„Gute digitale Arbeit 4.0“? Leeres Versprechen im Koalitionsvertrag

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„Gute digitale Arbeit 4.0“? Leeres Versprechen im Koalitionsvertrag
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„Gute digitale Arbeit 4.0“?

Leeres Versprechen im Koalitionsvertrag

von Marcus Schwarzbach / Gastautor des isw München e.V.

Erwartungsgemäß nimmt die Digitalisierung breiten Raum im Koalitionsvertrag ein. Die Regierung wolle weiterhin „Industrie 4.0“ fördern. Denn die „Digitalisierung bietet große Chancen für unser Land und seine Menschen“. Ziel sei „eine Arbeitswelt, die Menschen im digitalen Wandel befähigt, sichert und mehr Lebensqualität ermöglicht“.

Eine besondere Bedeutung wird dabei der mobilen Arbeit gegeben. Mobile Arbeit kann bedeuten, dass unterwegs oder zuhause gearbeitet wird. „Wir wollen mobile Arbeit fördern und erleichtern. Dazu werden wir einen rechtlichen Rahmen schaffen“, erklären Unionsparteien und SPD. Es solle einen „Auskunftsanspruch der Arbeitnehmer gegenüber ihrem Arbeitgeber über die Entscheidungsgründe der Ablehnung“ von mobiler Arbeit geben. Dies unterstütze die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, suggerieren die Vertragspartner. „Die Digitalisierung hilft Eltern, Familie und Beruf in Einklang zu bringen. Diese Chance für mobiles Arbeiten wollen wir nutzen“.

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Die Realität moderner Technik sieht anders aus. Durch Smartphones, Tablets oder Notebooks ist Arbeit nicht mehr zwangsläufig an einen bestimmten Ort oder feste Zeiten gebunden. Die Klagen im Betrieb über die ständige Erreichbarkeit werden größer – für immer mehr Beschäftigte verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. „Mit dem Bearbeiten von beruflichen E-Mails von zu Hause, in der Bahn, im Bus, in Hotelzimmern, in Cafés, auf Dienstreise, nach Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub hat sich Arbeiten ‚immer‘ und ‚überall‘ als Normalzustand etabliert“, betont die Soziologin Dr. Tanja Carstensen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der LMU München.

► Mobile Arbeit – mit welchen Standards?

Wissenschaftliche Auswertungen zum Arbeiten zuhause lassen Schlimmstes befürchten. Eine Untersuchung zu „Belastung und Beanspruchung durch alternierende Telearbeit“ zeigt auf, dass nur in 60 % der analysierten Fälle keine Beanstandungen vorgenommen wurden. „Ergonomischen Erfordernissen wird offenbar bei der Einrichtung des häuslichen Arbeitsplatzes nicht genügend Beachtung geschenkt“. (>> PDF) Hier zeigt sich bereits ein Problem digitaler Arbeit, dass bei jeder Art von Arbeit ein Thema ist: Recht haben und Recht bekommen. Oder anders ausgedrückt: wie selten Arbeitsschutzvorgaben eingehalten werden.

virtuelle_arbeitswelt_virtueller_arbeitsplatz_realitaet_digitalization_digitalisierung_digitaler_wandel_kritisches_netzwerk_bitkom_mobil_telearbeit_telecommuting_teleworking_arbeit_industrie_4._0.jpgErstaunlich ist auch, wo nach einer Studie (PDF) des Branchenverbands Bitkom mobil gearbeitet wird: Bei „mobiler Arbeit“ arbeiten

- zuhause 62 %

- in der Bahn 39 %

- im Auto (!) 22%

- im Hotel 19 %

- im Flugzeug 15 %

- im Café 14 %.

Wie hier noch Arbeitsschutzbestimmungen eingehalten werden sollen, sagen die vermeintlichen Regierungspartner nicht. „Auch die Tarifpartner sollen Vereinbarungen zu mobiler Arbeit treffen“, erklären Union und SPD – ohne Standards zu benennen, für die der Gesetzgeber zu sorgen hat.

Dem DGB-Index "Gute Arbeit" zufolge müssen 27 Prozent der Beschäftigten bereit jetzt sehr häufig oder oft nach Dienstschluss erreichbar sein. Neben dieser zeitlichen Belastung gibt es durch die Digitalisierung aber noch weitere Probleme für die Beschäftigten. Belastend ist auch die hohe Anzahl der Kommunikationskanäle in vielen Betrieben. Anforderungen per Mails, über Chats und mit Sozialen Netzwerke zu kommunizieren, nehmen zu. Dies führt zur Überforderung, für viele Beschäftigte ist es zu viel auf einmal. Zumal sich die Angestellten häufig mit widersprüchlichen Anweisungen konfrontiert sähen. So stünden der allgemeinen Aufforderung, sich in Sozialen Medien zu engagieren und mitzudiskutieren, oft unterschiedliche Kulturen in einzelnen Abteilungen gegenüber, die dies als Zeitverschwendung betrachten, kritisiert die Soziologin Carstensen. Diesen Widerspruch zu lösen, liege dann in der Eigenverantwortung der Beschäftigten und führt zur Unsicherheit, was der richtige Weg ist.

