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Aktualisiert: vor 57 Minuten 38 Sekunden

Öcalan ruft zu Rückbesinnung auf „demokratischen Islam“ auf

25. Dezember 2025 - 13:00

In der nordkurdischen Metropole Amed (tr. Diyarbakır) findet an diesem Donnerstag der erste ordentliche Kongress der Föderation für Islamische Studien in Mesopotamien (MIAF) statt. Die Veranstaltung steht unter dem Motto „Vom Demokratischen Islam hin zu Frieden und einer demokratischen Gesellschaft“ und findet im Kongresszentrum ÇandAmed statt. Nach einer Schweigeminute und der Rezitation aus dem Koran eröffnete Mahmut Şık, Ko-Vorsitzender der Föderation, den Kongress mit einem politischen Appell. Er verwies auf die Verantwortung gegenüber dem vom kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali initiierten Friedensprozess und erklärte: „Wir dürfen den Vorsitzenden nicht allein lassen – wir müssen Einheit herstellen und unseren Beitrag leisten.“

Botschaft von Öcalan: Rückbesinnung auf den Geist der Medina-Verfassung

Im Anschluss wurde eine schriftliche Grußbotschaft von Abdullah Öcalan verlesen, die er anlässlich des Kongresses übermitteln ließ. Darin sprach sich Öcalan für eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Werte des Islam aus, die er in einem freiheitlichen, egalitären und gerechten Verständnis verortet sieht. „Demokratischer Islam bedeutet, zum Geist der Verfassung von Medina zurückzukehren“, so Öcalan. Die sogenannte Gemeindeordnung von Medina sei eine Vereinbarung gewesen, die das gewaltfreie Zusammenleben verschiedener Religionen, Kulturen und Ethnien auf Grundlage der freien Willensentscheidung geregelt habe. Sie stehe somit für eine plurale und inklusive Ordnung, die nicht auf Herrschaft oder Zwang basiere.

Kritik an staatlich vereinnahmtem Islamverständnis

In seiner Botschaft übte Öcalan scharfe Kritik an gegenwärtigen islamischen Strukturen, die seiner Auffassung nach durch die kapitalistische Moderne vereinnahmt worden seien. Der „offizielle Staatsislam“ sowie autoritär strukturierte religiöse Gruppierungen hätten die ethische Substanz der Religion ausgehöhlt. Stattdessen plädierte Öcalan für einen demokratischen, emanzipatorischen Islam, der sich an kollektiver Entscheidungsfindung (Schura), geschlechtergerechten Strukturen, ökologischer Ausgewogenheit und Völkerverständigung orientiere. „Islam darf weder vom Staat noch von Gruppen als politisches Instrument benutzt werden“, heißt es in der Botschaft weiter.

Demokratischer Islam als Alternative für den Nahen Osten

Abschließend stellte Öcalan sein Konzept als mögliche Antwort auf die vielfältigen Krisen im Nahen Osten vor. „Nur ein demokratischer Islam kann eine zukunftsfähige Zivilisation aufbauen und die Wunden der Region heilen“, so der Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung. Er sprach dem Kongress seine Hoffnung aus, dass die Diskussionen zur Stärkung des gegenwärtigen Projekts für eine demokratische Gesellschaft beitragen mögen, und schloss mit den Worten: „Mit unendlicher Liebe und meinen herzlichsten Grüßen.“

https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/mirxan-karker-das-wesen-des-islam-ist-gemeinschaftlich-48003 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/zivile-freitagsgebete-vor-dem-egmr-18910 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kurdische-geistliche-vor-gericht-30866 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/ahl-al-bait-liga-in-nord-und-ostsyrien-gegrundet-37749
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TV-Tipp: RAV-Geschäftsführer Lukas Theune bei ÇIRA FOKUS

25. Dezember 2025 - 11:00

In der heutigen Ausgabe der deutschsprachigen Sendung ÇIRA FOKUS spricht Moderator Yilmaz Pêşkevin Kaba mit dem Berliner Rechtsanwalt und Geschäftsführer des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV), Dr. Lukas Theune.

Im Zentrum des Gesprächs steht der Offene Brief vom 5. Dezember 2025, den die Vereinigung Demokratischer Jurist:innen (VDJ) sowie der RAV an Bundesjustizministerin Dr. Stefanie Hubig (BMJ) und Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (BMI) gerichtet haben. In dem Schreiben fordern die unterzeichnenden Jurist:innen unter anderem die Aufhebung des PKK-Verbots sowie eine aktive Unterstützung der Bundesregierung für einen Friedensprozess in der Türkei.

