Jeder denkt daran, die Welt zu verändern.
Aber niemand denkt daran, sich selbst zu verändern.
Leo Tolstoi: Die Welt liegt im Detail
by Gerhard Mersmann | NEUE DEBATTE
Rasant geht es zu. Die Welt, so wie sie für lange Zeit als gesetzt gegolten hatte, ist mächtig in Bewegung geraten. Das macht etwas mit den Menschen. Zum einen ist die Angst wieder da, die immer dann Hochkonjunktur hat, wenn sich existenzielle Veränderungen abzeichnen. Denn das Bekannte, so viel ist sicher, wird sich so nicht mehr halten können. Zum anderen machen sich viele Menschen Gedanken darüber, wie die Zukunft wohl aussehen könnte.
Von Hoffnung sind auch diese Überlegungen nicht gekennzeichnet. Da überwiegt eine Polarisierung. Entweder, so das gängige Diktum, es ändert sich vieles radikal und sorgt für Verbesserung oder die Grundstrukturen bleiben so, wie sie sind, und es erwartet uns ein Inferno.
Da ist guter Rat teuer. Und, die Frage stellen sich immer mehr Menschen, was macht das eigentlich mit mir? Oder anders ausgedrückt, um nicht in die Position des passiven Objektes zu verfallen oder darin zu verharren, was muss und kann der Einzelne, was kann ich tun, um einen positiven Beitrag zu einer gewünschten Veränderung zu leisten?
► Leo Tolstoi und das Detail
In diesem Kontext kann eine kluge Beobachtung Leo Tolstois einen Hinweis geben. Er stellte fest, dass alle die Welt verändern möchten, aber keiner sich selbst. Es scheint keine resignative Ablenkung zu sein, die darin begründet liegt, dass der Einfluss auf das große Ganze sowieso nicht gegeben ist und tatsächliche Veränderungen nur im Kleinen möglich sind.
Diese Sichtweise verstellt die Sicht auf einen Zusammenhang, der essenziell ist. Es handelt sich um den Konnex von dem eigenen profanen Alltag und dem großen Weltzusammenhang, oder, um es deutlicher zu sagen, um das Zusammenwirken von Mikro- und Makrokosmos. Oder, um noch einmal auf Leo Tolstoi zurückzukommen, die Welt liegt im Detail.
Gerade in diesen Zeiten kommt oft der Hinweis, der von vielen Menschen geteilt wird, der das Konsumverhalten fokussiert. Dass die Konsumenten von Gütern einen Beitrag leisten können, wenn sie sich gegen einen Kauf entscheiden können, wenn Güter unter katastrophalen Arbeitsbedingungen und mit umweltschädlichen Methoden hergestellt wurden oder über irrsinnige Transportwege herangeschafft werden. Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen, wiewohl es das Problem nicht [allein; H.S.] löst. Denn zu der eigenen Veränderung gehört mehr als der Kauf von Waren.
► Mit wem ist Veränderung möglich?
Das Individuum auf seine Konsumentenrolle zu reduzieren führt einerseits zu seiner Beschränkung als passives, reproduktives Wesen, und es leugnet seine Verantwortung als sozial handelndes Subjekt. Letzteres wird entscheidend sein in der Auflösung der grausamen Verhältnisse, wie sie seit Jahrzehnten produziert werden. Der Beginn der eigenen Veränderung liegt in der Frage der sozialen Verortung wie der eignen Verantwortung begründet. Wo stehe ich sozial, wohin will ich und, entscheidend, mit wem ist das möglich?
Die eigene Verantwortung und die Arbeit an der eigenen Veränderung beginnt mit dem Entwurf und der aktiven Pflege sozialer Verhältnisse, die in der Lage sind, eine funktionierende, fähige, den Bedürfnissen der Menschen entsprechende Gemeinschaft zu etablieren.
Die Veränderung des Individuums zum Besseren liegt nicht nur auf dem Feld des eigenen Konsumverhaltens, sondern im Aufbau sozialer Beziehungen, die eine Grundlage für gesellschaftliches Handeln bilden können.
