Flüchtlingsintegration braucht leistungsfähige öffentliche Strukturen
von Laurenz Nurk, Dortmund
Das Flüchtlings- und Migrationsthema wirft ein ganz neues Licht auf den Wert einer leistungsfähigen öffentlichen Daseinsvorsorge.
Ohne das ehrenamtliche Engagement so vieler Personen und Organisationen wäre die Aufnahme der Flüchtlinge in einem organisatorischen und humanitären Desaster geendet. Nun wird nochmals deutlich, dass die Aufgaben im gesamten öffentlichen Dienstleistungsbereich nicht mehr erfüllt werden können. Das Gerede vom angeblich zu großen öffentlichen Sektor ist ein bisschen leiser geworden, weil jeder Mensch spürt, dass nach aktuellen Schätzungen dem Staat fast 180.000 Beschäftigte, besonders in den Kommunalverwaltungen, fehlen.
Das ehrenamtliche Engagement so vieler Personen und Organisationen bei der Aufnahme der Flüchtlinge hat einerseits gezeigt, dass viele Menschen keine Zuschauer mehr sein, Solidarität leben und praktizieren wollen und andererseits, dass es dauerhaft darum geht, diese vielen Hilfen zu professionalisieren und den öffentlichen Dienst in den verschiedenen Aufgabenfeldern leistungsfähig zu machen.
Anfang der 1990er Jahre gab es im öffentlichen Dienst bundesweit 6,7 Millionen Beschäftigte, darunter 2,1 Millionen bei den Kommunen. Der Personalabbau erfolgte schwerpunktmäßig in der Zeit bis 2005, um mehr als zwei Millionen, auf nur noch 4,6 Millionen Beschäftigte wurde das Personal des öffentlichen Dienstes bis dahin reduziert. Die Einsparungen und der Stellenabbau gingen kontinuierlich weiter, so dass im Jahr 2014 Deutschland mit einem Anteil der Personenausgaben von nur noch 7,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) innereuropäisch gemeinsam mit Rumänien das Schlusslicht bildete.
Der Preis für die Gesellschaft ist sehr hoch. Es unterblieben notwendige öffentliche Investitionen und die Infrastruktur wird seit Jahren auf Verschleiß gefahren, was man überall und immer wieder im Alltag erfahren kann. Die Personalpolitik folgte in den vergangenen Jahrzehnten dem neoliberalen Leitbild vom subsidiären Gewährleistungsstaat, in dem soweit Personal abgebaut wurde, dass in weiten Bereichen der öffentlichen Dienstleistungen die Mängelverwaltung Einzug hielt.
Die mit der Integration der Geflüchteten verbundenen Herausforderungen treffen auf eine planmäßig ausgezehrte öffentliche Verwaltung.
► Der Ausbau der Kapazitäten ist deshalb in folgenden Bereichen dringend erforderlich:
Kinderbetreuung: Zigtausende Plätze in Kitas fehlen derzeit. Nach Einschätzung des Familienministeriums vom Herbst 2015 werden kurzfristig rund 68.000 zusätzliche Plätze in Kindertagesstätten benötigt. Dem liegt eine zurückhaltende Schätzung zugrunde, sowohl was die angenommene Zahl von Flüchtlingen (800.000 im Jahr 2015) als auch was die Betreuungsquote (Bedarf für 30 Prozent der Kinder und Kleinkinder) angeht. Mit einem höheren Bedarf muss gerechnet werden.
Schulen und Hochschulen: Es geht nicht nur um ein Mehr an Lehrkräften. Nach den Schätzungen, die seitens der Bundesanstalt für Arbeit (BA) und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im November 2015 publiziert wurden, sind unter den Flüchtlingen derzeit rund 180.000 Kinder im schulpflichtigen Alter und an die 200.000 Jugendliche im Alter von 18 bis 24 Jahren. Für diese Kinder und Jugendlichen, deren Zahl zunehmen wird, werden Plätze an Schulen und Ausbildungsstätten benötigt.
Volkshochschulen und Jugendbildungsarbeit: Finanzielle Austrocknung muss sofort beendet werden – die Sprachförderung von Anfang an ist unabdingbar. Integrationskurse aber gehen über die reine Sprachvermittlung hinaus. Schätzungen zufolge werden im Jahr 2016 bis zu 400.000 Kursplätze benötigt – eine Verdoppelung gegenüber 2015.
Familien- und Jugendsozialarbeit: Frühzeitige Intervention baut dem Entstehen von Parallelgesellschaften vor. Nicht wenige Familien werden in den kommenden Jahren Leistungen der Jugendhilfe und Familienfürsorge benötigen. Besonders schutzbedürftig sind unbegleitete Minderjährige. Rechtlichen Änderungen mit dem Ziel, die Betreuung auf Billiglösungen umzustellen, die dem Integrationsgedanken abträglich sind, ist eine Absage zu erteilen.
Gesundheitsdienste: Der Wiederaufbau funktionsfähiger Strukturen ist nötig. Knapp 400 Gesundheitsämter gibt es in Deutschland. Die Zahl der dort Beschäftigten wurde von über 20.000 auf jetzt noch rund 17.000 ausgedünnt. Weil die Dienste an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt sind, können selbst die gesetzlichen Aufgaben nur noch eingeschränkt erledigt werden. Für Flüchtlingskinder bedeutet dies: Sie müssen über Wochen und Monate auf Untersuchungen (Vorsorgeuntersuchung, schulärztliche Untersuchung) warten.