Dr. Theune, der als Anwalt unter anderem die rechtlichen Interessen im Zusammenhang mit dem seit 1993 bestehenden PKK-Betätigungsverbot in Deutschland vertritt, ist einer von zwei Anwälten, die vor dem Verwaltungsgericht Berlin eine Klage mit dem Ziel eingereicht haben, das Verbot aufheben zu lassen. In der Sendung erläutert er, welche politische und rechtliche Bedeutung der Appell von RAV und VDJ hat und welche konkreten Auswirkungen die kurdische Frage und ihre Aufarbeitung in der Türkei für die Bundesrepublik Deutschland mit sich bringen.

Die Sendung Çira Fokus am 25. Dezember 2025 beginnt um 20 Uhr und kann live über den Stream https://linktr.ee/ciratv, alternativ: https://myflixtv.com/ verfolgt werden, nachträglich auch über den YouTube-Kanal von Çira TV, über die Eingabe Çira Fokus. Die Sendungsübersicht ist erreichbar über: Playlist - ÇIRA FOKUS. Wer selbst Interesse an einer Teilnahme an einer Sendung bei Çira Fokus hat und Initiativen, Kampagnen, Organisationen, Projekte vorstellen möchte, kann unter der E-Mail-Adresse peskevin@gmail.com Kontakt mit der Redaktion aufnehmen.

Foto: Lukas Theune bei der „PKK-Verbot aufheben – Den Weg für Frieden ebnen“-Demonstration im November 2022 in Berlin

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/pkk-klagt-gegen-deutsche-bundesregierung-46383 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/die-kriminalisierung-der-kurdischen-bewegung-hat-in-deutschland-ein-eigenleben-entwickelt-49033 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/nach-pkk-selbstauflosung-anwalt-fordert-aufhebung-des-verbots-in-deutschland-46543

 

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DEM-Partei stellt Strafanzeige nach sexistischen Beleidigungen gegen Leyla Zana

25. Dezember 2025 - 11:00

Die Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM) hat nach sexistischen und beleidigenden Sprechchören gegen die kurdische Politikerin Leyla Zana Strafanzeige bei der Generalstaatsanwaltschaft Ankara eingereicht. Ziel der Anzeige sind laut Partei unter anderem Mitglieder von Fangruppen, Vereinsverantwortliche sowie Funktionäre des türkischen Fußballverbands TFF.

In der durch den Rechts- und Menschenrechtsausschuss der DEM-Partei eingereichten Anzeige im Namen der Ko-Vorsitzenden Tülay Hatimoğulları und Tuncer Bakırhan heißt es, die sexistischen Parolen gegen Zana stellten einen Fall „intersektionaler Diskriminierung“ dar. Besonders Fans der Vereine Bursaspor und Ankaragücü hätten mit beleidigenden und herabwürdigenden Gesängen gegen die kurdische Politikerin wiederholt gezielt Stimmung gemacht.

Ermittlungen gegen Fans, Vereinsvertreter und Offizielle gefordert

Konkret fordert die DEM-Partei strafrechtliche Ermittlungen gegen beteiligte Fans, Tribünenführer und sogenannte Amigos, Vereinsverantwortliche sowie Offizielle, darunter Schiedsrichter, Techniker und Vertreter des TFF, die während der Spiele im Einsatz waren. Die Strafanzeige bezieht sich auf Vorfälle in mehreren Stadien, die unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit stattfanden. Nach Ansicht der Partei wurden dadurch nicht nur die Persönlichkeitsrechte Zanas verletzt, sondern auch die gesellschaftliche Ordnung bedroht. Die Vorfälle seien „nicht auf Beleidigungen beschränkt, sondern zielten auf die Spaltung der Gesellschaft, die Behinderung politischer Betätigung sowie die Verbreitung von Hass“.

DEM: Frauenfeindliche Stadionsprache befeuert Gewalt

In der Anzeige wird auf einen besorgniserregenden Trend hingewiesen: Sexistische Sprache und frauenfeindliche Verhaltensweisen im Fußball nähmen seit Jahren zu und hätten durch die hohe Sichtbarkeit des Sports eine verstärkende Wirkung auf gesellschaftliche Ungleichheit. Gerade in einem Land, in dem täglich Frauen Opfer von patriarchaler Gewalt würden, sei das Ausbleiben von Konsequenzen bei öffentlichen Herabwürdigungen gegenüber einer bekannten Politikerin ein gefährliches Signal. Die Partei sieht darin eine „indirekte Legitimation von Gewalt gegen Frauen“, die nicht als bloßes Einzelereignis, sondern als strukturelles Problem begriffen werden müsse.

