Flüchten oder Standhalten?
Anpassung, Überanpassung und die Angst dahinter
von Udo Brandes | Verantwortlicher: Redaktion NachDenkSeiten
So heißt ein sozialpsychologischer Klassiker, den der 2011 verstorbene Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter geschrieben hat. Richter fragt darin, wodurch der Mensch eingeschüchtert wird und wie er sich dagegen wehren kann. Dieses Buch, das vor 44 Jahren erstmals erschien, ist heute so aktuell wie 1976. Unser Autor Udo Brandes hat das Buch deshalb noch einmal für die NachDenkSeiten gelesen und ist der Meinung: Auch wenn der Text phasenweise etwas spröde zu lesen ist: Diese Lektüre lohnt sich. Sie ist nicht nur aus politischen Gründen wichtig, sondern kann auch so etwas wie eine philosophische Lebenshilfe sein.
Anpassung, Überanpassung und die Angst dahinter
Ein Essay von Udo Brandes
Sicherlich haben Sie auch schon mal den Nudel-Sketch von Loriot gesehen. Loriot karikiert darin einen Spießer, der seiner Angebeteten Hildegard eine Liebeserklärung macht. Dieser Spießer wirbt unter anderem mit folgenden Worten für sich: „Warum übernehme ich denn in zwei Wochen die Einkaufsabteilung? Weil ich eine saubere Weste habe! Weil ich politisch in Ordnung bin!“
Der eigentliche Witz an diesem Sketch ist, dass er im Grunde keine Karikatur ist, sondern ein Abbild der Realität. Loriots Spießer leidet nicht an dem Anpassungszwang, dem er unterliegt. Nein, er ist im Gegenteil sogar stolz auf seine Anpassungsleistung und sieht darin einen Pluspunkt seines Charakters. Loriots Darstellung dieses Spießers ist für den Zuschauer natürlich nicht dazu angetan, sich mit ihm zu identifizieren. Wahrscheinlich werden auch diejenigen, die sich in der Realität tatsächlich so verhalten, über diesen Spießer lachen. Was Loriot in seinem Sketch so wunderbar in Szene gesetzt hat, ist in der Realität aber nicht amüsant, sondern oft ein Grund zum Verzweifeln und Leiden. Sie haben in ihrem sozialen Umfeld sicher auch schon Zeitgenossen kennengelernt, die immer die richtige Meinung haben. Nämlich die der jeweiligen Chefs, der Mehrheit, der Gruppe, kurz: der Machtautoritäten.
Ein typischer Satz eines solchen Zeitgenossen wäre dieser (hat tatsächlich mal jemand zu mir gesagt!): „Was dem Arbeitgeber nützt, nützt auch dem Arbeitnehmer“. Oder, um im Journalismus zu bleiben: Es gibt politische Journalisten, die perfekt die Kunst beherrschen, nichtssagende Kommentare zu schreiben, ohne jemals wirklich Position zu beziehen. Kommentare, mit denen sie garantiert niemals „oben“ anecken.
Nun muss man fairerweise anmerken, dass solche Anpassungsleistungen natürlich kein alleiniges Charakteristikum der Medienbranche sind, sondern überall in der Gesellschaft verbreitet sind. Und auch nicht nur bei biederen Kleinbürgern, sondern auch und gerade im Bildungsbürgertum und bei Intellektuellen. Dort wird die Anpassung nur eleganter verpackt und rhetorisch geschickter verkauft. Und auch im politisch linken Spektrum der Gesellschaft gibt es natürlich Zeitgenossen, hinter deren kritischer Fassade ein autoritärer und angepasster Charakter steckt. Nur ist eben das Vorzeichen ein anderes.
► Von der Anpassung zur Überanpassung
Das Bedrückende an sehr angepassten Menschen ist weniger, dass sie sich am Arbeitsplatz in ihrem Verhalten äußerlich anpassen, weil sie Angst haben, anzuecken und ihren Job zu verlieren. Denn jeder muss schließlich sein Brot verdienen, und die Alternative Hartz-4 ist wahrlich keine schöne Alternative. Aber was ich immer nur schwer verstehen konnte:
• Wieso geht das so weit, dass auch im Privatleben eine entsprechend angepasste Meinung vertreten wird?
• Wieso also passen Menschen nicht nur ihr äußeres Verhalten am Arbeitsplatz an, sondern denken und fühlen häufig auch so, wie ihre Chefs es von ihnen erwarten?
