«Der Staat ist eine Institution, die von Banden geführt wird, die aus Mördern, Plünderern und Dieben besteht, umgeben von willfährigen Handlangern, Propagandisten, Speichelleckern, Gaunern, Lügnern, Clowns, Scharlatanen, Blendern und nützlichen Idioten - eine Institution, die alles verdreckt und verdunkelt, was sie berührt.» (– Prof. Hans-Hermann Hoppe).
ANF NEWS (Firatnews Agency) - kurdische Nachrichtenagentur
Erdbeben der Stärke 4,0 in Amed
In der nordkurdischen Provinz Amed (tr. Diyarbakır) hat sich am Sonntag ein Erdbeben der Stärke 4,0 ereignet. Nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD lag das Epizentrum in der Kreisstadt Hênî (Hani). Das Beben wurde um 14:49 Uhr Ortszeit in einer Tiefe von 13,15 Kilometern registriert. Berichte über Schäden oder Verletzte lagen nicht vor.
Experte: „Verwerfungslinie steht unter Spannung“
Der bekannte türkische Erdbebenforscher Prof. Dr. Naci Görür wies in einer ersten Einschätzung darauf hin, dass die betroffene Verwerfungslinie bereits seit dem verheerenden Erdbeben vor rund zweieinhalb Jahren unter Spannung stehe. „Diese Zone hat im Zuge der Erdbeben vom 6. Februar 2023 Spannungen aufgebaut. Man sollte aufmerksam bleiben“, erklärte Görür auf der Plattform X.
Die Provinz Amed liegt in einem seismisch aktiven Gebiet, das von mehreren tektonischen Bruchlinien durchzogen ist. Die betroffene Zone steht in Verbindung mit der Ostanatolischen Verwerfung, die zu den aktivsten Erdbebenzonen des Landes zählt.
https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/Cewlig-ohne-ausreichende-vorbereitung-auf-mogliches-erdbeben-48416 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/erhohtes-erdbebenrisiko-in-dersim-47972 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/erdbeben-beschleunigt-rad-der-korruption-und-bereicherung-36449
Guerilla-Rückzug: KNK mahnt konkrete Schritte für dauerhaften Frieden an
Der Nationalkongress Kurdistan (KNK) hat den vollständigen Rückzug bewaffneter Einheiten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aus der Türkei als einen „weiteren historischen Schritt“ der kurdischen Freiheitsbewegung bezeichnet. In einer von seinem Exekutivrat veröffentlichten Erklärung fordert der KNK die türkische Regierung dazu auf, „nun ihrerseits rechtliche und politische Voraussetzungen“ für einen bilateralen Friedensprozess zu schaffen.
Die Ankündigung des Rückzugs erfolgte am Sonntagmorgen durch den kurdischen Revolutionär Sabri Ok (KCK) in der Qendîl-Region in Südkurdistan. Ok erklärte, die kurdische Bewegung wolle damit ein „deeskalierendes und vertrauensbildendes Signal“ setzen. Ziel sei es, den von PKK-Begründer Abdullah Öcalan im Februar angestoßenen „Prozess für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ in eine neue Phase zu überführen. Auf Grundlage dieser Initiative hatte die PKK im März einen einseitigen Waffenstillstand verkündet und im Mai ihre Auflösung bekanntgegeben. Im Juli folgte eine öffentliche Waffenverbrennung als symbolischer Akt zur Beendigung des bewaffneten Kampfes.
Politische Verantwortung liegt nun bei Ankara
Der KNK betonte, dass der Rückzug der Guerilla von türkischem Staatsgebiet ein Ausdruck der Entschlossenheit für eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage sei. „Jetzt ist die türkische Regierung am Zug“, erklärte das Exilparlament. Es gelte, einen klaren rechtlichen Rahmen für einen politischen Prozess zu schaffen, der auch die Freilassung Öcalans als zentrale Verhandlungsfigur beinhalte. Nur unter seiner aktiven Mitwirkung sei eine dauerhafte Lösung möglich.
Aufruf an EU, Europarat und USA
Der KNK forderte zugleich die internationale Gemeinschaft auf, den Friedensprozess aktiv zu unterstützen. Besonders die Europäische Union, der Europarat und die USA sollten politischen Druck auf Ankara ausüben und sich für eine politische Lösung einsetzen. „Die Schritte der kurdischen Seite zeigen deutlich ihren Willen, eine friedliche Zukunft für alle Völker der Türkei und der Region zu gestalten“, heißt es in der Erklärung. Eine symbolische und politische Geste sei auch die Streichung der PKK von den Terrorlisten westlicher Staaten. Nur durch eine solche Neubewertung lasse sich der Weg für Verhandlungen auf Augenhöhe ebnen, so das Gremium.
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/kurdische-bewegung-kundigt-ruckzug-ihrer-krafte-aus-der-turkei-an-48544 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/kck-vertreter-sabri-ok-fordert-rechtliche-schritte-und-freiheit-fur-Ocalan-48545 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/aufruf-von-abdullah-Ocalan-fur-frieden-und-eine-demokratische-gesellschaft-45431 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kon-med-begrusst-ruckzug-kurdischer-guerilla-aus-der-turkei-48552
KON-MED begrüßt Rückzug kurdischer Guerilla aus der Türkei
Die Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e.V. (KON-MED) hat die Ankündigung eines vollständigen Rückzugs bewaffneter Einheiten der kurdischen Befreiungsbewegung aus der Türkei als „historischen Schritt“ bezeichnet und zu politischen Konsequenzen auf nationaler und internationaler Ebene aufgerufen.
Die Erklärung bezieht sich auf eine Pressekonferenz, die am Sonntag in den Qendîl-Bergen in Südkurdistan stattfand. Dort hatte die kurdische Seite den Rückzug ihrer Guerillaeinheiten aus der Türkei bekannt gegeben – eine Maßnahme, die im Kontext der im Mai erfolgten Selbstauflösung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und eines vorausgegangenen Friedensaufrufs von Abdullah Öcalan steht.
Bereits im Jahr 1999 hatte die PKK ihre Einheiten erstmals aus der Türkei abgezogen. Der damalige Schritt sei jedoch nicht von politischen Reformen auf türkischer Seite begleitet worden, kritisierte KON-MED.
Forderung nach politischen Rahmenbedingungen für Frieden
„Nun ist die Türkei gefragt, die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Transformation in einen nachhaltigen Friedensprozess gelingen kann“, heißt es in der Mitteilung. Demokratische Teilhabe, eine politische Öffnung sowie die Freiheit des seit 1999 inhaftierten PKK-Begründers Abdullah Öcalan seien zentrale Punkte für eine friedliche Lösung. Die jüngst vom türkischen Parlament beschlossene Verlängerung des Mandats für Auslandseinsätze in Syrien und im Irak bezeichnet KON-MED als kontraproduktiv.
Appell an Deutschland und internationale Gemeinschaft
Der Verband richtet seine Forderungen auch an die deutsche Politik. Mit Verweis auf die große kurdische Diaspora in Deutschland forderte KON-MED politischen Druck auf die Türkei und die Aufhebung des seit 1993 geltenden Betätigungsverbots der PKK in Deutschland. „Die regionalen und internationalen Implikationen von Frieden und einer demokratischen Gesellschaft erfordern rasches Handeln, lokal und global“, erklärte die Organisation. „Als KON-MED begrüßen wir diesen weiteren historischen Schritt der Freiheitsbewegung Kurdistans.“
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/kurdische-bewegung-kundigt-ruckzug-ihrer-krafte-aus-der-turkei-an-48544 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/kck-vertreter-sabri-ok-fordert-rechtliche-schritte-und-freiheit-fur-Ocalan-48545 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/kommentar-ein-historischer-schritt-der-guerilla-48550
Irans Oberstes Gericht hebt Todesurteile gegen fünf Kurden auf
Das Oberste Gericht Irans hat die Todesurteile gegen fünf Kurden aus der Stadt Bokan aufgehoben. Die Urteile waren im Juli wegen angeblicher Beteiligung an der „Jin, Jiyan, Azadî“-Bewegung verhängt worden. Wie das Kurdistan Human Rights Network (KHRN) berichtet, hat die 39. Kammer des Gerichtshofs die Fälle zur erneuten Verhandlung an das Revolutionsgericht in Mahabad zurückverwiesen. Die Betroffenen – Ali (Soran) Ghassemi, Pezhman Soltani, Kaveh Salehi, Rizgar Beygzadeh Baba-Miri und Teyfour Salimi Baba-Miri – waren ursprünglich zu insgesamt elffacher Todesstrafe verurteilt worden.
Politisch motivierte Vorwürfe
In dem umstrittenen Verfahren warf das Revolutionsgericht in Ûrmiye (Urmia) den Männern unter anderem „Feindschaft gegen Gott“, „Bewaffneter Aufstand“, Mitgliedschaft in einer „kriminellen Organisation“, Zusammenarbeit mit dem israelischen Geheimdienst Mossad, Spionage und Schmuggel von Starlink-Geräten, Propaganda gegen den Staat und Gefährdung der nationalen Sicherheit vor. Darüber hinaus wurden die Angeklagten zu Freiheitsstrafen zwischen fünf und 15 Jahren und zur Zahlung von umgerechnet über acht Millionen Euro verurteilt.
Öffentlicher Druck und internationale Proteste
Die Urteile hatten eine Welle der Empörung ausgelöst. Familienangehörige, Menschenrechtsgruppen und zahlreiche Nutzer:innen sozialer Medien riefen zur Rücknahme der Urteile auf. Es formierten sich Solidaritätskampagnen und Spendenaufrufe. Im Fall von Pezhman Soltani, der wegen angeblicher Beteiligung an einem Mord zum Tode durch Vergeltung verurteilt worden war, wurde durch eine öffentliche Spendenkampagne die Zahlung von Blutgeld ermöglicht. Die Angehörigen der Opferfamilie erklärten daraufhin ihren Verzicht auf die Vollstreckung des Urteils.
Urteil nun aufgehoben, Verfahren geht nach Mahabad
Das Oberste Gericht gab den Revisionsanträgen der Verteidigung in allen Fällen statt. Die Urteile seien fehlerhaft, so die Begründung, und müssten von einem anderen Gericht neu geprüft werden. Auch in einem parallelen Verfahren wegen angeblicher Terrorismusfinanzierung wurden die fünf Aktivisten, ebenso wie weitere Beschuldigte, freigesprochen.
Weitere Verurteilungen im Umfeld der Proteste
In dem gleichen Verfahren waren auch acht weitere kurdische Aktivisten aus Bokan angeklagt. Sie erhielten Haft- und Geldstrafen – vor allem wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in oppositionellen Gruppen, Propaganda, Spionage oder Beleidigung der Staatsführung. Sieben von ihnen wurden mittlerweile gegen Kaution freigelassen. Ein weiterer Angeklagter, der Arzt Salahuddin Ahmadi, wurde in allen Punkten freigesprochen.
Vorwürfe der Folter und Zwangsgeständnisse
Alle Angeklagten waren im Frühjahr 2023 im Zuge der Niederschlagung der „Jin Jiyan Azadî“-Proteste in den Städten Bokan und Bane festgenommen und über Monate hinweg im Geheimdienstgefängnis von Urmia inhaftiert worden. Laut Menschenrechtsorganisationen wurden sie in dieser Zeit massiv gefoltert, psychisch unter Druck gesetzt und zu Zwangsgeständnissen genötigt.
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Deliberative Demokratie als System des Übergangs zum Sozialismus
Die deliberative Demokratie tritt als das grundlegende und zugleich am konsequentesten ausgearbeitete Organisationsmodell in Erscheinung, das die kurdische Freiheitsbewegung für Kurdistan und die Türkei vorschlägt. Es handelt sich hierbei nicht nur um ein theoretisches Konstrukt, sondern um ein System, das sich in der langjährigen Praxis der Bewegung und in der politischen Philosophie Abdullah Öcalans bewährt hat.
In ihrem Ausgangspunkt kritisiert die verhandlungsbasierte Demokratie nicht nur die Krise des Liberalismus und des Kapitalismus, sondern nimmt zugleich auch die strukturellen Grenzen des realsozialistischen Denkens sowie der radikaldemokratischen Modelle in den Blick. Sie positioniert sich damit als eigenständiger theoretischer Ansatz innerhalb des neuen Paradigmas, das die kurdische Freiheitsbewegung formuliert hat – ein Paradigma, das nun auch einen begrifflich benennbaren Rahmen für ein bereits gelebtes und erprobtes System des politischen Handelns bietet.
Aus Perspektive der deliberativen Demokratie sind sowohl der Realsozialismus als auch radikale Demokratietheorien gescheitert – nicht weil sie keine Alternativen zum Kapitalismus und Liberalismus darstellen wollten, sondern weil sie letztlich weiterhin in einem staatszentrierten Denksystem verhaftet blieben. Der beständige Rekurs auf den Staat als zentrales Ordnungsprinzip zog zwangsläufig die Entstehung einer privilegierten Verwaltungsschicht nach sich. Diese wiederum entwickelte Eigeninteressen, die zur Aufgabe emanzipatorischer Prinzipien führten und schließlich die strukturellen Blockaden und den Zerfall dieser Systeme mitverursachten.
Kritik an radikaler Demokratie und realsozialistischer Praxis
Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal des verhandlungsbasierten Ansatzes ist seine Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte sozialistischer Bewegungen – insbesondere mit den Fehlern realsozialistischer Praxis. Der Realsozialismus trat mit dem Anspruch auf, eine Gegenmacht zur liberalen Demokratie und zum ausbeuterischen System des Kapitalismus zu bilden. Doch indem er sich auf ein eigenes Kastensystem stützte, reproduzierte er genau jene Exklusionsmechanismen, die er eigentlich überwinden wollte. Die Folge war eine strukturelle Blockade, die letztlich zur Auflösung des Systems beitrug.
