichtsbeschluss. Auch Nachrichtendienste sollen nach dem Willen der CDU auf die Informationen zugreifen dürfen.
Ein weiterer Vorratsdatenspeicherungs-Gesetzentwurf kommt aus dem Bundesrat, initiiert von CDU-geführten Hessen. Der Entwurf ist in weiten Teilen wortgleich mit dem der CDU/CSU im Bundestag, nur dass die Forderung der Länder sich auf eine Vorratsdatenspeicherung von einem Monat Dauer beschränkt. Laut Europäischem Gerichtshof muss eine allgemeine IP-Adressspeicherung auf den absolut notwendigen Zeitraum beschränkt sein.
Der Entwurf des Bundesrates besagt zudem, es müsse „zur Verfolgung allgemeiner Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit auch weiterhin möglich sein, dass Internetzugangsdienste mindestgespeicherte IP-Adressen für eine Bestandsdatenauskunft anhand einer zu einem bestimmten Zeitpunkt zugewiesenen IP-Adresse verwenden dürfen, um den Strafverfolgungs- und Gefahrenabwehrbehörden die Identitätsdaten des relevanten Anschlussinhabers zu übermitteln.
Generalverdacht vs. datensparsame AlternativeDie Entwürfe stellen einen Generalverdacht gegenüber allen Bürger*innen auf, deren Daten präventiv und anlasslos gespeichert werden sollen. Beide Gesetzentwürfe fordern die Vorratsdatenspeicherung zum Zwecke der Bekämpfung schwerer Kriminalität sowie zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit, wollen gleichzeitig aber auch die Möglichkeiten zur Verfolgung weniger schwerer Delikte erweitern. Es wurden in der Vergangenheit auch schon Stimmen laut, die eine Nutzung der Daten zur Verfolgung von Einbrüchen oder Hasskommentaren forderten. Klar ist auch: wenn die Daten einmal vorliegen, werden die Begehrlichkeiten immer größer.
Ein dritter Gesetzentwurf stammt von der FDP und fordert ein datensparsameres Verfahren, eine anlassbezogene, richterlich angeordnete Sicherstellung ausgewählter bestehender und künftig anfallender Daten. Dieses „Quick Freeze“ genannte Verfahren, auf das sich die Ampel eigentlich geeinigt hatte und dem auch die Grünen immer noch anhängen, scheint nun endgültig vom Tisch zu sein. Zu einig sind sich Christ- und Sozialdemokraten in ihrem Wunsch nach mehr verdachtsunabhängiger Überwachung.
Aktuell speichern die Internetprovider freiwillig bis zu sieben Tage, welcher Anschluss wann mit welcher IP-Adresse surft, Mails schreibt, Dateien tauscht. Das ist, glaubt man Boris Rhein, viel zu kurz. Der hessische CDU-Ministerpräsident eröffnet die Bundestagsdebatte mit dem Verweis auf Verfahren zu sexualisierter Gewalt an Kindern, die nicht bearbeitet werden könnten, weil die Zuordnung der IP-Adressen scheiterte: „Kinderschänder haben kein Recht auf Privatsphäre“, sagt er. Geht es nach Rhein sollten alle IP-Adressen längerfristig mit Klarnamen verbunden werden. Demnach hätte dann niemand ein Recht auf Privatsphäre.
Vorratsdatenspeicherung: Nicht mehr ob, sondern nur noch wieSebastian Fiedler SPD steigt ebenfalls mit Horrorbildern von sexualisierter Gewalt gegen Kinder ein. Schlussfolgernd sagt er: „Jetzt können wir darüber diskutieren, ob drei Monate Mindestspeicherfrist oder ein Monat, entscheidend für mich und meine Fraktion ist: Wir kriegen endlich etwas gemeinsam hin.“
Seine Parteigenossin Peggy Schierenbeck sagt, die Sicherheitsbehörden bräuchten effektive und zeitgemäße Instrumente zur Bekämpfung von zum Beispiel „schwerster Kriminalität wie Kindesmissbrauch, Terrorismus, Extremismus, Cyberangriffen, Organisierter Kriminalität, Hasskriminalität, Betrugsdelikten im Internet und und und.“ Es ginge nicht um das ob, sondern um das wie. „Wir wollen eine IP-Adressen-Speicherung und werden prüfen, wie wir diese am besten umsetzen können.“ Quick Freeze allein sei keine sinnvolle Alternative.