• Anders ausgedrückt: Wie ist es zu erklären, dass so viele Menschen sich nicht nur anpassen, um im System zu überleben, sondern überanpassen und sich die Erwartungshaltungen ihrer Machtautoritäten zu eigen machen – und zu einem Spiegelbild ihrer Machtautoritäten werden?
Und damit wären wir bei der zentralen These des sozialpsychologischen Klassikers „Flüchten oder Standhalten“ von Horst-Eberhard Richter. Er erschien vor 44 Jahren, also 1976. Und ist heute noch so aktuell, als wäre das Manuskript erst gestern abgeschlossen worden. (Und es ist erfreulicherweise immer noch im regulären Buchhandel erhältlich. Die genauen bibliographischen Daten siehe unten am Ende des Textes).
► Wovon handelt das Buch?
Richter störte sich daran, dass seine Zunft, die Psychoanalytiker, die psychischen Probleme und Lebenskonflikte von Menschen primär mit traumatischen Kindheitserlebnissen und mangelnder „seelischer Reife“ erklärten und die Bedeutung des Sozialen für psychische Probleme völlig vernachlässigten.
Ganz nach dem Motto „Ist die Kindheit erst aufgearbeitet, haben wir einen reifen, psychisch stabilen Erwachsenen“:
„Diese illusionäre Phantasie von einem souveränen Verhältnis des Individuums zur sozialen Wirklichkeit wird u. a. auch daran erkennbar, dass die psychoanalytische Theorie lange Zeit überhaupt nur die Umweltkonstellationen des Kindes und des Jugendlichen als wirksame Konfliktfaktoren betrachtet hat. Das machte deutlich, dass man der Umwelt der Erwachsenen gar keine neuartigen und spezifischen Einflussmöglichkeiten auf das seelische Leben zutraute“ (Richter 2001, S. 10).
Es lasse sich aber nicht ernsthaft bestreiten, dass die soziale Umwelt als psychisch wirkender Faktor ein Eigengewicht habe und ebenso psychische Konflikte auslösen könne wie traumatische Kindheitserlebnisse:
„Es gibt demnach eine Selbsttäuschung des naiven Individuums, das an Stelle der gegenwärtigen sozialen Realität immer wieder nur seine projezierten Kindheitsprobleme vor sich sieht. Und es gibt die andere Selbsttäuschung, u. a. mancher Analytiker, welche umgekehrt daran glauben, die soziale Welt des Erwachsenen wiederhole nur in zahlreichen Variationen die Konfliktkonstellationen der Kindheitsphase“ (Richter 2003, S. 10-11).
Der Erwachsene sei aber mit einer Fülle von neuartigen sozialen Bedingungen konfrontiert, für deren Bewältigung die in seiner Kindheit gelernten Verhaltensmuster nicht ausreichten. Er müsse deshalb neue Antworten auf Fragestellungen finden, die sich zum Beispiel in der Arbeitswelt und politischen Vorgängen ergäben. Richters Schlussfolgerung:
„Die Psychoanalyse hat sich also gegen zwei Gefahren zugleich zu wenden. Einmal gegen die Gefahr, dass Menschen anstatt mit sozialer Wirklichkeit immer nur mit Abspiegelungen ihrer unbewältigten, aus der kindlichen Vergangenheit herrührenden Schwierigkeiten umgehen. Im anderen Falle gegen die Gefahr, dass Menschen umgekehrt selbst unbewusst zu psychischen Spiegelbildern der sozialen Mächte werden, die von außen auf sie wirken“ (Richter 2001, S. 16).
Warum aber wird das enorme Eigengewicht des Sozialen auf die Psyche des einzelnen Menschen so gerne verleugnet? Richter meint:
„Es ist offenbar schon schlimm genug, dass wir materiell von der äußeren Realität in unseren Lebensmöglichkeiten allenthalben eingeengt werden. Deshalb ist es unser dringendes Bedürfnis, uns wenigstens seelisch autonom und hinreichend widerstandsfähig gegen äußeren Druck zu wissen. Die Vorstellung auch noch in unserem Denken, Fühlen und in unserem moralisch relevantem Verhalten von außen hochgradig unbewusst manipulierbar zu sein, mutet unerträglich an“ (Richter 2001, S. 18).
