Vom Überdruss zur Rebellion?
Kollektive Aversion gegen das vorliegende politische System
by Gerhard Mersmann | NEUE DEBATTE
Psychologisch gesehen existieren unterschiedliche Ursachen für eine Rebellion. Klassisch ist da die Not, die zumeist verbunden ist mit Demütigung und Erniedrigung. Oder es liegen Ängste vor, die sich auftürmen und durch einen Ausbruch, der einer Rebellion gleicht, Linderung verschaffen sollen. Oder es ist eine gewisse Ausweglosigkeit, deren Alternativen entweder in der Selbstaufgabe oder im Aufstand gegen die Welt um einen herum liegen.
Was selten in Betracht kommt, ist ein anderer Grund, der vorliegen mag, um die Faust in den Himmel zu recken. Dabei handelt es sich um den Überdruss. Er stellt sich dann ein, wenn die Signale, die das Hirn erreichen, das Gefühl einer gezielten Provokation oder einer Überdosis von Belanglosigkeit vermitteln.
Nicht, dass wir es in diesem Land, das sich so gerne feiert, nichts zu tun hätten mit Not und Elend. Nur haben diejenigen, die darunter leiden, keine Stimme. Und es gibt diejenigen, denen es sozial gar nicht so schlecht geht, die sich jedoch gesellschaftlich gemobbt fühlen. Sie alle existieren und sie werden, wenn die Ignoranz weiter ihren Lauf nimmt, den Brennstoff liefern am Tage des Ausbruchs.
Wer da zweifelt, dem sei empfohlen, aus seiner eigenen Blase herauszutreten und die Sinne zu öffnen. Meine eigene Erfahrung außerhalb der institutionellen Routinen haben zu Erkenntnissen geführt, die es in sich haben. Denn es existiert eine gewaltige Front von Menschen, die sich von dem, was als öffentliche Diskussion genannt wird, nicht nur entfernt, sondern bewusst abgewandt haben.
► Das feindliche Lager
Da sind Ärzte, die andere Erfahrungen gesammelt haben, als die offiziellen Bulletins verbreiten, da sind die Frauen aus dem sozialen Keller, die sich in Reinigung, Handel, Betreuung und Pflege abrackern, da sind Menschen, die schmerzhaft erfahren mussten, dass der Bereich, in dem sie wirkten, für das System irrelevant ist.
Was diese Menschen eint, ist die Erfahrung, dass die offizielle Sprache sie weder kennt noch ihre Existenz akzeptiert. Semantisch sind sie schon lange ausgebürgert. Und sie werden vertrieben von einer totalitären Logik, die aus den Geschichtsbüchern allzu bekannt ist und die immer zu Gewalt, Unterdrückung und einer gesellschaftlichen Verlogenheit geführt hat. Die Situation, wie sie sich bei genauem Hinsehen darstellt, fühlt sich weitaus revolutionärer an, als die offizielle pazifizierte Friedhofsruhe vermuten lässt.
Der entscheidende Faktor bei der Herbeiführung einer kollektiven Aversion gegen das vorliegende politische System besteht in der permanent vollzogenen Gleichsetzung aller, die sich ihrerseits Gedanken über die Notwendigkeiten von Politik jenseits der offiziell kommunizierten Positionen machen mit Rechtsradikalismus und Neofaschismus. Das mag für den Augenblick funktionieren, auf Dauer geht dieser populistische Schuss nach hinten los. Denn quasi als konsequente Reaktion macht sich die andere, nicht offizielle Perspektive die Auffassung zu eigen, dass alle, die das offizielle Votum in Schutz nehmen, einem zunehmend feindlichen Lager zuzuordnen sind.
► Das Fass und die Rebellion
Die permanente Denunziation großer Teile der Bevölkerung führt zu einem Grad von Spaltung, der in der Lage ist, die anfangs erwähnten Ursachen von Rebellion quasi als konzertierte Aktion gleichzeitig zu mobilisieren. Die Nöte werden nicht beseitigt, die Erniedrigung und Demütigung hält an, die Ängste schlagen um in Wut und der Überdruss über die gleichbleibenden, als falsch bleibenden Narrative und das Bombardement der Belanglosigkeiten bringt das Fass zum Überlaufen.
Gerhard Mersmann
Angstnarrativ und Einschüchterung: Jeder Faschismus hat seine Mitläufer.
Volkssouveränität statt Staatsterror!
Es geht ja nicht um Gefahrenabwehr. Es geht um Unterwerfung.
Denn nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein.
Nur ein Volk ohne Angst ist ein freies Volk.
► Quelle: Dieser Artikel wurde am 22. Januar 2022 erstveröffentlicht auf der Webseite NEUE DEBATTE - "Journalismus und Wissenschaft von unten" >> Artikel. Alle auf NEUE DEBATTE veröffentlichten Werke (Beiträge, Interviews, Reportagen usw.) sind – sofern nicht anders angegeben oder ohne entsprechenden Hinweis versehen – unter einer Creative Commons Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International; CC BY-NC-ND 4.0) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen diese von Dritten verbreitet und vervielfältigt werden.
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Gerhard Mersmann, Dr. phil., (Jahrgang 1956), gebürtiger Westfale, ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen.
Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Publizistische Aktivitäten durchziehen seine gesamte Biographie. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen. Mersmanns persönliches Blog >> https://form7.wordpress.com/ .
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1. Mittelfinger: Überdruss zur Rebellion? Kollektive Aversion gegen das vorliegende politische System. Illustration: CDD20, Shanghai/China (user_id:1193381). Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Illustration.
2. Angstnarrativ und Einschüchterung: Jeder Faschismus hat seine Mitläufer. Volkssouveränität statt Staatsterror! Es geht ja nicht um Gefahrenabwehr. Es geht um Unterwerfung. Denn nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein. Nur ein Volk ohne Angst ist ein freies Volk. Foto: NoeNei / Noe Nei, Luxembourg/Luxembourg. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.