Hassrede, Amtsmissbrauch, Volksverhetzung

Die Anzeige fordert eine Anklage wegen folgender möglicher Straftatbestände: öffentlicher Beleidigung, Amtsmissbrauch, Hass und Diskriminierung, Volksverhetzung sowie Anstiftung zu strafbaren Handlungen. Abschließend betonte die DEM-Partei, dass es sich nicht nur um eine Verletzung der Würde einer Einzelperson handle. Vielmehr seien die Angriffe Ausdruck eines strukturellen Problems: „Ein Angriff auf das Prinzip der Gleichheit, das Zusammenleben und den gesellschaftlichen Frieden“, heißt es in der Erklärung.

https://deutsch.anf-news.com/frauen/wut-nach-sexistischen-fangesangen-gegen-leyla-zana-49320 https://deutsch.anf-news.com/frauen/nach-rassistischen-fangesangen-gegen-leyla-zana-juristinnen-erstatten-strafanzeige-49361 https://deutsch.anf-news.com/frauen/knk-fordert-strafe-fur-angriff-auf-leyla-zana-49390

 

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Anwältin kritisiert türkische Justiz: 2025 brachte keine Fortschritte bei Rechtsstaatlichkeit

25. Dezember 2025 - 9:00

Trotz gesellschaftlicher Hoffnungen auf Entspannung und Demokratisierung hat sich die Menschenrechtslage in der Türkei im Jahr 2025 aus juristischer Sicht kaum verbessert. Diese Einschätzung äußerte die Juristin Gizem Miran von der Vereinigung freiheitlicher Jurist:innen (ÖHD) im Gespräch mit ANF. Besonders bei politischen Verfahren sowie im Umgang mit Gewalt gegen Frauen und Kinder sieht sie gravierende Defizite.

Miran kritisiert, dass die politischen Signale der Dialogbereitschaft und gesellschaftlichen Öffnung im Zusammenhang mit einer möglichen Lösung der kurdischen Frage im zurückliegenden Jahr keinen Widerhall in der Rechtsprechung gefunden hätten. „Der Geist des Prozesses für Frieden und Demokratisierung hat die Justiz nicht erreicht“, sagte die Anwältin aus Amed (tr. Diyarbakır). Stattdessen hätten sich Straflosigkeit, rechtsstaatliche Mängel und systematische Diskriminierung fortgesetzt.

Laut Miran trafen die Versäumnisse der Justiz alle Teile der Gesellschaft – besonders jedoch Frauen, Kinder, politische Gefangene und Minderheiten. Gerichte hätten in politischen Verfahren weiterhin auf zweifelhafte Zeugenaussagen zurückgegriffen, während bei Gewalttaten gegen Frauen oder Kinder häufig die Täter geschützt und mildernde Umstände großzügig angewandt worden seien.

 


Gewalt gegen Frauen: Straflosigkeit als strukturelles Problem

Insbesondere bei geschlechtsspezifischer Gewalt habe sich 2025 ein alarmierender Trend fortgesetzt. „Im Vergleich zu 2024 verzeichnen wir einen deutlichen Anstieg der patriarchalen Gewalt gegen Frauen“, erklärte Miran. Gleichzeitig bleibe das Strafverfolgungssystem ineffizient und biete kaum Schutz. Untersuchungen würden schleppend geführt, Gerichte griffen regelmäßig zu „unzumutbaren Provokationen“ und angeblichen „Ehrverletzungen“, um Strafminderungen zu begründen.

Ein vom Netzwerk gegen Gewalt in Amed veröffentlichter Bericht bestätige diesen Trend mit detaillierten Fallzahlen. Laut Miran verdeutlicht dies die mangelnde Umsetzung rechtsstaatlicher Schutzmechanismen: „Die Abwesenheit einer menschenrechtsbasierten Gesamtstrategie und die Untätigkeit der Justiz befeuern das Problem.“ Besonders gravierend sei der Anstieg digitaler Gewalt, häufig mit frauenfeindlichem oder hetzerischem Hintergrund.

Kinder im Justizsystem: Opfer doppelter Benachteiligung

Auch für Kinder sei das Jahr 2025 mit massiven Defiziten im Rechtsschutz verbunden gewesen. „Das Justizsystem ist nicht auf den Schutz, sondern auf die Bestrafung von Kindern ausgerichtet“, sagte Miran. So werde etwa der international kritisierte Begriff „straffällig gewordene Kinder“ weiterhin verwendet, obwohl das Prinzip der Re-Integration und Resozialisierung vorrangig sein müsste. Laut der Juristin würden sowohl straffällig gewordene als auch missbrauchte oder gewaltbetroffene Kinder im Zuge der Ermittlungs- und Gerichtsverfahren erneut traumatisiert. „Anstatt schnelle, kindgerechte und schützende Verfahren zu schaffen, werden die Kinder erneut Opfer der Strukturen“, so Miran.

Politisch motivierte Verfahren und Missstände in Gefängnissen

Miran kritisierte darüber hinaus die Fortsetzung politisch motivierter Justizpraktiken, die bis in die 1990er Jahre zurückreichten. Der Staat instrumentalisiere weiterhin die Justiz, um Kritiker:innen und Andersdenkende zu kriminalisieren – oftmals ohne stichhaltige Beweise. Auch 2025 sei diese Praxis nicht beendet worden. Die Zustände in türkischen Gefängnissen seien ebenfalls besorgniserregend geblieben. Grundlegende Rechte wie Kommunikation, medizinische Versorgung und menschenwürdige Unterbringung würden vielfach verletzt. „Berichte über Folter und unmenschliche Behandlung reißen nicht ab“, sagte Miran.