► Isolationsangst ist ein psychisch hochgradig wirksamer Faktor
Wenn man dieses Zitat liest, dann wird einem klar, wieso so viele Journalisten sich selbst für ausgesprochen kritische Geister halten und meinen, sich niemals angepasst zu haben. Dies ist nach Richter eindeutig eine angstbedingte Verleugnung. In der Realität sei aber Isolationsangst ein hochgradig psychisch wirksamer Faktor, der ständig in Schach gehalten werden müsse:
„Der Einzelne kann seine Angst dadurch leidlich in Schach halten, dass er sich durch eine konformistische Anklammerung an schützende Partner, Gruppen, Institutionen einen Zustand von unzerstörbarer Geborgenheit suggeriert. Unsere Neigung, die Bedeutung dieser Anklammerung für unsere Selbstsicherheit zu bagatellisieren, erklärt sich sehr einfach aus dem Grund, dass wir das Ausmaß unserer realen Gefährdung nicht ertragen können“ (Richter 2001, S. 20).
Mit anderen Worten: Wir Menschen sind zutiefst soziale Wesen und für unsere emotionale Stabilität darauf angewiesen, uns „im Außen“ auf etwas stützen zu können. Einen Arbeitsplatz, sichere soziale Kontakte, eine Wohnung usw. usf. Und selbst wenn in unserer äußeren Stützmauer nur wenige Steine wegbröckelten, könne dies schon unbewusst Isolationsangst auslösen.
Richter erklärt mit einem interessanten Beispiel, dass die Isolationsangst bei jedem Menschen existiert und auf ihn einwirkt wirkt. Der Angstneurotiker habe eine übertriebene Angst vor etwas, zum Beispiel eine übertriebene Angst, einen Herzinfarkt zu bekommen, obwohl mit medizinischen Tests belegt wurde, dass er ein völlig gesundes Herz hat. Ein „normaler“ Mensch sei dazu geneigt, diese Angst zu belächeln, übersehe aber, dass er unter einem umgekehrten Symptom leide: Einem übertriebenen Sicherheitsgefühl. Dass er also nicht wahrnehme, wie sehr auch seine eigene psychische Stabilität von äußeren Faktoren abhänge und wie schnell diese erschüttert werden könne. Oder, um es in Richters Worten zu sagen: Wir sind verletzlicher durch Isolation, als wir glauben.
► Was bedeutet dies alles für unsere Gesellschaft und ihre Institutionen?
Wenn Isolationsangst so mächtig in allen Menschen wirkt, dann wird klar, dass Anpassung für die meisten Menschen der einzige Weg ist, damit fertig zu werden. Dementsprechend vertritt Richter die These, dass Hörigkeit kein Ausnahmefall ist, sondern ein Merkmal des durchschnittlichen Menschen.
Ein anderer Weg, Isolationsangst zu bekämpfen, ist es, sich Macht über andere Menschen anzueignen. Richter beleuchtet dies anhand des Karrieristen in sozialen Berufen, weil ihm diese besonders vertraut waren.
„Das psychoanalytische Studium solcher Karrieristen zeigt, dass sie ursprünglich meist besondere Ängste haben, sich in einer Gruppe von Gleichgestellten zu behaupten. Sie leiden unter maßlos gesteigerten Befürchtungen, gedemütigt und kleingemacht zu werden. Nur wenn sie eine Gruppe von oben kontrollieren können, fühlen sie sich einigermaßen sicher, dass sie von anderen nicht kaputtgemacht werden. Deshalb können sie eigentlich von vornherein keine echten Freundschaften schließen, und für sie bedeutet die Wahl eines sozialen Berufes tatsächlich eher die Sicherung einer überlegenen Position, die man als Lehrer, Arzt oder dergleichen gegenüber Schülern oder Patienten hat“ (Richter 2001, S. 205).
Dieser angstgetriebene Ehrgeiz hat nach Richter Folgen für die Gesellschaft:
„Überdurchschnittliche Aussichten zum Erklimmen von Führungspositionen haben diejenigen, die im Grunde mehr Ängste als andere Menschen haben, sich unbefangen in Gruppen zu integrieren, in denen sie nicht eine besonders verwöhnende Beschützung genießen. Ihre angstbedingte Unfähigkeit zu einem solidarischen Verhalten lässt sie den Weg nach oben suchen und finden, wo es ihnen letztlich nur um die Machtmittel geht, sich die Mitmenschen vom Leibe zu halten, vor denen sie sich auf gleicher Ebene bedroht fühlen“ (Richter 2001, S. 205).
► Warum sollte man sich nicht in die Anpassung flüchten, sondern standhalten?
