Über die Schwierigkeit des Koreaners, „ich“ zu sagen

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Über die Schwierigkeit des Koreaners, „ich“ zu sagen
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Über die Schwierigkeit des Koreaners, „ich“ zu sagen

von Herbert Ludwig / FASSADENKRATZER

ME-WE-ICH-WIR-Wirgefuehl-collectivism-collectivistic-culture-Gruppenkohaesion-Ma-um-Kollektivismus-Kritisches-Netzwerk-Gemeinschaftsgefuehl-GemeinschaftsgeistSchon mehrmals ist hier darauf hingewiesen worden, dass die Menschen der asiatischen Völker überwiegend noch in einem gruppenhaften Bewusstsein leben, in dem die Gesetze der Sippe, des Stammes, der blutsverwandten Gemeinschaft das Vorherrschende sind, denen der einzelne Mensch in seiner Lebensgestaltung untergeordnet ist. In ihm ist dementsprechend ein individuelles Ich-Bewusstsein nicht in dem Maße ausgebildet, wie es sich in den europäischen Völkern historisch entwickelt hat und Grundlage eines Freiheitsstrebens in allen Lebensgebieten geworden ist. Dies kommt natürlich auch in der Sprache zum Ausdruck und soll am Beispiel des Koreanischen aufgezeigt werden.

In der Schule und aus den Medien erfährt man solche Dinge gewöhnlich nicht. In betäubender Oberflächlichkeit werden nur politische, geographische und wirtschaftliche Zustände geschildert, aber nicht die seelisch-geistigen Besonderheiten der östlichen Völker, die allem äußeren Leben zugrunde liegen. Ihre Kenntnis macht erst ein menschliches Verständnis der Völker möglich, wie es für friedliche und fruchtbare Beziehungen grundlegend und unerlässlich ist.

Doch es gibt erfreuliche Ausnahmen. So druckte die Neue Züricher Zeitung am 3. März 2012 einen Artikel ab, der sachkundig und einfühlsam darüber handelt, dass es in der koreanischen Sprache kein Wort für das eigene Ich oder Selbst gibt. Autorin ist die in der Schweiz verheirateten Südkoreanerin Hoo Nam Seelmann, die tief in die deutsche und europäische Kultur eingetaucht ist, Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Saarbrücken studiert und über Hegels Geschichtsphilosophie promoviert hat. Aus diesem Abstand zur Sprache und Kultur ihrer Heimat, in der sie geboren und aufgewachsen ist, ermöglicht sie uns einen tiefen Einblick in Eigentümlichkeiten der koreanischen Seele.

► Das Ich

Die Autorin beschreibt zunächst sehr präzise, was das Ich, wie es sich in den europäischen Völkern entwickelt hat, im einzelnen ausmacht.

Die konkrete Gestalt dessen, was man heute als das Ich oder das Selbst bezeichnet, ist in Europa eine wichtige historische Errungenschaft. Diesem Selbst werden in der Regel folgende Eigenschaften zugeschrieben: Es ist eine Entität, mit sich identisch, um sich zentriert, sich der eigenen Einheit bewusst, autonom, strukturiert, einzigartig, wollend und agierend. Das Ich übt Kontrolle über die eigenen Gedanken, die Emotionen und das Handeln aus. Ein solches Selbst kann zum Gegenstand der Analyse und der Introspektion (nach innen gerichtete Beobachtung) gemacht werden. Es macht die unverwechselbare Identität eines Individuums aus. Die Sprache, die Erziehung und das kulturelle Umfeld verstärken in Europa das Kultivieren dieses Selbst.

Die unverwechselbare Identität des Individuums ist der eigentliche Wesenskern jedes Menschen, dem Leib und Seele als Instrumente untergeordnet sind. Sie zu kontrollieren und zu beherrschen, bzw. sich immer mehr von ihrer Fremdbestimmung zu befreien und sie in seine Beherrschbarkeit zu bringen, ist die Intention seiner ihm innewohnenden potentiellen Autonomie und Selbstbestimmung. Aber der Drang nach ihrer Realisierung und Behauptung ist absolut. Er richtet sich ebenso nach außen gegen die Gesellschaft, so lange sie seine in eigener Erkenntnis gegründete Autonomie ignoriert und ihn zum willenlosen Glied eines übergeordneten Gemeinschaftswillens macht.