Ungleichbehandlung bei Haftvollzug und Strafnachlässen

Mit Blick auf das neue Justizpaket kritisierte die Juristin erneut die strukturelle Ungleichbehandlung politischer Gefangener. „Während partielle Amnestien greifen, bleiben aus politischen Gründen inhaftierte Menschen außen vor“, sagte sie. Die Entscheidungen sogenannter Beobachtungskommissionen über vorzeitige Haftentlassungen seien willkürlich und verschärften bestehende Ungleichheiten weiter. Miran forderte die Umsetzung des vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anerkannten „Rechts auf Hoffnung“, das lebenslänglichen Gefangenen eine realistische Chance auf Entlassung geben soll. „Ohne dieses Recht ist keine demokratische Gesellschaft denkbar“, betonte sie.

Ausblick: Demokratisierung nur mit unabhängiger Justiz

Für das kommende Jahr 2026 äußerte die Anwältin die Hoffnung, dass Justiz, Legislative und Exekutive stärker an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert handeln. „Ein demokratischer Prozess kann nur gemeinsam mit der Gesellschaft und auf Grundlage rechtsstaatlicher Prinzipien gelingen“, so Miran abschließend.

Rechtsverletzungen in Zahlen (2025):

2.519 dokumentierte Verstöße gegen das Recht auf Leben, davon 187 Kinder

1.823 Tote bei Arbeitsunfällen, darunter 85 Kinder

271 Frauen und 60 Kinder durch Männergewalt getötet

115 Menschen (darunter 38 Kinder) starben durch behördliches Versagen

24 Todesfälle in Gefängnissen

2.807 Fälle von Folter oder Misshandlung, auch bei Festnahmen und Demonstrationen

807 Gefangene berichteten über physische oder psychische Gewalt

427 politische oder gewerkschaftliche Führungspersonen inhaftiert

21 Kommunalverwaltungen wurden abgesetzt oder anderweitig übernommen

4.393 Menschen festgenommen, 436 davon inhaftiert

51 öffentliche Veranstaltungen wurden verboten

Zahlreiche Schließungen von NGOs, Gewerkschaften und Studierendeninitiativen.

https://deutsch.anf-news.com/frauen/kcdp-bericht-29-femizide-und-22-verdachtige-todesfalle-im-november-49173 https://deutsch.anf-news.com/frauen/rechtshilfe-zugang-fur-frauen-in-sudostanatolien-stark-eingeschrankt-49225 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/das-recht-auf-leben-und-wurde-wird-in-bolu-systematisch-untergraben-49388 https://deutsch.anf-news.com/frauen/staatliches-patriarchat-besonders-sichtbar-im-gefangnis-49132 https://deutsch.anf-news.com/frauen/turkei-haftentlassung-von-rozerin-kalkan-wird-seit-20-monaten-blockiert-49343

 

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Türkisches Parlament verabschiedet umstrittenes Justizreformpaket

25. Dezember 2025 - 8:00

Trotz teils scharfer Kritik hat das türkische Parlament das von der Regierungspartei AKP vorgelegte 11. Justizreformpaket verabschiedet. Die Vorlage, die unter anderem vorzeitige Haftentlassungen für tausende Inhaftierte ermöglichen soll, passierte am Mittwochabend die Generalversammlung der Großen Nationalversammlung in Ankara. Insgesamt nahmen 372 Abgeordnete an der Abstimmung teil. 274 Parlamentarier:innen stimmten für das Gesetzespaket, 77 dagegen. 21 Abgeordnete enthielten sich.

Das Bündnis aus der islamistischen Regierungspartei AKP und der ultranationalistischen MHP votierte geschlossen für die Annahme. Die größte Oppositionspartei CHP stimmte einheitlich dagegen. Die DEM-Partei enthielt sich. Sie begründete ihre Haltung damit, dass das Paket keine Regelungen für politische Gefangene enthalte und gleichzeitig auch Straftäter:innen, die Gewalt gegen Frauen oder Kinder ausgeübt haben, eine vorzeitige Entlassung ermöglichen könnte.

Mit dem Abschluss der Beratungen trat das Parlament in die Winterpause. Die nächste reguläre Sitzung ist für den 6. Januar angesetzt.

