Befristete Beschäftigung erreicht neuen Höchststand
von Markus Krüsemann / miese-jobs.de
Über neun Prozent mehr befristet Beschäftigte innerhalb eines Jahres, das sorgt für einen Rekordstand bei den Verträgen auf Zeit. Vor allem die Befristungen ohne Sachgrund legen kontinuierlich zu. Dagegen will die Bundesregierung endlich vorgehen, doch ihre Pläne bleiben auch hier arbeitsmarktpolitisches Stückwerk.
Die anhaltend gute konjunkturelle Entwicklung schlägt sich in steigender Erwerbstätigkeit u. auch in der Zunahme sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung nieder. Die Kehrseite der Medaille: Auch die atypische Beschäftigung weitet sich aus (vgl. 16.08.2017), wie am aktuellen Beispiel Berlins studiert werden kann. In diesem Zusammenhang ist besonders auffällig, dass die Zahl befristeter Beschäftigungsverhältnisse nicht nur nicht zurückgeht, sie steigt bundesweit dermaßen kräftig an, dass im Jahr 2017 ein neuer Höchststand erreicht worden ist.
„So viele befristete Arbeitsverträge wie nie“, titelte SPIEGEL ONLINE und berief sich dabei auf neue Zahlen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Dessen Pressemeldung zum Thema kann man entnehmen, dass im Jahr 2017 rund 3,15 Mio. Beschäftigte nur einen befristeten Arbeitsvertrag hatten.
Im Vergleich zu den knapp 2,89 Millionen des Vorjahres bedeutet das ein Plus von 268.000 Personen bzw. 9,3 Prozent. Zwar steigt die Zahl der befristet Beschäftigten seit 2003 nahezu kontinuierlich an, einen so gewaltigen Sprung hat es mit 9,0 Prozent zuletzt aber im Jahr 2011 gegeben.
Befristete Arbeitsverträge in Deutschland (in Tausend)
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Gestiegen ist aber nicht nur die absolute Zahl an befristet Beschäftigten. Auch ihr Anteil an der betrieblichen Gesamtbeschäftigung (ohne Auszubildende) nahm nach Jahren einer verhaltenen Entwicklung wieder deutlich zu. Nachdem der Anteil vier Jahre lang mehr oder weniger bei 7,8 Prozent gelegen hatte, schnellte er 2017 auf 8,3 Prozent hoch, womit ebenfalls ein neuer Höchststand markiert wurde. Der Anteil der Befristungen an allen Neueinstellung hat sich mit 43,5 Prozent dagegen kaum verändert. Er liegt bereits seit 2004 auf einem hohen Niveau von durchgängig über 42 Prozent.
Anteile befristeter Beschäftigungsverhältnisse an der betrieblichen Gesamtbeschäftigung (ohne Azubis; in Prozent)
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► Sachgrundlose Befristungen weiter auf dem Vormarsch
Unbestritten ist, dass es in der betrieblichen Praxis immer wieder auch eine Reihe von befristet zu erledigenden Aufgaben gibt. Hinzu kommt der an Bedeutung eher zunehmende Aspekt der temporären Personalvertretung, etwa wenn feste MitarbeiterInnen in Eltern- oder Pflegezeit gehen, oder wegen einer längeren Erkrankung ausfallen. Abgesehen von solchen mit Sachgrund hinterlegten Befristungen, greifen aber die Befristungen ohne Sachgrund um sich. Der Anteil der sachgrundlosen Befristungen an der betrieblichen Gesamtbeschäftigung ist in den letzten Jahren gestiegen. Lag ihr Anteil an allen Befristungen 2001 noch bei 1,7 Prozent, so stiegt er bis 2013 bereist auf 3,8 Prozent, um im Jahr 2017 einen Wert von 4,3 Prozent zu erreichen. In absoluten Zahlen: Von den 3,15 Mio. befristet Beschäftigten des Jahres 2017 hatte mit knapp 1,58 Millionen etwa die Hälfte einen Zeitvertrag ohne Angabe eines Sachgrundes.
Ganz offensichtlich wird von sachgrundlosen Befristungen bei Personaleinstellungen nicht mehr „nur“ in wirtschaftlich bzw. konjunkturell unsicheren Zeiten Gebrauch gemacht. Laut IAB-Stellenerhebung erfolgten 82 Prozent der befristeten Neueinstellungen im Jahr 2017 zur Deckung längerfristigen Bedarfs. Befristungen zur Deckung eines vorübergehenden Ersatz- oder Mehrbedarfs spielen demnach kaum eine Rolle. Hier zeigt sich, dass der vom Gesetzgeber eröffnete weite Spielraum Unternehmen geradezu einlädt, das Kündigungsschutzgesetz zu umgehen, mittels Zeitverträgen die Probezeit zu verlängern und die neuen MitarbeiterInnen erst einmal auf ihre Tauglichkeit zu testen.