Gesellschaft-Fremdbestimmung-Selbstbestimmung-Gemeinschaftswillen-Menschenmenge-Kritisches-Netzwerk-Identitaet-Volksgemeinschaft-Zugehoerigkeit-Gruppenzwang

Der Begriff des Ich oder Selbst hat in der Sprache der Koreaner keine Entsprechung. Sie können über ihr Innerstes nur in der dritten Person sprechen. Das deutet daraufhin, dass das Ich auch nur schwach erlebt wird. Natürlich ist es bei jedem Menschen vorhanden, tritt aber hier nicht mit der Deutlichkeit ins Bewusstsein, dass es sich als autonomes und selbst wollendes und bestimmendes Agens geltend machen würde. Es schwimmt daher in der allgemeinen seelischen Gemeinsamkeit des Kollektivs mit, deren Fremdbestimmung gar nicht als Beeinträchtigung einer Selbstbestimmung empfunden wird, da das Selbst nicht voll bewusst erlebt wird.

Die Autorin führt an:

Die Einführung der westlichen Psychologie, Psychiatrie und Psychoanalyse im 20. Jahrhundert machte die Konstruktion eines Terminus technicus notwendig. Im wissenschaftlichen Kontext wird heute das Wort „jagi“ benutzt, um das englische „self“ ins Koreanische übersetzen zu können. Aber wie eine Umfrage unter Studenten zeigte, wussten diese damit nichts anzufangen.

Das heißt: Wenn man das Ich nicht tatsächlich im Selbstbewusstsein erfasst und erlebt, verhilft einem auch kein neues Wort dazu. Man kann damit selbstverständlich nichts anfangen, weil ihm keine innere Realität entspricht.

► Ans Beziehungsgefüge geknüpft

So bleibt „das koreanische Selbstbild flexibel an das Beziehungsgefüge geknüpft“, also an das „wir“, an den Gemeinschafts-Zusammenhang. Es gibt im Koreanischen verschiedene Wörter, die von unterschiedlichen Aspekten aus auf das innere Wesen des Menschen hindeuten. Ihre Wahl hängt jeweils vom Gegenüber und der gebotenen Höflichkeitsstufe ab. „Die komplizierten Höflichkeitsregeln gebieten es, für sich eine Selbstbezeichnung zu wählen, die der Gesprächssituation adäquat ist.

Hinzu kommt die grundsätzlich schwache Stellung des Satzsubjekts. Ein Satz benötigt nicht immer ein Subjekt.

In Konversationen ist es sogar eher die Regel, dass es wegfällt. Das Fehlende wird vom Kontext her erschlossen. Man kann also ständig über sich sprechen, ohne „ich“ zu sagen. Den ersten westlichen Korea-Kennern im 19. Jahrhundert fiel auf, dass die Koreaner von sich anders redeten, als man es im Westen gewohnt war. Diese „unpersönliche Redeweise“, die das Ich zum Verschwinden zu bringen schien, machte ihnen große Mühe.

Daher reden die Koreaner viel häufiger und aus einem ganz anderen Grund von sich in der dritten Person, als es im europäischen Sprachraum üblich ist.

► Ersatzsubjekte

Eine weitere Eigenheit besteht darin, dass man die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Handlungen unpersönlich ausdrückt.

Hat man Durst, sagt man ´Der Hals ist trocken`. Beim Hunger heißt es: ´Der Bauch ist hungrig`. Ist jemand wütend, sagt man ´Die Wut steigt auf`. Anstatt ´Ich bin vor Ärger sprachlos` sagen die Koreaner ´Das Ki ist verstopft`, wobei mit ´Ki` die zirkulierende kosmische Vitalenergie gemeint ist. So erscheinen die intimsten Befindlichkeiten des Menschen seltsam außengeleitet, oder die Emotionen verselbständigen sich.

An die Stelle des Ich treten auch Körperteile, die als subjekthafte Instanzen „handeln“:

So sagt man ´Meine Füße wenden sich nicht`, was bedeutet ´Ich will nicht gehen`. ´Der Kopf dreht sich nicht schnell` heißt ´Ich kann nicht schnell begreifen`. Ebenso kann man sagen ´Die Hand geht nicht` in der Bedeutung ´Ich will das nicht nehmen`.

