OBS-Studie: Polarisiert und radikalisiert? Medienmisstrauen und die Folgen für die Demokratie

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OBS-Studie: Polarisiert und radikalisiert? Medienmisstrauen und die Folgen für die Demokratie
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Polarisiert und radikalisiert?

Medienmisstrauen und die Folgen für die Demokratie

von Oliver Decker, Alexander Yendell, Johannes Kiess, Elmar Brähler

Ein Projekt der Otto Brenner Stiftung, FFM 2017

► Vorwort

otto_brenner_stiftung_polarisiert_und_radikalisiert_medienmisstrauen_demokratie_oliver_decker_alexander_yendell_johannes_kiess_elmar_braehler_kritisches_netzwerk_medienkritik_medienhuren.jpgSinkende Printauflagen, Einbrüche bei den Werbeerlösen, redaktionelle Einschnitte, personeller Abbau – so lauten nur einige der Stichworte, mit denen die Situation der Medien der vergangenen Jahre beschrieben wurde. Dahinter stehen ökonomische Krisen in der Medienlandschaft und neue Herausforderungen durch soziale Medien und digitalen Wandel. Viele der Probleme dauern an, doch wird der mediale Diskurs inzwischen von anderen Schwerpunkten überlagert.

Derzeit geht es vordringlich um die Glaubwürdigkeitskrise, um Vertrauensverlust, Lügenpresse und Fake News, um eine angeblich abgehobene Journalistenkaste als mediales Sprachrohr und unkritischer Erfüllungsgehilfe für Eliten und Establishment. Aber nicht nur ein Themenwandel im medialen Diskurs ist zu konstatieren. Beobachter und viele in den Medien Tätige sind von der Wucht und dem Ausmaß der gegenwärtigen Kritik überwältigt. In sozialen Netzwerken, Kommentarspalten und Leserbriefen schlägt Medienmachern eine Welle oftmals beleidigend und aggressiv vorgebrachter Ablehnung entgegen. Die Eindeutigkeit der meisten Äußerungen legt es nahe, von einer tiefen Krise zu sprechen. Für das Medienmagazin Zapp steht gar fest: „Das Gefühl, den Medien nicht (mehr) vertrauen zu können, ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Betrachtet man die Daten einiger wissenschaftlicher Analysen, zeigt sich schnell, dass empirische Befunde weniger eindeutig sind, als der Ton der öffentlichen Debatten vermuten lässt. Stellen doch einige Studien einen Anstieg des Vertrauens in die klassischen Medien fest – und auch unsere Untersuchung weist nach, dass die meisten Menschen dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den Tageszeitungen durchaus grundsätzliche Glaubwürdigkeit zugestehen. Angesichts dieser Lage zeigte sich das Fachblatt MediumMagazin kürzlich fast resigniert: „Wir wissen trotz aller vorliegenden Zahlen nicht genau, inwieweit das Vertrauen in die klassischen Medien in den letzten Jahren tatsächlich gesunken oder gestiegen ist.

Gesichert erscheint lediglich, dass sich die Haltungen der Nutzer polarisieren: Hohes Vertrauen und tiefes Misstrauen steigen gleichzeitig an, während unentschiedene Haltungen deutlich  abnehmen. Gibt es also Anlass zur Entwarnung, weil von einer Vertrauenskrise der klassischen Medien „keine Rede“ (Meinungsforschungsinstitut Allensbach) sein kann, oder ist die Öffentlichkeit gar einem „Mythos vom Vertrauensverlust“ aufgesessen?

Die Otto Brenner Stiftung rät von einem frühzeitigen Aufatmen ab und möchte die Diskussion um eine bisher zu wenig beachtete Perspektive erweitern. So wichtig die exakte Feststellung der Zu- oder Abnahme des Vertrauens auch ist: Die gesellschaftlichen Folgen eines verfestigten Misstrauens gegenüber der Medienberichterstattung in einem relevanten Teil der Bevölkerung reichen weit über das Mediensystem hinaus. Diese Ausgangslage war für uns Anlass, mit der vorliegenden Untersuchung die Wechselwirkung zwischen dem Medienvertrauen und dem Vertrauen in wichtige demokratische Institutionen und Werte unserer Gesellschaft zu beleuchten. Wir freuen uns, mit Prof. Oliver Decker und seinen Kollegen ein nicht nur aufgrund der Leipziger „Mitte“-Studien renommiertes Autorenteam für diese Untersuchung gewonnen zu haben.