Zentrale Kritikpunkte am Realsozialismus betreffen die sakralisierte Rolle des Staates, die langfristige Machtkonzentration in einer Führungsschicht sowie deren mangelnde Bereitschaft, gesellschaftliche Anliegen ernsthaft aufzunehmen. Auch der Marxismus selbst geriet in die Kritik – insbesondere wegen seiner klassenreduzierten Perspektive und der damit verbundenen Privilegierung des Proletariats als alleinige revolutionäre Subjektposition. Eine genauere Analyse der realsozialistischen Praxis offenbart, dass diese dichotome Weltsicht langfristig nicht nur in ideologischen Stillstand führte, sondern auch in autoritäre Strukturen mündete.
In den 1970er Jahren – in einer Phase, in der das Vertrauen in den Sozialismus weltweit zu bröckeln begann – wurde das Konzept der „radikalen Demokratie“ als Versuch formuliert, auf die Schwächen des Realsozialismus zu reagieren. Während sie dessen Fehler durchaus kritisierte, entwickelte sie keine klare Abgrenzung zur liberalen Demokratie. Im Gegenteil: In Teilen wurde sogar eine Annäherung diskutiert. Diese Tendenz zur Relativierung markierte eine zentrale Schwäche der radikalen Demokratietheorie.
Auch wenn sie zutreffende Kritik am Realsozialismus übte, übernahm die radikale Demokratie zentrale Prinzipien liberaler Ordnung – etwa die Vorstellung, politische Legitimität über Mehrheitsentscheidungen und Wahlen herzustellen. Dadurch geriet sie in einen ähnlichen Widerspruch wie der Realsozialismus: Die Entscheidungsgewalt wurde erneut auf wenige verlagert, was wiederum ein Kastenprinzip zementierte und das Versprechen umfassender Beteiligung unterlief.
Vor diesem Hintergrund öffnet die verhandlungsbasierte Demokratie einen neuen Weg – nicht als Fortsetzung liberaler oder realsozialistischer Modelle, sondern als deren bewusste Überwindung. Sie versteht sich als Vorschlag für eine transformatorische Etappe auf dem Weg in eine sozialistische Gesellschaftsordnung, die sich den Bedingungen und Herausforderungen einer sich verändernden Welt aktiv stellt.
Verhandlungsbasierte Demokratie und die Perspektive des Sozialismus
Die verhandlungsbasierte Demokratie lässt sich unter den Bedingungen einer veränderten Weltordnung – in der das klassische Modell einer binären Klassengesellschaft zunehmend an Gültigkeit verliert – als Übergangsmodell in Richtung eines erneuerten Sozialismus begreifen. Sie reagiert auf die Blockaden sowohl realsozialistischer Praxis als auch auf die konzeptionellen Engpässe innerhalb des wissenschaftlichen Sozialismus.
Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal liegt im Bruch mit dem Konzept der sogenannten „Diktatur des Proletariats“, das im klassischen Marxismus als Übergangsphase zum Sozialismus galt. Die mit dieser Vorstellung einhergehenden politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen führten zu der Erkenntnis, dass ein dauerhaft tragfähiger Sozialismus nicht verwirklicht werden kann, solange er nicht alle Teile der Gesellschaft einbezieht.
Die „Diktatur des Proletariats“ war – ihrem Namen entsprechend – weniger eine Phase gesellschaftlicher Emanzipation als vielmehr eine Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse gegenüber den herrschenden Eliten, mit dem Ziel, eigene politische und ökonomische Strukturen durchzusetzen. Die historische Erfahrung zeigt jedoch, dass diese Phase nicht als notwendiger oder funktionaler Zwischenschritt betrachtet werden kann. Vielmehr hat sie in der Realität autoritäre Entwicklungen begünstigt.
Der Realsozialismus interpretierte diesen Übergang als Phase der Staatsgründung und des Schutzes gegenüber äußeren Interventionen. Tatsächlich entwickelte sich daraus jedoch ein Modell, das zunehmend diktatorische Züge annahm. Die strukturelle Fixierung auf das Nationalstaatsprinzip – mit festen territorialen Grenzen und zentralisierter Herrschaft – führte zwangsläufig zur Herausbildung einer Funktionärsschicht sowie bewaffneter Strukturen, die ihre Macht reproduzierten. Damit wurden auch wesentliche Merkmale kapitalistischer Organisation übernommen – inklusive ihrer hierarchischen und exkludierenden Logik.
Demgegenüber steht das Konzept der verhandlungsbasierten – oder auch „dialogische“ – Demokratie. Es zielt auf ein Gesellschaftsmodell, in dem alle Teile der Bevölkerung aktiv an Entscheidungsprozessen teilhaben: sowohl hinsichtlich ihres unmittelbaren Lebensumfeldes als auch im Hinblick auf übergeordnete politische Strukturen. In dieser Hinsicht stellt es ein Modell des Übergangs zum Sozialismus dar, das den Grundstein für eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung, Hierarchie und Machtexzesse legt.
Das entscheidende Merkmal dieser Übergangsphase liegt in der politischen Befähigung der Bevölkerung. Ziel ist es, die Gesellschaft auf einen sozialistischen Horizont hin vorzubereiten – und dabei eine soziale Ordnung zu schaffen, in der niemand marginalisiert oder ausgeschlossen wird.
In einem solchen Modell besteht keine Notwendigkeit zur Existenz eines Nationalstaats im klassischen Sinne. Vielmehr wird eine föderale oder konföderale Struktur angestrebt, in der bestehende Staatsapparate durch neue Formen gesellschaftlicher Organisation ersetzt oder transformiert werden. Ziel ist es, die Bevölkerung aus ihrer politischen Passivität zu befreien und sie in die Lage zu versetzen, kollektiv Verantwortung zu übernehmen.
Im Gegensatz zu den im realsozialistischen Modell reproduzierten Führungsstrukturen sieht die verhandlungsbasierte Demokratie kein strukturelles Bedürfnis nach einer Herrschaftselite vor. Vertreter:innen werden durch die Bevölkerung bestimmt und ihre Mandate können jederzeit widerrufen werden – ein Prinzip, das sich sowohl vom liberal-demokratischen Wahlverständnis als auch von realsozialistischen und radikaldemokratischen Modellen unterscheidet.
Nicht Mehrheiten oder Wahlergebnisse sind maßgeblich, sondern der Grad gesellschaftlicher Verständigung. Ziel ist es, eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, die von allen gesellschaftlichen Gruppen getragen werden kann. Der Konsens ersetzt das Mehrheitsprinzip – die demokratische Legitimität erwächst aus der aktiven Mitwirkung und Zustimmung aller Betroffenen. In diesem Sinne ist die deliberative Demokratie bereits selbst ein Schritt in Richtung eines pluralistischen, inklusiven und herrschaftsfreien Sozialismus.
Deliberative Demokratie im Kontext kommunaler Organisation
In seiner Analyse der Menschheitsgeschichte schlägt Abdullah Öcalan vor, diese nicht vorrangig als eine Geschichte der Klassenkämpfe zu deuten, sondern als eine fortwährende Auseinandersetzung zwischen Kommunen und Staat. Für ihn sind Klassen keine ursprünglichen gesellschaftlichen Kategorien, sondern Produkte der Herausbildung des staatlichen Apparats. Vor dem Aufkommen staatlicher Macht habe eine auf gemeinschaftlicher Teilhabe basierende Organisationsform bestanden, die durch die Vereinigung herrschaftsorientierter Kräfte in einem zentralisierten Staatsapparat verdrängt wurde. Aus dieser Perspektive ist die Menschheitsgeschichte im Kern die Geschichte des Widerstreits zwischen gemeinschaftlicher Selbstorganisation und staatlicher Machtausübung.
Innerhalb der Geschichte der PKK wurde das Konzept der Kommune über viele Jahre hinweg diskutiert und erprobt. Erste Versuche der Kommunenbildung reichen bis in die 1990er Jahre zurück, insbesondere in die Zellen der politischen Gefangenen. In der Folgezeit wurden kommunale Strukturen in verschiedenen Bereichen der kurdischen Freiheitsbewegung implementiert – mit all ihren Stärken, Schwächen und Lernprozessen.
In seinem jüngsten Paradigmenwechsel betont Öcalan erneut die Relevanz kommunaler Organisationsformen und formuliert seine Vorstellungen darüber, wie eine solche Struktur heute aussehen sollte. Das von ihm benannte Modell der verhandlungsbasierten Demokratie fungiert dabei als theoretischer und praktischer Bezugsrahmen für eine moderne Ausgestaltung kommunaler Selbstverwaltung.
Kommunale Strukturen stellen die elementarste Organisationsform einer sozialistischen Gesellschaft dar. Sie ermöglichen es der Bevölkerung, sich direkt mit gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen, Lösungen zu entwickeln und in den politischen Prozess einzugreifen. Vom Wohnhaus über die Straße, das Viertel, die Stadt bis hin zur Region – in jeder gesellschaftlichen Einheit sollen funktionierende Kommunen etabliert werden. Diese müssen auf einem stabilen Fundament errichtet werden, das der Bevölkerung erlaubt, eigenständig zu agieren, ohne von staatlichen Institutionen abhängig zu sein.
Zentrale Voraussetzung hierfür ist die uneingeschränkte Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen auf sämtlichen Ebenen. Genau hier setzt das Konzept der verhandlungsbasierten Demokratie an: Es ist nicht lediglich eine politische Idee, sondern die konzeptionelle Grundlage für die konkrete Ausgestaltung kommunaler Selbstverwaltung. Eine Kommune ist nur dann funktional, wenn alle Beteiligten über Rederechte verfügen und an Entscheidungsprozessen ohne Vorbehalte oder Einschränkungen partizipieren können.
In einem solchen System wird der Gefahr der Herausbildung einer herrschenden Klasse – die Öcalan konsequent kritisiert – systemisch vorgebeugt. Wer über Mitspracherechte verfügt, besitzt auch die Möglichkeit, gewählte Vertreter:innen zu kritisieren oder abzulehnen. Damit wird die politische Verantwortung stets bei der Gesellschaft verankert.
Das Prinzip „Mehrheit entscheidet“ verliert in diesem Kontext an Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr die Fähigkeit, zu kollektiv getragenen Entscheidungen zu gelangen, die auf Konsens beruhen. Dieses Verfahren verhindert Exklusion, fördert integrative Aushandlungsprozesse und wirkt Tendenzen zu Gruppenegoismen entgegen.
In Anlehnung an die kommunale Selbstverwaltung bezeichnet Habermas diese Form lokaler demokratischer Organisation als Stadträte (city councils), während Öcalan dafür den Begriff „Kommune“ verwendet. Beide Modelle zielen auf die lokale Verankerung von Entscheidungsstrukturen und die institutionalisierte Partizipation der Bevölkerung ab. In der Türkei können solche Stadträte (Kent Konseyleri) auf kommunaler Ebene gegründet werden. Werden sie im Sinne der verhandlungsbasierten Demokratie organisiert, können sie sich zu genuin kommunalen Strukturen entwickeln.
Eine demokratische Alternative im Übergang zum Sozialismus
Die verhandlungsbasierte Demokratie, wie sie in Abdullah Öcalans Paradigmenentwurf formuliert wird, stellt nicht nur ein alternatives Demokratiemodell dar – sie bildet auch das ideelle und strukturelle Fundament eines zeitgemäßen Verständnisses von Sozialismus im 21. Jahrhundert.
Im Unterschied zu anderen Denkschulen basiert dieses Modell auf einem inklusiven Verständnis politischer Teilhabe: Sämtliche gesellschaftlichen Gruppen – darunter zivilgesellschaftliche Organisationen, Frauen, Jugendliche, Kinder, Tier- und Umweltschützer:innen – sollen gleichberechtigt an allen Phasen des politischen Entscheidungsprozesses beteiligt sein. Es geht um mehr als Repräsentation – es geht um aktive Mitgestaltung.
Ein weiteres zentrales Merkmal ist die Ablehnung des autoritären Mehrheitsprinzips. Die verhandlungsbasierte Demokratie erkennt an, dass Mehrheiten in herrschaftsorientierten Systemen schnell in Zwang, Ausgrenzung oder Machtmissbrauch umschlagen können. Ihr Ziel ist es, durch Konsensbildung und gemeinsame Verantwortung eine demokratische Kultur der Gleichwertigkeit zu schaffen.
Sie ist ein System, das auf kollektive Verständigung, offenen Dialog und gegenseitigen Respekt setzt. Eine politische Ordnung, in der jede Stimme zählt, jede Kritik gehört wird und jede Idee Raum zur Entfaltung hat. Die gelebte Praxis in Rojava zeigt bereits heute, dass dieses Modell mehr ist als eine Theorie – es ist ein gelebter Entwurf alternativer Zukunft.
Die von Öcalan formulierte ideologische Richtung weist damit auf einen Weg, der den Sozialismus neu denkbar macht – nicht als Utopie, sondern als realistische Perspektive in einer Welt, die nach neuen politischen Antworten verlangt.
*Der Verfasser des Textes ist der Redaktion bekannt. Sein Name wird nicht genannt, um ihn vor Verfolgung durch die türkische Justiz zu schützen. Teil 1 dieser Artikelreihe:
https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/verhandlungsbasierte-demokratie-wort-entscheidung-und-macht-in-den-handen-der-gesellschaft-48538
Kommentar: Ein historischer Schritt der Guerilla
Die Berge Kurdistans, seit Jahrzehnten Schauplatz eines erbitterten Krieges, erlebten heute einen Moment von historischer Tragweite. Inmitten anhaltender Spannungen hat die kurdische Guerilla einen Schritt vollzogen, der als bedeutende Geste des politischen Willens zur Deeskalation gewertet werden kann: den Rückzug ihrer Kräfte aus dem türkischen Staatsgebiet – mit Zustimmung von Abdullah Öcalan und im Rahmen des Prozesses für Frieden und demokratische Gesellschaft.