Es gibt im Koreanischen auch ein Wort, das man etwa mit ´Leib` übersetzen kann. Dieser Leib spielt in gewissen Situationen die Rolle des Ich. So heißt ´Ich bin krank` im Koreanischen ´Der Leib ist schmerzlich»`. Geht es einem besser, sagt man ´Der Leib hat sich gebessert`. Daneben gibt es weitere Instanzen wie ´Geist` oder ´Vernunftnatur`, die ebenso eigene Zuständigkeiten besitzen.

Die Vielfalt dieser sprachlichen Eigentümlichkeiten legt den Schluss nahe, dass ein starkes, alles dominierendes ´Ich` nicht vorhanden ist. Vielmehr ist ein seltsam diffuses und zersplittertes Ich sichtbar, dessen Konturen nicht klar zu erkennen sind, als gleiche die Innenwelt eines Koreaners dem asiatischen Landschaftsbild, in dem die Bildelemente durch schwebende Nebelschleier getragen sind.

► Das Ma-um

So gibt es in der koreanischen Sprache gewissermaßen ein funktionales Äquivalent zum „Selbst“ des Westens, das begrifflich nicht scharf zu fassen ist, sondern merkwürdig in der Schwebe bleibt, aber eine tief gefühlte seelische Nähe und Verbundenheit mit dem Selbst aufweist – das Ma-um. In ihm liege, so die Autorin, der Schlüssel zum Verständnis der Koreaner und der koreanischen Kultur. Ma-um sei das, was einen Menschen wahrhaft zum Menschen macht. Es habe sich, geschliffen durch die Literatur und bereichert durch das Leben, im Laufe der Jahrhunderte zu einem subtilen und komplexen kulturellen Gebilde geformt.

Ma-um benennt jenes angeborene Zentrum spontaner menschlicher Regungen, das durch Kultivierung verfeinert werden kann. Es ist der Moral, der Empathie und der Einsicht fähig und steht in offener Beziehung zum Umfeld. Ma-um besitzt gewisse organische Qualitäten. Denn man kann es ´berühren` oder ´streicheln`. Das Charakteristische am Ma-um sind jedoch seine Autonomie und seine Spontanität. Es reguliert das gesamte emotionale Leben eines Menschen und verleiht so einer Person eine eigene Note.

Die ideale Kommunikation zwischen zwei Menschen gilt als von Ma-um zu Ma-um, wortlos. Man kann es ´öffnen`, ´geben`, ´senden` und ´nehmen`. Liebt jemand einen anderen, dann heißt es ´Mein Ma-um geht zu dir`. Wenn einem etwas gefällt, sagt man ´Es kommt ins Ma-um hinein`. In einem bekannten Schlager heißt es: ´Liebe kommt wortlos zum Ma-um und umfängt es sanft`. Man versucht auch, das Ma-um der untreu gewordenen Person ´zurückzuwenden`.

Verunsicherung kommt, wenn es ´wankend` wird. Einsam ist man, wenn das Ma-um `keinen Ort hat, wohin es gehen könnte`. Ist jemand in tiefster Trauer, ´schmerzt` sein Ma-um, was mit dem Seelenschmerz in Europa vergleichbar ist. In seiner Empfindsamkeit und Verletzlichkeit besitzt das Ma-um gewisse Aspekte der Seele in der europäischen Kulturtradition, die selber keine Entsprechung in Korea hat. So ist die tiefste Verwundung, die man einem Menschen zufügen kann, die des Ma-um.

Die Koreaner können ihr Ma-um ´falten`, und in diesen «Faltungen» horten sie Erinnerungen, Sorgen und Freuden. Man kann es auch ´leeren`, um sich Linderung zu verschaffen. Oft ziehen die Koreaner in buddhistische Klöster, um durch Meditationen die Leere im Ma-um zu erreichen. Anstatt zu sagen ´Du verstehst mich nicht`, wirft man in Korea vor: ´Du verstehst mein Ma-um nicht`. Denn Nähe und Intimität lassen sich nur durch das Berühren des Ma-um herstellen.

Das Ma-um ist tief von Gefühlen erfüllt und daher eher ein seelisches als ein geistiges Element. Es ist nicht identisch mit dem geistigen Selbst, aber wie von dessen Reinheit von oben geprägt. So gehören Trauer, Melancholie und Schmerz zu ihm, „aber nicht negative Emotionen wie Hass, Groll oder Wut“, die von unten heraufsprudeln oder plötzlich emporschießen. Das Ma-um bleibt eigentümlich konturlos und schwebend. „Denn das, was in ihm geschieht, wird nie richtig ins Bewusstsein gehoben und strukturiert. Ma-um und ´Ich` stehen in einer offenen und oszillierenden Beziehung.“ Die Koreaner fühlen sich daher oft im quälenden Zwiespalt und sagen „Ich kenne mein eigenes Ma-um nicht mehr.“ Dessen Innenleben ist ihnen oft unerklärlich und voller Widersprüche.