Thorsten Lieb von der FDP erinnert die Sozialdemokraten, „dass wir die Anlassbezogenheit entsprechender Maßnahmen im Koalitionsvertrag vereinbart hatten.“ Die Vorratsdatenspeicherung sei nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs nur in eng umgrenzten Fällen zulässig. Sein Parteikollege Manuel Höferlin sagt, seit anderthalb Jahrzehnten führe man die gleiche Debatte mit immer gleichem Ergebnis: der Rechtswidrigkeit. „Und doch steht ein Vorschlag im Raum, der in die Sackgassen der Vergangenheit zurückführt.“ Nur Quick Freeze sei grund- und europarechtskonform.
Wie man die Vorratsdatenspeicherung umgehtHelge Limburg von den Grünen wirft den Befürwortern der Vorratsdatenspeicherung vor, für ihr Projekt schlimmste Straftaten ins Feld zu führen, „ohne jegliche Abwägung mit anderen Rechtsgütern“ und damit Gegner zu diffamieren und zu diskreditieren. Er vermisse Anträge zur Prävention und zur Stärkung von Kindern und sieht bei der Bekämpfung von sexualisierter Gewalt an Minderjährigen einen ausschließlichen Fokus auf die Vorratsdatenspeicherung. Sein Parteifreund Marcel Emmerich erinnert daran, dass auch der Kinderschutzbund für das rechtssichere Quick-Freeze-Verfahren und gegen die Vorratsdatenspeicherung ist. Die „gefährdet das Vertrauen in staatliche Institutionen und das ist gerade in diesen Zeiten brandgefährlich.“
Anke Domscheit-Berg von der Linkspartei bringt als letzte Rednerin das Argument, welches eigentlich die ganze Debatte zusammenbrechen lässt: „Schwerkriminelle wissen, wie man eine IP-Adresse verschleiert“, sagt sie. Denn mit der Nutzung eines VPN oder des Tor-Netzwerks oder gar einer Kombination aus beidem lässt sich die im Netz genutzte IP-Adresse mit überschaubarem Aufwand sehr sicher anonymisieren. Domscheit-Berg gibt den Abgeordneten auch noch eine Lektion mit auf den Weg: „Demokratie und Massenüberwachung passen nicht zusammen“.
Die Beratungen zur Vorratsdatenspeicherung sind in den Rechtsausschuss überwiesen. So wie das im Bundestag klingt scheint nur noch die Frage der Dauer der verpflichtenden Speicherung offen zu sein. Bis zum nächsten Gerichtsurteil jedenfalls.
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Verhandlungen zur Chatkontrolle: Entscheidung auf kommende Woche vertagt
Erneut gab es keine Mehrheit für den Chatkontrolle-Vorschlag der ungarischen Ratspräsidentschaft. In der kommenden Woche könnten sich aber die Minister:innen einigen – wenn nicht weiterhin genug Länder gegen die anlasslose Überwachung sind.
Noch bleibt die Tür für die Chatkontrolle geschlossen. – Public Domain Pexels / PixabayDer EU-Rat konnte sich erneut nicht zur umstrittenen Chatkontrolle einigen. Der Vorschlag ist damit weiterhin blockiert. Die Chatkontrolle wurde aber auf die Agenda für das nächste Treffen der Justiz- und Innenminister:innen gesetzt, das kommende Woche Donnerstag ansteht. Diese könnten dann bei einer offenen Aussprache eine Einigung erzielen. Der Vorschlag würde dann in die Trilogverhandlungen mit Kommission und Parlament gehen.
Die Abstimmung stand schon für Mittwoch auf der Tagesordnung, wurde dann aber auf heute vertagt. Die Abstimmungen im sogenannten Ausschuss der Ständigen Vertretungen sind eigentlich nur Vorbereitungen für die Treffen der EU-Minister:innen. Die ungarische Ratspräsidentschaft änderte das aber diesmal: Hätte es heute eine Zustimmung gegeben, hätte der Punkt nicht noch einmal im Rat besprochen werden müssen. Der Entwurf wäre direkt beschlossen gewesen.
Kernproblem bleibtAn dem Ratsentwurf haben schon mehrere Präsidentschaften herumgedoktert. Der aktuelle ungarische Entwurf sieht vor, dass das sogenannte „Client-Side-Scanning“ auf visuelle Inhalte und URLs beschränkt werden soll. Text- und Audioinhalte sollen nicht gescannt werden. Verschlüsselte Inhalte sollen nur gescannt werden, wenn Nutzer:innen dem zustimmen. Tun sie das nicht, könnten sie aber keine Links, Bilder oder Videos mehr in den Apps verschicken.
Das eigentliche Problem bleibt damit bestehen: Das Gesetz würde eine umfassende Infrastruktur für die Überwachung privater Kommunikation aufbauen. Das würde einen großen Schlag gegen Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kommunikation in Europa bedeuten.