Dieser Schritt fällt in eine Phase, in der erneut von einer möglichen politischen Öffnung gesprochen wird. Erinnerungen werden wach an die Jahre des Hoffnungsschimmers, bevor am 24. Juli 2015 türkische Kampfjets aus Amed (tr. Diyarbakır) aufstiegen und mit dem Angriff auf Qendîl eine neue Phase des Krieges einläuteten. Was folgte, war ein umfassender Krieg des türkischen Staates, der sich schnell über ganz Kurdistan erstreckte – und ein zehnjähriger, entschlossener Widerstand der Guerilla, den viele in der kurdischen Bevölkerung als „episch“ bezeichnen.
Gerade vor diesem Hintergrund gewinnt der nun angekündigte Rückzug an Symbolkraft. Hunderte Kilometer legten die Einheiten der Guerilla zurück, um sich in Binarê Qendîl zu versammeln – unter ständiger Beobachtung türkischer Aufklärungsdrohnen. Die Entscheidung wurde nicht im Verborgenen getroffen: Internationale Medien wie BBC, Reuters, AFP sowie zahlreiche kurdische und arabische Sender begleiteten die Erklärung vor Ort. Die Veranstaltung selbst war streng gesichert; Handys wurden eingesammelt, Störsender blockierten jegliche Signale – ein Zeichen dafür, wie sensibel und riskant dieser Schritt aus Sicht der Organisator:innen war.
Im Zentrum der Erklärung stand ein klarer Appell: an den Staat und an die Gesellschaft. Die kurdische Freiheitsbewegung – vertreten heute unter anderem durch Sabri Ok vom Exekutivrat der KCK, Devrim Palu von den HPG und Vejîn Dersim von den YJA Star – machte deutlich, dass dieser Rückzug nicht als Schwäche, sondern als ein Beitrag zur zweiten Phase des von Öcalan initiierten Prozesses für Frieden und eine demokratische Gesellschaft verstanden werden soll. Es sei an der Zeit, konkrete Schritte einzuleiten – für Dialog, für rechtliche Reformen, für einen Wandel hin zu politischer Teilhabe statt militärischer Konfrontation.
Dabei wurde auch eines unmissverständlich klargestellt: Öcalan bleibt der zentrale Akteur jeder zukünftigen Lösung. Ohne seine aktive Einbindung – unter Bedingungen, die ein freies Leben und politisches Wirken ermöglichen – sei ein nachhaltiger Friedensprozess kaum denkbar. In diesem Zusammenhang forderte die kurdische Bewegung erneut die physische Freiheit Öcalans und den politischen Rahmen für eine legale, demokratische Beteiligung der Guerilla. Dazu könnten auch spezielle Übergangsgesetze gehören, die auf die Realität der PKK zugeschnitten sind.
Mit dem heutigen Schritt ist die Verantwortung auf die türkische Regierung übergegangen. Wird sie diese historische Geste erwidern? Oder bleibt sie in alten sicherheitspolitischen Mustern verhaftet? Die nächsten Wochen könnten entscheidend sein. Die Forderungen liegen auf dem Tisch. Die Guerilla hat den Rückzug angetreten – jetzt richtet sich der Blick auf Ankara.
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/kck-vertreter-sabri-ok-fordert-rechtliche-schritte-und-freiheit-fur-Ocalan-48545 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/kurdische-bewegung-kundigt-ruckzug-ihrer-krafte-aus-der-turkei-an-48544
Gerechtigkeitswache in Cizîr gegen Kindesmissbrauch dauert an
In der nordkurdischen Stadt Cizîr (tr. Cizre) ist die von der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen initiierte Gerechtigkeitswache gegen sexualisierte Gewalt in die zweite Woche gegangen. Hintergrund ist die Aufhebung eines früheren Schuldspruchs gegen einen ehemaligen stellvertretenden Schuldirektor, der wegen sexuellen Missbrauchs von mehreren Schüler:innen verurteilt worden war.
Der Protest findet im zentral gelegenen Künstlerviertel statt und richtet sich gegen das Urteil, das die Verurteilung von Burak Ercan, ehemaliger Vizedirektor der Berufsschule in Cizîr, aufgehoben hat. Ercan war wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden, arbeitet inzwischen jedoch an einer Schule in Istanbul weiter.
Mahnwache mit breiter Unterstützung
Unter dem Motto „Nicht die Täter, sondern die Kinder schützen“ und „Schweigen heißt mitverantwortlich sein – Gerechtigkeit für Rojin“ wurden Transparente aufgehängt. Auf Schildern forderten die Teilnehmer:innen: „Sag Nein zu Kindesmissbrauch“ und „Burak Ercan darf nicht erneut freigesprochen werden“.
In der Umgebung der Mahnwache wurden zudem die Namen von Kindern angebracht, die durch Gewalt – auch staatliche – getötet worden sind – darunter Uğur Kaymaz, Ceylan Önkol, Cemile Çağırga, Nihat Kazanhan und Miraç Miroğlu.
Die Gerechtigkeitswache erhält breite Unterstützung. Vertreter:innen von Gewerkschaften, politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus der Provinzhauptstadt Şirnex (Şırnak), Amed (Diyarbakır), Sêrt (Siirt), Mêrdîn (Mardin), Bedlîs (Bitlis) und Colemêrg (Hakkari) besuchten den Protest.
Kritik an Straflosigkeit und politischem Klima
In ihrer Rede kritisierte Simge Yardım, Frauensekretärin im Vorstand von Eğitim Sen, die Entscheidung, das frühere Urteil gegen Burak Ercan aufzuheben. „Die Täter werden versetzt, nicht bestraft, und gefährden weiterhin Kinder“, sagte sie. Straflosigkeit sei bei Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder inzwischen die Regel und kein Einzelfall mehr.
Sie verwies auf politische Zusammenhänge: „Diese Entwicklung steht in direkter Verbindung zu frauenfeindlichen Politiken der Regierung. Der Rückzug aus der Istanbul-Konvention war ein gefährliches Signal. Heute erleben wir, dass Gerichte Täter schützen, statt Kinder zu verteidigen.“
Auch der Fall der unter verdächtigen Umständen gestorbenen Studentin Rojin Kabaiş und das weiterhin ungeklärte Verschwinden von Gülistan Doku seien Beispiele für staatliches Versagen bei geschlechtsspezifischer Gewalt. „Solange der Staat die Täter schützt, werden wir weiterkämpfen“, so Yardım.
Wache soll jedes Wochenende stattfinden
Die Gerechtigkeitswache soll jedes Wochenende fortgeführt werden. Eğitim Sen kündigte an, den Protest langfristig begleiten zu wollen. „Unsere Aufgabe ist es, Kindern und Frauen eine Stimme zu geben – gegen jede Form von Gewalt und für ein würdiges Leben“, erklärte Simge Yardım. Am 20. November, dem Internationalen Tag der Kinderrechte, sei eine größere Aktion geplant.
Weitere Mahnwache in Cizîr
Eine weitere Mahnwache in Cizîr im Zusammenhang mit dem Missbrauch an Dutzenden Schüler:innen wird von dem Lehrer und Gewerkschafter Mesut Aslan durchgeführt. Er war zur Tatzeit im Jahr 2019 als Psychologe an derselben Schule tätig und befindet sich seit dem 12. Oktober aus Protest gegen die Aufhebung des Urteils gegen Burak Ercan im Hungerstreik. Am 26. November beginnt die neue Hauptverhandlung in dem Fall. Bis dahin will Aslan seine Aktion fortsetzen.
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/wut-in-cizir-aufhebung-von-missbrauchsurteil-lost-proteste-aus-48430
Treffen zwischen Erdoğan und Imrali-Delegation verschoben
Das geplante dritte Treffen zwischen der Imrali-Delegation der DEM-Partei und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ist um zwei Tage verschoben worden. Wie aus Parteikreisen verlautete, soll das Gespräch nun am 30. Oktober stattfinden. Ursprünglich war der Termin für den 28. Oktober angesetzt gewesen.
Das Treffen soll erneut im Präsidentenpalast Beştepe in Ankara stattfinden. Die genaue Uhrzeit wurde bislang nicht bekannt gegeben.
Bereits zwei Gespräche in Beştepe
Es wäre das dritte formelle Gespräch zwischen Vertreter:innen der DEM-Partei und Erdoğan im Rahmen des laufenden politischen Dialogs. Das erste Gespräch hatte im April stattgefunden. Daran nahmen die DEM-Abgeordnete Pervin Buldan sowie der mittlerweile verstorbene Politiker und frühere Parlamentsvizepräsident Sırrı Süreyya Önder teil.
Das zweite Treffen fand im Juli statt. Anwesend waren erneut Pervin Buldan sowie ihr Kollege Mithat Sancar. An diesem Gespräch nahmen zudem AKP-Vizechef Efkan Ala und der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Ibrahim Kalın, teil. Die Unterredung dauerte rund eine Stunde.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/aufruf-von-abdullah-Ocalan-fur-frieden-und-eine-demokratische-gesellschaft-45431 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-nach-treffen-mit-erdogan-gegenseitiger-wille-zur-fortsetzung-des-dialogs-46981 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/treffen-zwischen-imrali-delegation-und-erdogan-beendet-45885
QSD wehren Angriff bei Deir ez-Zor ab
Kämpfer:innen der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) haben am Samstagabend einen Angriff auf eine ihrer Positionen im Osten des Kantons Deir ez-Zor abgewehrt. Das teilte das Pressezentrum der QSD am Sonntag mit.
Demnach griff eine bislang nicht identifizierte bewaffnete Gruppe einen QSD-Stützpunkt in Abu Hamam, östlich des Euphrat-Flusses, mit Panzerbüchsen an. Die Angreifer kamen laut QSD von der westlichen Seite des Flusses. Die eigenen Kräfte hätten „unmittelbar auf den Angriff reagiert“.
Suche nach den Angreifern dauert an
Die Identität der Angreifer ist nach QSD-Angaben noch unklar. Es würden Such- und Aufklärungsmaßnahmen durchgeführt, um die Hintergründe des Vorfalls zu klären. Über mögliche Verletzte oder Schäden wurden zunächst keine Angaben gemacht.
Sicherheitsmaßnahmen verstärkt
Nach Angaben aus militärischen Kreisen haben die QSD ihre Präsenz im ländlichen Osten von Deir ez-Zor ausgeweitet. Es wurden zusätzliche Kontrollpunkte eingerichtet und Patrouillenfahrten verstärkt, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten und mögliche weitere Angriffe frühzeitig zu verhindern. Laut QSD herrsche derzeit Ruhe in der Region. Die Einheiten seien in erhöhter Alarmbereitschaft, um „jede Bedrohung gegen die Bevölkerung abzuwehren“, hieß es in der Mitteilung.
https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/zwei-qsd-mitglieder-bei-minenexplosion-in-deir-ez-zor-getotet-48471 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/qsd-und-damaskus-verhandeln-uber-deeskalation-in-aleppo-48473 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/tol-nimmt-ranghohen-is-anfuhrer-bei-razzia-in-tabqa-fest-48482
AKP begrüßt Rückzug der PKK-Guerilla aus der Türkei
Nach der Ankündigung der kurdischen Befreiungsbewegung, sämtliche Guerillaeinheiten aus der Türkei zurückzuziehen, hat sich erstmals ein Sprecher der türkischen Regierungspartei AKP öffentlich zu dem Schritt geäußert. In einer Erklärung auf der Plattform X bezeichnete AKP-Sprecher Ömer Çelik die Entwicklung als Teil einer „strategischen Agenda zur Stärkung der Demokratie“.
Çelik verwies auf die Notwendigkeit, „alle bewaffneten und illegalen Strukturen der PKK in der Türkei sowie in Syrien und im Irak vollständig aufzulösen“. Der angekündigte Rückzug sei in diesem Kontext „ein konkreter Fortschritt auf dem Weg der Entwaffnung und der Beendigung bewaffneter Aktivitäten“, so der Regierungssprecher.
Hinweis auf Parlamentskommission
Besonders hob Çelik die Rolle der im Parlament eingerichteten „Kommission für Nationale Solidarität, Geschwisterlichkeit und Demokratie“ hervor, die sich aus Mitgliedern mehrerer Fraktionen zusammensetzt. Diese habe laut Çelik bewiesen, dass „der politische Wille im Parlament – als einzige legitime Instanz – das Zentrum des Prozesses bildet“.
„Die Tatsache, dass Parteien mit unterschiedlichen politischen Positionen diesen Prozess unterstützen, ist eine Stärke unserer politischen Kultur“, erklärte Çelik. Er betonte, dass das Ziel nun sei, den Entwaffnungs- und Auflösungsprozess ohne Unterbrechung fortzuführen.
Warnung vor Sabotage und Spaltung
In seiner Stellungnahme warnte Çelik zugleich vor möglichen Störungen des Prozesses durch externe Akteure: „Wir sind uns der Versuche bewusst, durch politische, geheimdienstliche oder faktische Sabotage aus dem Ausland Einfluss zu nehmen.“
Die Türkei werde laut Çelik den eingeschlagenen Weg jedoch konsequent weiterverfolgen. „Wir dulden keine ablenkenden Vorwürfe, maximalistische Forderungen oder radikale Gruppen, die den Prozess schwächen“, sagte er. Es dürfe keine „Nebenwirkungen“ geben, die vom Kernziel ablenkten.