Wegen seiner Beziehung zu den Gefühlen steht das Ma-um zugleich in einem Gegensatz zum Intellekt, der berechnend und manipulierend sein kann.

Das Ma-um will nicht überzeugt, sondern gerührt werden. Rührung ist ein sehr wichtiges Element der zwischenmenschlichen Beziehung in Korea. Die große Neigung der Koreaner zur Sentimentalität und zu Tränen geht auf diese kulturelle Tradition zurück, ebenso die Impulsivität, die mit der Spontanität des Ma-um zusammenhängt.

Wesentlich bleibt, dass sowohl das Ich als auch das Ma-um, durch das es gleichsam hindurchscheint, nicht voll ins Bewusstsein gehoben werden können. Daher können die Koreaner über ihr innerstes Wesen nur in der dritten Person sprechen.

Dies führt dazu,

[..] dass der Versuch der koreanischen Philosophen gescheitert ist, eine koreanische Variante der Subjektphilosophie zu entwickeln. Ebenso mussten die koreanischen Psychologen und Psychiater die Idee aufgeben, eine Theorie der Introspektion zu formulieren. Es gibt keine beschreibbare abgezirkelte Innerlichkeit, in die man hineinblicken oder die man zum Gegenstand der Analyse machen kann. Das dürfte wohl der Grund dafür sein, dass die Koreaner meditieren. Meditation ist weder Introspektion noch Analyse, sondern mehr ein Sichversenken und Eintauchen in die Unterschiedslosigkeit. Das Ziel der Zen-buddhistischen Meditation ist es, die Ich-Grenze ganz zu überwinden und sich mit dem All identisch zu setzen.

Letzteres bedeutet aber gerade, dass das mangelnde bewusste Erfassen des Ich den Asiaten in der Meditation eher dazu führt, es vollends zu fliehen und mit dem geistigen All eins zu werden, sich selbst also gleichsam aufzugeben, während im Westen der seines Ichs bewusste Mensch durch die Meditation in die geistige Welt strebt, um dabei sein Ich nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern durch die Vereinigung mit spirituellen Kräften und Wesen zu stärken und zu erhöhen.

Gesellschaft-Korea-Insa-dong-Insadong-Seoul-Ma-um-Kritisches-Netzwerk-Unterschiedslosigkeit-Volksgemeinschaft-Koreaner-koreanische-kollektivistische-Kultur

► Fazit

Was hier über die Koreaner geschildert wird, ist beispielhaft für die Völker Asiens. Das weitgehende Aufgehen des Einzelnen in blutsverwandten kollektiven Gemeinschaften spielt sich in ähnlicher Weise in Japan, China, Indien und allen anderen asiatischen Ländern bis nach Vorderasien herein ab.

Die Menschen über die Erde hin sind nicht gleich. Ihre Bewusstseinsverfassung und die daraus hervorgehende Lebensweise sind je nach Rasse und Volk sehr verschieden. Ein großer Gegensatz besteht zwischen den Menschen des Ostens und denen des Westens. Während die abendländische historische Entwicklung zur immer stärkeren Ausbildung des Ich-Bewusstseins und dem damit verbundenen Streben nach der sich selbst bestimmenden freien Individualität geführt hat, haben die östlichen Völker diese Entwicklung in dieser Weise nicht mitgemacht.

Aus welchen Gründen nicht, gehört zur Rätselhaftigkeit der ungeheuren Differenziertheit menschlicher Entwicklung.

Die technische, wirtschaftliche und kommunikationstechnische Entwicklung des Westens hat sich über die ganze Erde ausgebreitet und schließt die Menschheit immer mehr zu einer erlebten Ganzheit zusammen. Was in einem entfernten Winkel der Erde passiert, bleibt der übrigen Welt nicht mehr verborgen und hat auch einen Einfluss auf sie. Doch zu dieser äußeren Verbindung des Handels und Verkehrs muss ein tieferes Verstehen der Eigenarten und Besonderheiten der jeweils anderen Völker hinzukommen, wenn man nicht an ihren wahren Bedürfnissen vorbeihandeln und wachsende Konflikte hervorrufen will.