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/11-justizpaket-vom-turkischen-parlamentsausschuss-gebilligt-49121 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-abgeordnete-kritisiert-justizpaket-als-ruckschritt-fur-grundrechte-49055 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/trotz-justizreform-turkische-gefangnisse-weiter-deutlich-uberbelegt-46935

 

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„Keine Gnade, keine Vernunft, keine Menschlichkeit“ in Bayern

25. Dezember 2025 - 8:00

Die bayerischen Behörden drohen eine ezidische Familie, die 2014 den Genozid durch den selbsternannten Islamischen Staat (IS) überlebte und nach Deutschland floh, ein weiteres Mal auseinanderzureißen. Der 17-jährige Sohn darf seine Ausbildung nicht fortführen, es sei denn: Die Eltern reisen „freiwillig“ aus, hieß es.

„Wenn man wissen will, was es heißt, dass Bayern mit aller Härte abschieben will, dann ist dieser Fall ein gutes Beispiel“, so Stephan Dünnwald, Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrats. „Hier demonstrieren der Innenminister und seine Ausländerbehörden, dass im Umgang mit Geflüchteten keine Gnade, keine Vernunft, keine Menschlichkeit und keine Familie gelten. Familie gilt nichts, nur wer arbeitet, bekommt eine Chance. Das ist ein moralisches Armutszeugnis.“

Unerwartete Abschiebeandrohung

Die ezidische Familie Psso lebt seit ihrer Flucht vor Jahren in Bayern. Dem 17-jährigen Sohn Matin ist nun seine Arbeitserlaubnis entzogen worden, mitten in der Ausbildung zum Zweiradmechatroniker. Die von den Behörden gesetzte Bedingung, um seine Ausbildung in Deutschland doch noch beenden zu dürfen: Seine Eltern reisen „freiwillig“ in den Irak aus.

Matin Psso ist nun eigentlich im zweiten Jahr seiner Ausbildung in der Fahrradwerkstatt „Kette und Kurbel“ in Augsburg. Als er sechs Jahre alt war, überfiel der IS seine Heimat im Irak und verübte einen Genozid an der ezidischen Glaubensgemeinschaft, der Matins Familie angehört. Die neunköpfige Familie suchte Schutz in Deutschland, wo Matin nach seinem erfolgreichen Schulabschluss 2024 ein von der Agentur für Arbeit gefördertes Ausbildungsangebot antrat.

Nachdem ihr Asylantrag 2022 abgelehnt wurde, lebten die Eltern und Matin mit einer Duldung in Deutschland. Im Januar 2023 erkannte der deutsche Bundestag die Gräueltaten des IS an den Ezid:innen einstimmig als Völkermord an. Dennoch endete die Duldung von Matin und seinen Eltern im September dieses Jahres und wurde nicht verlängert. Dem 17-Jährigen wurde die Arbeitserlaubnis entzogen, die drei sollen in den Irak zurückkehren.

Ausbildungsförderung wird zum Verhängnis

Wie auch die Vereinten Nationen bestätigen, droht Ezid:innen im Irak weiterhin Diskriminierung und Ausschluss. Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen und Thüringen zögern deswegen bisher zuweilen, ezidische Menschen in dasjenige Land abzuschieben, das der Tatort des Völkermords ist. Anders Bayern: Der Freistaat habe keinen Grund gesehen, die Duldung weiter zu verlängern, äußerte sich ein Sprecher der Ausländerbehörde schriftlich.

Warum aber sollen Matins Geschwister, die sich wie er in Ausbildung befinden, bleiben dürfen und er nicht? An dieser Stelle wird dem jungen Eziden zum Verhängnis, dass er das erste Jahr seiner Ausbildung als ein „Ausbildungsqualifizierungsjahr“ (kurz EQJ) mit einer 12-monatigen Laufzeit begonnen hat. Qualifizierte Berufsausbildungen würden erst ab einer Dauer von zwei Jahren als solche anerkannt werden.

Familie fühlt sich erpresst

Kette und Kurbel will den Auszubildenden weiter beschäftigen, mit einem regulären Ausbildungsvertrag, der das EQJ einschließt. Diesen Vertrag darf Matin nun nicht unterschreiben, da ihm zwischenzeitlich mit der Duldung auch die Arbeitserlaubnis entzogen wurde. Dass Matin seine Ausbildung fortsetzen darf, sobald seine Eltern in den Irak zurückgekehrt seien, hält die Ausländerbehörde in diesem Zusammenhang für ein „Entgegenkommen“ ihrerseits. Familie Psso hingegen fühlt sich schlicht erpresst.

Auch das Umfeld der Familie, Lehrkräfte, Kolleg:innen und Ausbildende der Kinder, sowie NGOs wie der Münchner und der Bayerische Flüchtlingsrat zeigen sich schockiert und verständnislos gegenüber den Entscheidungen der bayerischen Ausländerbehörde. Damit ihr minderjähriger Sohn nicht abgeschoben wird, haben Matins Eltern sogar das Sorgerecht an seinen Ausbilder übertragen, denn sonst dürfte er ohne sie nicht in Deutschland bleiben. Für die Kinder aber steht fest: Sie sehen sich weder willens noch fähig, ihre alten Eltern, die sich zeitlebens für sie aufgeopfert haben, im Stich zu lassen und sie alleine in den Irak zu schicken.