► Prüfen statt Handeln

depression_seelenleiden_burnout_ueberforderung_staendige_erreichbarkeit_psychische_erkrankungen_psychischer_druck_kritisches_netzwerk_arbeitsbedingungen_arbeitsbelastung_ausfalltage.jpgWenig konkret sind deshalb auch die Ziele der neuen Regierung beim Arbeitsschutz. Man wolle „die Sozialstaatsforschung wieder verstärken und die sozialpartnerschaftlich ausgerichtete „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ fördern“ (INQA). Konkret solle das weitere Vorgehen nur geprüft werden, heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir wollen den Arbeitsschutz insbesondere mit Blick auf die Herausforderungen der Digitalisierung überprüfen. Die vorliegenden Studien der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), besonders mit Blick auf psychische Erkrankungen, sollen dazu ausgewertet werden“.

Dabei sind bereits heute die Zahlen erschreckend! Noch nie gab es so viele Ausfalltage im Job wegen psychischer Erkrankungen: Mit rund 246 Fehltagen je 100 Versicherte waren Seelenleiden auf dem Höchststand. „Die Zahl der Fehltage hat sich in den letzten 20 Jahren damit mehr als verdreifacht“. Vor allem Frauen waren betroffen. Wegen keiner anderen Erkrankungsgruppe fehlten sie im vergangenen Jahr so lange am Arbeitsplatz. Das zeigt eine Analyse der Krankenkasse DAK-Gesundheit zum Krankenstand. Statt Auswertung von Forschungsergebnissen wäre hier Handeln angesagt.

► Lippenbekenntnisse zu Tarifverträgen

Selbst die Bedeutung von Tarifverträgen betont die Vereinbarung: „Das Zeitalter der Digitalisierung wollen wir als Chance für mehr und bessere Arbeit nutzen. Wir wollen deshalb neue Geschäftsmodelle fördern und gleichzeitig die Tarifbindung stärken“. Ähnlich klang es auch im „Weißbuch Arbeiten 4.0“ [siehe auch PDF im Anhang] des Bundesarbeitsministeriums. „Die möglichen Produktivitätsgewinne der Digitalisierung müssen zu Lohnzuwächsen in allen Branchen führen. Tarifverträge sind hier ein wichtiges Instrument“. Die Ankündigung, es sei „nachdrücklich das gemeinsame Ziel der Bundesregierung, die Tarifbindung in Deutschland wieder zu stärken“, blieb bereits damals folgenlos.

Dabei hat die Tarifbindung in den vergangenen Jahren stetig abgenommen, macht die Arbeitnehmerkammer Bremen zu Beginn des Jahres deutlich. Es sei kein Ende in Sicht, denn die Tarifbindung der Beschäftigten sei „zwischen 1998 und 2016 in den westlichen Bundesländern von 76 auf 59 Prozent gesunken, in den östlichen von 63 auf 47 Prozent“. Gefordert wäre der Gesetzgeber: Ein erleichtertes gesetzliches Antragsverfahren per Tarifvertragsgesetz, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, so dass diese auch für Unternehmen ohne Tarifbindung – also ohne Haustarifvertrag oder Arbeitgeberverbandsmitgliedschaft – gelten, wurde bis heute nicht von der CDU/CSU-SPD-Regierung eingebracht. So werden diese Anträge in entscheidenden Fällen weiterhin von den Unternehmensverbänden im entsprechenden Ausschuss blockiert – so schreibt es § 5 Tarifvertragsgesetz vor.

Die eigene Vorgabe, „Gute digitale Arbeit 4.0“ zu schaffen, wird eine neue Regierung mit diesem Papier nicht erfüllen. Arbeitsbedingungen ändern sich nicht durch folgenlose Papiere, die verfasst werden, sondern durch klare Vereinbarungen in Gesetzen oder Tarifverträgen.

Marcus Schwarzbach



► Quelle: Erstveröffentlicht am 27. Januar 2018 bei isw-München >> Artikel. Marcus Schwarzbach ist Gastautor bei isw-München. Die Bilder im Artikel sind nicht Bestandteil des Originalartikels und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. andere Lizenzen, s.u..

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2. Virtuelle Arbeitswelt: Foto: CommScope (NASDAQ: COMM). CommScope helps companies around the world design, build and manage their wired and wireless networks. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

3. Depression - Burnout - Seelenleiden. Noch nie gab es so viele Ausfalltage im Job wegen psychischer Erkrankungen. Mit rund 246 Fehltagen je 100 Versicherte waren Seelenleiden auf dem Höchststand. „Die Zahl der Fehltage hat sich in den letzten 20 Jahren damit mehr als verdreifacht“. Vor allem Frauen waren betroffen. Wegen keiner anderen Erkrankungsgruppe fehlten sie im vergangenen Jahr so lange am Arbeitsplatz.

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