Nach Jahrzehnten der individualistischen Verheerung ist das eine sehr persönliche, konkrete Aufgabe. Ja, und das beginnt im Kleinen: Im eigenen Haus, in der eignen Straße, am Arbeitsplatz und in der kulturellen Interaktion.
Auf jeden kommt es an. Wer das leugnet, landet unweigerlich in der Ohnmachtsfantasie.
Wer die Welt verändern will, fängt morgens bei sich selber an.
Gerhard Mersmann
Lesetipp: Heike Leitschuh: »Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip«. Westend Verlag GmbH, FFM. Erschienen am 2. Oktober 2018. Klappenbroschur 256 Seiten. ISBN 978-3-86489-228-8, Preis 19,00 € [D]. Auch als EPUB erhältlich, 978-3-86489-721-4, Preis 14,00 € [D].
Die Ichlinge kommen – bedroht das ständige Konkurrenzdenken unsere Gesellschaft?
Neoliberales Gedankengut schadet unserer Gesellschaft und lässt die Solidarität und den Respekt der Menschen untereinander schwinden. Immer mehr Menschen denken nur noch an sich, an die Karriere und die eigenen Bedürfnisse und behandeln ihre Mitmenschen deshalb mitunter wie den letzten Dreck. In der Politik und den Medien wird das Problem vernachlässigt und in seiner ganzen Tragweite bislang überhaupt nicht erkannt. Höchste Zeit also, umzudenken und gegenzusteuern, sowohl mit einer anderen Politik, als auch bei jedem Einzelnen von uns. Denn keiner will in einem Land leben, in dem jeder nur noch sich selbst der Nächste ist und nur noch das zählt, was sich rechnet. (Klappentext).
Vorwort aus »Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip«.
Die Ichlinge kommen – bedroht das ständige Konkurrenzdenken unsere Gesellschaft?
Bestimmt kennen auch Sie Beispiele aus Ihrem Alltag, bei denen Sie sich mächtig über Ihre Mitmenschen ärgern. Nicht nur beim Autofahren, nein, das ist ja ein ganz alter Hut. Aber vielleicht wenn Ihnen mal wieder jemand ganz charmant die Schwingtür im Kaufhaus vor die Nase knallt. Oder wenn mal wieder jemand im Zug oder im Restaurant neben Ihnen sinnlos laut telefoniert. Oder wenn die jungen Mütter neben Ihnen im Café seelenruhig ihre Latte Macchiato trinken, während ihre Kinder die Gäste tyrannisieren. Vielleicht haben Sie dann auch schon mal gedacht: »Die Leute werden doch immer egozentrischer!«
Das mögen kleinere Irritationen und Unpässlichkeiten des Alltags sein. Doch es kommt immer schlimmer. Bei mir brachten drei Meldungen das Fass zum Überlaufen. In dem Sinne, dass ich keine Lust mehr hatte, mir das alles entgeistert anzusehen, sondern mich zumindest auf diesem Wege, also mit dem Buch, zu wehren: Die Nachrichten, dass Patienten die Erste-Hilfe-Notaufnahme mit einer Lappalie missbrauchen und dann dort auch noch randalieren. Weil es ihnen zu langsam geht. Die Nachrichten, dass Gaffer sich an Unfällen aufgeilen, filmen und die Rettungskräfte behindern. Auch aktiv. Die Nachrichten, dass von Jahr zu Jahr mehr Bahnbedienstete beleidigt und auch körperlich attackiert werden. Teils heftig. Ich wollte genauer wissen, was in unserem Land vorgeht, und habe mit Menschen gesprochen, die selbst zum Opfer wurden. Was sind die Ursachen dieses brutal rücksichtslosen Verhaltens, wollte ich wissen. Und gibt es Auswege?
