Freiwilligkeit und Utopie

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Freiwilligkeit und Utopie
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Freiwilligkeit und Utopie

von Stefan Meretz / Streifzüge 71/2017

Freiwilligkeit ist nicht die Norm. Etwas freiwillig zu tun, schließt ungesagt mit ein, dass es normalerweise eine Gegenleistung oder gar ein Zwang ist, welche zur Tat anhalten. Es ist die Tauschlogik, die dahinter hervorlugt, und das setzt, was als normal gilt. Im Kapitalismus ist Freiwilligkeit die geadelte Ausnahme. Sie erscheint als Ehrenamt, als gute Tat, als Altruismus in einer Welt, in der Lohnarbeit, Profitstreben und Egozentrismus als selbstverständlich gelten.

Jede gesellschaftliche Utopie enthält Freiwilligkeit mindestens als Moment, wenn nicht gar als konstitutiven Baustein. Die bisherigen Utopien lassen sich in drei Gruppen einteilen: kollektivistische, individualistische und ethisch-moralische.

In kollektivistischen Utopien, wie sie vor allem in der historischen Arbeiter*innenbewegung verbreitet waren, ist das freiwillige Engagement Ausdruck der Einsicht in übergeordnete Notwendigkeiten. Die individuelle Besonderheit ist im kollektiven Ganzen aufgehoben. Freiwillig im Sinne der Notwendigkeiten des Ganzen zu handeln, bedeutet, die eigene Individualität zu leben. Dieser Zusammenhang liegt nicht auf der Hand, sondern muss erst erkannt werden. Erziehung und positiv verstandene Ideologie erhalten hier ihre zentrale Funktion.

Individualistische Utopien vor allem anarchistischer Strömungen vertreten in gewisser Weise genau das Gegenteil. Freiwilligkeit kann hier nur auf individueller Entfaltung jenseits übergeordneter Notwendigkeiten basieren. Das kollektive Ganze ist den Individualitäten nicht vorausgesetzt, sondern entsteht erst aus der freien Entfaltung der individuellen Besonderheiten.

Vielleicht ist durch die Art der von mir gewählten Beschreibung schon deutlich geworden, dass sich kollektivistische und individualistische Utopien nicht so gravierend unterscheiden, wie es ihre reale historische Feindschaft nahelegen mag (exemplarisch: Konfrontation von Anarchist*innen und Kommunist*innen während des Spanischen Bürgerkriegs). Beide thematisieren das Verhältnis von Individualität und gesellschaftlicher Ganzheit, von Freiwilligkeit und Notwendigkeit – nur jeweils von unterschiedlichen Polen aus. Die Unvereinbarkeit kommt erst ins Spiel, wenn die Notwendigkeiten im ersten Fall als herrschaftsförmig strukturierter Staat (oder Partei als Proto-Staat) und im zweiten Fall als dem Anspruch nach möglichst herrschaftsfreie Versammlung oder Räte-Struktur ihre konkrete Form finden.

Der Bezug auf ein gesellschaftliches Ganzes ist hingegen in ethisch-moralischen Utopien unterbelichtet oder völlig abwesend. Stillschweigend wird hier die gegenwärtige gesellschaftliche Formierung über Markt und Staat hingenommen. Was allein zählt ist das individuelle Handeln. Dieses soll sich an zu vereinbarenden Werten oder ethisch fundierten moralischen Normen ausrichten. Beredtes Beispiel für solche Ansätze sind die verbreiteten Varianten der Konsumkritik. Freiwillig soll auf bestimmte Formen des Konsums verzichtet werden, um die Welt zu einem „better place“ zu machen. Erziehung und Ideologie, gepaart mit schlechtem Gewissen, sind ihre Begleiter.

So klar abgegrenzt wie hier überzeichnet dargestellt, sind die drei utopischen Ansätze in Wirklichkeit nicht. Tatsächlich gibt es nahezu beliebige Mischformen, die es meist jedoch nicht besser machen. Dennoch enthalten sie alle berechtigte Aspekte, die in einer zu begründenden commonistischen Utopie aufgehoben werden müssten.