Kritik hält anGegen die Vorschläge von Kommission und Rat gibt es deshalb schon lange breite Kritik. Der verschlüsselte Messenger Signal hatte angekündigt, sich aus Europa zurückzuziehen, wenn das Gesetz in dieser Form kommen sollte. Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt haben immer wieder vor dem Vorhaben gewarnt, genau so wie Verbände von Informatiker:innen. Selbst der niederländische Geheimdienst warnte vor der Chatkontrolle.
Deutschland war in der Sitzung weiterhin gegen den Vorschlag. Das hat heute Morgen noch einmal Digitalminister Volker Wissing bestätigt: „Für uns ist nach wie vor der ungarische Vorschlag nicht akzeptabel und insofern suchen wir natürlich Unterstützer, die klare Gegenpositionen auch aufzeigen“, so Wissing. Er war gestern und heute wegen einem Treffen der Telekommunikationsminister:innen in Brüssel.
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Brief an EU-Parlament: Metas Content-Moderator:innen fordern besseren Schutz
Sie schützen Nutzende vor verstörenden Inhalten auf Facebook und Instagram – doch zu welchem Preis? Für Meta aktive Content-Moderator:innen berichten von niedrigen Löhnen, psychischen Strapazen und fehlender Unterstützung. In einem Brief, den wir hier veröffentlichen, fordern sie Hilfe von der EU.
Meta lagert seine Content-Moderation großteilig an Drittfirmen aus. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / NurPhotoContent-Moderator:innen eines für Meta aktiven Dienstleisters richten sich in einem Brief an das Europäische Parlament. Sie machen auf „unzumutbare Bedingungen“ in ihrem Berufsfeld aufmerksam: Ein geringer Lohn, enorme psychische Belastungen, kaum Pausen und weniger Urlaub als deutscher Mindestmaß gehören zu ihrem Arbeitsalltag. Von der EU fordern sie deshalb Gesetze, die ihre Arbeitsbedingungen verbessern.
Auf Social-Media-Plattformen wie Instagram und Facebook werden jeden Tag riesige Mengen an Inhalten hochgeladen. Trotz ausgefeilter Moderations-Algorithmen müssen am Ende oft immer noch Menschen kontrollieren, ob die Inhalte gegen Regeln verstoßen. Um Kosten zu sparen, lagert der Mutterkonzern Meta diese Arbeit oft an Drittfirmen aus. Moderator:innen einer in Deutschland sitzenden Drittfirma schildern in einem Brief, der netzpolitik.org vorliegt, unter welch prekären Arbeitsbedingungen sie beschäftigt sind. Aus Angst vor Kündigungen soll der Name der Firma hier nicht genannt werden.
„Wir sind die unsichtbaren Arbeitenden, die dafür sorgen, dass die Plattformen sicher und ’sauber‘ bleiben“, stellen sie sich in dem Brief vor. Damit die Nutzer:innen von Facebook und Instagram nicht mit verstörenden Inhalten konfrontiert werden, leisten sie ihre Moderationsarbeit. Dafür kriegen sie mit 14,89 Euro pro Stunde etwas mehr als Mindestlohn. „Diese Vergütung spiegelt jedoch in keiner Weise die Intensität, den emotionalen Stress und die Bedeutung unserer Arbeit wider“, schreiben sie.
Extreme Belastungen und zu wenig UnterstützungIn einer typischen achtstündigen Schicht sitzen sie sieben Stunden am Stück vor dem Computer und sind währenddessen teils abgründigen Eindrücken ausgesetzt: Vergewaltigungen, Folter und Tierquälerei werden nicht immer vom Algorithmus erkannt und müssen dann von Menschenhand entfernt werden – vorher müssen sich die Content-Moderator:innen das ansehen. Sie seien allerdings „keine Maschinen, die endlos verstörende Inhalte filtern können, ohne dass es Spuren hinterlässt“.
Mit den „extrem hohen Produktionsanforderungen“ würde keine Zeit bleiben, sich von den mentalen Belastungen zu erholen. „Wir sind gezwungen, im Zustand ständiger Belastung weiterzuarbeiten, ohne jemals die nötige Zeit oder Gelegenheit zur Reflexion oder Erholung zu haben“, heißt es in dem Brief.