Betonung von Zusammenhalt und staatlicher Autorität
Çelik rief zur politischen und gesellschaftlichen Geschlossenheit auf: „Mit der Unterstützung jedes einzelnen Bürgers sowie auf Grundlage unserer gemeinsamen Geschichte und unseres nationalen Selbstverständnisses bewegen wir uns weiter auf unser Ziel zu.“
Die Integrität des Staates und die Werte der Nation stünden dabei nicht zur Disposition, so der Sprecher weiter. Die politische Vielfalt sei ein Reichtum, müsse jedoch „im Einklang mit den Grundprinzipien des Staates“ erhalten bleiben. Abschließend erklärte Çelik: „Die Republik Türkei behält die Kontrolle über ihre Agenda.“
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/videobotschaft-von-abdullah-Ocalan-47007 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/kck-vertreter-sabri-ok-fordert-rechtliche-schritte-und-freiheit-fur-Ocalan-48545 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/kurdische-bewegung-kundigt-ruckzug-ihrer-krafte-aus-der-turkei-an-48544
KCK-Vertreter Sabri Ok fordert rechtliche Schritte und Freiheit für Öcalan
Nach der Ankündigung des Rückzugs aller Guerillaeinheiten aus der Türkei hat Sabri Ok, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), in Qendîl Fragen von Journalist:innen beantwortet. Er betonte, dass die kurdische Befreiungsbewegung mit ihrem Schritt historische Verantwortung übernommen habe – nun liege es an der Türkei, politische und rechtliche Konsequenzen zu ziehen.
„Damit der Friedens- und Demokratisierungsprozess sich im Sinne der Bevölkerung entwickeln kann, müssen begleitende rechtliche Schritte erfolgen“, sagte Ok. Die bisherigen Entscheidungen seien nur der Anfang eines Übergangsprozesses, der mit konkreten Maßnahmen gefestigt werden müsse.
„Übergangsrecht ist notwendig“
Sabri Ok verwies auf die im Rahmen der KCK-Erklärung erwähnten „Übergangsregelungen“, die den Prozess absichern sollen. „Wir haben unsere Verantwortung gezeigt, nun müssen auf rechtlicher Ebene entsprechende Schritte folgen. Das ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern ein laufender Prozess“, sagte er.
Die Bewegung fordere kein klassisches Amnestiegesetz, sondern spezifische gesetzliche Anpassungen für eine friedliche Umwandlung der politischen Strukturen. „Wir sprechen nicht von einem Straferlass“, betonte Ok. „Es geht um gesetzliche Regelungen, die auf die neue Phase des Friedensprozesses zugeschnitten sind – besondere, einmalige und historisch notwendige Maßnahmen.“
Er erinnerte daran, dass der Friedensprozess das Ergebnis eines 50-jährigen politischen Kampfes sei, in dem der PKK-Begründer Abdullah Öcalan eine entscheidende Rolle gespielt habe. „Dank Öcalans Bemühungen stehen wir an einem wichtigen Punkt. Dieser Schritt verdient rechtliche Absicherung“, sagte Ok.
„Öcalan muss physische Freiheit erhalten“
Auf die Frage, was die Bewegung konkret von der türkischen Seite erwarte, antwortete Ok: „In der Geschichte von Widerstandsbewegungen gibt es kaum ein Beispiel wie das der Kurd:innen – dass der Repräsentant eines Volkes im Gefängnis unter diesen Bedingungen nach Frieden strebt.“
Es sei nicht möglich, einen dauerhaften politischen Prozess zu führen, solange Öcalan in Haft sei. „Er erfüllt seine historische Verantwortung trotz seiner Situation. Aber er muss die Möglichkeit haben, dies in Freiheit fortzusetzen“, sagte Ok. „Wie in der Öffentlichkeit oft betont wurde, muss Abdullah Öcalan so bald wie möglich seine physische Freiheit erlangen.“
„Parlamentskommission sollte Öcalan direkt anhören“
Zu den laufenden Arbeiten der Parlamentskommission, die sich mit der Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Regierung und kurdischer Seite beschäftigt, äußerte sich Ok grundsätzlich positiv, aber mit klarer Erwartung: „Die Bildung der Kommission war ein wichtiger Schritt. Sie besteht aus Abgeordneten verschiedener Parteien und hat bisher zivilgesellschaftliche Gruppen angehört – das ist wichtig. Aber ihre Aufgabe ist nicht vollständig erfüllt, solange sie nicht direkt mit Öcalan gesprochen hat“, sagte er.
„Öcalan hat den Prozess eingeleitet und trägt ihn bis heute. Deshalb muss die Kommission ihn persönlich aufsuchen und anhören. Das ist entscheidend für die Glaubwürdigkeit des gesamten Prozesses.“
„Verantwortung darf nicht einseitig bleiben“
Ok betonte mehrfach, dass der Friedensprozess nicht nur auf Entscheidungen der Regierung warten könne: „Dies ist ein gemeinsamer Kampf – niemand sollte erwarten, dass andere alles tun. Jede Seite, jede Institution und jede gesellschaftliche Kraft muss Verantwortung übernehmen.“
Er zeigte sich optimistisch, dass der angekündigte Rückzug der Guerillaeinheiten positive Auswirkungen haben werde. „Wir erwarten, dass alle Beteiligten – auch der türkische Staat – ihre Verantwortung wahrnehmen“, so Ok.
„Wenn keine Reaktion folgt, steht der Prozess still“
Auf die Frage, was geschehe, wenn Ankara auf die jüngsten Schritte nicht reagiere, antwortete Sabri Ok zurückhaltend, aber deutlich: „Wir wollen nicht über Negatives spekulieren. Unser Wunsch ist, dass alle Beteiligten diesem historischen Schritt gerecht werden.“
Ein Scheitern oder Stillstand wäre laut Ok eine vertane Chance. „Eine Lösung der kurdischen Frage ist unter den derzeitigen Haftbedingungen Öcalans unmöglich. Er muss unter freien Bedingungen leben und arbeiten können. Nur so kann der Prozess echte Wirkung entfalten.“
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/kurdische-bewegung-kundigt-ruckzug-ihrer-krafte-aus-der-turkei-an-48544 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/videobotschaft-von-abdullah-Ocalan-47007 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/pkk-verkundet-auflosung-und-ende-des-bewaffneten-kampfes-46252 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/pkk-stimmt-Ocalan-aufruf-zu-und-verkundet-waffenstillstand-45444 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/aufruf-von-abdullah-Ocalan-fur-frieden-und-eine-demokratische-gesellschaft-45431
Şakar: Gesetzesänderungen müssen durch Venedig-Kommission begleitet werden
Im Vorfeld möglicher gesetzlicher Reformen im Zusammenhang mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Abdullah Öcalan fordert der kurdische Jurist und Ko-Vorsitzende des Kölner Vereins für Demokratie und internationales Recht e.V. (MAF-DAD), Mahmut Şakar, eine aktive Einbindung der Venedig-Kommission. Diese solle die geplanten Änderungen im türkischen Straf- und Vollzugsrecht im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) begleiten und bewerten.
Hintergrund ist die Diskussion um das sogenannte „Recht auf Hoffnung“ im Fall Öcalan und weiterer kurdischer Gefangener, zu dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits 2014 eine Entscheidung gefällt hatte. Diese wurde von der Türkei bis heute nicht umgesetzt. Im September 2025 nahm das Ministerkomitee des Europarats Bezug auf eine im türkischen Parlament eingerichtete Kommission, die sich mit entsprechenden Reformen befassen soll. Şakar verweist jedoch auf grundlegende Defizite im türkischen Rechtssystem – insbesondere im Hinblick auf EMRK-kompatible Regelungen in Strafvollzug, Antiterrorgesetzgebung und Verfassungsrecht.
Warum ist es aus Ihrer Sicht erforderlich, dass internationale Mechanismen in Bezug auf die physische Freiheit Abdullah Öcalans aktiviert werden?
Zunächst ist festzuhalten: Die juristische Behandlung von Herrn Öcalan ist seit jeher eng mit politischen Faktoren verknüpft. Seine Inhaftierung unter einem Sonderregime auf der Gefängnisinsel Imrali beruht auf einem strukturell abweichenden rechtlichen Rahmen, der sich deutlich vom allgemeinen Vollzugs- und Verwaltungsrecht der Republik Türkei unterscheidet. Es handelt sich hierbei um ein eigens geschaffenes Modell mit Ausnahmecharakter.
Vor diesem Hintergrund ist das Einschalten internationaler Mechanismen von zentraler Bedeutung – sowohl im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der fundamentalen Rechte Herrn Öcalans als auch zur Umsetzung der einschlägigen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Ohne externen Druck bleiben solche Entscheidungen regelmäßig folgenlos. Nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, dass das Imrali-Modell mit stillschweigender oder expliziter Billigung europäischer Institutionen etabliert wurde. Europa war insofern von Beginn an integraler Bestandteil dieses spezifischen Haftregimes.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Türkei, trotz ihrer Bindung an die EMRK, wiederholt Urteile des EGMR – etwa in den Fällen Abdullah Öcalan, Selahattin Demirtaş oder Osman Kavala – nicht umzusetzen?
Hier ist eine grundsätzliche Ambivalenz zu konstatieren: Die Türkei gehört zu den frühesten Mitgliedstaaten des Europarats und ist damit formell in das institutionelle Gefüge Europas eingebunden. De facto jedoch lässt sich eine zunehmende Distanzierung von den Verpflichtungen feststellen, die sich aus der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR ergeben.
Mahmut Şakar
Wir haben es mit einem Staat zu tun, der einerseits formell Teil des europäischen Systems ist und historische wie politische Verflechtungen mit Europa aufweist – andererseits aber erkennbar bestrebt ist, sich von den materiellen Standards des europäischen Menschenrechtsschutzes und dem acquis der europäischen Rechtsordnung abzukoppeln.
Welche Rolle kann Europa bei möglichen rechtlichen oder politischen Veränderungen in der Türkei spielen?
Ich halte die Rolle der europäischen Institutionen für äußerst relevant, wenn es darum geht, in der Türkei einen strukturellen Wandel herbeizuführen. Das betrifft sowohl die Förderung eines demokratischen und rechtsstaatlichen Systems als auch – ganz konkret – die Schaffung von Voraussetzungen für Veränderungen im Fall von Herrn Öcalan. Die europäischen Organe können hierbei eine maßgebliche Funktion einnehmen.
Unsere grundsätzliche Kritik richtet sich jedoch darauf, dass diese Rolle bislang nicht in dem Maße wahrgenommen wurde, wie es erforderlich gewesen wäre. Sowohl gegenüber dem Antifolterkomitee des Europarats (CPT) als auch gegenüber dem Ministerkomitee des Europarats haben wir immer wieder entsprechende Vorbehalte geäußert. Diese Kritikpunkte sind in Fachkreisen auch hinlänglich bekannt.
Gleichzeitig bemühen wir uns – auch aus meiner Perspektive als Jurist, der unmittelbar an den Verfahren beteiligt ist – um die umfassende Nutzung sämtlicher internationaler Instrumente, die über den Europarat als zentrale Institution, der auch die Türkei angehört, zur Verfügung stehen.
Insbesondere in Bezug auf die Aufhebung der Isolation von Herrn Öcalan, auf die Durchsetzung seines „Rechts auf Hoffnung“ sowie auf mögliche Schritte in Richtung Freilassung erachte ich den Rückgriff auf die strukturellen Möglichkeiten des Europarats als entscheidend. Es geht darum, diese Potenziale nicht nur punktuell, sondern in ihrer vollen Tiefe zur Geltung zu bringen.
Neben der juristischen Auseinandersetzung wurde bislang auch ein diplomatischer Diskurs geführt. Die Haftbedingungen von Herrn Öcalan, die systematisch rechtswidrigen Maßnahmen ihm gegenüber sowie die wiederholte Nichtumsetzung gerichtlicher Entscheidungen wurden regelmäßig den relevanten Organen des Europarats mitgeteilt. Wir bemühen uns um einen kontinuierlichen Dialog mit diesen Mechanismen.
Gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Prozesses, in dem die türkische Seite – wenn auch zögerlich – Schritte in Richtung einer politischen Lösung der kurdischen Frage signalisiert, ist die Aktivierung dieser Mechanismen umso bedeutsamer. In einer Phase, in der zumindest eine Öffnung in Richtung demokratischer Lösungsansätze angedeutet wird, sollte Europa seine Rolle aktiver wahrnehmen.
Auch im Kontext der Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union zeigt sich: In Phasen politischer Entspannung und Dialogbereitschaft intensivieren sich für gewöhnlich auch die EU-Türkei-Beziehungen. In konfliktgeladenen Perioden hingegen schwächt sich der europäische Einfluss spürbar ab. Wo hingegen Ansätze für Demokratisierung und politische Verständigung erkennbar sind, nähern sich beide Seiten tendenziell wieder an.
Vor diesem Hintergrund erscheint es mir erforderlich, dass wir unsere bisherigen Bemühungen auf juristischer wie diplomatischer Ebene künftig noch breiter aufstellen.
Fachleute der 1990 gegründeten Venedig-Kommission – einem beratenden Organ des Europarats – weisen darauf hin, dass ein offizielles Ersuchen der Türkei um Stellungnahme dazu beitragen könnte, laufende Reformprozesse auf eine rechtssicherere und konventionskonforme Grundlage zu stellen. Wie bewerten Sie das aus juristischer Sicht?
Die Einbindung der Venedig-Kommission als beratendes Gremium des Europarats halte ich für ausgesprochen bedeutsam – insbesondere im Hinblick auf die Schaffung einer fundierten rechtlichen Grundlage und für die rechtliche Einordnung der aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Dies gilt in besonderem Maße für die Situation von Herrn Öcalan.
Ein zentrales Element hierbei ist die Entscheidung des EGMR, in der das Gericht festgestellt hat, dass das gegen Herrn Öcalan verhängte Strafmaß konventionswidrig ist – sowohl im Hinblick auf den Verstoß gegen das Folterverbot (Art. 3 EMRK) als auch im Kontext des sogenannten „Rechts auf Hoffnung“. Der aktuelle Prozess fußt auf dieser Rechtsprechung.
Wie auch das jüngste Urteil des Ministerkomitees deutlich macht, liegen den festgestellten Konventionsverstößen strukturelle Ursachen zugrunde – insbesondere in Form defizitärer nationaler Rechtsnormen, etwa im Strafvollzugsrecht oder im Strafgesetzbuch.