Ausgangspunkt einer solchen Utopie ist die Frage nach der Gestaltung des Verhältnisses von Freiwilligkeit und Notwendigkeit. Die Antwort kann nicht in einer einseitigen Unterordnung des Individuums unter die Gesellschaft oder umgekehrt bestehen. Solche Vereinseitigungen entstehen, wenn der Fokus auf die Personen oder Institutionen der Herrschaft gerichtet wird anstatt auf die zugrunde liegende Handlungsmatrix. Eine Handlungsmatrix ist die Bedingungsstruktur, die gesellschaftlich wie individuell nahelegt, gemäß ihrer Logik zu handeln, weil es funktional ist und die eigene Existenz sichert. Ist diese (wie bisher immer) exklusionslogisch formiert – die Bedürfnisbefriedigung der einen geht zu Lasten der von anderen – dann ist es zweitrangig, welche Formen die Herrschaft annimmt (Kapital, Partei, Staat, Räte etc.). Der kollektivistische Ansatz versucht Herrschaft bewusst für den guten Zweck zu instrumentalisieren, während der individualistische Ansatz Herrschaft abstrakt bekämpft – sich aber durch die Hintertür wieder reinholt.

Nehmen wir nun an, die gesellschaftlich-individuelle Handlungsmatrix ist inklusionslogisch strukturiert, dann stellt sich das Verhältnis von Freiwilligkeit und Notwendigkeit völlig anders dar. Die Inklusionslogik basiert auf der Abwesenheit von Eigentum, also der andere exkludierenden Verfügung über Ressourcen. Damit gibt es keine Machtmittel, um Menschen zu einer Tätigkeit zu bringen, die sie nicht wollen. Kooperation ist weiterhin notwendig, aber immer freiwillig. Niemand kann gezwungen, sondern nur noch gewonnen werden. Der Fokus richtet sich auf die Bedingungen, die so einladend sein müssen, dass sich Menschen gerne beteiligen. Freiwilligkeit und Inklusion erzeugen sich gegenseitig. Es ist nun „nur noch“ eine Frage der Organisation, wie die freiwilligen Tätigkeiten die gesellschaftlichen Notwendigkeiten abdecken. Für einen Rest unabgedeckter Notwendigkeiten findet sich dann auch eine Lösung.

Doch im Kapitalismus ist die allgegenwärtige Handlungsmatrix exklusionslogisch strukturiert. Wir leben und reproduzieren sie, nahezu täglich. Freiwilligkeit braucht hier geschützte Räume, in denen die Wirkungen der Exklusionslogik abgemildert oder gar neutralisiert werden. Dazu gehört ganz zentral die Neutralisierung der exkludierenden Wirkung des Eigentums. Aber auch die von uns verinnerlichten „normalen“ exkludierenden Handlungsweisen müssen entlernt werden. Freiwilligkeit ist kein bloß individueller Willensakt, sondern kollektiv zu erlernende Handlungsweise, die bewusst zu schaffende Ermöglichungsstrukturen braucht. Das ist der Sinn der Commons. Es sind Räume des Erlernens von Freiwilligkeit und Inklusion, Räume des Commoning.

So verstanden ist Freiwilligkeit der Kern radikaler Utopie.

Stefan Meretz
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Stefan Meretz, geb. 1962, lebt in Bonn. Studium und Promotion der Werkstoffwissenschaften, Studium und Abschluss der Informatik. Theorie-Schwerpunkte: Commons, Freie Software, Technikentwicklung, Utopie-Theorie. Mitbegründer des Commons-Instituts. Blogger auf keimform.de. "Transformationsrat" der Streifzüge.



► Quelle: Erstveröffentlicht am 13. Februar 2018 in Streifzüge 71/2017 >> Artikel.  "Streifzüge - Magazinierte Transformationslust" ist eine Publikation des Vereins für gesellschaftliche Transformationskunde in Wien. Verbreitung: COPYLEFT. „Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung der Publikationen in Streifzüge ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht." (Kritischer Kreis. Verein für gesellschaftliche Transformationskunde, Wien.).