Meta erkennt diese Belastungen an und bietet deshalb Schulungen und psychologische Beratungen für Moderator:innen an. Das Angebot gehe aus Sicht der Arbeiter:innen allerdings nicht weit genug: „Die Schulungen sind oft oberflächlich und bereiten uns nicht ausreichend auf die emotional belastenden Inhalte vor, die wir täglich sehen.“ Außerdem sei die psychologische Beratung nur „schwer zugänglich oder wird so gestaltet, dass sie kaum auf unsere tatsächlichen Bedürfnisse eingeht.“
Die Content-Moderator:innen sind deshalb von ihrem De-Facto-Arbeitgeber enttäuscht: „Es fühlt sich manchmal so an, als würde sich Meta mehr um das Image der Content-Moderation kümmern als um uns – die Menschen hinter den Bildschirmen.“ Hinzu kommt, dass sie nicht mal bei Meta selbst beschäftigt sind, sondern ihre Arbeit an Drittfirmen ausgelagert wird. Aus der Sicht der Arbeiter:innen entzieht sich das Unternehmen dadurch der Verantwortung über ihr Wohlergehen.
Um eine Organisation zwischen Content-Moderator:innen zu ermöglichen, veranstaltete die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi vergangenes Jahr einen „Content Moderator Summit“. Auch die für Meta aktiven Arbeiter:innen waren dort und haben zum Austausch beigetragen. In dem jetzt veröffentlichten Brief äußern sie allerdings auch Kritik an Verdi: Nach der öffentlichkeitswirksamen Veranstaltung hätte die Gewerkschaft ihre Zusammenarbeit erheblich zurückgefahren, was die Arbeiter:innen enttäuschte.
Die ForderungenVon den Mitgliedern des Europäischen Parlaments, an die der Brief adressiert war, erhoffen sich die Content-Moderator:innen nun neue Gesetze, die sie in ihrem Arbeitsalltag schützen sollen. Konkret fordern sie die Durchsetzung fairer Löhne, Zugang zu psychischen Gesundheitsressourcen und für Tech-Unternehmen geltende Transparenzanforderungen. „Ohne eine fundierte Gesetzgebung werden wir nicht in der Lage sein, die psychischen Belastungen zu überstehen und gleichzeitig eine angemessene Arbeit zu leisten“, schreiben sie.
Die kürzlich in Kraft getretene EU-Richtlinie für Plattformarbeit verpflichtet Plattformarbeitgeber zumindest zu mehr Transparenz im Einsatz von Algorithmen. Faire Löhne und Zugang zu psychischer Gesundheitsversorgung sind von der Richtlinie allerdings nicht geregelt. Bei der Gestaltung hätte man nicht an Datenarbeit wie Content-Moderation gedacht, sagte auch Leila Chaibi, Mitglied der Linken-Fraktion im Europäischen Parlament. Zusammen mit den Soziolog:innen Antonio Casilli und Milagros Miceli lud sie Ende November zu einem Austausch mit internationalen Datenarbeiter:innen nach Brüssel.
Hier der Brief in Volltext:
Sehr geehrte Mitglieder des Europäischen Parlaments,
wir wenden uns mit diesem Schreiben an Sie, um auf ein dringendes Thema aufmerksam zu machen, das an der Schnittstelle von Technologie, Arbeitsrechten und psychischer Gesundheit liegt: die Arbeitsbedingungen von Content-Moderator*innen, die von Outsourcing-Unternehmen für große Tech-Plattformen beschäftigt werden. Während wir weiterhin die Komplexität der Content-Moderation im digitalen Zeitalter angehen, dürfen wir nicht die menschlichen Kosten übersehen, die mit dieser wichtigen Arbeit verbunden sind.
Wir spielen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung von Online-Communities und der Gewährleistung der Sicherheit digitaler Räume. Doch diese wichtige Aufgabe übernehmen
wir oft unter unzumutbaren Bedingungen. Viele von uns sind bei Outsourcing-Unternehmen angestellt, wo wir mit niedrigen Löhnen, unzureichender Schulung und fehlender Unterstützung konfrontiert sind. Die Arbeitsbedingungen, unter denen wir täglich arbeiten, belasten nicht nur unser Wohlbefinden, sondern beeinträchtigen auch die Qualität der Content-Moderation, auf die die Nutzer*innen angewiesen sind.
Ausbeuterische Arbeitsbedingungen
Wir als Content-Moderator*innen arbeiten 40 Stunden und mehr in hoch stressigen Umfeldern und sind dabei verstörenden und traumatischen Inhalten ausgesetzt, ohne ausreichende Pausen oder Ressourcen, um das, was wir täglich sehen, zu verarbeiten. Die Natur unserer Arbeit führt bei vielen von uns zu schweren psychischen Problemen, darunter Angstzustände, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD). Trotz dieser extrem belastenden Bedingungen erhalten wir lediglich 20% über dem Mindestlohn, was 14,89 Euro pro Stunde entspricht – ein Betrag, der von Facebook als „hochqualifiziert“ und „ausreichend“ erachtet wird. Diese Vergütung spiegelt jedoch in keiner Weise die Intensität, den emotionalen Stress und die Bedeutung unserer Arbeit wider.