Warum sollte man sich überhaupt die Mühe machen, sich im Beruf, in der Politik und sonstigen relevanten Zusammenhängen gegen sachlich unvernünftige Forderungen zu wehren und zu widersetzen? Sich also nicht in die Anpassung flüchten, obwohl es doch vielleicht das bequemere Leben bedeutet? Meine Antwort darauf ist: Wer sich immer wieder beliebig anpasst, auch wenn er sieht, dass dies in der Sache falsch ist, der verliert sein Ich und weiß am Ende nicht mehr, wer er ist. Außerdem verliert man durch stetige Anpassungsbereitschaft das Vertrauen in sich selbst und seine Selbstsicherheit.
Umgekehrt macht es einen stärker, wenn man lernt, sich zu widersetzen. Dies allerdings sollte man auch nicht blind machen, sondern auf Basis genauer Beobachtung des eigenen sozialen Umfelds. Mit anderen Worten: Mit politischem Gespür dafür, was möglich ist, und wie man es durchsetzen kann. Man muss sich also durchaus auch mit der Theorie und Praxis der Macht beschäftigen.
Horst-Eberhard Richter hat übrigens in einem anderem Buch ("Bedenken gegen Anpassung. Psychoanalyse und Politik") folgende Antworten darauf gegeben:
„Es gibt eine kreisförmige Wechselbeziehung zwischen Machen und Erkennen. Wenn man nicht macht, was man als notwendig, wenn auch mit persönlichen Unannehmlichkeiten behaftet, erkannt hat, dann kann man irgendwann auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist.
Wer Anpassungszwängen taktisch nachgibt, wohl wissend, dass er ihnen mit vertretbaren Risiko widerstehen könnte und auch sollte, wird nach und nach die Unzumutbarkeit von Anpassungsforderungen gar nicht mehr wahrnehmen, das heißt, die eigene Gefügigkeit auch nicht mehr als Fluchtreaktion durchschauen. Alles erscheint normal: die Verhältnisse, denen er sich ergibt, und der Verzicht auf Gegenwehr, den er eben gar nicht mehr als Verzicht erlebt“ (Richter 1995, Bedenken gegen Anpassung, S. 7).
Auf dem Klappentext desselben Buches heißt es:
„Anpassung wird zu innerer Unfreiheit, wenn Menschen und Gruppen sich mit dem verwechseln, was durch äußeren Druck aus ihnen gemacht worden ist. Wer widerstehen will, muss an seiner Unterwerfungsbereitschaft ebenso arbeiten, wie an den Umständen, die falschen Gehorsam fordern. Wie schwierig, aber notwendig es ist, beides zugleich zu leisten, erfährt die Psychoanalyse aus ihrer eigenen Geschichte. Und wir erfahren es neuerdings alle, wenn wir erkennen, dass uns die Anstrengung, unsere eigenen Lebensformen zukunftsgerecht zu verändern, nicht erspart bleibt.“
► Demokratische Strukturen verändern die Psyche positiv
Sätze, die klingen, als hätte Richter sie erst gestern mit Bezug auf die Gegenwart des Jahres 2020 geschrieben. Aber Widerständigkeit ist nicht nur politisch und gesellschaftlich notwendig, sondern dies kann auch das individuelle Leben ganz konkret und fühlbar bereichern. Hören wir dazu noch einmal H.-E. Richter. Er beschreibt in seinem Buch sehr beeindruckend, wie sich das Arbeiten in einer veränderten institutionellen Struktur (nämlich die ehrenamtliche Mitarbeit in einer demokratisch strukturierten Initiativgruppe) auf sein Wohlbefinden und seine Lebensenergie ausgewirkt haben. Umgekehrt kann man an seiner Schilderung erkennen, wie sehr die Gesellschaft und ihre institutionellen Strukturen auf das Unbewusste des Einzelnen einwirken und einen Menschen von sich selbst entfremden können.
„Die Initiativgruppen-Mitarbeit belehrte mich indessen, dass ich mich als ‚Arbeitsmensch’ noch ganz anders fühlen und entfalten konnte, als ich es generell im Sektor Arbeit für möglich hielt. Vor allem erfuhr ich, dass mein Verhalten in der Institution, mit dem ich mich bislang voll identifiziert glaubte, zu einem erheblichen Teil von unbewusster Assimilierung fremder, institutionsabhängiger Einflüsse durchsetzt war.