Ihre Ergebnisse bestätigen, dass es keinen Anlass zur Entwarnung gibt. Die Autoren stelleneinen starken Zusammenhang zwischen dem Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Medien – besonders von öffentlich-rechtlichem Rundfunk, Tageszeitungen und privatem Rundfunk – und der Zufriedenheit mit der verfassungsrechtlichen Norm und dem realen Funktionieren der Demokratie in Deutschland fest. Auch das Vertrauen in Parteien, Parlament, Regierung und Justiz ist eng an das Medienvertrauen gekoppelt. Entsprechend verschärfen sich beide Problematiken gegenseitig. In der OBS-Untersuchung lässt sich hinsichtlich der Entwicklungen der gesellschaftlichen Milieus und des Medienvertrauens eine grobe Parallelität der Polarisierungen erkennen. Hatte die Leipziger „Mitte“-Studie 2016 festgestellt, dass die demokratischen Milieus unserer Gesellschaft wachsen, während sich ihre autoritären Pendants radikalisieren, so kann die vorliegende Studie nunmehr zeigen, dass Erstere dabei von hohem Medienvertrauen geprägt sind, während bei Letzteren ein tiefes Misstrauen vorherrscht. Eine Abwendung von der repräsentativen Demokratie findet in diesen Milieus somit nicht nur auf der Ebene der gesellschaftlichen Werte statt, sondern weitet sich auch auf die Teilhabe an der Öffentlichkeit aus.

Mit dem Aufstieg des Internets als Informationsquelle beschleunigt sich der Strukturwandel der Öffentlichkeit und könnte, so die Ergebnisse der Forscher, zukünftig die Bildung des für die repräsentative Demokratie so wichtigen Vertrauens in die grundlegenden demokratischen Institutionen weiter erschweren. Der Prozentsatz derjenigen, die die demokratische Verfassung und die real funktionierende Demokratie ablehnen, ist unter Personen, die sich ausschließlich im Internet informieren, besonders hoch. Zusätzlich geht knapp ein Drittel derselben Personengruppe nicht mehr zur Wahl und verweigert sich somit einem zentralen Akt der repräsentativen Demokratie. Unter den Parteien erzielt bei ihnen die AfD die höchsten Zustimmungswerte – eine Partei, die sich durch ihre Verächtlichmachung kompromiss- und dialogorientierter Politik auszeichnet und sich bemüht zeigt, aggressive Medienschelte zu einem neuen Breitensport zu profilieren.

Mit unserer Untersuchung wollen wir auf die mit diesen Befunden verbundenen Herausforderungen hinweisen. Ziel muss es bleiben, möglichst viele Individuen und Milieus in eine dialogische Öffentlichkeit zu integrieren.

Jupp Legrand / Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung

https://www.otto-brenner-stiftung.de/

Anm. KN-ADMIN Helmut Schnug: Für alle im KN veröffentlichten Artikel, Studien etc. sind die jeweiligen Autoren und/oder Rechteinhaber verantwortlich. Die Inhalte der Artikel spiegeln nicht zwangsläufig meine Meinung wieder. Alle hier bereitgestellten Informationen dienen lediglich Informationszwecken sowie Zwecken der Meinungsbildung.

Einigen Aussagen und Schlussfolgerungen im Vorwort und der obigen Studie selbst stehe ich bezüglich der angeblichen "verfassungsrechtlichen Norm und dem realen Funktionieren der Demokratie" äußerst kritisch bis ablehnend gegenüber! Die Aussage "Eine Abwendung von der repräsentativen Demokratie findet in diesen Milieus und des Medienvertrauens . ." empfinde ich als nicht zielführende Stigmatisierung, denn auch zunehmend viele kritisch-reflektierende und selbstdenkende Menschen außerhalb irgendwelcher Milieus erleben die repräsentative Demokratie mit wachsendem Argwohn. Die Aussage "[. . ]sondern weitet sich auch auf die Teilhabe an der Öffentlichkeit aus" ist zwar korrekt, doch fehlt die notwendige Benennung der eigentlichen Gründe und deren Verursacher.