Nicht alle Arbeitgeber geben das so offen zu wie die Deutsche Post, die frank und frei erklärte, bei den Brief- und PaketzustellerInnen die rechtlichen Möglichkeiten zur Befristung von Arbeitsstellen als Erprobungsphase zu nutzen, um vor der Übernahme in unbefristete Beschäftigung auszusieben. Es versteht sich wohl von selbst, dass Unternehmen wie die Post in den Verträgen auf Zeit nicht nur ein attraktives Instrument der Leistungssteigerung, sondern auch der Disziplinierung ihres Personals sehen.
Für die These, dass Unternehmen die Befristungsoptionen zunehmend als bequeme Möglichkeit der Personalerprobung und -auswahl nutzen, spricht auch die Tatsache, dass die Übernahmechancen in unbefristete Beschäftigung seit Jahren kontinuierlich ansteigen. Die, die den Sprung geschafft haben und vom Betrieb fest angestellt werden (zuletzt waren das etwa 42 Prozent) werden aufatmen, denn sie haben eine Zeit des Hoffens und Bangens hinter sich. Alle anderen bleiben in einer prekären Erwerbs- und Lebenssituation, sei es, weil sie eine Fristverlängerung bekommen haben (33 Prozent), oder weil ihr Arbeitsverhältnis planmäßig endete (25 Prozent).
So oder so bleibt ihr Leben von Planungsunsicherheiten und Existenzsorgen geprägt. Darunter leiden vor allem junge Erwerbstätige, die besonders häufig von Befristungen betroffen sind. Häufige Stellenwechsel, teils auch verbunden mit Ortswechseln, erschweren die Bildung einer stabilen Partnerschaft, während die wirtschaftliche Planungsunsicherheit mit dem Wunsch nach Kindern kollidiert.
► Gegensteuern bleibt arbeitsmarktpolitisches Stückwerk
Gegen das ausufernde Befristungsunwesen will die amtierende Bundesregierung nun endlich vorgehen. Nein, die Möglichkeit, sachgrundlos zu befristen, soll nicht einfach ersatzlos gestrichen werden. Um den Missbrauch bei den Befristungen zu unterbinden, soll aber wenigstens ihr Anteil an allen Zeitverträgen zurückgestutzt werden. Geplant ist, dass Arbeitgeber mit mehr als 75 Beschäftigten in Zukunft nur noch maximal 2,5 Prozent ihrer Belegschaft sachgrundlos befristen dürfen. Zudem soll die Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes generell nur noch für die Dauer von 18 statt bislang von 24 Monaten zulässig sein. Auch der elenden Praxis der Kettenbefristungen soll es ein wenig an den Kragen gehen. Laut Koalitionsvertrag soll dazu eine individuelle Höchstbefristungsdauer beim selben Arbeitgeber von fünf Jahren eingeführt werden.
Zwar bleibt abzuwarten, was auf dem Weg zur endgültigen Gesetzgebung davon übrig bleibt, doch schon jetzt sind mahnende Stimmen zu vernehmen, die vor Ausweichreaktionen der Arbeitgeber warnen. Unternehmen könnten ihre liebgewonnene Flexibilität beim Personaleinsatz demnach über die vermehrte Nutzung von Werkverträgen und Leiharbeit oder den Einsatz freier Mitarbeiter erhalten. Für die ArbeitnehmerInnen wäre dann wenig gewonnen, wenn unter dem Strich ein weiteres Downsizing bei der Qualität der Arbeit stünde. Solche Befürchtungen entbehren nicht jeglicher Grundlage. Sie verweisen aber vor allem auf ein zentrales Politikdefizit. Zu lange schon bescheidet sich Politik bei der Regulierung in den unterschiedlichsten Politikfeldern mit einem bloß reaktiven Regieren, bei dem mit meist viel zu großer Zeitverzögerung immer nur an einer einzelnen Stellschraube gedreht wird, um die schlimmsten Auswüchse wieder einzudämmen. Man könnte das Feuerwehrpolitik nennen oder den von Charles E. Lindblom (21. März 1917 – 30. Januar 2018) geprägten Begriff des „Muddling-Through“ verwenden - Durchwurschteln eben.
Es käme also auf einen umfassenden, integralen Ansatz an, um die Möglichkeiten für Arbeitgeber billige und für sie bequem zu händelnde Jobs von schlechter Qualität an den Start zu bringen, wieder konsequent auf das geringstmögliche Maß zurückzufahren. Ein bisschen Regulieren bei der Leiharbeit hier, ein paar Restriktionen bei Teilzeit und Befristungen dort, das reicht vorne und hinten nicht. Wer Arbeitsmarktpolitik nicht mit einer strategischen Zielsetzung hinterlegt, sondern als Stückwerk betreibt, der zieht im „Hase und Igel“-Rennen stets den Kürzeren. Kaum ist ein Brandherd gelöscht, geht es weiter zum nächsten, an dem findige Arbeitgeber auf der Suche nach Wettbewerbsvorteilen und Gewinnmaximierung längst schon zündeln.