Mir wurde daran also offenbar, dass derartige soziale Einflüsse unbewusste Wirkungen von großer Tragweite haben können. Ich erkannte, dass ich in meiner hauptberuflichen Tätigkeit einer psychischen Selbstentfremdung unterlag, die mir in diesem Ausmaß nie klargeworden war. Ich war z. B. daran gewöhnt, auf äußere Störungen von Gruppengesprächen mit einer gewissen nervösen Ungeduld zu reagieren. Stundenlange Konferenzen und Verhandlungen ermüdeten mich ungemein.
Es schien mir sicher, dass diese Merkmale lediglich durch meine emotionelle Struktur und den Einfluß des Lebensalters bedingt waren. Jetzt merkte ich aber plötzlich in der Initiativgruppe, dass ich in manchen höchst turbulenten und nahezu chaotischen Gruppensituationen kaum meine innere Gelassenheit verlor und erstaunt registrierte, dass andere viel mehr beunruhigt wurden. Verblüfft war ich auch darüber, dass ich stundenlange nächtliche Diskussionen und Verhandlungen über wichtige Entscheidungen ohne nennenswerte Ermüdung überstehen konnte. Im Gegenteil, manchmal fühlte ich mich nach drei-, vierstündiger Arbeit in kleinen Gruppen und im Plenum so frisch und erholt wie selten.
Die Veränderung meiner sozialen Rolle, vor allem aber das belebende offene Klima der Spontangruppen-Arbeit legten in mir psychische Möglichkeiten frei, an die ich gar nicht mehr geglaubt hatte. Besonders interessant fand ich auch, dass ich mich meist den anderen ‚Freiwilligen’ trotz der durchschnittlich größeren Altersdifferenz näher fühlte, als den ‚Hauptamtlichen’, wobei sich eben die Funktion in der Gruppe gegen sonstige Motivationsbedingungen durchsetzte“ (Richter 2001, S. 212).
► Letzte Schlussfolgerungen:
Es gehört viel psychische Kraft und Energie dazu, widerständig zu sein und sich nicht anzupassen. Also nicht stets bereit zu sein, die Erwartungen der Machtautoritäten, denen man ausgesetzt ist, zu erfüllen. Aber frei zitiert nach dem Kabarettisten Christoph Sieber: Wer immer brav und gehorsam ist, den belohnen Eltern, Lehrer und Chefs. Wer widerständig ist, den belohnt das Leben. Deshalb lohnt es sich, meine ich, sich für Widerständigkeit statt für Anpassung zu entscheiden. Nicht aus Selbstzweck und bei jeder Gelegenheit. Sondern dann, wenn es wirklich notwendig ist.
Ganz wichtig dafür ist ein menschliches Umfeld, das ähnlich denkt und fühlt und die gleiche Lebensphilosophie vertritt. Dies ist aber, das ist ja nun mal für die meisten eine alltägliche Erfahrung, keine Selbstverständlichkeit. Viele Menschen fühlen sich deshalb geistig isoliert, was nicht gerade der Lebensfreude und Lebenslust dienlich ist. In so einer Situation kann das Lesen eine ganz wichtige Quelle für Lebenskraft und Lebensenergie auch im Sinne von Standhalten sein.
Die Lektüre politischer Literatur in einem umfassenden Sinne (womit ich auch soziologische, philosophische oder eben sozialpsychologische Texte wie den von Richter meine) kann von Selbstzweifeln und einer niederdrückenden Stimmung befreien und Kraft geben. Weil man merkt: Ich bin nicht allein und nicht der verrückte Spinner, den mein soziales Umfeld (vielleicht) in mir sieht. Dies kann einem die Kraft geben, Widerstandsgeist zu entwickeln bzw. aufrecht zu erhalten.
Damit sind die Konflikte, die sich aus einem „widerständigen Leben“ ergeben, zwar noch nicht gelöst. Aber eine solche Lektüre verhilft zu mehr innerer Autonomie. Und die ist Voraussetzung, um seelische Kräfte für widerständiges, nonkonformistisches Verhalten zu mobilisieren. Welches wiederum notwendig ist, um sich im Interesse der eigenen Freiheit und des eigenen Glücks gesellschaftlichen oder familiären Erwartungen zu entziehen, um ein wirklich eigenes Leben zu leben. Denn wenn man eines Tages auf sein Leben zurückblickt, kommt es nicht darauf an, dass alles darin zu einhundert Prozent so war, wie es sein sollte bzw. wie man es sich gewünscht hat. Sondern, dass man sagen kann: „Ja, ich habe ein Leben geführt, das ich nicht bereue. Weil es trotz aller äußeren Zwänge, Notwendigkeiten und Defizite ein Leben war, von dem ich sagen kann: Ja, es war mein Leben.“
Deshalb kann ich das Buch von Richter nicht nur jedem politisch denkenden Menschen wärmstens ans Herz legen. Es kann darüber hinaus auch so etwas wie eine philosophische Lebenshilfe sein. Die Lektüre lohnt sich in jedem Fall, auch wenn der Text phasenweise etwas spröde geschrieben ist.