Für ein friedliches Zusammenleben ist das wechselseitige Verständnis immer notwendiger.

Herbert Ludwig / FASSADENKRATZER
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Herbert Ludwig: Nach kaufmännischer Lehre Studium und Ausbildung zum Rechtspfleger, 4 Jahre Tätigkeit an hessischen Amtsgerichten. Danach Studium an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen mit den Schwerpunkten Erziehungswissenschaften, Philosophie, Geschichte, Deutsch, sowie Waldorfpädagogik am Waldorflehrer-Seminar Stuttgart. 27 Jahre Lehrer an einer Freien Waldorfschule.


► Quelle: Der Artikel wurde am 29. Januar 2020 erstveröffentlicht auf Herbert Ludwigs Blog FASSADENKRATZER - Blicke hinter die Oberfläche des Zeitgeschehens. >> Artikel.

ACHTUNG: Die Artikelübernahme auf Kritisches Netzwerk wurde vom Rechteinhaber Herbert Ludwig per Mail vom 27. Dez. 2018 autorisiert. Die Bilder und Grafiken sind nicht Bestandteil der Originalveröffentlichung und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten folgende Kriterien oder Lizenzen, siehe weiter unten. Grünfärbung von Zitaten im Artikel und einige zusätzliche Verlinkungen wurden ebenfalls von H.S. als Anreicherung gesetzt.

Über Ludwigs Blog FASSADENKRATZER:

In allem, was ist und geschieht, muss man die Oberfläche vom Inhalt, den Schein von der Wirklichkeit unterscheiden. Die Verlautbarungen der Politiker, der verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen, die Meldungen und Kommentare der Medien, kurz: die veröffentlichte Meinung, die als öffentliche Meinung ausgegeben wird und Meinung und Bewusstsein der Menschen prägt, sind vielfach nur die Oberfläche dessen, was in Wahrheit vorgeht. Man muss an der Fassade kratzen, um hinter die Oberfläche zu kommen und zu dem vorzudringen, was wirklich geschieht. >> weiter.


► Bild- und Grafikquellen:

1.  Der Begriff des Ich oder Selbst hat in der Sprache der Koreaner keine Entsprechung. Sie können über ihr Innerstes nur in der dritten Person sprechen. Das deutet daraufhin, dass das Ich auch nur schwach erlebt wird. ME - WE. Grafik: johnhain / John R. Hain, Carmel/United States. John komponiert Wortbilder, die Praktiken der Achtsamkeit in Verbindung mit liebevollem Bewusstsein auf der Suche nach menschlicher Ganzheit, Wohlbefinden und Gemeinschaft fördern. >> https://www.johnhain.com/ und https://psychimages.com/. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Grafik.

Heike-Leitschuh-Ich-zuerst-Gesellschaft-Ego-Trip-Ichlinge-Konkurrenzdenken-Neoliberalismus-Unmenschlichkeit-Kritisches-Netzwerk-Ruecksichtslosigkeit-Egoismus-Egotismus-Egoisten Eliten2. Identität in der Menschenmenge: Die unverwechselbare Identität des Individuums ist der eigentliche Wesenskern jedes Menschen, dem Leib und Seele als Instrumente untergeordnet sind. Sie zu kontrollieren und zu beherrschen, bzw. sich immer mehr von ihrer Fremdbestimmung zu befreien und sie in seine Beherrschbarkeit zu bringen, ist die Intention seiner ihm innewohnenden potentiellen Autonomie und Selbstbestimmung. Foto: Free-Photos. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.

3. Insadong: Stadtviertel in Seoul, Südkorea. Die Hauptstraße des belebten Viertels Insadong ist eine Fußgängerzone mit vielen Teehäusern, koreanischen Restaurants und Geschäften, in denen traditionelle Waren wie Keramik, Tee und handgeschöpftes Hanji-Papier verkauft werden. Im originellen Gebäudekomplex Ssamziegil gibt es gemütliche Cafés und von Wandgemälden gesäumte Aufgänge, die zu einer Dachterrasse führen. Einst war dies der größte Markt für Antiquitäten und Kunstwerke in Korea. Foto: kyerim-che. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.

4. Buchcover: »Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip« von Heike Leitschuh. Westend Verlag GmbH, FFM. Erschienen am 2. Oktober 2018. Klappenbroschur 256 Seiten. ISBN 978-3-86489-228-8, Preis 19,00 € [D]. Auch als EPUB erhältlich, 978-3-86489-721-4, Preis 14,00 € [D].