„Was ist das für eine Politik, was ist das für ein Familienverständnis, das einen solchen erpresserischen Vorschlag ersinnt? Warum zwingt man die Eltern von sechs Kindern, die in Deutschland erfolgreich ihren Weg gehen, zur Ausreise in ein Land, in dem sie knapp dem Völkermord entgangen sind?“ fragt Astrid Schreiber, Mitarbeiterin des Münchener Flüchtlingsrats.

Ältester Bruder bereits abgeschoben

Familie Psso gilt als unbescholten und gut integriert. Alle neun sind Überlebende des Völkermords von 2014, doch bereits heute leben nur noch acht von ihnen in Deutschland. Matins ältester Bruder Fath war zum Zeitpunkt der Flucht bereits volljährig. Obwohl er sich in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis befand, ist er 2023, unter Protest seines Arbeitgebers, in den Irak abgeschoben und dadurch seiner Familie entrissen worden.

Matins drei noch in Bayern verbliebene Geschwister absolvieren aktuell erfolgreich Berufsausbildungen (Zahnmedizinische Fachangestellte, Pflegefachfrau, Verkäufer im Einzelhandel). Die zwei ältesten noch in Deutschland befindlichen Geschwister sind seit Jahren in NRW eingebürgert.

Aufnahme in NRW möglich?

Die beiden in NRW eingebürgerten Kinder haben nun sowohl beim Bayerischen Innenministerium wie auch beim Ministerium für Flucht und Integration in NRW den Antrag gestellt, ihre Eltern bei sich in NRW aufnehmen zu dürfen. Für beide Elternteile wurden unterschriftsreife Arbeitsverträge beigefügt und beantragt, die Arbeitsgenehmigungen zu erteilen und die Aufnahme in dem anderen Bundesland zu ermöglichen. Nötigenfalls wollen sich alle sechs Kinder für den lebenslangen finanziellen Unterhalt ihrer Eltern verpflichten.

Aus Genozid-Anerkennung folgt offenbar keine Schutzverantwortung

Wie Christiane Maurer, Bevollmächtigte der Familie Psso, in einem Schreiben an die Presse schildert, sind die Grenzen der psychischen Belastbarkeit der gesamten Familie überschritten. Anhand weiterer konkreter Ausführungen zeigt sie das Ausmaß des behördlichen Agierens gegenüber den ezidischen Genozid-Überlebenden, was die Familie ihrer Aussage nach retraumatisiere.

Obwohl das Land Nordrhein-Westfalen wohl die Bereitschaft signalisierte, die Eltern aufzunehmen, führen die Politik und Verwaltung Bayerns immer weitere bürokratische Hürden für eine Alternative zu der Abschiebung auf.

Die Unterstützer und die Familie haben sich schließlich direkt an Innenminister Joachim Herrmann gewandt. Obwohl seine Antwort noch aussteht, teilte die Zentrale Aufnahmebehörde Schwaben am 24. November mit, dass den Eltern keine Arbeitsgenehmigungen für NRW erteilt werden und dem Sohn Matin die weitere Ausbildung nicht gestattet wird. Seitdem droht täglich die Verhaftung und Abschiebung der Eltern und des jüngsten Bruders, womit die Zerstörung der vulnerablen und schutzwürdigen Familie unmittelbar bevorsteht.

Politische Situation in Deutschland

Anfang 2023 erkannte der Bundestag das grausame Schicksal der Ezid:innen als Völkermord an und versprach, seiner besonderen Verantwortung und dem Schutz der Opfer gerecht zu werden. Bereits wenige Monate später, schloss die damalige Bundesregierung ein sogenanntes Migrationsabkommen mit dem Irak ab, welches seither Massenabschiebungen ermöglicht.

Übersehen wurde hierbei scheinbar, dass dies für alle irakischen Staatsangehörigen gilt und somit auch für Genozid-überlebende Ezid:innen. Der Grund: die ezidische Zugehörigkeit und das Überleben eines Genozids sind nirgends erfasst und bilden keine Ausnahme. Seither mehren sich Berichte über Abschiebungen.

Dennoch gibt es in fast allen Bundesländern Bestrebungen, diesen Fehler zu beseitigen und dem Schutzversprechen gegenüber der Glaubensgemeinschaft nachzukommen. Da um eine einheitliche Regelung bisher noch gerungen wird, geschieht dies über interne Verordnungen, Härtefallkommissionen oder offizielle Abschiebestopps.