Vor ein paar Jahren schon war mir ein vermehrt rüpelhaftes Verhalten im Alltag aufgefallen. »Die Flegel« wollte ich mein Buch zunächst nennen und vor allem über Beschäftigte in Unternehmen schreiben, die unter dem oft unverschämten Verhalten ihrer Kunden leiden. Interviews bei Fluggesellschaften, im Einzelhandel oder bei der Bahn bestätigten meine These, dass es da ein echtes Problem gibt. Allerdings wollten die Unternehmen darüber nicht öffentlich reden, denn schließlich wollten sie ihre Kunden nicht kritisieren. Ich sah keine Chance, genügend Informationen zu bekommen, und so legte ich das Projekt erst einmal beiseite. Dann erschien 2012 das Buch des Journalisten Jörg Schindler Die Rüpel-Republik, das unsoziales Verhalten in der Gesellschaft generell aufs Korn nahm. Ich fand das Buch sehr gut und ließ meine Idee fallen, denn ich konnte mir nicht vorstellen, Schindlers Ergebnissen noch etwas Neues hinzuzufügen.
Doch einige Jahr später hat sich die Lage geändert, und zwar zum Schlechteren. Sei es im Zug, im Café, im Krankenhaus oder in der Politik: Das Rüpelhafte ist in der Öffentlichkeit zur Normalität geworden und es setzt sich zunehmend im privaten Leben fort. Heute gibt es noch weit mehr Anzeichen dafür, dass sich der Umgang der Menschen untereinander erheblich verschlechtert hat, und es gibt auch einen neuen Befund: Es ist nicht nur das Benehmen, das zu wünschen übrig lässt. Es geht viel tiefer. Empathie und Solidarität, zwei ganz wesentliche Grundpfeiler einer humanen Gesellschaft, erodieren zunehmend. Das ist zumindest meine Wahrnehmung, und es ist die Wahrnehmung vieler Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe. Auch mit der Deutschen Bahn, die nun über das Problem redet. Offenbar ist eine Schmerzgrenze überschritten.
Immer häufiger treffen wir auf Zeitgenossinnen1, die sich selbst extrem wichtig nehmen. So wichtig, dass sie alle paar Meter ein Foto von sich aufnehmen und das dann in die Welt verschicken müssen. Die Selfie-Manie ist der oberflächliche Ausdruck einer Entwicklung, bei der das Ich immer wichtiger wird und das Wir an Bedeutung verliert. Unter der Egomanie leiden Beziehungen, im Kleinen wie im Großen. Dieser Ego-Kult ist ein Teil dessen, um das es mir geht. Es ist sogar noch der harmlosere Teil, wenn Menschen versuchen, ihren Körper, ihre Erscheinung, ihr ganzes Leben zu optimieren – um im täglichen Konkurrenzkampf besser bestehen zu können. Die Ursachen dafür sind keineswegs trivial, die Erscheinungsformen schon eher.
Ist die gesamte Gesellschaft auf dem Ego-Trip? Zum Glück (noch) nicht. Es gibt jedoch ernsthafte Anzeichen dafür, dass dies eines Tages so sein könnte – wenn wir nicht höllisch aufpassen. Schon jetzt ist deutlich erkennbar, dass eine Ideologie, die nur für wertvoll hält, was sich ökonomisch rechnet, die die Menschen in eine fortwährende Konkurrenz zueinander schickt, tiefe Spuren in unseren Herzen und Hirnen hinterlassen hat. Meine Gespräche und Recherchen haben dafür etliche und deutliche Anzeichen ergeben.
Sie werden sich die Frage stellen, ob es schon mal besser war mit der Solidarität. Die Antworten fallen wohl unterschiedlich aus, je nach den Lebenserfahrungen und -umständen. Was ist der Bezugspunkt für den Vergleich? War es früher tatsächlich besser? Wenn ja, wann und warum? Wie hat sich Solidarität historisch entwickelt? Nehmen wir das Thema Flüchtlinge: Auf der Flucht vor Nazideutschland wurden Juden keineswegs überall mit offenen Armen empfangen. So wenig wie die Sudentendeutschen nach dem Krieg.