Markus Krüsemann
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Quellen:
„So viele befristete Arbeitsverträge wie nie“, SPIEGEL ONLINE vom 03.07.2018. >> weiter.
IAB-Presseinformation vom 03.07.2018. >> weiter.
Hohendanner, C. (2018): Reform der befristeten Beschäftigung im Koalitionsvertrag: Reichweite, Risiken und Alternativen. IAB-Kurzbericht, Nr. 16/2018,Nürnberg. >> weiter. (PDF)
Gürtzgen, N./ Kubis, A. (2018): Reform des Befristungsrechts – mögliche Auswirkungen des Koalitionsvertrags auf Betriebe und Beschäftigte. In: IAB-Forum, Beitrag vom 3. Juli 2018. >> weiter.
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Hg.) (2018): Aktuelle Daten und Indikatoren: Befristete Beschäftigung in Deutschland, Nürnberg. >> weiter. (PDF)
Weiterlesen:
DGB Bundesvorstand (Hg.) (2018): Befristete Beschäftigung – Arbeiten ohne Bestandsschutz, 2. aktualisierte Auflage, Berlin.
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► Quelle: Erstveröffentlicht durch Markus Krüsemann am 06. Juli 2018 auf dessen Infoportal miese-jobs.de >> Artikel. Verbreitung des Textes unter der CC-Lizenz Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0). Zwei Grafiken sind Bestandteil des Originalartikels (Kennzeichnung Grafik1 und Grafik2). Die weiteren Grafiken und Bilder sind NICHT Bestandteil des Originalartikels und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt, für sie gelten ggf. andere CC-Lizenzen. (s.u.) . Unterstreichungen im Text und Grünfärbung von Zitaten wurden ebenfalls von H.S. gesetzt.
► Bild- und Grafikquellen:
1. TIME TO SAY GOODBYE: die Zahl befristeter Beschäftigungsverhältnisse geht nicht nur nicht zurück, sie steigt bundesweit dermaßen kräftig an, dass im Jahr 2017 ein neuer Höchststand erreicht worden ist. Grafik: geralt / Gerd Altmann, Freiburg. Quelle: Pixabay. Alle bereitgestellten Bilder und Videos auf Pixabay sind gemeinfrei (Public Domain) entsprechend der Verzichtserklärung Creative Commons CC0. Das Bild unterliegt damit keinem Kopierrecht und kann - verändert oder unverändert - kostenlos für kommerzielle und nicht kommerzielle Anwendungen in digitaler oder gedruckter Form ohne Bildnachweis oder Quellenangabe verwendet werden. >> Grafik.
2. Befristete Arbeitsverträge in Deutschland (in Tausend). Quelle: IAB-Betriebspanel.
3. Anteile befristeter Beschäftigungsverhältnisse an der betrieblichen Gesamtbeschäftigung (ohne Azubis; in Prozent). Quelle: IAB-Betriebspanel.
4. Postbotin: Fleissig, flink und zuverlässig - eine von ca. 80.000 PostzustellerInnen. Foto: Flickr-user forever_carrie_on. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0)
5. Das Leben von ArbeitnehmerInnen mit prekären Beschäftigungsverhältnissen bleibt von Planungsunsicherheiten und Existenzsorgen geprägt. Darunter leiden vor allem junge Erwerbstätige, die besonders häufig von Befristungen betroffen sind. Häufige Stellenwechsel, teils auch verbunden mit Ortswechseln, erschweren die Bildung einer stabilen Partnerschaft, während die wirtschaftliche Planungsunsicherheit mit dem Wunsch nach Kindern kollidiert. Grafik: geralt / Gerd Altmann, Freiburg. Quelle: Pixabay. Alle bereitgestellten Bilder und Videos auf Pixabay sind gemeinfrei (Public Domain) entsprechend der Verzichtserklärung Creative Commons CC0. Das Bild unterliegt damit keinem Kopierrecht und kann - verändert oder unverändert - kostenlos für kommerzielle und nicht kommerzielle Anwendungen in digitaler oder gedruckter Form ohne Bildnachweis oder Quellenangabe verwendet werden. >> Bild.
6. Neoliberalismus: Geißel der Menschheit. Weg mit den Abgehängten, Nutzlosen und Überflüssigen? SAG NEIN zu: Arbeitsarmut, Ausbeutung durch Leiharbeit, Zeitarbeit, Prekarisierung, Sozialdarwinismus, Alters- und Kinderarmut, Massenarmut, Sozialabbau, Sozialdumping, sozialer Ungerechtigkeit und Spaltung, Ausgrenzung, Entwürdigung! WEHRT EUCH gegen den sozialen Kahlschlag, gegen Staatswillkür und Staatszensur, gegen Konformitätsdruck und fortschreitende Konditionierung! Grafik: geralt / Gerd Altmann, Freiburg. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Originalbild. Das Textinlet wurde nachtäglich durch Wilfried Kahrs (WiKa) eingearbeitet.