Das Schwadronieren von Demokratie und Grundrechten
Erneuerung durch fette Mönche oder dürre Bauern?
by Gerhard Mersmann | NEUE DEBATTE
Ist es nicht eigentümlich, von einer Wahl zu sprechen, wenn bereits vorher klar ist, wer sie gewinnt?
Ist es nicht genau das Verhältnis, über das man sich seit Jahrzehnten in anderen Ländern, die sich erst gar nicht die Mühe machen, von Demokratie zu sprechen, so trefflich mokiert hat?
Und fällt es nicht auf, dass in den selbst ernannten Demokratien die Wahlbeteiligung stetig absinkt, dass es immer schwieriger wird, regierungsfähige Mehrheiten zu finden, die dann letztendlich aber keine faktische Mehrheit angesichts der Wahlberechtigten widerspiegelt?
Existieren nicht immer mehr Zweifel an der Legitimation derer, die sogar gewählt wurden?
Und wird nicht jede Regierung, die die Verantwortung innehatte, danach gehörig abgestraft?
Ja, besonders in einer Situation, in der der Systemvergleich immer wieder bemüht wird, um die Regierungsform anderer Staaten zu kritisieren, wäre es an der Zeit – für ein System, das sich überlegen wähnt –, die Schleusen für eine gewaltige Erneuerung zu öffnen.
Wenn hier die offene Gesellschaft das favorisierte Paradigma darstellt, warum werden dann nicht die Kräfte, die in Diversität und unterschiedlicher Perspektive liegen, geradezu entfesselt, um etwas Neues, Besseres entstehen zu lassen? Stattdessen sind Tendenzen zu beobachten, die genau in die andere Richtung weisen.
Da werden Grundrechte mit immer weicheren Argumenten eingeschränkt,
• da herrscht das Duo von Regel und Sanktion,
• da wabert aus allen Lebensritzen eine akklamatorische Presse [1],
• da wird jede Form von Kritik denunziert und mit einer faschistischen Volte gleichgesetzt,
• da wird Widerspruch zunehmend drastisch sanktioniert
• und da wird die Schere zwischen denen, die nichts haben als ihre Arbeitskraft und den Besitzenden immer größer.
In dieser Konstellation nicht auf Veränderung zu bestehen, gleicht einem nicht wieder gutzumachenden Defätismus. [2] Dass die Initiative nicht aus den Kreisen kommen wird, die mit den gegenwärtigen Verhältnissen gut fahren, liegt auf der Hand. Das war schon immer so und ist keine revolutionäre Erkenntnis. Wenn die Mönche fett und die Bauern dürr sind, dann hilft nicht der von den Mönchen vermittelte Gott, sondern nur ein Aufstand der Bauern.
Die Erneuerung wird nicht aus den etablierten Strukturen kommen, sondern aus den Teilen der Gesellschaft, in denen der existenzielle Druck groß ist und/oder die täglich errichtete Fassade einer lupenreinen Demokratie bereits als erheblich gebröckelt betrachtet wird.
Die Selbstgefälligkeit derer, die gut im Denunzieren und schlecht im Reformieren sind, treibt übrigens die Zahl der Unzufriedenen stetig in die Höhe. Dass diese das nicht begreifen, liegt an ihrer fatalen Isolation von der realen Lebenspraxis derer, die sich Veränderung wünschen. Die an den Tag gelegte Ignoranz wird über kurz oder lang als Brandbeschleuniger wirken.
Dazu gehören Veranstaltungen wie die Wahl des Bundespräsidenten, dessen Amt gut dazu geeignet wäre, in Form einer allgemeinen, freien und gleichen Wahl durch die Bevölkerung als eine Art initiierende Frischzellenkur zu wirken. Stattdessen wird eine Zeremonie abgehalten, in der – ganz pathetisch versteht sich – viel von Demokratie schwadroniert wird, obwohl das Ergebnis bereits seit Wochen feststeht. Und jeder Vorschlag, der etwas anderes forderte, wurde quasi mit der Begründung, alles andere führe in den Faschismus wie mit dem Hexenhammer totgeschlagen.
Die Welt hat sich verändert, die Verhältnisse haben sich verändert, nur die Struktur, die hat sich bewährt?
In jeder Hinsicht ist diese Frage berechtigt, in Bezug auf die internationalen Verhältnisse, hinsichtlich der eigenen Strukturen in Bürokratie und dem politischen System und in Bezug auf die eigene Haltung.
[1] Unter Akklamation wird im Allgemeinen ein zustimmender Beifall in einer Versammlung verstanden und vor allem eine Zustimmung zu einer Vorauswahl per Zuruf, Beifall oder einfachem Handzeichen. Hiermit unterscheidet sich die Akklamation von einer Abstimmung, wo mehrere Möglichkeiten erwogen werden.