Der Grund liegt offensichtlich an mangelndem politischen Willen

Auf der Innenministerkonferenz wird eine bundesweit einheitliche Schutzmöglichkeit maßgeblich durch Bayern verhindert. Das Bundesinnenministerium hat dazu angewiesen, Abschiebungen von Ezid:innen im Vorfeld besonders sorgfältig zu prüfen. Aber es hängt weiter vom Wohnort und dem dort vorherrschenden politischen Willen und der Willkür einer regionalen Ausländerbehörde ab, ob unbescholtene Genozid-Überlebende abgeschoben oder geschützt werden.

Der Bund schiebt die Verantwortung auf die Länder, die Länder schieben sie auf den Bund. Betont werden muss hierbei, dass allen Beteiligten die mangelnde sichere Rückkehrmöglichkeit und die prekäre Lage der Ezid:innen im Irak sehr wohl bekannt ist und alle sich öffentlich zu ihrem Schutz bekennen. Wie sind vor diesem Hintergrund Geschichten wie die der Familie Psso zu erklären?

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/unser-schmerz-darf-nicht-ignoriert-werden-48875 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/grune-fordern-aufenthaltsrecht-fur-ezid-innen-aus-dem-irak-48824 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/imk-lehnt-abschiebestopp-fur-ezidische-gefluchtete-ab-42641 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/30-jahriger-ezide-in-den-irak-abgeschoben-45330

 

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HPG veröffentlichen Namen von Zap-Gefallenen

25. Dezember 2025 - 8:00

Die Volksverteidigungskräfte (HPG) haben an drei ihrer Mitglieder erinnert, die Ende 2023 im Zap-Widerstand in den Medya-Verteidigungsgebieten gefallen sind. Bei den Kämpfern handelt es sich demnach um Şahin Cîlo, Demhat Dirbêsiyê und Zinar Hesekê. In einem Nachruf, der am Mittwoch vom HPG-Pressezentrum veröffentlicht wurde, heißt es: „Unsere drei Weggefährten haben sich mit Mut, Überzeugung und Opferbereitschaft der PKK angeschlossen, um für ein freies, gleichberechtigtes und geschwisterliches Zusammenleben der Völker einzutreten. Sie waren Revolutionäre, die mit einer tiefgründigen Liebe zur Freiheit ihren Platz in den Reihen der Guerilla einnahmen. Unermüdlich und selbstlos leisteten sie Widerstand und versuchten, das von unseren Gefallenen überlieferte Erbe weiterzutragen und ihrer Erinnerung gerecht zu werden. Sie wurden in den Bergen zu Freiheitskämpfern, die Geschichte schrieben.

Gegen die Angriffe des Feindes vertieften sie sich im Verständnis der Guerilla der demokratischen Moderne und entwickelten Formen des Kampfes, die den Invasionsversuchen keine Chance ließen. Indem sie die neue Phase der Guerilla effektiv umsetzten, trugen sie dazu bei, die Besetzung zu durchkreuzen. Şahin, Demhat und Zinar waren würdevolle Vertreter des Geistes des Apoismus: selbstlose, aufrichtige, disziplinierte und erfahrene Revolutionäre, deren Namen nun für immer Teil unserer Geschichte sind. Wie wir es von unseren Gefallenen gelernt haben, geben wir das Versprechen, ihren Kampf fortzusetzen, ihre Ziele zu verwirklichen und ihr Andenken lebendig zu halten. In diesem Sinne sprechen wir den patriotischen Familien unserer Gefallenen sowie dem kurdischen und arabischen Volk unser Beileid aus.“

Zur Biografie der gefallenen Kämpfer machten die HPG folgende Angaben:

                         

Codename: Şahin Cîlo
Vor- und Nachname: Mazlum Alas
Geburtsort: Mêrdîn
Namen von Mutter und Vater: Azize – Ekrem
Todestag und -ort: 16. Dezember 2023 / Zap

 

 

Codename: Demhat Dirbêsiyê
Vor- und Nachname: Raman Hesen Yusuf
Geburtsort: Dirbêsiyê
Namen von Mutter und Vater: Meyrem – Hesen
Todestag und -ort: 30. November 2023 / Zap

 

 

Codename: Zinar Hesekê
Vor- und Nachname: Quseyn Abdo
Geburtsort: Hesekê
Namen von Mutter und Vater: Sene – Ahmet
Todestag und -ort: 30. November 2023 / Zap

 

Şahin Cîlo

Şahin Cîlo wurde in der Stadt Dêrîk (Mazıdağı) in der nordkurdischen Provinz Mêrdîn (tr. Mardin) geboren. Er wuchs in einem von der kurdischen Freiheitsbewegung geprägten Umfeld auf, in dem politische Identität und Widerstand gegen staatliche Repression früh zum Alltag gehörten. Seine Familie war seit den 1990er Jahren immer wieder von Verfolgung betroffen: Ihr Dorf wurde von der türkischen Armee zwangsgeräumt und niedergebrannt, mehrere Familienangehörige ermordet, andere vertrieben.