Über: Die Streifzüge sind Mitte der Neunzigerjahre als Informationsblatt eines wertkritischen Diskussionszirkels in Wien entstanden. Wir verstehen uns als ein Publikationsprojekt, das Kritik, Perspektive und Transformation miteinander zu verbinden versucht.

Im Zentrum der Kritik steht der universelle Modus der Verwertung in all seinen Ausprägungen. Beim Wert und allen seinen Metamorphosen wie Markt, Tausch, Geld, Ware, Konkurrenz, Arbeit, Recht und Politik – da sind wir nicht nur skeptisch, wir wollen das weg machen und weg haben. Die Entwertung der Werte bedeutet nicht nur die Abschaffung des ökonomischen Werts, sondern stellt alle bürgerlichen Wertvorstellungen zur Transposition. So vertreten wir auch nicht irgendeine Realpolitik, die aufgrund ihrer falsch verstandenen Konstruktivität stets reparieren möchte, was kaputt macht.

ACHTUNG: Die Bilder, Grafiken und Illustrationen sind nicht Bestandteil der Originalveröffentlichung und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. folgende Kriterien oder Lizenzen, s.u.. Grünfärbung von Zitaten im Artikel und einige zusätzliche Verlinkungen wurden ebenfalls von H.S. als Anreicherung gesetzt, ebenso die Komposition der Haupt- und Unterüberschriften verändert.

► Bild- und Grafikquellen:

1. Cover des Buches »Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft«. Autor ist der belgische Psychologe, Psychoanalytiker Paul Verhaeghe , ordentlicher Universitätsprofessor an der Universität Gent. Aufgrund der Forschung mit seiner Fachgruppe zum Thema Burnout-Syndrom und Depression richtete sich seine Aufmerksamkeit immer mehr auf die kombinierten Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen und Arbeitsorganisation.

Die weitere Vertiefung davon brachte ihn zur These, dass die gegenwärtige Identität auf einer zwingenden neoliberalen Ideologie basiert ist, und dass eine derartige Identitätsbildung gegen unsere evolutionär eingefleischte soziale Art geht. Ende Januar 2012 hielt Verhaeghe an einem belgischen nationalen Streiktag einen scharfen Vortrag im Kunstzentrum Vooruit Gent, in dem er die Bankenkrise als Bestätigung der neoliberalen Ideologie betrachtet.

Die Ausarbeitung davon beim Paul Verbraeke-Vortrag in Antwerpen und die daran anschließende Veröffentlichung des Textes stieß in Flandern auf sehr breites Interesse. Dieser Vortrag basierte auf zwei Kapiteln von „Identiteit“, einem Buch, das im Herbst 2012 erschien und in deutscher Übersetzung vom Verlag Antje Kunstmann im August 2013 veröffentlicht wurde. ISBN 978-3-88897-869-2, Preis 19.95 € (D). E-Book (Epub) 15,99 € (D) ISBN: 978-3-88897-890-6.

Im ersten Teil von „Identiteit“ argumentiert Verhaeghe, dass unsere psychologische Identität eine Konstruktion auf einem evolutionär begründeten Unterbau ist. Evolutionär betrachtet ist der Mensch eine soziale Tierart, in der zwei entgegengesetzte Verhaltenstendenzen wirken: einerseits die Ausrichtung auf Gemeinschaft und Teilen, andererseits die Ausrichtung auf Individualismus und Nehmen. Welche der beiden Tendenzen die Oberhand bei der Konstruktion der Identität bekommt, wird durch das Gesellschaftsmodell bestimmt.

Im zweiten Teil beschreibt er die heutige Gesellschaft als neuliberal, wobei er den Neoliberalismus als neue Version des Sozialdarwinismus auffasst. Die dadurch bestimmte Identitätsentwicklung ist ihm zufolge sehr negativ, weil sie gegen die soziale Art des Menschen angeht. Die negativen Auswirkungen des Neoliberalismus findet er auch in der Organisation des Unterrichts, der wissenschaftlichen Forschung und der Gesundheitsfürsorge. Im letzten Kapitel erklärt er, dass Veränderung von unten ausgehend erfolgen muss, da die neoliberale Ideologie mittlerweile Bestandteil unserer Identität ist.