Vor diesem Hintergrund wäre eine rechtsgutachterliche Stellungnahme der Venedig-Kommission zu den einschlägigen gesetzlichen Regelungen in der Türkei von erheblicher Bedeutung. Zwar hat der EGMR bereits entschieden, dass die konkrete Sanktion konventionswidrig ist – gleichwohl ist es ebenso entscheidend, dass auch die gesetzlichen Grundlagen dieser Sanktion auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK hin geprüft und bewertet werden. Genau hier könnte die fachliche Expertise der Kommission einen maßgeblichen Beitrag leisten.
Sofern es infolge der vom türkischen Parlament eingesetzten Kommission – auf die sich auch das Ministerkomitee in seiner letzten Entscheidung bezieht – zu materiellen Fortschritten im Sinne des „Rechts auf Hoffnung“ kommen soll, sind gesetzgeberische Änderungen zwingend erforderlich. Doch allein die Absicht zur Gesetzesänderung genügt nicht. Entscheidend ist, wie die Änderungen konkret ausgestaltet sind – hinsichtlich ihres Inhalts, ihrer Zielrichtung und ihrer Konformität mit der Systematik und dem Geist der EMRK.
Daher ist es sowohl aus rechtswissenschaftlicher als auch aus menschenrechtlicher Perspektive wesentlich, diesen Prozess eng zu begleiten. Eine Institution wie die Venedig-Kommission kann hier eine beobachtende und bewertende Rolle einnehmen – mit Blick auf die derzeitige Gesetzeslage ebenso wie hinsichtlich potenzieller künftiger Reformen. In diesem Sinne sollte die Kommission aktiviert werden – insbesondere im Hinblick auf eine mögliche politische Lösung der kurdischen Frage, eine Neubelebung der Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union sowie die vertiefte Nutzung der vorhandenen Möglichkeiten des Europarats.
Sie sprechen davon, diesen Prozess über klassische Rechtsmittel hinaus aktiv zu begleiten. Wie genau?
Wir beschränken uns nicht allein auf Individualbeschwerden vor dem EGMR oder die Beobachtung des Überwachungsverfahrens durch das Ministerkomitee. Vielmehr führen wir gezielt Gespräche – mit Abgeordneten, mit Ausschüssen des Europarats und mit den ständigen Vertretungen der Mitgliedstaaten.
Unser Anliegen ist es, die Situation von Herrn Öcalan und die rechtlichen wie politischen Erfordernisse, die sich daraus ergeben, in einem möglichst breiten öffentlichen und institutionellen Rahmen bekannt zu machen. Es geht auch darum, darzustellen, welchen Einfluss seine Freilassung auf einen Friedensprozess und eine demokratische Entwicklung in der Türkei haben könnte.
Ein zentraler Bestandteil unserer Arbeit besteht darin, relevante Akteure zum Handeln zu bewegen – jeweils ausgehend von ihrer institutionellen oder politischen Verantwortung. Sollte es gelingen, die Venedig-Kommission auf politischem Wege zu aktivieren, könnte sie als fachlich fundierter Akteur dazu beitragen, die Situation von Herrn Öcalan sachgerecht zu bewerten und mögliche Entwicklungen aktiv zu begleiten.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/venedig-kommission-rechtsgutachten-nur-auf-offiziellen-antrag-48449 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/dem-partei-fordert-gesetzesreform-zur-umsetzung-des-rechts-auf-hoffnung-48481 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/Ocalan-recht-auf-hoffnung-muss-gesetzlich-verankert-werden-48421
Kurdische Bewegung kündigt Rückzug ihrer Kräfte aus der Türkei an
Die kurdische Befreiungsbewegung hat mit dem vollständigen Rückzug ihrer bewaffneten Einheiten aus der Türkei begonnen. Ziel sei es, den „Prozess für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ in eine neue Phase zu überführen, hieß es am Sonntagmorgen bei einer Pressekonferenz im südkurdischen Qendîl-Gebirge, an der sich Sabri Ok, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK); Vejîn Dersîm von der Serhed-Kommandantur der Verbände Freier Frauen (YJA Star); Devrim Palu, Mitglied des Militärrats der Volksverteidigungskräfte (HPG), sowie rund zwei Dutzend Guerillakämpfer:innen beteiligten, die zuvor in Nordkurdistan im Einsatz waren.
Die kurdische Bewegung erklärte, man wolle damit ein „deeskalierendes und vertrauensbildendes Signal“ setzen. Der Rückzug betreffe alle Guerillaeinheiten, die sich bislang in der Türkei aufgehalten haben. Diese würden in die Medya-Verteidigungsgebiete in Südkurdistan verlegt, sagte Ok. Er verlas die Erklärung auf Türkisch, Vejîn Dersîm übernahm die kurdischsprachige Fassung. In dem Statement hieß es:
Der Prozess steht an einem kritischen Punkt
„Die anhaltenden Konflikte und Kriege im Nahen Osten stellen eine ernsthafte Bedrohung für die Zukunft sowohl der Türkei als auch der Kurd:innen dar. Vor diesem Hintergrund hat der vom Präsidenten und dem MHP-Chef Devlet Bahçeli aufgegriffene sowie vom Vorsitzenden Abdullah Öcalan am 27. Februar 2025 öffentlich formulierte Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft eine zentrale Bedeutung gewonnen. Der Prozess befindet sich nun in einer sehr wichtigen und kritischen Phase.
Wir haben unsere klare Haltung gezeigt
In den vergangenen acht Monaten haben wir als kurdische Seite auf Grundlage dieses Aufrufs historische Schritte unternommen. Um ein ruhiges und sachliches Diskussionsklima zu ermöglichen, erklärten wir unmittelbar nach dem Aufruf am 1. März einen Waffenstillstand. Vom 5. bis 7. Mai hielten wir, unter der Führung Abdullah Öcalans, den 12. Kongress der PKK ab. Dabei wurden grundlegende Beschlüsse zur Beendigung der organisatorischen Existenz der PKK sowie ihrer bewaffneten Strategie gefasst. Zugleich wurde festgelegt, dass eine Umsetzung dieser Beschlüsse nur unter direkter Leitung unseres Vorsitzenden Abdullah Öcalans erfolgen kann.
Zwei Monate später, am 11. Juli, wurde unter Bezugnahme auf eine Videoansprache Abdullah Öcalans die Gruppe für Frieden und eine demokratische Gesellschaft unter der Leitung der Ko-Vorsitzenden des KCK-Exekutivrats, Besê Hozat, ins Leben gerufen. Bei einer Zeremonie legte dieser 30-köpfige Rat symbolisch die Waffen ins Feuer und demonstrierte damit unseren entschlossenen Willen zur Umsetzung der Kongressbeschlüsse.
Ein neuer Geist und Wille hat sich herausgebildet
Die vom Vorsitzenden Abdullah Öcalan und der PKK angeführten Schritte haben weitreichende Auswirkungen auf die politische und gesellschaftliche Lage in der Türkei gehabt. Sie haben einen neuen Geist und Willen im Sinne von Frieden und Demokratisierung hervorgerufen. Der mutige und opferbereite Kurs der Kurd:innen für Frieden, Demokratie und Freiheit wurde innerhalb der Türkei wie auch international mehrheitlich mit Respekt aufgenommen.
Wir ziehen alle unsere Kräfte aus der Türkei ab
Trotz unzureichender Reaktionen hat Abdullah Öcalan gemeinsam mit der kurdischen Freiheitsbewegung nun weitere konkrete Schritte eingeleitet, um die gefährliche Lage für die Türkei und Kurd:innen zu entschärfen – und um die Grundlagen für ein freies, demokratisches und gleichberechtigtes Zusammenleben in den kommenden Jahrzehnten zu schaffen. Um die zweite Phase des Prozesses für Frieden und eine demokratische Gesellschaft einzuleiten, haben wir auf Grundlage der Beschlüsse des 12. Kongresses begonnen, unsere gesamten bewaffneten Kräfte aus der Türkei in die Medya-Verteidigungsgebiete zurückzuziehen.
Dieser Rückzug, der potenzielle Gefahren oder Provokationen innerhalb der türkischen Landesgrenzen verhindern soll, erfolgt mit der ausdrücklichen Zustimmung Abdullah Öcalans. Ein Teil der Einheiten, die diesen Schritt bereits vollzogen haben, ist heute hier anwesend und nimmt an dieser Erklärung teil. Auch in besonders sensiblen Grenzregionen, in denen Eskalationen denkbar sind, wurden entsprechende Vorkehrungen zur Deeskalation getroffen.
Der Erfolg hängt von der praktischen Umsetzung ab
Der Einfluss dieser Maßnahmen wird sich in der Praxis zeigen. Dennoch verdeutlichen sie bereits jetzt die Konsequenz und Entschlossenheit, mit der wir die Beschlüsse des 12. Kongresses umsetzen.
Politische und rechtliche Schritte dürfen nicht aufgeschoben werden
Wir bekräftigen nochmals unser Bekenntnis zu den Beschlüssen des 12. Kongresses und unseren Willen zu ihrer Umsetzung. Gleichzeitig fordern wir – im Einklang mit diesen Beschlüssen – dass die für den Friedensprozess notwendigen rechtlichen und politischen Schritte nicht länger hinausgezögert werden.
Dazu zählt die Entwicklung eines spezifischen Übergangsrechts für die PKK sowie die Schaffung gesetzlicher Grundlagen, die eine freie und gleichberechtigte Teilnahme am demokratischen Leben ermöglichen.
Wir rufen zur gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung auf
Unser abschließender Appell richtet sich an unsere gesamte Bevölkerung – insbesondere an Frauen und Jugendliche: Dies ist keine Phase, in der man auf Entscheidungen anderer wartet, sondern eine Phase, in der ein freies und demokratisches Leben durch organisierte gesellschaftliche Anstrengung errungen werden muss.
Alle, die sich mit diesem Ziel identifizieren, müssen sich auf der Ebene gesamtgesellschaftlicher Mobilisierung engagieren – für den Erfolg des Prozesses für Frieden und eine demokratische Gesellschaft.
Das Manifest für Frieden und ein demokratisches Zusammenleben wird siegen.“
[album=21577]
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/videobotschaft-von-abdullah-Ocalan-47007 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/pkk-verkundet-auflosung-und-ende-des-bewaffneten-kampfes-46252 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/pkk-stimmt-Ocalan-aufruf-zu-und-verkundet-waffenstillstand-45444 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/aufruf-von-abdullah-Ocalan-fur-frieden-und-eine-demokratische-gesellschaft-45431
Lisa Çalan: „Schmerz muss in Verantwortung für Frieden münden“
Die kurdische Bühnenbildnerin, Drehbuchautorin und Filmemacherin Lisa Çalan hat dazu aufgerufen, die kollektiven Erfahrungen von Leid und Verlust als Antrieb für eine gesamtgesellschaftliche Friedensbewegung zu verstehen. In einem Gespräch mit ANF betonte Çalan, dass der Ruf nach Frieden kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck von politischer Reife und Menschlichkeit sei.
Çalan war 2015 bei einem IS-Anschlag auf eine Wahlkampfveranstaltung der damaligen HDP in Amed (tr. Diyarbakır) schwer verletzt worden. Infolge der Explosion verlor sie beide Beine. Auch ihr Bruder erlitt ähnliche Verletzungen. „Ich spreche als eine Frau, die durch den Krieg körperlich gezeichnet wurde – aber ich will kein Opfer sein, das sich an den Schmerz klammert“, sagte sie. Der Krieg habe ihr Leben verändert, aber nicht ihren Glauben an eine gemeinsame Zukunft erschüttert.
„Frieden ist kein individueller, sondern ein kollektiver Anspruch“
Die Künstlerin erinnerte daran, dass die Forderung nach Frieden in der Türkei nicht neu sei. „Es ist kein aktueller Slogan, sondern das Ergebnis eines jahrzehntelangen, schmerzhaften und kräftezehrenden Prozesses“, so Çalan. Die Geschichte von Unterdrückung und Widerstand in Kurdistan reiche weit über die vergangenen 40 Jahre hinaus. „Diese Gesellschaft hat Massaker, Verbote, Vertreibung erlebt – und trotzdem nie aufgehört, sich nach einem gerechten Frieden zu sehnen.“
Çalan, die Mitbegründerin der Initiative „Kunst für die Freiheit“ ist, plädierte dafür, sich nicht in der eigenen Betroffenheit zu verlieren: „Auch beim Skandieren von Parolen bemühe ich mich, mich nicht an meine Schmerzen zu klammern – das bringt keine Lösung. Schmerz darf kein Motor für Rache oder endlosen Widerstand sein. Er muss sich in Verantwortung verwandeln.“
Auswirkungen von Krieg auf Natur, Kultur und Zusammenleben
Besonders betonte sie, dass der Krieg nicht nur Menschen, sondern auch Umwelt und Kultur zerstöre: „Eine Blume, ein Dorf, ein Baum, selbst ein Straßenhund – sie alle sind Leidtragende. Es geht nicht nur um physische Gewalt, sondern auch um einen kulturellen Angriff.“ Die systematische Zerstörung von Sprache, Tradition und Identität sei Teil eines umfassenden Konflikts, der nicht nur militärisch geführt werde.