Die Ichlinge kommen – bedroht das ständige Konkurrenzdenken unsere Gesellschaft?

Neoliberales Gedankengut schadet unserer Gesellschaft und lässt die Solidarität und den Respekt der Menschen untereinander schwinden. Immer mehr Menschen denken nur noch an sich, an die Karriere und die eigenen Bedürfnisse und behandeln ihre Mitmenschen deshalb mitunter wie den letzten Dreck. In der Politik und den Medien wird das Problem vernachlässigt und in seiner ganzen Tragweite bislang überhaupt nicht erkannt. Höchste Zeit also, umzudenken und gegenzusteuern, sowohl mit einer anderen Politik, als auch bei jedem Einzelnen von uns. Denn keiner will in einem Land leben, in dem jeder nur noch sich selbst der Nächste ist und nur noch das zählt, was sich rechnet.


Vorwort aus »Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip«.

Die Ichlinge kommen – bedroht das ständige Konkurrenzdenken unsere Gesellschaft?

Heike-Leitschuh-Ich-zuerst-Gesellschaft-Ego-Trip-Ichlinge-Konkurrenzdenken-Neoliberalismus-Unmenschlichkeit-Kritisches-Netzwerk-Ruecksichtslosigkeit-Egoismus-Egotismus-Egoisten ElitenBestimmt kennen auch Sie Beispiele aus Ihrem Alltag, bei denen Sie sich mächtig über Ihre Mitmenschen ärgern. Nicht nur beim Autofahren, nein, das ist ja ein ganz alter Hut. Aber vielleicht wenn Ihnen mal wieder jemand ganz charmant die Schwingtür im Kaufhaus vor die Nase knallt. Oder wenn mal wieder jemand im Zug oder im Restaurant neben Ihnen sinnlos laut telefoniert. Oder wenn die jungen Mütter neben Ihnen im Café seelenruhig ihre Latte Macchiato trinken, während ihre Kinder die Gäste tyrannisieren. Vielleicht haben Sie dann auch schon mal gedacht: »Die Leute werden doch immer egozentrischer!«

Das mögen kleinere Irritationen und Unpässlichkeiten des Alltags sein. Doch es kommt immer schlimmer. Bei mir brachten drei Meldungen das Fass zum Überlaufen. In dem Sinne, dass ich keine Lust mehr hatte, mir das alles entgeistert anzusehen, sondern mich zumindest auf diesem Wege, also mit dem Buch, zu wehren: Die Nachrichten, dass Patienten die Erste-Hilfe-Notaufnahme mit einer Lappalie missbrauchen und dann dort auch noch randalieren. Weil es ihnen zu langsam geht. Die Nachrichten, dass Gaffer sich an Unfällen aufgeilen, filmen und die Rettungskräfte behindern. Auch aktiv. Die Nachrichten, dass von Jahr zu Jahr mehr Bahnbedienstete beleidigt und auch körperlich attackiert werden. Teils heftig. Ich wollte genauer wissen, was in unserem Land vorgeht, und habe mit Menschen gesprochen, die selbst zum Opfer wurden. Was sind die Ursachen dieses brutal rücksichtslosen Verhaltens, wollte ich wissen. Und gibt es Auswege?

Vor ein paar Jahren schon war mir ein vermehrt rüpelhaftes Verhalten im Alltag aufgefallen. »Die Flegel« wollte ich mein Buch zunächst nennen und vor allem über Beschäftigte in Unternehmen schrei­ben, die unter dem oft unverschämten Verhalten ihrer Kunden leiden. Interviews bei Fluggesellschaften, im Einzelhandel oder bei der Bahn bestätigten meine These, dass es da ein echtes Problem gibt. Allerdings wollten die Unternehmen darüber nicht öffentlich reden, denn schließlich wollten sie ihre Kunden nicht kritisieren. Ich sah keine Chance, genügend Informationen zu bekommen, und so legte ich das Projekt erst einmal beiseite. Dann erschien 2012 das Buch des Journalisten Jörg Schindler Die Rüpel-Republik, das unsoziales Verhalten in der Gesellschaft generell aufs Korn nahm. Ich fand das Buch sehr gut und ließ meine Idee fallen, denn ich konnte mir nicht vorstellen, Schindlers Ergebnissen noch etwas Neues hinzuzufügen.