 

► Inhalt:

1 Einleitung . . . . . . . .  6

2 Öffentliches Vertrauen und Glaubwürdigkeit: Theoretische Ansätze  . . . . . . . .  9

2.1 Polarisierung des medialen und gesellschaftlichen Vertrauens  . . . . . . . .  9

2.2 Das Internet als Faktor des Strukturwandels der Öffentlichkeit  . . . . . . . .  12

3 Zwischen Echokammer, Glaubwürdigkeit und Polarisierung: Die empirische Analyse  . . . . . . . .  16

3.1 Mediennutzung, (Un-)Glaubwürdigkeit und ihre Ursachen: Ein erstes deskriptives Bild  . . . . . . . .  17

3.1.1 Mediennutzung in Deutschland: Wer nutzt welche Medien?  . . . . . . . .  17

3.1.2 Medienglaubwürdigkeit: Wer glaubt welchen Medien?  . . . . . . . .  21

3.1.3 Ursachen der (mangelnden) Medienglaubwürdigkeit  . . . . . . . .  28

3.2 Die Echokammer und ihre Folgen  . . . . . . . .  34

3.3 Polarisierung der Öffentlichkeit: Glaubwürdigkeit der Medien und öffentliches Vertrauen in verschiedenen Milieus  . . . . . . . .  39

4 Diskussion und Schlussfolgerungen  . . . . . . . .  49

Anhang

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis  . . . . . . . .  56

Literatur  . . . . . . . .  58

Über die Autoren  . . . . . . . .  60

_________________

https://www.otto-brenner-stiftung.de/


► Über die Autoren

Elmar Brähler, Prof. Dr. rer. biol. hum. habil., studierte Mathematik und Physik. Nach Promotion und Habilitation in Psychotherapieforschung bzw. Medizinischer Psychologie leitete er von  1994 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand (2013) die Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig. Seit 2002 zusammen mit Oliver Decker Leiter der Längsschnittuntersuchung Leipziger „Mitte“-Studien zum Rechtsextremismus in Deutschland. Letzter Bericht 2016: Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland, Psychosozial-Verlag.

Oliver Decker, PD Dr., Leiter des Forschungsbereichs Sozialer und medizinischer Wandel an der Medizinischen Fakultät und Vorstandssprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig, von 2010 bis 2013 Vertretungsprofessor für Sozial- und Organisationspsychologie an der Universität Siegen, 2012 Honorary Fellow am Birkbeck College der University of London. 2015 Visiting Professor an der School of Visual Arts, New York. Forschungsschwerpunkte im Bereich der Kritischen Theorie und psychoanalytischen Sozialpsychologie, insb. zu Transformationsprozessen und Subjektivierung in Gesellschaften der Moderne. Seit 2002 zusammen mit Elmar Brähler Leiter der Längsschnittuntersuchung Leipziger „Mitte“-Studien zum Rechtsextremismus in Deutschland. Seit 2005 zusammen mit Christoph Türcke Veranstalter der Tagungsreihe „Kritische Theorie – Psychoanalytische  Praxis“.

Johannes Kiess ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen und forscht derzeit im EU-Projekt EURYKA zu politischer Partizipation von Jugendlichen und Ungleichheit sowie in einem SNIS-Projekt zu neuen Arbeitsformen („gig economy“) und ihren Auswirkungen auf die Sozialpartnerschaft. Seine Doktorarbeit schreibt er zum Thema „Framing der Krise durch die deutschen Sozialpartner“. Zudem ist er Mitglied des Kompetenzzentrums Rechtsextremismus- und Demokratieforschung (KReDo) der Universität Leipzig.

Alexander Yendell, Dr., ist zurzeit PostDoc in der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig und Mitglied des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Zuvor war Yendell wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Religions- und Kirchensoziologie der Universität Leipzig und Mitarbeiter am Institut für Soziologie und im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Darüber hinaus war Yendell als Gastwissenschaftler an der McGill University in Montreal und der University of Warwick tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Islamfeindlichkeit, Rechtsextremismus, Religiosität und Sozialstruktur.


 

► Bild- und Grafikquellen:

1. Cover der OBS-Studie: "Polarisiert und radikalisiert? Medienmisstrauen und die Folgen für die Demokratie" von Oliver Decker, Alexander Yendell, Johannes Kiess, Elmar Brähler. Urheber: Otto Brenner Stiftung.