► H.-E. Richters Thesen im Überblick:
• Wir sind in Gefahr, uns unbewusst in ein Spiegelbild der uns manipulierenden Mächte zu verwandeln.
• Wir sind verletzlicher durch Isolation, als wir glauben.
• Aus eigener Isolationsangst verschulden wir unbewusst die Isolationsschäden anderer.
• Hörigkeit ist kein Sonderfall, sondern ein Merkmal des durchschnittlichen Menschen.
• Wir müssen unsere Verführbarkeit und die verführenden anonymen Mächte zu kontrollieren lernen.
• Wir können uns nur verändern, wenn wir unsere Arbeit verändern.
• Wir brauchen mehr gemeinschaftliche, ganzheitlichere und spontanere Arbeit.
• Initiativen von unten sind notwendig, unterstützende strukturelle Reformen unumgänglich.
Horst-Eberhard Richter: "Flüchten oder Standhalten", Psychosozial-Verlag (5. Auflage 2012, ISBN-13: 978-3-8379-2212-7; meine Ausgabe von 2001), 315 Seiten, 22,90 Euro
Horst-Eberhard Richter: "Bedenken gegen die Anpassung, Psychoanalyse und Politik". Hoffmann und Campe 1995 (gebunden, ISBN3-455-11067-3) oder Fischer Taschenbuch Verlag 1998 (tb, ISBN 3-596-13402-1.) - nur noch bei Leihbibliotheken oder sehr preiswert antiquarisch, z.B. bei BOOKLOOKER.de >> hier.
Udo Brandes
______________
Udo Brandes studierte u. a. am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin Politikwissenschaft und schloss sein Studium dort als Dipl.-Politologe ab. Anschließend arbeitete er unter anderem als Pressesprecher für ein großes Forschungsinstitut und als Redenschreiber für Oldenburger Oberbürgermeister. Seit 2008 ist er auf verschiedenen Feldern freiberuflich tätig. Als Journalist arbeitet er für klassische Medien und unterstützt als Textredakteur Werbeagenturen und Unternehmen. Darüber hinaus ist er Spezialist für Storytelling-Marketing und berät mit diesem Konzept Dienstleistungsunternehmen bei ihrer Neukundenwerbung.
► Quelle: Dieser Text erschien als Erstveröffentlichung am 09. Januar 2020 auf den „NachDenkSeiten – die kritische Website“ >> Artikel. Die Formulierungen der Übernahmebedingung für Artikel der NachDenkSeiten änderte sich 2017 und 2018 mehrfach. Aktuell ist zu lesen:
"Sie können die NachDenkSeiten auch unterstützen, indem Sie unsere Inhalte weiterverbreiten – über ihren E-Mail Verteiler oder ausgedruckt und weitergereicht. Wenn Sie selbst eine Internetseite betreiben, können Sie auch gerne unsere Texte unter Nennung der Quelle übernehmen. Schreiben Sie uns einfach kurz an redaktion(at)nachdenkseiten.de u. wir geben Ihnen gemäß unserer Copyrightbestimmungen eine Erlaubnis."
KN-ADMIN Helmut Schnug suchte zur Rechtssicherheit ein Gespräch mit Albrecht Müller, Herausgeber von www.Nachdenkseiten.de und Vorsitzender der Initiative zur Verbesserung der Qualität politischer Meinungsbildung (IQM) e. V. Herr Müller erteilte in einem Telefonat und nochmal via Mail am 06. November 2017 die ausdrückliche Genehmigung. NDS-Artikel sind im KN für nichtkommerzielle Zwecke übernehmbar, wenn die Quelle genannt wird. Herzlichen Dank dafür.
ACHTUNG: Die Bilder, Grafiken, Illustrationen und Karikaturen sind nicht Bestandteil der Originalveröffentlichung und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. folgende Kriterien oder Lizenzen, s.u.. Grünfärbung von Zitaten im Artikel und einige zusätzliche Verlinkungen wurden ebenfalls von H.S. als Anreicherung gesetzt.