„Wir sprechen hier nicht über Einzelschicksale. In Kurdistan haben acht von zehn Familien einen Verlust erlitten“, so Çalan. Dennoch sei es nicht legitim, aus diesen Verlusten einen Appell zur Fortsetzung des Konflikts abzuleiten. „Gerade wegen dieser kollektiven Erfahrungen brauchen wir den Mut, uns noch stärker an die Idee des Friedens zu klammern.“
Frieden muss gesellschaftlich verankert werden
Çalan rief dazu auf, den Friedensdiskurs nicht auf die kurdische Community zu beschränken. Auch andere Minderheiten – etwa Armenier:innen, Aramäer:innen oder Tscherkess:innen – hätten ähnliche Erfahrungen gemacht. „Deshalb muss die Friedensforderung eine gemeinsame, gesellschaftliche werden“, sagte sie. Insbesondere Kunst, Literatur und Medien kämen hier eine wichtige Rolle zu: „Sie können die Brüche heilen, die über Jahrzehnte hinweg vertieft wurden.“
Es reiche nicht aus, den Frieden in Amed zu fordern – auch in anderen Teilen des Landes müsse er laut artikuliert werden. „Wir müssen die gleiche Entschlossenheit auch an der Ägäisküste, in Zentralanatolien oder am Schwarzen Meer zeigen. Wenn wir den Frieden wirklich wollen, dürfen wir ihn nicht nur dort fordern, wo es uns leichtfällt.“
Geschichten unterscheiden sich, die Forderung ist dieselbe
Die Filmemacherin zeigte sich realistisch, aber entschlossen: „Diese Gesellschaft wurde mit Angst und Armut diszipliniert. Es ist nicht leicht, Mut und Zuversicht zurückzubringen.“ Doch genau dafür brauche es langfristiges Engagement – über soziale Medien, Bildung, Kulturarbeit. „Die Geschichten sind unterschiedlich, aber die Forderungen gleich. Auch die Schmerzen ähneln sich. Und sie sollten nicht vergeblich gewesen sein.“
Mit Blick auf mögliche politische Öffnungen sagte Çalan, es sei wichtig, dass nicht nur parlamentarische Kommissionen Verantwortung übernehmen sollten. „Auch wir als Gesellschaft müssen Druck aufbauen und die Chance zu einer neuen politischen Phase aktiv mitgestalten.“ Die Fehler der Jahre vor 2015 dürften sich nicht wiederholen, so Çalan. „Es liegt an uns allen, laut, konsequent und mutig zu fordern: Frieden jetzt.“
https://deutsch.anf-news.com/kultur/lisa-Calan-friedensprozesse-brauchen-die-kraft-der-kunst-46628 https://deutsch.anf-news.com/kultur/lisa-Calan-erhalt-spirit-of-cinema-award-in-kerala-31288 https://deutsch.anf-news.com/kultur/kunstinitiative-legt-acht-punkte-plan-fur-frieden-vor-47293
Istanbul: Tausende demonstrieren gegen Krieg und Repression
Unter dem Motto „Gemeinsam kämpfen für Brot, Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit“ haben mehrere linke und kurdische Parteien am Samstag eine Kundgebung im Istanbuler Stadtteil Esenyurt abgehalten. Tausende Menschen versammelten sich auf dem zentralen Platz, um gegen Repression, Kriegseinsätze und soziale Ungleichheit zu protestieren.
Zu der Kundgebung aufgerufen hatten unter anderem die Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM), die Arbeiterpartei der Türkei (TIP), die Partei der Arbeit (EMEP), die Föderation Sozialistischer Räte (SMF) sowie die Partei der Arbeiterbewegung (EHP) und die Partei für Soziale Freiheit (TÖP). Die Beteiligung war breit – auffällig viele junge Menschen nahmen teil, viele in traditionellen kurdischen Kleidern, mit Fahnen in den Farben Rot, Gelb und Grün.
Das Gelände war bereits am Morgen gut gefüllt. Begleitet wurde die Kundgebung von Sprechchören, Tanzkreisen, musikalischen Darbietungen und politischen Transparenten. Immer wieder erklangen Rufe wie „Schulter an Schulter gegen den Faschismus“ und „Bijî Serok Apo“ (Lang lebe Vorsitzender Apo).
Kritik an Kriegseinsätzen und autoritärer Politik
Zentrale Themen der Kundgebung waren die anhaltende türkische Militärpräsent in der Kurdistan-Region des Irak (KRI) und in Teilen von Syrien, die Aushöhlung der Demokratie im Inneren sowie die soziale Krise im Land. In zahlreichen Redebeiträgen wurde die Regierungspolitik der AKP/MHP-Koalition scharf kritisiert.
Tuncer Bakırhan, Ko-Vorsitzender der DEM-Partei, sprach von einem „historischen Moment“ und rief zur Beendigung der Gewalt im In- und Ausland auf. „Die Türkei braucht keine grenzüberschreitenden Militäroperationen, sondern Dialog und Frieden mit den Völkern der Region“, sagte Bakırhan. „Frieden bedeutet: keine toten Jugendlichen, keine zerstörten Leben und keine Milliarden mehr für den Krieg.“
Die im türkischen Parlament eingerichtete Kommission, die Vorschläge für eine Lösung der kurdischen Frage erarbeiten soll, sei ein möglicher Schritt, müsse jedoch mit konkreten Maßnahmen unterfüttert werden, unter anderem mit der Freilassung des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan, so Bakırhan. Er forderte ein Ende der Zwangsverwaltung in oppositionsgeführten Kommunen, die Freilassung politischer Gefangener und ein gleichberechtigtes Zusammenleben aller ethnischen und religiösen Gruppen.
„Frieden gehört allen“
Auch Erkan Baş, Vorsitzender der TIP, betonte, dass der Ruf nach Frieden keine parteipolitische, sondern eine gesamtgesellschaftliche Forderung sei. „Frieden wird uns nicht geschenkt – er ist ein Produkt gemeinsamer Anstrengung und Solidarität“, sagte er. „In jedem Krieg sterben zuerst die Kinder der Armen.“
Seyit Aslan, Vorsitzender der EMEP, übte scharfe Kritik an der wirtschaftlichen Lage im Land. Der Mindestlohn liege unter der Armutsgrenze, während der Staat das Budget zugunsten von Unternehmen verlagere. Er sprach sich für eine Neuverteilung der öffentlichen Mittel aus, verwies auf die Unterdrückung oppositioneller Medien wie den Sender Tele1, der nun ebenfalls zwangsverwaltet wird, forderte einen allgemeinen politischen Amnestieprozess und eine klare Friedenspolitik.
Erinnerung an Hakan Tosun
Die Demonstrierenden gedachten auch des vor wenigen Wochen in Esenyurt getöteten Journalisten und Umweltaktivisten Hakan Tosun. Auf Transparenten war zu lesen: „Was geschah mit Hakan Tosun?“ und „Sein Tod ist politisch“. Auch an die junge Studentin Rojin Kabaiş, die vor rund einem Jahr unter ungeklärten Umständen in Wan (tr. Van) starb, wurde erinnert.
Ebenfalls im Zentrum stand die Situation des abgesetzten und inhaftierten Bürgermeisters von Esenyurt, Ahmet Özer. Seine schriftliche Grußbotschaft wurde von CHP-Vize Gökhan Günaydın verlesen. „Ihr habt das Licht entzündet. Wir kämpfen für eine gerechtere Zukunft“, hieß es darin.
Özer betonte seine Unterstützung für einen politischen Lösungsprozess und dankte ausdrücklich den DEM-Spitzen Tuncer Bakırhan und Tülay Hatimoğulları sowie dem CHP-Vorsitzenden Özgür Özel für ihre Solidarität.
Juliana Gözen
Aufruf zur Einheit und zum gemeinsamen Widerstand
Weitere Redner:innen warnten vor gesellschaftlicher Spaltung, zunehmendem Autoritarismus und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit. Juliana Gözen, Sprecherin der TÖP, hob die Bedeutung von Basisorganisationen hervor: „Wenn wir uns nicht organisieren, überlassen wir den Jugendlichen die Straße – oder den Banden.“ Sie rief insbesondere junge Menschen dazu auf, sich für eine demokratische Zukunft zu engagieren.
Auch Hakan Öztürk, Vorsitzender der EHP, sprach sich für die Freilassung von Abdullah Öcalan aus. Wer einen Friedensprozess ernst nehme, müsse auch die Voraussetzungen dafür schaffen, so Öztürk.
Musik, Tanz und klare Botschaft zum Abschluss
Den musikalischen Auftakt machte die Gruppe Koma Vejîn. Die Veranstaltung endete mit traditionellen Tänzen, Sprechchören und Applaus. In seiner Abschlussrede betonte Bakırhan: „Dieser Platz hier ist ein Abbild der Türkei – vielfältig, kämpferisch und voller Hoffnung. Wenn wir zusammenhalten, können wir gewinnen – für ein demokratischeres, gerechteres Land.“
[album=21573]
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Koma Amed kehrt nach 30 Jahren in die Hauptstadt zurück
Rund 30 Jahre nach ihrem letzten Auftritt hat die kurdische Musikgruppe Koma Amed am Samstagabend ein Großkonzert in Amed (tr. Diyarbakır) gegeben. Nach Angaben der Veranstalter kamen Hunderttausende Menschen aus der Region und anderen Teilen des Landes zu der Veranstaltung. Begleitet wurde das Konzert von politischen Botschaften und Solidaritätsbekundungen.
Konzert unter freiem Himmel auf Newroz-Gelände
Organisiert wurde das Konzert von der Stadtverwaltung Amed und dem Bezirk Peyas (Kayapınar) unter Beteiligung des Kulturkollektivs Sanatça. Die Gruppe Koma Amed trat nach Jahrzehnten erstmals wieder gemeinsam auf und wurde vom Publikum mit großem Beifall empfangen. Auf Bannern und Schildern waren unter anderem Schriftzüge wie „Berî her tiştî Kurd im“ (Vor allem bin ich Kurde/Kurdin) sowie „Jiyan bi Kurdî xweşe“ (Leben ist schön auf Kurdisch) zu lesen. Auch ein Porträt des im Guerillawiderstand gefallenen Gründungsmitglieds Evdilmelik Şêxbekir wurde gezeigt. Viele Besucher:innen trugen zudem traditionelle Kleidung und riefen Parolen wie „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit) und „Bijî Serok Apo“ (Lang lebe Vorsitzender Apo).
Botschaften aus Politik und Kultur
Das Konzert begann mit Videobotschaften bekannter Künstler:innen wie Şivan Perwer, Ilkay Akkaya, Gulistan Perwer und Hozan Dilovan. Auch der inhaftierte frühere Oberbürgermeister von Amed, Selçuk Mızraklı, der als Namensgeber der Gruppe gilt, sowie der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş übermittelten Grußworte.
Auf der Bühne begrüßten zudem die Ko-Bürgermeister:innen von Amed und Peyas das Publikum. Oberbürgermeisterin Serra Bucak bezeichnete den Auftritt als „Rückkehr der Gruppe in ihre Heimat“ und rief zu Frieden und gesellschaftlichem Zusammenhalt auf.
Stellungnahme der DBP
Keskin Bayındır, Ko-Vorsitzender der Partei DBP, nutzte das Konzert für eine politische Ansprache. Die Geschichte von Koma Amed sei auch die Geschichte des kurdischen Widerstands, sagte er. Die Gruppe sei „nach 30 Jahren zurück in der Hauptstadt Kurdistans“. Er betonte, das kollektive Ziel sei weiterhin die Freilassung von Abdullah Öcalan, den viele Kurd:innen als politischen Repräsentanten betrachten. „Seine Freiheit ist die Freiheit des Volkes“, sagte Bayındır. Er forderte die Wiederaufnahme des politischen Dialogs mit dem türkischen Staat.
Musik, gesellschaftliche Themen und gemeinsamer Tanz
Nach den Reden betrat Koma Amed unter großem Jubel die Bühne. Die Band spielte bekannte Lieder, begleitet von Gesang, Applaus und Lichtern aus Mobiltelefonen. In kurzen Ansprachen zwischen den Songs thematisierten die Musiker:innen gesellschaftliche Missstände, darunter Gewalt gegen Frauen und Kinder, und riefen zu Gerechtigkeit für die unter ungeklärten Umständen gestorbene Studentin Rojin Kabaiş auf.
Das Konzert endete mit gemeinschaftlichem Tanz und großer Begeisterung. Viele Besucher:innen verließen das Gelände unter Sprechchören und politischen Parolen.
Über Koma Amed
Koma Amed wurde 1988 in Ankara von Studierenden gegründet und entstand in einer stürmischen Zeit. Aufgrund der Unterdrückung der kurdischen Kultur und Sprache waren öffentliche Auftritte schwierig und selten. Koma Amed wurde in das Kulturzentrum Mesopotamien (Navenda Çanda Mezopotamyayê, NÇM) in Istanbul aufgenommen und gab 1990 ihr erstes Album Kulîlka Azadîyê heraus. 1995 erschien das zweite Album Agir û Mirov, es folgte die erste Europatournee. Ihr drittes Album Dergûş (1997) war ein großer Wendepunkt. Das Album überschritt die lokalen Grenzen und erreichte dank eines innovativen Ansatzes für traditionelle kurdische Volksmusik ein weltweites Publikum. Die Wirkung von Dergûş war so groß, dass der damalige türkische Außenminister das Album als Präsent bei EU-Besuchen überreichte. Der politische Druck zwang jedoch später viele Bandmitglieder ins Exil.
https://deutsch.anf-news.com/kultur/koma-amed-die-blume-der-freiheit-und-evdilmelik-Sexbekir-19129 https://deutsch.anf-news.com/kultur/koma-amed-nach-27-jahren-zuruck-auf-der-buhne-42406
Deliberative Demokratie: Wort, Entscheidung und Macht in den Händen der Gesellschaft
In seinem Appell vom 27. Februar betonte Abdullah Öcalan die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels im Kontext einer neuen politischen Epoche. Die kurdische Freiheitsbewegung, so Öcalan, müsse sich künftig entlang eines neuen konzeptuellen Rahmens organisieren. Auf das Manifest dieser neuen Phase, welches als „Paradigma des Friedens und der demokratischen Lösung“ bezeichnet wird, folgte eine Botschaft an den von der Bewegung Freier Frauen (TJA) initiierten Protestmarsch von Amed nach Ankara. Darin benannte Öcalan das Leitprinzip dieser Phase mit dem Begriff der deliberativen (verhandlungsbasierten) Demokratie.
Dieses Konzept wird dabei nicht lediglich als strategische Komponente verstanden, sondern als eines der grundlegenden konzeptionellen Fundamente des gegenwärtigen politischen Kampfabschnitts. Entgegen verbreiteter Annahmen in Teilen der politischen Öffentlichkeit betont Öcalan, dass sich über den Weg einer verhandlungsbasierten Demokratie durchaus eine Perspektive auf den Sozialismus eröffnen lasse.