[2] Defätismus steht für einen Zustand der Mutlosigkeit oder Schwarzseherei. Ursprünglich bezeichnete der Begriff die Überzeugung, dass keine Aussicht auf einen Sieg besteht, und eine daraus resultierende starke Neigung aufzugeben.
Gerhard Mersmann
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„Nichts weiter als die Herrschaft des Pöbels, wo 51% des Volkes
den anderen neunundvierzig die Rechte wegnehmen dürfen.“
(Thomas Jefferson)
„Unbeschränkte Demokratie ist, genauso wie Oligarchie,
eine auf eine große Gruppe von Menschen ausgedehnte Tyrannei.“
(Aristoteles)
„Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe von nachdenklichen,
engagierten Bürgern die Welt verändern kann.
Es ist in der Tat das Einzige, was das je getan hat.“
(Margaret Mead, US-amerikanische Anthropologin)
► Nachbemerkungen von Helmut Schnug:
Anlässlich der Vorstellung des 12. Allensbacher Jahrbuchs der Demoskopie im März 2010 des Meinungsforschungsinstituts Allensbach hielt die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel eine ausführliche Ansprache, in der sie die Meinung vertrat, dass Entscheidungen, die gegen den Willen des Volkes durchgeführt werden, im demokratischen Sinne vertretbar seien. Gleichzeitig verwies sie wörtlich darauf, dass „all die großen Entscheidungen keine demoskopische Mehrheit hatten, als sie gefällt wurden.“
Parteien haben die Aufgabe zu herrschen und bekommen von der repräsentativen Demokratie den Auftrag. Dann haben sie vier Jahre Zeit, diese Herrschaft gegenüber dem Wahlvolk zu erklären. Sie sagte explizit:
»Aber genau deshalb bin ich auch zutiefst davon überzeugt, dass es richtig ist, dass wir eine repräsentative Demokratie und keine plebiszitäre Demokratie haben und dass uns die repräsentative Demokratie für bestimmte Zeitabschnitte die Möglichkeit gibt, Entscheidungen zu fällen, dann innerhalb dieser Zeitabschnitte auch für diese Entscheidungen zu werben und damit Meinungen zu verändern.
Wir können im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik sagen, dass all die großen Entscheidungen keine demoskopische Mehrheit hatten, als sie gefällt wurden. Die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, die Wiederbewaffnung, die Ostverträge, der Nato-Doppelbeschluss, das Festhalten an der Einheit, die Einführung des Euro und auch die zunehmende Übernahme von Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt — fast alle diese Entscheidungen sind gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt.
Erst im Nachhinein hat sich in vielen Fällen die Haltung der Deutschen verändert. Ich finde es auch vernünftig, dass sich die Bevölkerung das Ergebnis einer Maßnahme erst einmal anschaut und dann ein Urteil darüber bildet. Ich glaube, das ist Ausdruck des Primats der Politik. Und an dem sollte auch festgehalten werden.« [> Merkels Rede hier und hier]
Keines der fünf höchsten Ämter Deutschlands wurde jemals mittels bundesweiter Abstimmungen durch den Willen der Bürger (m/w/d) entschieden und vergeben. In Deutschland besteht keine verbindlich festgelegte protokollarische Rangordnung. Anerkannt ist nur, dass der Bundespräsident als Staatsoberhaupt der protokollarisch ranghöchste Repräsentant des Staates ist. Allerdings ergibt sich aus der Staatspraxis eine inoffizielle Rangfolge:
• Bundespräsident (Staatsoberhaupt) ⇒ seit 19. März 2017 Frank-Walter Steinmeier (SPD)
• Präsident des Deutschen Bundestages (Vertreter der Legislative) ⇒ seit 26. Oktober 2021 die Bärbel Bas (MdB SPD).
• Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland (Vertreter der Exekutive) ⇒ seit dem 8. Dezember 2021 Olaf Scholz (SPD)
• Präsident des Bundesrates (offizieller Stellvertreter des Bundespräsidenten, Vertreter der Bundesländer) ⇒ seit dem 1. November 2021 Bodo Ramelow (Die Linke). Verfassungsgemäß kann jedes Bundesratsmitglied zum Präsidenten gewählt werden. Vereinbarungsgemäß rotiert das Amt des Präsidenten jährlich zwischen den Regierungschefs der 16 deutschen Länder.
• Präsident des Bundesverfassungsgerichts (Vertreter der Judikative) ⇒ seit 22. Juni 2020 Stephan Harbarth (CDU).