► Bild- und Grafikquellen:
1. Horst-Eberhard Richter (Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, * 28. April 1923 in Berlin; † 19. Dezember 2011 in Gießen). Foto: Stephan Röhl. Quelle: Flickr. (Account des Heinrich-Böll-Stiftung e.V., hbs). Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0).
2. "Wer mit der Herde geht, kann nur den Ärschen folgen!" - "Following the herd means following asses!" Foto ohne Text: Vladimer Shioshvili from Tbilisi, Georgia. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0). Digitale Einbindung des Textes: Wilfried Kahrs (WiKa), QPRESS. Bildidee: KN-ADMIN Helmut Schnug.
3. "Flüchten oder Standhalten", von Prof. Dr. med., Dr. phil. Horst-Eberhard Richter; Psychosozial-Verlag in 5. Aufl. 2012, 315 Seiten, ISBN-13: 978-3-8379-2212-7, € 22,90.
In Flüchten oder Standhalten fragt Horst-Eberhard Richter, wodurch der moderne Mensch eingeschüchtert wird und wie er sich dagegen wehren kann. Als Arzt und Psychoanalytiker will er nicht nur Diagnosen stellen, sondern auch Therapien anbieten. Er hält ein hilfreiches Plädoyer gegen die Flucht und für das Standhalten. Worauf es im schwierigen Prozess des gemeinsamen Selbstbewusstwerdens ankommt, fasst er in seinen zentralen Thesen zusammen.
4. Traumatische Kindheitserlebnisse wie Angst, Gewalt, psych. und sexueller Missbrauch, Armut, Ausgrenzung, Mobbing . . . Die Bedeutung des Sozialen für psychische Probleme wird laut Horst-Eberhard Richter völlig vernachlässigt. Ganz nach dem Motto „Ist die Kindheit erst aufgearbeitet, haben wir einen reifen, psychisch stabilen Erwachsenen“. Foto: Petra / Pezibear, Österreich. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.
5. FUD = Fear, Uncertainty and Doubt: Befreien Sie sich von FUD, einem wirkmächtigen Werkzeug. Angst, Unsicherheit / Ungewissheit und Zweifel (FUD) haben einen starken Einfluss auf den Menschen. Angst selbst ist eine zutiefst starke Emotion, die spezifische Reaktionen im Gehirn hervorruft, und Unsicherheit und Zweifel sind Gefühle, die ihre Handlungen, die Handlungen von Mitarbeitern und Ihre Geschäftsabläufe beeinflussen.
Der jüngste Einsatz von FUD kann in der politischen Arena durch die Verbreitung ausgewählter Informationen und Fehlinformationen. FUD kann verwendet werden, um den Kauf von Produkten und den erzielbaren Gewinn zu beeinflussen. Es kann auch gegen Mitarbeiter für eine Reihe von Zwecken verwendet werden, von der Auslösung von Meinungsverschiedenheiten über betriebliche Veränderungen bis hin zur Inspiration eines Mitarbeiters, Informationen und Zugang zu Ihrem Netzwerk bereitzustellen.
Jeder Aspekt von FUD kann als Methode der Gefühlsentführung verwendet werden, bei der der Teil des Gehirns, der für Emotionen verantwortlich ist, mit einem emotionalen Auslöser überflutet wurde und in seinem überwältigten Zustand seine Fähigkeit zur Vernunft durch die emotionale Reaktion dramatisch reduziert wird. Amygdala ist ein paariges Kerngebiet des Gehirns, auch Mandelkern genannt. Die sog. Amygdala-Entführung kann in einer Vielzahl von psychologischen Verhaltensweisen rund um FUD gesehen werden.
Ein Beispiel ist der Backfire-Effekt, bei dem der langjährige Glaube eines Menschen in Frage gestellt wird, der stark und emotional reagiert, indem er seine vorgefassten Ideen verdoppelt. Dies kann genutzt werden, um Einzelpersonen und Personengruppen zum Handeln zu bewegen und zu provozieren. Darüber hinaus verursacht das Einflößen von Angst in ein Individuum eine Flucht- oder Kampfreaktion, und wenn die präsentierte Bedrohung groß genug ist, wird das Individuum reagieren, ohne nachzudenken.
Zwei weitere Beispiele für FUD:
1. Der von Neoliberalen vorausgesagte Anstieg der Arbeitslosigkeit durch Einführung eines Mindestlohnes hat sich als FUD-Demagogie erwiesen.