Was also ist meine Referenz, wenn ich sage, solidarisches Verhalten ist auf dem Rückzug? Vieles ist empirisch nicht klar nachvollziehbar, Daten und Fakten gibt es dazu nicht. Dennoch haben, so wie ich, viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, das Gefühl, dass unsere Kultur und unsere Gesellschaft derzeit einen Umbruch erleben. Alle haben dazu ihre ganz eigenen Geschichten. Und es ist mehr als ein Gefühl, dafür sind die Beispiele zu zahlreich und wiederkehrend.
Ich erzähle die Geschichten von Menschen aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, und ich erzähle die Geschichten, die ich selbst erlebt habe. Das zusammen ergibt ein Bild, das nicht immer eindeutig und manchmal sogar widersprüchlich erscheint. Deutlich wird jedoch, dass wir uns ändern müssen, um nicht bald schon in einem Land leben zu müssen, in dem sich jeder nur noch selbst der Nächste ist.
Heike Leitschuh, September 2018
Vorwort aus »Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip«. Westend Verlag GmbH, FFM. Erschienen am 2. Oktober 2018. Klappenbroschur 256 Seiten. ISBN 978-3-86489-228-8, Preis 19,00 € [D]. Auch als EPUB erhältlich, 978-3-86489-721-4, Preis 14,00 € [D].
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Gerhard Mersmann, Dr. phil., (Jahrgang 1956), gebürtiger Westfale, ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen.
Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Publizistische Aktivitäten durchziehen seine gesamte Biographie. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen. Mersmanns persönliches Blog >> https://form7.wordpress.com/ .
► Bild- und Grafikquellen:
1. Treppe hinauf (Symbolfoto): Um das Angestrebte zu erreichen, sollte man nicht zwanghaft den Status Quo halten wollen, daß wäre ein Rückschritt. In die Zukunft schauen und sich nach vorne bewegen, nur so lässt sich Zukunft (mit-)gestalten. Foto: Free-Photos. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.
2. Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (dt. auch Leo Tolstoi, * 28. Augustjul./ 9. September 1828greg. in Jasnaja Poljana bei Tula; † 7. Novemberjul./ 20. November 1910greg. in Astapowo, heute Lew Tolstoi in der Oblast Lipezk) war ein russischer Schriftsteller, Revolutionär und christlicher Anarachist. Neben bekannten Romanen, Dramen und Erzählungen wie z.B. Wieviel Erde braucht der Mensch? (1885), Der Leinwandmesser: Die Geschichte eines Pferdes (1863/86), Herr und Knecht (1895), Drei Tage auf dem Lande (1910) etc. verfasste Tolstoi auch zahlreiche philosophische, religiöse, gesellschaftskritische und politische Schriften wie z.B. Russische Bauern (1887), Was ist Geld? (1901), Über Erziehung und Bildung (1902), Krieg und Revolution (1904), Die Sklaverei unserer Zeit (1904), Das Ende eines Zeitalters (Die bevorstehende Umwälzung) (1906) und Rede gegen den Krieg (postum).
Foto: Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski (1863-1944), ein Pionier der Farbfotografie. Es ist das erste Farbfoto in Russland und entstand am 23. Mai 1908. Quelle: Wikimedia Commons. Dieses Werk ist nach Absatz 1 Artikel 6 des Gesetzes Nr. 231-FZ der Russischen Föderation vom 18. Dezember 2006; dem Umsetzungsgesetz für Buch IV des Zivilgesetzbuches der Russischen Föderation, in Russland gemeinfrei (in der Public Domain.)
3. Buchcover: »Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip« von Heike Leitschuh. Westend Verlag GmbH, FFM. Erschienen am 2. Oktober 2018. Klappenbroschur 256 Seiten. ISBN 978-3-86489-228-8, Preis 19,00 € [D]. Auch als EPUB erhältlich, 978-3-86489-721-4, Preis 14,00 € [D].