Der aktuelle Verlagstext zum Buch:

"Noch nie, heißt es, ging es uns so gut – doch noch nie haben wir uns so schlecht gefühlt. Die neoliberale Ideologie durchdringt unser Leben inzwischen bis in den letzten Winkel: Sie prägt unsere Selbstwahrnehmung, unsere Beziehung zu unserem Körper, unseren Partnern und Kindern – in anderen Worten, unsere Identität.

Offenbar hat die neue Freiheit und Selbstverantwortung eine dunkle Kehrseite. Ihre implizite Botschaft lautet: Jeder kann perfekt sein, jeder kann alles haben. Wer versagt, hat sich nicht genug angestrengt; wer scheitert, ist allein schuld. Beschämung und Schuldgefühle sind die Folge, Wut, Aggression und diffuse Trauer, Selbstzweifel und »bipolare Störungen« – oder gar Täuschung und Betrug, wenn es gilt, die ausufernden Leistungskataloge der modernen Arbeitswelt zu erfüllen. Keineswegs zufällig werden sie uns im Gewande objektiver, wissenschaftlich geprüfter Erfordernisse präsentiert, gegen die aufzubegehren zwecklos ist.

In einer furiosen Anklage zeigt der Psychoanalytiker Paul Verhaeghe, welche Auswirkungen das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die jeden Lebensbereich unter das Diktat der Ökonomie stellt, auf die Psyche der Menschen hat". (Zitat Verlag Antje Kunstmann)

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2. Buchcover "Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter" von Elinor Ostrom / Silke Helfrich (Hrsg.). 112 Seiten, oekom verlag München, 2011; ISBN-13: 978-3-86581-251-3; Preis: 14.95 €.

Die Wälder gerodet, die Atmosphäre belastet, die Meere leer gefischt. Güter, die allen gehören, laden zur Verschwendung ein. Sie werden zerstört und gehen der Gesellschaft immer mehr verloren. Mit Appellen an die Moral oder dem Ruf nach einem starken, ordnenden Staat lässt sich die Misere nicht lösen, und auch Privatisierung ist kein Allheilmittel gegen Ausbeutung. Was also ist zu tun?

Elinor Ostrom geht dieser Entwicklung am Beispiel der Wälder und Meere auf den Grund. Sie zeigt, wie es gelingen kann, mit gemeinsam genutzten Dingen so umzugehen, dass alle Menschen ihre Bedürfnisse langfristig befriedigen können und appelliert dafür, die Menschen vor Ort an der Lösung der Probleme zu beteiligen, um Respekt, Zusammenhalt und Verantwortlichkeit zu fördern. (Zitat oekom Verlag)

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3. Buchcover: "Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat" von Silke Helfrich und Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.). Transcript Verlag, Mai 2014 - zweite, leicht veränderte Auflage, Seitenanzahl: 524, Lizenz: CC-BY-SA, ISBN: 978-3-8376-2835-7.

Die nicht enden wollende globale Finanzkrise zeigt: Markt und Staat haben versagt. Deshalb verwundert es nicht, dass die Commons, die Idee der gemeinschaftlichen Verantwortung für Gemeingüter, eine Renaissance erleben – nicht erst seit dem Wirtschaftsnobelpreis 2009 für Elinor Ostrom. Commons sind wichtiger denn je. Sie beruhen nicht auf der Idee der Knappheit, sondern schöpfen aus der Fülle.

Dieser Band mit Beiträgen von 90 internationalen Autorinnen und Autoren aus Theorie und Praxis stellt ein modernes Konzept der Commons vor, das klassische Grundannahmen der Wirtschafts- und Gütertheorie radikal in Frage stellt und ein Wegweiser für eine neue Politik sein kann.

Das Buch erscheint unter einer Creative-Commons Lizenz (CC-BY-SA) und darf beliebig oft vervielfältigt, bearbeitet und uneingeschränkt verbreitet werden. Der Zugang zum Inhalt des Buches ist frei.