Mit dieser Positionsbestimmung entfachte sich insbesondere innerhalb linker und sozialistischer Kreise eine breite Diskussion. Während einige Interpretationen das Konzept als eine ideologische Annäherung an den Liberalismus werteten, unterstellten andere eine Abkehr vom Sozialismus beziehungsweise eine Distanzierung von der radikalen Demokratie. In diesen Auseinandersetzungen blieb jedoch oftmals unbeachtet, welche ideengeschichtlichen Voraussetzungen das Konzept prägten und in welcher theoretischen Entwicklung es steht. In der Folge gerieten die Debatten mitunter zur polemischen Kritik am sozialistischen Selbstverständnis der kurdischen Freiheitsbewegung.
Diese Entwicklung wirft eine Reihe zentraler Fragen auf:
Warum greift Öcalan auf das Konzept der verhandlungsbasierten Demokratie zurück?
Stellt dieses Paradigma tatsächlich eine Abkehr vom Sozialismus dar?
Welches Verständnis von Sozialismus liegt der kurdischen Freiheitsbewegung zugrunde – und wie ist innerhalb dieses Denkrahmens die verhandlungsbasierte Demokratie zu verorten?
Zur Entstehung und begrifflichen Entwicklung des Konzepts
Der Begriff der deliberativen Demokratie wurde in der politikwissenschaftlichen Literatur erstmals durch Joseph M. Bessette eingeführt. Die theoretische Weiterentwicklung und heutige Standarddefinition geht jedoch maßgeblich auf Jürgen Habermas zurück. Seine Konzeption entstand als kritische Intervention gegenüber den Begrenzungen liberal-demokratischer Modelle der Nachkriegszeit. Ziel war es, die Defizite radikaler Demokratietheorien zu überbrücken und ein Modell zu entwerfen, das auf prozeduraler Rationalität und gesellschaftlicher Partizipation beruht.
Die deliberative – beziehungsweise dialogische – Demokratie stellt dabei einen normativen Ansatz zur Organisation politischer Entscheidungsprozesse dar, insbesondere im Rahmen konföderaler Ordnungen. Innerhalb solcher Systeme wird die verhandlungsbasierte Demokratie als Form direkter Repräsentation verstanden, die auf der aktiven Mitwirkung der Gesellschaft in sämtlichen Phasen der Problemanalyse und Lösungsfindung basiert. Der Grundpfeiler dieses Modells ist Transparenz – verstanden als vollständige Offenlegung aller relevanten Informationen und Meinungen im öffentlichen Diskurs.
Ein wesentliches Merkmal deliberativer Verfahren besteht darin, dass jede bewusste Manipulation oder Zurückhaltung von Informationen im Interesse einzelner Akteure als systemwidrig gilt. Darüber hinaus ist nicht allein formale Gleichheit erforderlich: Notwendig sind ebenso die ungehinderte Artikulation aller Positionen, Gleichberechtigung in Entscheidungsverfahren sowie ein Konsensprinzip, das sich nicht an Mehrheiten, sondern an gemeinsamen Überzeugungen orientiert. Entscheidungen müssen demnach das Ergebnis eines inklusiven und rational geführten Dialogs sein – und nicht durch bloße Mehrheitsverhältnisse legitimiert werden.
Grundprinzipien der verhandlungsbasierten Demokratie
Gemäß Jürgen Habermas, einem Vertreter der zweiten Generation der Frankfurter Schule und zentralem Theoretiker des deliberativen Demokratieverständnisses, bildet Konsens eine der entscheidenden Voraussetzungen für das demokratische Handeln. Entscheidungen, die im Rahmen deliberativer Prozesse getroffen werden, müssen demnach das Ergebnis eines herrschaftsfreien Diskurses sein und auf rationaler Verständigung beruhen.
Habermas unterscheidet in der Struktur demokratischer Auseinandersetzung drei zentrale Phasen:
Konsensbildung – die gemeinsame Orientierung an kollektiven kulturellen Werthorizonten,
Konflikt – das offene Austragen divergierender Interessen und Positionen zwischen den Beteiligten,
Rechtlicher Rahmen – das Verständnis der normativen Struktur, innerhalb derer Konflikte reguliert werden können.
Im Zentrum steht dabei ein emanzipatorisches Verständnis von Bürgerschaft: Der/die Bürger:in wird nicht als passives oder blind folgsames Subjekt begriffen, sondern als eigenständig denkendes Individuum mit dem Recht und der Fähigkeit, sich aktiv an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zu beteiligen – insbesondere bei Angelegenheiten, die das eigene Leben direkt betreffen.
Habermas verfolgt hierbei keinen exklusiven Wahrheitsanspruch gegenüber anderen demokratischen Konzepten. Vielmehr selektiert er aus bestehenden Modellen jene Elemente, die demokratietheoretisch tragfähig erscheinen, und integriert sie in einen weiterentwickelten normativen Rahmen.
Eine zentrale theoretische Innovation stellt Habermas’ Konzeption des öffentlichen Raums (Öffentlichkeit) dar. Dieser wird nicht länger als bloßes Forum für politische Eliten oder institutionelle Akteure verstanden, sondern als ein Raum, in dem sich private Individuen zur kollektiven Reflexion über gemeinsame Belange versammeln. Öffentlicher Raum ist damit jener Bereich, „in dem sich Privatpersonen über Themen von gemeinsamem Interesse austauschen, argumentativ ein Urteil bilden und darüber einen gesellschaftlichen Konsens – die öffentliche Meinung – generieren“.
Im Kontext dieser Theorie formuliert Habermas mehrere normative Anforderungen an den öffentlichen Raum:
Er muss möglichst vielen Menschen offenstehen und den Austausch vielfältiger gesellschaftlicher Erfahrungen ermöglichen.
Unterschiedliche Positionen und Argumente müssen sich in einem rationalen Diskurs begegnen können.
Die zentrale Funktion des öffentlichen Raums besteht darin, staatliches Handeln systematisch und kritisch zu kontrollieren.
Im Unterschied zu liberalen Modellen versteht Habermas den öffentlichen Raum nicht als Ort ökonomischer Interessenvertretung. Während zivilgesellschaftliche Organisationen – wie Gewerkschaften, Frauen- oder Jugendverbände – zentrale Akteure des öffentlichen Diskurses darstellen, sind kapitalistische Akteursgruppen, wie Konzerne oder Unternehmenslobbys, ausdrücklich aus diesem Konzept ausgeschlossen.
Zur Unterscheidung zwischen liberaler und verhandlungsbasierter Demokratie
Mit der Verwendung des Begriffs „verhandlungsbasierte Demokratie“ durch Abdullah Öcalan setzte eine Debatte ein, in deren Verlauf einige Kommentator:innen eine Nähe oder gar Gleichsetzung dieses Konzepts mit dem Modell der liberalen Demokratie postulierten. Diese Annahme bedarf einer genaueren theoretischen Prüfung.
Die deliberative Demokratie stellt weder eine Fortsetzung noch eine Rettung liberal-demokratischer Strukturen dar. Vielmehr entstand das liberale Demokratieverständnis im Zuge der industriellen Revolution als Reaktion auf die zunehmenden Freiheitsforderungen der Arbeiter:innenklassen und unterdrückten Bevölkerungsgruppen weltweit. Es diente dazu, sozialistische Alternativen zu neutralisieren und der Bevölkerung ein Modell relativer Freiheit zu präsentieren, das jedoch in zentralen Fragen – insbesondere der ökonomischen und politischen Machtverteilung – weiterhin dem Nationalstaat und der kapitalistischen Elite Entscheidungsgewalt zuschreibt.
Spätestens mit dem Scheitern realsozialistischer Gesellschaftsmodelle gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde das liberale Demokratieverständnis durch gezielte ideologische Kampagnen zum vermeintlich „alternativlosen“ politischen System stilisiert. Doch mit der anhaltenden Krise kapitalistischer Nationalstaaten wurde auch dieser Mythos zunehmend fragwürdig.
In dieser Situation, geprägt von der Krise liberaler Demokratien und dem Niedergang realsozialistischer Bewegungen, gewann das von Bessette eingeführte und von Habermas weiterentwickelte Konzept der deliberativen Demokratie an Bedeutung. Es wurde zu einem theoretischen Versuch, die entstandene Leerstelle durch ein neues Verständnis politischer Partizipation zu füllen.
In diesem Zusammenhang ist auf einen wichtigen Bezugspunkt in Öcalans Denken hinzuweisen: das Werk Parecon: Life After Capitalism („Leben nach dem Kapitalismus“) von Michael Albert. Dieses Buch, das Öcalan insbesondere während seiner Inhaftierung auf der Gefängnisinsel Imrali zur Lektüre empfahl, vertritt die These, dass Übergänge zum Sozialismus nicht durch autoritäre Zentralisierung, sondern durch die Stärkung individueller und kollektiver Handlungsmacht im gesellschaftlichen Leben zu gestalten seien.
Dass Öcalan diesen Text zu Beginn der 2000er Jahre als grundlegend betrachtete, unterstreicht, dass das Konzept der verhandlungsbasierten Demokratie nicht als spontane politische Wendung zu verstehen ist, sondern das Ergebnis langjähriger theoretischer Auseinandersetzung und konzeptioneller Weiterentwicklung darstellt.
Die zentrale Differenz zwischen liberaler und deliberativer Demokratie besteht in der Bewertung gesellschaftlicher Partizipation: Während liberale Modelle die individuelle Wahlfreiheit in den Mittelpunkt stellen, betont die verhandlungsbasierte Demokratie die Notwendigkeit kollektiver Willensbildung und gemeinschaftlicher Entscheidungsfindung. Letztere versteht Demokratie nicht als numerisches Mehrheitsprinzip, sondern als sozialen Prozess der Verständigung über gemeinsame Ziele und Handlungsweisen.
In der von Habermas geprägten Konzeption ist das Volk nicht Objekt staatlichen Handelns, sondern aktiver Gestalter politischer Prozesse. Die deliberative Demokratie kann dabei in unterschiedlichen Kontexten Anwendung finden – innerhalb föderaler Strukturen, Nationalstaaten, aber ebenso in zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Gewerkschaften. In allen Fällen gilt: sämtliche gesellschaftlichen Gruppen – ungeachtet von Herkunft, Geschlecht oder Religion – sollen gleichberechtigt in Entscheidungsprozesse eingebunden sein.
Individuen nehmen an allen Phasen politischer Gestaltung teil: an der Formulierung von Anliegen, an der Verteilung von Entscheidungskompetenzen und an der konkreten Beschlussfassung. Diese umfassende Einbindung hebt deliberative Demokratie grundlegend vom liberalen Modell ab.
Während Letzteres den Vorrang des Individuums und seiner Wahlfreiheit betont, zielt erstere auf die Emanzipation der gesamten Gesellschaft. Liberale Demokratien setzen auf Mehrheitsentscheidungen im Rahmen formaler Wahlen; deliberative Demokratien hingegen auf Konsensbildung durch Aushandlung. Konfliktlösung wird nicht durch Abstimmungsmehrheiten erzielt, sondern durch Einigung auf der Grundlage rationaler Argumentation und gemeinsamer Werte.
Deliberative Demokratie als Gegenmodell zur Kastenbildung in politischen Systemen
Die Unterscheidung zwischen liberaler und deliberativer Demokratie offenbart sich insbesondere in deren jeweiligem Verständnis politischer Organisation. Diese Unterscheidung verweist zugleich auf das demokratietheoretische Potenzial der verhandlungsbasierten Demokratie zugunsten einer gemeinwohlorientierten Gesellschaftsordnung.
Im Gegensatz zum liberalen Modell basiert die verhandlungsbasierte Demokratie auf einem horizontalen Organisationsprinzip. Sie lehnt die Etablierung einer privilegierten Klasse „Auserwählter“ ab – eine charakteristische Erscheinung liberal-demokratischer Systeme –, und ersetzt diese durch ein Modell unmittelbarer, gleichberechtigter Partizipation der Bevölkerung.
Das liberale Demokratieverständnis produziert im Laufe der Zeit eine neue Elite: eine Klasse gewählter Repräsentant:innen, die nicht selten dazu tendiert, sich von der sozialen Realität der von ihnen vertretenen Bevölkerung zu entfernen. Diese Eliten entwickeln mitunter ein distanziertes bis ablehnendes Verhältnis zu Formen kollektiver Selbstorganisierung. Ein solches Modell erscheint weniger als demokratische Notwendigkeit denn als ideologische Konstruktion zur Stabilisierung eines in der Krise befindlichen kapitalistischen Systems und der hierarchischen Klassenordnung, auf der dieses beruht.
Darüber hinaus begünstigt die liberale Demokratie ein Verständnis von Individualität, das nicht auf soziale Verantwortung, sondern auf Individualismus fokussiert ist. In der Konsequenz entstehen vereinzelte, aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang gelöste Subjekte, die in erster Linie auf Eigennutz bedacht sind und sich aus gemeinschaftlicher Verantwortung herauslösen.
Selbst bei allgemeinen Wahlen, die das gesamte gesellschaftliche Kollektiv betreffen, ist die liberale Demokratie nicht auf das Gemeinwohl, sondern auf partikularistische Interessen ausgerichtet. Ein zentrales Symptom dieses Strukturproblems ist die Vorstellung, dass der:diejenige mit den meisten Stimmen auch das alleinige Entscheidungsrecht beanspruchen darf – inklusive der Möglichkeit, jene zu marginalisieren, die sich gegen ihn oder sie ausgesprochen haben. Die Annahme, dass Wahlsiege Immunität vor öffentlicher Rechenschaftspflicht verleihen, verfestigt die politische Ungleichheit zusätzlich.