Die Tatsache, dass wir für diese schwere und oft traumatische Arbeit nur geringfügig mehr als den Mindestlohn bekommen, ist eine klare Form der Ausbeutung. Diese Missstände dürfen nicht ignoriert werden, und es ist an der Zeit, dass unsere Arbeitsbedingungen ernst genommen und fair vergütet werden.
Mangelnde Verantwortung von Meta – Aus der Perspektive der Mitarbeitenden
Während große Tech-Unternehmen wie Meta von unserer Arbeit als Content-Moderator*innen profitieren, distanzieren sie sich konsequent von den katastrophalen Arbeitsbedingungen, unter denen wir täglich arbeiten. Wir sind die unsichtbaren Arbeitenden, die dafür sorgen, dass die Plattformen sicher und „sauber“ bleiben, indem wir verstörende und oft traumatische Inhalte durchsehen und bewerten – und dennoch erhalten wir weder die nötige Anerkennung noch die Unterstützung, die wir benötigen.
Meta und andere Tech-Giganten überlassen diese kritische Aufgabe Outsourcing-Unternehmen, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen und die damit verbundenen Kosten und Verpflichtungen auf Dritte abzuwälzen. Meta entzieht sich aktiv der Verantwortung für unser Wohlergehen, indem es uns an Outsourcing-Partner auslagert. Diese Outsourcing-Unternehmen sind für die Umsetzung von Schulungen und Unterstützung zuständig, jedoch wird von uns nicht selten erwartet, dass wir mit minimalen Ressourcen und ohne angemessene Vorbereitung arbeiten.
Als Content-Moderator*in bei Meta haben wir immer wieder gehört, wie sehr das Unternehmen betont, sich der Bedeutung von Content-Moderation bewusst zu sein und uns mit „fortlaufenden Schulungsprogrammen“ sowie „psychologischer Unterstützung“ zu versorgen. Doch in der Realität fühlt sich das anders an. Die Schulungen sind oft oberflächlich und bereiten uns nicht ausreichend auf die emotional belastenden Inhalte vor, die wir täglich sehen. Die psychologische Unterstützung, die angeboten wird, ist entweder schwer zugänglich oder wird so gestaltet, dass sie kaum auf unsere tatsächlichen Bedürfnisse eingeht.
Es fühlt sich manchmal so an, als würde sich Meta mehr um das Image der Content-Moderation kümmern als um uns – die Menschen hinter den Bildschirmen. Wir sind keine Maschinen, die endlos verstörende Inhalte filtern können, ohne dass es Spuren hinterlässt. Doch genau so behandelt man uns oft. Unsere Belastungen, Ängste und psychischen Herausforderungen scheinen in den Entscheidungen des Unternehmens keine Rolle zu spielen. Statt uns wirklich zu unterstützen, wird oft nur das Nötigste getan, um den äußeren Anschein zu wahren. Was wir brauchen, ist echte Fürsorge und der Wille, uns als Menschen hinter den Computern ernst zu nehmen – nicht nur als Zahnräder in einer riesigen Maschinerie.
Die Praxis, die Verantwortung auf Outsourcing-Partner zu schieben, verstärkt das Gefühl, dass Meta sich seiner moralischen und sozialen Verantwortung entzieht. Meta mag öffentlich betonen, dass sie sich um die „Sicherheit der Moderator*innen“ kümmern, aber die fortwährende Auslagerung der Verantwortung für Arbeitsbedingungen und Unterstützung zeigt, dass das Unternehmen eher an Profitmaximierung interessiert ist als an der tatsächlichen Verbesserung unserer Arbeitsumstände. Meta scheint nicht wirklich bereit zu sein, diese Missstände grundlegend zu adressieren.
Unzureichende psychologische Unterstützung – Aus unserer Perspektive als Mitarbeitende
Die psychische Unterstützung für Content-Moderator*innen ist erschreckend unzureichend und praktisch nicht zugänglich.Der Grund liegt in den extrem hohen Produktionsanforderungen, die uns aufgezwungen werden: In einer typischen achtstündigen Schicht müssen wir nahezu sieben Stunden am Arbeitsplatz bleiben und kontinuierlich Content moderieren. Während dieser Zeit dürfen wir unseren Arbeitsplatz nicht verlassen und müssen uns ohne Unterbrechung mit belastendem und oft traumatisierendem Material auseinandersetzen.