► Quelle: Dieser Artikel wurde am 24. Februar 2022 erstveröffentlicht auf der Webseite NEUE DEBATTE - "Journalismus und Wissenschaft von unten" >> Artikel. Alle auf NEUE DEBATTE veröffentlichten Werke (Beiträge, Interviews, Reportagen usw.) sind – sofern nicht anders angegeben oder ohne entsprechenden Hinweis versehen – unter einer Creative Commons Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International; CC BY-NC-ND 4.0) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen diese von Dritten verbreitet und vervielfältigt werden.
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Gerhard Mersmann, Dr. phil., (Jahrgang 1956), gebürtiger Westfale, ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen.
Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Publizistische Aktivitäten durchziehen seine gesamte Biographie. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen. Mersmanns persönliches Blog >> https://form7.wordpress.com/ .
► Bild- und Grafikquellen:
1. Letzte Ruhestätte für die Demokratie - wir leben (auch in Deutschland) längst in einer Eliten-, parlamentarischen-, Pseudo-, repressiven Scheindemokratie, die man korrekterweise als 'Demokratur' bezeichnen sollte. Foto OHNE Inlet: Foto: congerdesign. Quelle: pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto. Der Text wurde von Helmut Schug eingefügt.
2. Demokratie? Bürgerrechte? Grundrechte werden mit immer weicheren Argumenten eingeschränkt, da herrscht das Duo von Regel und Sanktion, da wabert aus allen Lebensritzen eine akklamatorische Presse, da wird jede Form von Kritik denunziert und mit einer faschistischen Volte gleichgesetzt, da wird Widerspruch zunehmend drastisch sanktioniert und da wird die Schere zwischen denen, die nichts haben als ihre Arbeitskraft und den Besitzenden immer größer. Wir haben in Deutschland schon seit Jahrzehnten eine Demokratur. Bildbearbeitung: Wilfried Kahrs (WiKa).
3. Zitate aus Tocquevilles Werk "Über die Demokratie in Amerika", Bd. 2: »Es ist wirklich schwer einzusehen, wie Menschen, die der Gewohnheit, sich selbst zu regieren, vollständig entsagt haben, im stande sein könnten, diejenigen gut auszuwählen, die sie regieren sollen.« [..] »Fast überall in Europa herrscht der Souverän auf zwei Arten: den einen Teil der Bürger lenkt er durch ihre Furcht vor seinen Beamten, den anderen durch die Hoffnung, seine Beamten zu werden.« Screenshot aus dem YT-Video SOCIOLOGY - Alexis De Tocqueville (Dauer 7:01 Min.), produziert von "theschooloflife" >> weiter.
4. Frank-Walter Steinmeier hat gut Lachen: Der Bundespräsident darf „kein anderes besoldetes Amt“ ausüben, woraus im Umkehrschluss folgt, dass auch sein Amt ein besoldetes ist. Der Bundespräsident erhält Amtsbezüge in Höhe von 10/9 des Amtsgehalts des Bundeskanzlers. Die Amtsbezüge betragen im April 2021 laut Bundesinnenministerium 21.243 Euro im Monat, also rund 254.000 Euro jährlich. (Haushaltsjahr 2020).
Für amtsbezogene Aufwendungen erhält der Bundespräsident zusätzlich zu seinen Amtsbezügen ein Aufwandsgeld in Höhe von 78.000 Euro im Jahr. Hinzu tritt freie Amtswohnung mit Ausstattung und Aufwandsgeld (Aufwandsentschädigung), aus dem auch die Löhne des Hauspersonals zu zahlen sind. Amtsbezüge und Aufwandsgeld werden jährlich durch den Haushaltsgesetzgeber im Haushaltsplan des Bundespräsidenten bewilligt.
Die Ruhebezüge nach Ausscheiden aus dem Amt sind im "Gesetz über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten" seit 1959 inhaltlich unverändert geregelt. Danach erhält ein Bundespräsident, wenn er mit Ablauf seiner Amtszeit oder vorher aus politischen oder gesundheitlichen Gründen aus seinem Amt ausscheidet, Ruhebezüge in Höhe der Amtsbezüge. Das Gesetz spricht vom Ehrensold des Bundespräsidenten. Versorgungsbezüge aus einer anderweitigen Tätigkeit im öffentlichen Dienst werden auf den Ehrensold angerechnet, der sich dann dementsprechend verringert. Ein Aufwandsgeld wird nach dem Ausscheiden aus dem Amt nicht mehr gezahlt.
Foto: fsHH / Franz, Hamburg. Quelle: pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.
5. Altkanzlerin Dr. Angela Merkel. Bildbearbeitung: Wilfried Kahrs (WiKa).