Dies führt letztlich zur Ausbildung eines Kastensystems, das die Gesellschaft in „gewählte Eliten“ und „Nichtgewählte“ spaltet. Erstere beanspruchen – legitimiert durch das Wahlergebnis – uneingeschränkte Entscheidungsgewalt, auch unter Berufung auf das Prinzip liberaler Demokratie.
In diesem System, das sich zunehmend auf Wahlen als Hauptlegitimationsquelle konzentriert, verlagern politische Parteien die Macht auf sogenannte Fachkader. Der Zugang zu Entscheidungsstrukturen wird dadurch auf eine begrenzte Personengruppe beschränkt und die effektive Beteiligung der breiten Bevölkerung systematisch erschwert.
Ein weiteres strukturelles Problem der liberalen Demokratie ist ihr Verhältnis zum Nationalstaat. Im Bemühen, die Einheit und Stabilität des Nationalstaats zu sichern, fördert sie ein homogenisierendes Menschenbild. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem Individualismus überbetont und Kollektivität abgewertet wird, werden Freiheitsrechte wie Organisations- und Meinungsfreiheit untergraben. Statt echter Wahlmöglichkeiten wird der Bevölkerung eine eingeschränkte Auswahl vorgegebener Optionen präsentiert – eine Scheinpartizipation, die auf Konformität abzielt.
Diese Tendenz zur Uniformierung trägt faschistische Züge. Insofern enthält die liberale Demokratie in ihrer strukturellen Logik bereits das Potenzial autoritärer Entwicklungen.
Gerade unter den Bedingungen einer sich vertiefenden politischen, sozialen und ökonomischen Krise ist die verhandlungsbasierte Demokratie als Alternative entstanden. In einer Zeit, in der sich liberale Demokratien und der kapitalistische Nationalstaat als unüberwindbar inszenierten, setzte die deliberative Demokratie einen theoretischen und politischen Kontrapunkt. Sie versteht sich als Gegenmodell zu all jenen Ansätzen, die gesellschaftliche Ungleichheit und Ausgrenzung reproduzieren.
Das von Öcalan vertretene Konzept ist in diesem Zusammenhang als Versuch zu verstehen, eine alternative Perspektive zu formulieren – sowohl auf die Krise des Nationalstaats und des Kapitalismus als auch auf das Scheitern realsozialistischer Projekte. Die verhandlungsbasierte Demokratie erscheint in diesem Sinne als Übergangsmodell auf dem Weg zu einem emanzipatorischen Sozialismus.
Im Zentrum dieses Modells steht eine horizontale Organisationsweise, die sich explizit gegen die Herausbildung einer privilegierten Entscheidungsinstanz – wie sie im liberal-demokratischen oder realsozialistischen Modell vorherrscht – richtet. Entscheidungs-, Gesetzgebungs- und Handlungsmacht dürfen niemals einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe exklusiv zugewiesen werden.
Stattdessen setzt die verhandlungsbasierte Demokratie auf ein Modell kollektiver Entscheidungsfindung, das sich nicht am Mehrheitsprinzip orientiert, sondern an der gemeinsamen Verständigung aller beteiligten Gruppen. Die offene, inklusive Beteiligung aller gesellschaftlichen Schichten stellt sicher, dass Prozesse transparent gestaltet werden und demokratische Prinzipien ihre praktische Wirkung entfalten können.
In einem solchen partizipativen Modell ist jede gesellschaftliche Gruppe auf allen Ebenen eingebunden, verfügt jederzeit über das Recht zur Mitwirkung und wird in Entscheidungsprozesse integriert. Ziel ist es, alle Einwände auf der Grundlage gemeinsamer Diskussionen zu klären und gemeinsam tragfähige Lösungen zu entwickeln.
Gelingt diese Form der Organisation, so wäre das kastenspezifische Machtgefüge, das sowohl im realsozialistischen als auch im liberalen Modell fortbesteht, überwunden. In den Worten eines sozialistischen Grundsatzes ließe sich dies so zusammenfassen:
„Das Wort, die Entscheidung und die Macht gehören dem Volk.“**
Fortsetzung folgt in Teil 2 der Artikelreihe
*Der Verfasser dieses Artikels ist der Redaktion bekannt. Sein Name wird nicht genannt, um ihn vor Verfolgung durch die türkische Justiz zu schützen.
**Die Formel „Das Wort, die Entscheidung und die Macht gehören dem Volk“ – „Söz, yetki ve karar halkındır“ – geht zurück auf Fikri Sönmez, den linken Bürgermeister der nordtürkischen Stadt Fatsa. Sönmez, ein Sozialist und Aktivist der 1970er Jahre, initiierte dort eine Form der basisdemokratischen Selbstverwaltung, bei der Nachbarschaftsräte über lokale Belange mitentschieden. Seine Amtszeit (1979-1980) wurde zu einem seltenen Beispiel gelebter partizipativer Demokratie in der Türkei.
Im Juli 1980 wurde das Modell durch eine militärische Intervention – die sogenannte „Punktoperation“ – gewaltsam zerschlagen und Sönmez verhaftet. Die Punktoperation stellte sich später als Generalprobe für den Militärputsch vom 12. September 1980 heraus. Fikri Sönmez, der in Haft schwer gefoltert wurde, starb 1985 im Gefängnis – offiziell an Herzversagen. Bis heute steht die von ihm entworfene Formel für eine radikale demokratische Vision: Nicht Repräsentation von oben, sondern Mitbestimmung von unten – durch das Volk selbst.
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In den überwiegend kurdisch bewohnten Stadtteilen Şêxmeqsûd und Eşrefiyê in Aleppo soll das medizinische Versorgungssystem grundlegend verbessert werden. Der lokale Gesundheitsrat hat dazu am Samstag eine Arbeitsstrategie vorgestellt, die unter anderem neue medizinische Geräte, regelmäßige Fortbildungen und einen durchgehenden Bereitschaftsdienst vorsieht.
Die Versammlung begann mit einem Grußwort von Dr. Azad Mecîd Reşo, der auch die Tagesordnung vorstellte. Im Anschluss wurde der Jahresbericht des Gesundheitsrats in kurdischer und arabischer Sprache verlesen.
Jahresbilanz und Zukunftspläne
Im Bericht wurden die bisherigen Erfolge des Rats hervorgehoben – darunter die bessere Organisation der Medikamentenverteilung, die Koordination mit Apotheken und Lagern sowie strukturelle Veränderungen am „Şehîd Xalid Fecr“-Krankenhaus.
Dr. Azad Mecîd Reşo (rechts im Bild)
In einer offenen Diskussionsrunde brachten medizinisches Personal und Gemeindemitglieder Vorschläge zur weiteren Verbesserung ein. Zu den zentralen Forderungen gehörten die Einführung eines 24-Stunden-Schichtsystems, Anschaffung moderner Medizintechnik, stärkere Unterstützung des Pflegepersonals und der Ausbau von Gesundheitskampagnen und Aufklärung.
Geplante Ausstattung und Fortbildungen
Der Rat kündigte an, mehrere zentrale Geräte für die Grundversorgung bereitzustellen, darunter ein mobiles Röntgengerät, verschiedene Endoskopiegeräte, ein Defibrillator, ein hochauflösendes Herz-Ultraschallgerät mit Echo-Doppler-Funktion, ein EKG-Gerät, ein modernes Sterilisationssystem sowie chirurgische Grundausstattung. Zusätzlich sollen sowohl medizinisches als auch nicht-medizinisches Personal durch regelmäßige Schulungen weiterqualifiziert werden.
Ziel: Bessere Versorgung für Bedürftige
Ein zentrales Anliegen sei es, den Zugang zu Medikamenten und Behandlungen – insbesondere für finanziell benachteiligte Patient:innen – zu erleichtern, so die Vertreter:innen des Gesundheitsrats. „Unser Ziel ist es, die Lebensqualität in den Vierteln nachhaltig zu verbessern und medizinische Grundversorgung für alle zugänglich zu machen“, hieß es abschließend.
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Frauenkongress des Gefallenenrats in Nord- und Ostsyrien tagt in Rimêlan
In Rimêlan hat am Samstag der dritte Frauenkongress des Gefallenenrats in der Autonomieregion Nord- und Ostsyriens begonnen. Rund 400 Delegierte aus verschiedenen Städten und Gemeinden kamen im Kulturzentrum Aram Tigran zusammen, um über politische Entwicklungen, organisatorische Fragen und die Rolle der Frauen im öffentlichen Leben zu beraten.
Der Kongress steht unter dem Motto: „Frieden aufbauen mit dem Geist der Gefallenen – für Freiheit und Demokratie und die physische Freiheit von Abdullah.“
Die Eröffnung begann mit einer Schweigeminute für die Gefallenen. Anschließend richteten Vertreterinnen verschiedener Organisationen Grußworte an die Versammlung – darunter Surya Hemo für den Gefallenenrat, Gulistan Gulo für die Frauenbewegung Kongra Star und Kurdistan Koçer für die Frauenverteidigungseinheiten YPJ.
In den Redebeiträgen wurde der Beitrag von Frauen zur Verteidigung der Region und zum Kampf gegen den Terrorismus hervorgehoben. Zugleich wurde betont, dass die Gefallenen nicht nur militärisch, sondern auch ideell ein Fundament für eine demokratischere Gesellschaft gelegt hätten.
Politische Lage, Rechenschaft und Neuwahlen
Im weiteren Verlauf des Kongresses sprach die Aktivistin Elif Hemo von Kongra Star über die aktuelle politische Lage in Syrien und insbesondere in den selbstverwalteten Gebieten im Nordosten. Sie ging auf die Herausforderungen und Veränderungen im gesamten Nahen Osten ein.
Auf dem Programm des Kongresses stehen auch die Vorstellung eines Tätigkeitsberichts für die vergangenen zwei Jahre, die Überarbeitung der internen Satzung sowie die Wahl neuer Mitglieder in den Frauenrat. Ziel sei es, die Handlungsfähigkeit der Organisation zu stärken und die Arbeit besser zu strukturieren.
Ziel: Stärkung der politischen Rolle von Frauen
Der Kongress bildet den Abschluss einer Reihe vorbereitender Konferenzen in verschiedenen Städten der Autonomieregion. Dabei waren Frauen – insbesondere Mütter und Angehörige von Gefallenen – aufgerufen worden, ihre Perspektiven zu politischen und gesellschaftlichen Fragen einzubringen. Der Gefallenenrat verfolgt nach eigenen Angaben das Ziel, die Stimme der Frauen in Entscheidungsprozesse einzubringen, ihre Rolle in der Gesellschaft zu stärken und langfristig zur Mitgestaltung einer demokratischen Zukunft Syriens beizutragen.
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Samstagsmütter erinnern an Yusuf Nergiz
Mit ihrer 1074. Mahnwache haben die Samstagsmütter in Istanbul erneut Gerechtigkeit für Opfer des Verschwindenlassens gefordert. Im Mittelpunkt der dieswöchigen Kundgebung auf dem Galatasaray-Platz stand das Schicksal von Yusuf Nergiz, der 1997 nach seiner Festnahme in der kurdischen Provinz Amed (tr. Diyarbakır) spurlos verschwand.
Wie bei früheren Aktionen versammelten sich Mitglieder und Unterstützer:innen der Initiative mit roten Nelken und Fotos von Vermissten am abgesperrten Kundgebungsplatz. Seit den 1990er Jahren fordern die Samstagsmütter lückenlose Aufklärung über die Fälle verschwundener Menschen in staatlicher Obhut, bislang meist ohne Erfolg.
Festgenommen, freigelassen, verschwunden
Die frühere HDP-Abgeordnete Oya Ersoy schilderte bei der Kundgebung die letzten bekannten Schritte von Yusuf Nergiz, einem sechsfachen Familienvater. Der damals 70-Jährige lebte damals in der Stadt Amed und bewirtschaftete landwirtschaftliche Flächen in seinem Geburtsdorf Dorf Tiyaks (Narlıca) im Landkreis Pasûr (Kulp). Am 30. September 1997 wurde sein dortiges Haus von Soldaten durchsucht, Nergiz wurde festgenommen und zum Gendarmerie-Stützpunkt in Pasûr gebracht. Drei Tage später kam er frei.
Noch am selben Tag rief Nergiz seine Frau an, um sie zu informieren, und machte sich auf den Rückweg nach Amed. Am kleinen Busbahnhof traf er zufällig seine Schwester und berichtete von der Festnahme. Er kaufte einen Fahrschein für den Bus mit dem Kennzeichen 21 AR 474, der um 11 Uhr abfahren sollte. Doch er kam nie zu Hause an.
Später erfuhr seine Frau über einen sogenannten Dorfschützer, der im selben Bus unterwegs gewesen war, dass Nergiz von Militärs aus dem Fahrzeug geholt und zur Identitätsüberprüfung zur Gendarmerie gebracht worden sei. Seitdem gilt er als verschwunden.
Ermittlungen blieben ohne Ergebnis
Am 7. Oktober 1997 erstattete Şahibe Nergiz Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Diyarbakır. Die Polizei und die Gendarmerie in Pasûr bestritten jedoch, Nergiz erneut festgenommen zu haben. Eine offizielle Untersuchung wurde eingeleitet, auch ein Durchsuchungsbeschluss wurde erlassen – jedoch ohne Ergebnis. „Seit 28 Jahren wartet die Familie vergeblich auf eine Antwort“, sagte Ersoy.
Der Fall von Yusuf Nergiz stehe beispielhaft für die vielen verschwundenen Personen, deren Schicksal nie aufgeklärt wurde. Wie in vielen anderen Fällen sehen die Samstagsmütter auch hier ein systematisches Versagen des Rechtsstaats. „Die Politik des Schweigens und der Straflosigkeit verhindert bis heute Gerechtigkeit“, so Ersoy.
Die Initiative kündigte an, ihren Protest fortzusetzen: „Wir werden nicht schweigen. Nicht für Yusuf Nergiz und nicht für die anderen Verschwundenen. Der Staat ist verpflichtet, nach rechtsstaatlichen Prinzipien zu handeln – auch Jahrzehnte später noch.“
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