Das bedeutet, dass uns schlichtweg keine Zeit bleibt, um psychologische Unterstützung zu suchen oder uns von den emotionalen und psychischen Belastungen unserer Arbeit zu
erholen. Die wenigen Minuten, die uns für Pausen zur Verfügung stehen, reichen nicht aus, um den enormen mentalen Druck, den diese Arbeit verursacht, abzubauen. Wir sind
gezwungen, im Zustand ständiger Belastung weiterzuarbeiten, ohne jemals die nötige Zeit oder Gelegenheit zur Reflexion oder Erholung zu haben. Diese Bedingungen erschöpfen uns nicht nur körperlich, sondern auch emotional und psychisch. Der Mangel an echter Unterstützung und die strukturellen Hindernisse, die uns daran hindern, Hilfe zu suchen, verstärken das Gefühl der Isolation, der Überforderung und der Verzweiflung.
Es ist längst überfällig, dass die EU nicht nur die Notwendigkeit einer umfassenden psychischen Gesundheitsversorgung für alle Content-Moderator*innen anerkennt, sondern auch sicherstellt, dass diese Unterstützung tatsächlich zugänglich und nutzbar ist. Es reicht nicht aus, uns mit vagen Zusicherungen zu beruhigen – wir brauchen konkrete, praktikable Lösungen. Um unser Wohlbefinden zu erhalten und die Qualität der Moderation zu gewährleisten, muss endlich sichergestellt werden, dass wir die nötige Zeit und die richtigen Ressourcen haben, um mit den psychischen Belastungen unserer Arbeit umzugehen und langfristig gesund zu bleiben.
Die Notwendigkeit legislativer Maßnahmen – Aus der Perspektive der Content-Moderator*innen
Um uns als Content-Moderatorinnen zu schützen, appellieren wir an das Europäische Parlament, Gesetze zu erlassen, die die Rechte und Arbeitsbedingungen von Content-Moderatorinnen adressieren. Dazu gehört die Durchsetzung fairer Löhne, der Zugang zu psychischen Gesundheitsressourcen sowie die Einführung von Transparenzanforderungen für Tech-Unternehmen bezüglich ihrer Praktiken in der Content-Moderation. Nur wenn diese Unternehmen zur Verantwortung gezogen werden, können wir ein Arbeitsumfeld schaffen, in dem die Rechte und die Würde aller Arbeitenden gewahrt bleiben.
Als Content-Moderator*innen leisten wir eine hochqualifizierte und oft unterschätzte Arbeit, die entscheidend dazu beiträgt, dass die sozialen Plattformen sicher bleiben. Wir benötigen eine faire Vergütung, die unserer Expertise und der emotionalen Belastung dieser Arbeit gerecht wird. Dazu gehört auch, dass unsere Urlaubsansprüche auf das Mindestmaß in Deutschland erhöht werden, also auf mindestens 20 Tage, um uns die notwendige Erholung und psychische Regeneration zu ermöglichen.
Es ist dringend notwendig, dass die EU sich aktiv für bessere Arbeitsbedingungen für Content-Moderator*innen einsetzt. Ohne eine fundierte Gesetzgebung werden wir nicht in der Lage sein, die psychischen Belastungen zu überstehen und gleichzeitig eine angemessene Arbeit zu leisten. Die Schaffung eines sicheren, respektvollen und verantwortungsvollen digitalen Raums hängt davon ab, dass wir die nötige Unterstützung erhalten, um weiterhin mit der Sorgfalt und Verantwortung zu arbeiten, die diese Aufgabe erfordert.
Gewerkschaft Verdi
Als internationales Unternehmen mit einem hohen Anteil an Mitarbeitenden, die Migrant*innen in der ersten Generation sind, stehen wir vor der Herausforderung, uns in
einem Arbeitsumfeld zurechtzufinden, das stark von der deutschen Sprache und Bürokratie geprägt ist. Wir hätten uns von einer Organisation wie der Gewerkschaft Verdi, die sich für die Interessen der Arbeitnehmenden einsetzen soll, Unterstützung und Verständnis erwartet. Doch leider wurden wir enttäuscht.
Nachdem wir Verdi durch unsere Zusammenarbeit einen bedeutenden Schub in ihrer öffentlichen Wahrnehmung verschafft haben, wurden wir schlicht und ergreifend im Stich gelassen. Sobald der PR-Rummel vorbei war, standen wir allein da – ohne englischsprachige Ansprechpartner*innen, ohne Unterstützung, ohne die Fürsorge, die wir so dringend gebraucht hätten.
Verdi hat es nicht nur versäumt, auf unsere Bedürfnisse einzugehen, sondern hat auch gezeigt, dass ihre Prioritäten offenbar woanders liegen: im Streben nach mehr Mitgliedern und größerem Einfluss. Die tatsächlichen Anliegen der Menschen, die sie vertreten sollen, scheinen dabei kaum eine Rolle zu spielen. Statt Solidarität haben wir ein kaltes, kapitalistisches Kalkül erfahren, das uns klar machte, dass wir nur Mittel zum Zweck waren. Dieser Eindruck ist nicht nur bei uns entstanden. Auch Kolleg*innen an anderen Content-Moderation-Standorten teilen unsere Erfahrungen.