Doch einige Jahr später hat sich die Lage geändert, und zwar zum Schlechteren. Sei es im Zug, im Café, im Krankenhaus oder in der Politik: Das Rüpelhafte ist in der Öffentlichkeit zur Normalität geworden und es setzt sich zunehmend im privaten Leben fort. Heute gibt es noch weit mehr Anzeichen dafür, dass sich der Umgang der Menschen untereinander erheblich verschlechtert hat, und es gibt auch einen neuen Befund: Es ist nicht nur das Benehmen, das zu wünschen übrig lässt. Es geht viel tiefer. Empathie und Solidarität, zwei ganz wesentliche Grundpfeiler einer humanen Gesellschaft, erodieren zunehmend. Das ist zumindest meine Wahrnehmung, und es ist die Wahrnehmung vieler Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe. Auch mit der Deutschen Bahn, die nun über das Problem redet. Offenbar ist eine Schmerzgrenze überschritten.

Immer häufiger treffen wir auf Zeitgenossinnen1, die sich selbst extrem wichtig nehmen. So wichtig, dass sie alle paar Meter ein Foto von sich aufnehmen und das dann in die Welt verschicken müssen. Die Selfie-Manie ist der oberflächliche Ausdruck einer Entwicklung, bei der das Ich immer wichtiger wird und das Wir an Bedeutung verliert. Unter der Egomanie leiden Beziehungen, im Kleinen wie im Großen. Dieser Ego-Kult ist ein Teil dessen, um das es mir geht. Es ist sogar noch der harmlosere Teil, wenn Menschen versuchen, ihren Körper, ihre Erscheinung, ihr ganzes Leben zu optimieren – um im täglichen Konkurrenzkampf besser bestehen zu können. Die Ursachen dafür sind keineswegs trivial, die Erscheinungsformen schon eher.

Ist die gesamte Gesellschaft auf dem Ego-Trip? Zum Glück (noch) nicht. Es gibt jedoch ernsthafte Anzeichen dafür, dass dies eines Tages so sein könnte – wenn wir nicht höllisch aufpassen. Schon jetzt ist deutlich erkennbar, dass eine Ideologie, die nur für wertvoll hält, was sich ökonomisch rechnet, die die Menschen in eine fortwährende Konkurrenz zueinander schickt, tiefe Spuren in unseren Herzen und Hirnen hinterlassen hat. Meine Gespräche und Recherchen haben dafür etliche und deutliche Anzeichen ergeben.

Sie werden sich die Frage stellen, ob es schon mal besser war mit der Solidarität. Die Antworten fallen wohl unterschiedlich aus, je nach den Lebenserfahrungen und -umständen. Was ist der Bezugspunkt für den Vergleich? War es früher tatsächlich besser? Wenn ja, wann und warum? Wie hat sich Solidarität historisch entwickelt? Nehmen wir das Thema Flüchtlinge: Auf der Flucht vor Nazideutschland wurden Juden keineswegs überall mit offenen Armen empfangen. So wenig wie die Sudentendeutschen nach dem Krieg. Was also ist meine Referenz, wenn ich sage, solidarisches Verhalten ist auf dem Rückzug? Vieles ist empirisch nicht klar nachvollziehbar, Daten und Fakten gibt es dazu nicht. Dennoch haben, so wie ich, viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, das Gefühl, dass unsere Kultur und unsere Gesellschaft derzeit einen Umbruch erleben. Alle haben dazu ihre ganz eigenen Geschichten. Und es ist mehr als ein Gefühl, dafür sind die Beispiele zu zahlreich und wiederkehrend.

Ich erzähle die Geschichten von Menschen aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, und ich erzähle die Geschichten, die ich selbst erlebt habe. Das zusammen ergibt ein Bild, das nicht immer eindeutig und manchmal sogar widersprüchlich erscheint. Deutlich wird jedoch, dass wir uns ändern müssen, um nicht bald schon in einem Land leben zu müssen, in dem sich jeder nur noch selbst der Nächste ist.

Heike Leitschuh, September 2018

Vorwort aus »Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip«. Westend Verlag GmbH, FFM. Erschienen am 2. Oktober 2018. Klappenbroschur 256 Seiten. ISBN 978-3-86489-228-8, Preis 19,00 € [D]. Auch als EPUB erhältlich, 978-3-86489-721-4, Preis 14,00 € [D].