2. In Griechenland wurden den neoliberalen Forderungen der Troika nach Lohnsenkungen nachgegeben, weil damit angeblich durch Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit die Arbeitslosigkeit verringert werden könne. Das krasse Gegenteil ist eingetreten: Die Arbeitslosigkeit stieg dramatisch! Scheren sich Neoliberale darum, indem sie derart Konsequenzen ziehen, dass nun Maßnahmen gegen die schlimmsten Auswüchse von Lohndumping (> Mindestlohn) nicht mehr per FUD diffamiert wird? Nein, offenkundig nicht.
FUD ist ein hinterhältiges Biest, jeder kann anfällig sein. FUD ist ein beliebter Motivator in vielen bösartigen Phishing-E-Mails und Vishing-Kampagnen (Phishing am Telefon), bei denen ein bösartiger Akteur die Angst nutzen kann, um eine sofortige Aktion einzuleiten. Wissen und kontinuierliche Weiterbildung sind die besten Waffen gegen FUD. An beidem scheitern Neoliberale kläglich. Grafik-Quelle: >> Artikel "Free Yourself From FUD" >> social-engineer.com.
6. „Nach oben buckeln und nach unten treten“. Carl Zuckmayer machte 1930 in seinem Theaterstück "Der Hauptmann von Köpenick" über einen Bürokraten die Metaphorik des Zweiradfahrens literaturfähig: "Das ist ein Radfahrer. Nach unten tritt er, nach oben buckelt er". Das Stück kritisiert die Obrigkeitshörigkeit, den Militarismus und den Respekt vor Uniformen – Haltungen, die es ermöglicht haben, dass man im Rathaus die Anweisungen des modernen "Eulenspiegel" befolgt hat. Foto / Strichzeichnung: Netzfund. (weltweit zu finden)
7. "Bedenken gegen Anpassung, Psychoanalyse und Politik" von Horst-Eberhard Richter, Hoffmann und Campe 1995 (gebunden, ISBN3-455-11067-3) oder Fischer Taschenbuch Verlag 1998 (tb, ISBN 3-596-13402-1.) - nur noch antiquarisch, z.B. bei BOOKLOOKER.de >> hier.
Der Psychiater und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter setzt sich seit jeher für die "Politische Psychoanalyse" ein, für eine Psychoanalyse, die sich als gesellschaftskritische Wissenschaft den Mut zu provozierenden Wahrheiten bewahrt. Er erklärt, warum psychische Befreiung nur in mitverantwortlicher Sorge für soziale Strukturen möglich ist. In diesem Zusammenhang untersucht er die destruktiven Einflüsse schwer durchschaubarer Machtmechanismen auf den einzelnen und auf Gruppen. Richter veranschaulicht seine Thesen mit Beispielen aus der Praxis.
Klappentext: „Anpassung wird zu innerer Unfreiheit, wenn Menschen und Gruppen sich mit dem verwechseln, was durch äußeren Druck aus ihnen gemacht worden ist. Wer widerstehen will, muss an seiner Unterwerfungsbereitschaft ebenso arbeiten, wie an den Umständen, die falschen Gehorsam fordern. Wie schwierig, aber notwendig es ist, beides zugleich zu leisten, erfährt die Psychoanalyse aus ihrer eigenen Geschichte. Und wir erfahren es neuerdings alle, wenn wir erkennen, dass uns die Anstrengung, unsere eigenen Lebensformen zukunftsgerecht zu verändern, nicht erspart bleibt.“
8. Prof. Dr. med., Dr. phil. Horst-Eberhard Richter ( * 28. April 1923 in Berlin; † 19. Dezember 2011 in Gießen). Foto: Stephan Röhl. Quelle: Flickr. (Account des Heinrich-Böll-Stiftung e.V., hbs). Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0).
9. Gliederpuppe (Gelenkpuppe) aus Vollholz, ein Naturprodukt aus schnell nachwachsendem Hemu-Hartholz, einer Pappelsorte aus dem asiatischen Raum. "Lesen ist eine Voraussetzung, um sich in unserer modernen, informationsbasierten Gesellschaft orientieren zu können. Das Lesenlernen ist jedoch ein langjähriger Prozess, den nicht jeder mit Leichtigkeit meistert, wie die PISA-Studien zeigen." Auszug aus dem Artikel "Was Kinder lesen – kognitive Konsequenzen und pädagogische Herausforderung" von Sascha Schroeder >> weiterlesen. Foto: EvgeniT, Evgeni Tcherkasski, Dortmund. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.