Dank der hervorragenden Arbeit von Dr. Milagros Miceli (Weizenbaum-Institut, DAIR), Julia Kloiber (Superrrr) und ihren Teams hatten wir die Möglichkeit, uns zu vernetzen und
auszutauschen. Ihr Engagement und ihre echte Unterstützung haben uns gezeigt, wie wichtig es ist, Menschen nicht nur als Zahlen zu sehen, sondern als Individuen mit echten Bedürfnissen. Die Zusammenarbeit hat uns gezeigt, dass es auch anders geht – dass man Solidarität und Menschlichkeit tatsächlich leben kann. Verdi könnte von ihnen eine Menge lernen, doch stattdessen hat sich die Gewerkschaft durch ihre Ignoranz und kurzsichtige Strategie selbst ins Abseits gestellt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Unterstützung in dieser wichtigen Angelegenheit.
Mit freundlichen Grüßen,
Content-Moderator*innen von Meta bei (redigiert) in Deutschland
Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
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Elektronische Patientenakte: Widerspruch im Keim erstickt
Im Februar 2025 kommt die elektronische Patientenakte für alle, die ihr nicht widersprechen. Die Krankenkassen sind verpflichtet, ihre Versicherten darüber neutral zu informieren. Dieser Pflicht kommen sie in vielen Fällen nicht nach, wie der Verbraucherzentrale Bundesverband herausfand.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf Werbetour für die „ePA für alle“ – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / photothekDie „elektronische Patientenakte für alle“ (ePA) wird gut angenommen, könnte man meinen. Laut der größten deutschen Krankenversicherungen hat bislang nur ein Prozent der Versicherten ihrer Einrichtung widersprochen. Die Verhältnisse scheinen sich damit umzukehren: Bislang nutzt gerade einmal gut ein Prozent der Versicherten in Deutschland die elektronische Patientenakte.
Der geringe Widerspruch hat offensichtlich seine Gründe. Der Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. (vzbv) hat die Anschreiben mehrerer gesetzlicher Krankenkassen an ihre Versicherten analysiert.
Die Schreiben werden in mehrerer Hinsicht nicht den gesetzlichen Anforderungen gerecht, urteilt der Verband. Die Kassen würden weder umfassend noch neutral über die ePA aufklären. Eine informierte Entscheidung der Versicherten sei auf dieser Grundlage nicht möglich. Auch die Möglichkeiten, Widerspruch gegen die ePA einzulegen, würden die Kassen unzulässigerweise beschränken.
Die gesetzliche Pflicht, zu informierenSchon in gut zwei Monaten, im Februar 2025, soll die ePA bundesweit starten. Dann erhalten alle Versicherten eine digitale Akte, die im sogenannten Opt-out-Verfahren nicht widersprechen.
Die ePA soll sämtliche Informationen rund um die Gesundheit gebündelt speichern – von vergangenen Behandlungen und Operationen, früheren MRT-Aufnahmen bis zu verschriebenen Medikamenten. Widersprechen Patient:innen nicht, werden die persönlichen Gesundheitsdaten außerdem pseudonymisiert zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt.
Zuvor müssen die gesetzlichen Krankenkassen ihre Versicherten über die Chancen und Risiken der ePA umfassend informieren – und zwar „in präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form“. So will es das Gesetz, konkret Paragraph 343 Absatz 1a Sozialgesetzbuch (SGB).
Dieser Pflicht kommen die Krankenkassen offenbar aber nur unzureichend nach. Insgesamt 14 Schreiben aus dem Zeitraum von Ende August bis Anfang Oktober hat der vzbv untersucht. Dabei fielen ihm wiederholt unvollständige, missverständliche und irreführende Aussagen zur ePA ins Auge.
Automatisch sicher?So geben die Versicherungen unter anderem an, dass die ePA zu einer besseren medizinischen Versorgung, einfacherer Notfallversorgung und mehr Behandlungssicherheit führen würden.
Diese Vorzüge seien aber weder von einer digitalen Akte abhängig, noch würden sie sich automatisch einstellen, wie der vzbv in seiner Analyse betont. Vielmehr brauche es dafür besondere Rahmenbedingungen. Auch dass die ePA zu Beginn nur wenige Funktionen bereitstellt, sagen die Kassen nicht. So funktioniert etwa der digitale Impfpass derzeit noch nicht.