Integration erschöpft sich nicht im Spracherwerb und in der Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Integration erfordert auch Angebote wie z. B. die Teilnahme an Sport- und Kulturaktivitäten, die teilweise über die Zivilgesellschaft bereitgestellt werden können. Aber auch öffentliche Einrichtungen von Bibliotheken über Musikschulen bis hin zu Museen und Theatern sind gefordert. Aus der Forschung ist bekannt, dass öffentlichen Bibliotheken eine wichtige Rolle bei der Integration zukommt.
Einrichtung von Koordinierungs-, Informations- und Beratungsstellen: Alle Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen, benötigen für die Steuerung – zunächst der Aufnahme und dann der Integration – Anlaufstellen.
Keine weitere Privatisierung der inneren Sicherheit: Seit dem Ende der 1990er Jahre wurden im Sicherheitsbereich über 16.000 Stellen abgebaut. Parallel dazu boomt das Geschäft mit den privaten Sicherheitsdiensten.
Die vergangenen Jahre haben deutlich gezeigt, dass die neoliberale Weltordnung ihr Wohlstands- und Freiheitsversprechen immer weniger umsetzen kann. Immer weiter spreizt sich die Schere von dem reichsten Prozent der Weltbevölkerung, das über mehr Vermögen als der Rest der Welt zusammen verfügt, in der die 62 Einzelpersonen, genau so viel haben wie die 3,5 Milliarden Menschen, die die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung stellen.
Diese Menschen werden systematisch in die Flucht getrieben, auch weil die Verteilungs- und Aneignungskämpfe in Kriege münden und mittlerweile ganze Staaten verfallen lassen.
Laurenz Nurk (Quelle: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik Memorandum 2016 - weiterlesen)
► Quelle: Erstveröffentlicht am 31.10.2016 auf gewerkschaftsforum-do.de > Artikel. Die Texte (nicht aber Grafiken und Bilder) auf gewerkschaftsforum-do.de unterliegen der Creative Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 3.0 DE), soweit nicht anders vermerkt.
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1. Der Begriff Integration ist vom lateinischen integratio (Erneuerung) abgeleitet und bedeutet in der Soziologie die Ausbildung
- einer Wertgemeinsamkeit mit einem Einbezug von Gruppierungen, die zunächst oder neuerdings andere Werthaltungen vertreten, oder
- einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit einem Einbezug von Menschen, die aus den verschiedensten Gründen von dieser ausgeschlossen (exkludiert) und teilweise in Sondergemeinschaften zusammengefasst waren.
Integration hebt den Zustand der Exklusion und der Separation auf. Integration beschreibt einen dynamischen, lange andauernden und sehr differenzierten Prozess des Zusammenfügens und Zusammenwachsens. Gegenbegriff hierzu ist Desintegration. Foto: Flickr-user: certified su. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).
2. "Exklusion - Separation - Integration - Inklusion". Die Grafik zeigt verschiedene Formen des Zusammenlebens zwischen unterschiedlichen Gruppen in einer Gesellschaft/unterschiedlichen Mitgliedern in einer Gruppe. Urheber: WhiteHotaru. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei wird unter der Creative-Commons-Lizenz „CC0 1.0 Verzicht auf das Copyright“ zur Verfügung gestellt.
3. Buchcover: "Europäische Union und Flüchtlingsmigration – Solidarität statt Chaos"; Herausgeber: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik - Memorandum 2016; PapyRossa Verlag Köln, Umfang: 280 S., mit zahlr. Grafiken und Tabellen, Einband: kartoniertes Buch, erschienen am 15.05.2016; ISBN/EAN: 978-3-89438-611-5; Preis der Langfassung: 17,90 €.
Wie sieht es 2016 mit der wirtschaftlichen Lage in Deutschland und in Europa aus? Und was ist für die weitere Entwicklung zu erwarten? Allen offiziellen Prognosen widersprechend, ist die Krise nach wie vor nicht überwunden. Und angesichts der zunehmenden Migration steht die Wirtschaftspolitik wie in der gesamten Europäischen Union so auch in Deutschland vor neuartigen Herausforderungen und wichtigen Weichenstellungen. Das MEMORANDUM 2016 benennt, wie die überkommenen Probleme und neuen Aufgaben bewältigt werden können. Dies erfordert eine nachhaltige, sozial-ökologisch ausgerichtete wirtschaftspolitische Strategie, die die wirklichen Krisenursachen angeht. Weitere Themen sind die Politik der EZB und Geldpolitik, Steuerpolitik und Bankenregulierung. Außerdem behandelt das MEMORANDUM dieses Jahr kritisch die Energiewende sowie die Bildungspolitik.
Der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik gehören Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Universitäten, Fachhochschulen, Forschungseinrichtungen und Gewerkschaften an. Ihr jährliches Memorandum ist längst zu einer festen Einrichtung geworden und aus der aktuellen Debatte nicht wegzudenken. Es stellt einen Gegenentwurf zum jeweiligen Jahresgutachten der »Fünf Weisen« dar, von denen sich die Bundesregierung ihren wirtschaftspolitischen Kurs bestätigen lässt.