Bei den Themen Datensicherheit und Datenschutz könnten die Aussagen der Kassen ebenfalls zu Fehlannahmen führen. So schreibt etwa die HKK Krankenkasse: „Die ePA ist Ihr persönlicher, lebenslanger, digitaler Aktenordner für medizinische Dokumente, hochsicher und geschützt.“
Das aber klammere laut vzbv aus, dass die Versicherten selbst für die Sicherheit ihrer Endgeräte verantwortlich sind. Dass Gesundheitsdaten mehr wert sind als Kreditkartendaten und zunehmend ins Visier von Kriminellen geraten, lassen die Kassen ebenfalls unerwähnt.
Dabei haben mehrere Organisationen Ende vergangenen Jahres in einem offenen Brief vor den Risiken der geplanten Gesundheitsdigitalisierung für die IT-Sicherheit und die Privatsphäre der Versicherten gewarnt. Unterzeichnet haben den Brief unter anderem der Verbraucherzentrale Bundesverband, die Deutsche Aidshilfe und der Chaos Computer Club.
Soll ich’s wirklich machen oder lass ich’s lieber sein?
Die AOK Bayern schreibt derweil: „Nur Sie und Personen, die Sie festlegen, haben Zugang, beispielsweise ärztliches Personal oder Familienangehörige. Ihre AOK hat keinen Zugriff.“
Tatsächlich aber „können alle behandelnden und berechtigten Leistungserbringer auf die Daten der ePA zugreifen, sofern deren Zugriff durch die Versicherten nicht aktiv widersprochen wurde“, wie der vzbv schreibt.
Konkret: Standardmäßig erhalten Ärzt:innen die Berechtigung, 90 Tage lang auf die ePA zuzugreifen, sobald Patient:innen ihre elektronische Gesundheitskarte in das Lesegerät einer Praxis stecken. Auch Apotheken, der öffentliche Gesundheitsdienst und Arbeitsmediziner:innen dürfen drei Tage lang auf die ePA zugreifen.
Wenn Versicherte den Zugang zu bestimmten Dokumenten nicht von Hand sperren, heißt das: Die Apotheke kann drei Tage lang alles einsehen – vom Therapiebericht bis zum Schwangerschaftsabbruch.
Widersprüchliches zum WiderspruchWeitere Verwirrung stiften die Briefe laut vzbv beim Thema Widerspruchsrecht.
Zum einen variieren die von den Krankenkassen vorgeschlagenen Möglichkeiten, Widerspruch gegen die ePA einzulegen. Mal verweisen sie per QR-Code auf ein Online-Formular, ein anderes Mal kann ein Widerspruch nur postalisch erfolgen. Keines der Anschreiben, das der vzbv in Augenschein genommen hat, informiert indes über die Möglichkeit des telefonischen Widerspruchs.
„Die Krankenkassen dürfen den Versicherten nicht vorschreiben, wie der Widerspruch gegen die ePA zu erfolgen hat“, sagt Thomas Moormann, Gesundheitsexperte im vzbv. „Das setzt unangemessene Hürden und entspricht nicht den gesetzlichen Vorgaben.“
Auch die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) hatte Mitte Oktober in einem Rundschreiben explizit darauf hingewiesen, dass ein Widerspruch gegen die ePA „mittels sämtlicher Kommunikationskanäle“ und damit auch telefonisch erfolgen kann.
Widerspruch und Löschung ist jederzeit möglichAuch zum Widerspruchszeitraum äußern sich die Versicherungen widersprüchlich. Mal nennen Kassen ein konkretes Datum, mal fehlt es, mal räumen sie eine Frist von unterschiedlich vielen Wochen ein. Das führt aus Sicht des Verbraucherzentrale Bundesverbands zu einer Ungleichbehandlung der Versicherten.
Eine Gleichbehandlung gibt es immerhin hinsichtlich des Hinweises, dass ein Widerspruch oder eine Löschung der ePA jederzeit möglich ist. Er fehlt in allen Briefen.
Aus Sicht des vzbv reichen die Schreiben an die Versicherten nicht aus: „Damit Patient:innen eine informierte Entscheidung für oder gegen die ePA treffen können, müssen sie auch die möglichen Risiken kennen“, sagt Thomas Moormann. „Und sie müssen wissen, welche Anwendungen ihnen ab Januar tatsächlich zur Verfügung stehen. Die Krankenkassen wecken hier zum Teil falsche Erwartungen.“
Weiterführende Links
Hier sind weitere Links mit Informationen zur elektronischen Patientenakte sowie deren Vor- und Nachteilen:
- Bündnis widerspruch-epa.de
- Deutsche Aidshilfe: Dossier zur ePA
- gematik: FAQ zur ePA
- Bundesgesundheitsministerium: Die elektronische Patientenakte für alle
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