Mit der kurdischen Frage setzte sich Şahin Cîlo bereits in jungen Jahren auseinander und entwickelte ein ausgeprägtes Bewusstsein für Geschichte und kollektive Identität. Seine politischen Überzeugungen führten ihn früh mit der kurdischen Jugendbewegung zusammen. Während seiner Schulzeit geriet er zunehmend mit dem türkischen Bildungssystem in Konflikt und empfand es als Instrument der Assimilation. Er verließ die Schule schließlich vorzeitig.

 


Nach einer Phase zivilgesellschaftlicher Aktivität engagierte sich Şahin Cîlo zunächst in der politischen Jugendarbeit in seiner Heimatregion. In dieser Zeit wurde er auch mit den Schriften Abdullah Öcalans und den Grundsätzen der PKK vertraut, die fortan seinen politischen Weg prägten. In einem Interview sagte er rückblickend: „Meine erste Bewusstwerdung war mit der Geschichte meines Volkes verknüpft. Als ich verstand, was uns genommen wurde, wollte ich es zurückfordern.“

Ein mehrmonatiger Gefängnisaufenthalt wegen seines politischen Engagements brachte ihn der kurdischen Bewegung noch näher. Nach seiner Freilassung wirkte Şahin Cîlo zunächst als Milizionär für die Guerilla. Im Jahr 2014 entschloss er sich schließlich, selbst Teil des bewaffneten Widerstands zu sei. Nach Absolvierung einer Ausbildung war er in den darauffolgenden Jahren an mehreren Guerillaoffensiven beteiligt – teils in Ausbildungseinheiten, teils in mobilen Kampfverbänden. Die HPG betonen, dass er sich durch „Disziplin, strategisches Denken und ein starkes Pflichtbewusstsein“ auszeichnete. Trotz wiederholter Verwundungen kehrte er immer wieder in aktive Einheiten zurück.

 


Mit dem einseitigen Abbruch des Dialogprozesses mit Abdullah Öcalan durch den türkischen Staat und der Wiederaufnahme des Krieges gegen die kurdische Bewegung im Jahr 2015 beschäftigte Şahin Cîlo sich intensiv mit der Theorie der demokratischen Moderne und der Idee des gesellschaftlichen Aufbaus jenseits staatlicher Strukturen, wie sie von Abdullah Öcalan formuliert wurde. In späteren Jahren übernahm er sowohl militärisch als auch organisatorisch zunehmend verantwortungsvolle Aufgaben.

Die HPG schreiben, er habe sich im „neuen Typus des Guerillakampfes“ bewährt und insbesondere in der Zap-Region gegen die großangelegten Besatzungsangriffe Widerstand geleistet. Dort war er Teil einer mobilen Einheit, die unter schwierigen Bedingungen maßgeblich für den Erfolg des Kampfes gegen die türkische Besatzung verantwortlich war. Im Dezember 2023 kam er in der Region ums Leben. In ihrem Nachruf beschreiben die HPG Şahin Cîlo als einen „bescheidenen, prinzipientreuen und willensstarken Kämpfer“, der für viele innerhalb der Bewegung als Vorbild galt. Sein Name werde als Teil des kollektiven Gedächtnisses weiterleben, heißt es.

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Demhat Dirbêsiyê

Demhat Dirbêsiyê wurde in der Stadt Dirbêsiyê in Nordostsyrien geboren und wuchs in einer politisch aktiven, kurdisch geprägten Familie auf. Diese frühe Prägung in einem als patriotisch beschriebenen Umfeld habe ihn stark beeinflusst haben. Die HPG betonen, dass er sich bereits als Jugendlicher mit der kurdischen Bewegung identifizierte, insbesondere durch das Vorbild seiner älteren Schwester, die sich der Guerilla angeschlossen hatte. Obwohl er noch minderjährig war, habe er bereits 2012 den Wunsch geäußert, sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen. Nach einem Umzug seiner Familie im Jahr 2017 beteiligte er sich zunächst an zivilen Unterstützungsstrukturen in Rojava. Besonders die Kämpfe gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) sowie die Verteidigung der Stadt Kobanê prägten sein politisches Bewusstsein nachhaltig.

Im selben Jahr trat er schließlich den bewaffneten Einheiten bei. Nach einer ideologischen Grundausbildung spezialisierte er sich auf Sabotageeinsätze. 2019 absolvierte er eine entsprechende Ausbildung und nahm wenig später an der Verteidigung der Grenzstädte Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) gegen den damaligen türkischen Angriffskrieg teil. In diesem Zusammenhang beschreiben ihn die HPG als „militärisch versierten und entschlossenen Kämpfer“, der auch in schwierigen Situationen handlungsfähig blieb. Im Verlauf seiner Einsätze verlor er mehrere enge Angehörige, darunter seinen Bruder Raman (Huseyn Hesen Yusuf), einen Schwager und einen Cousin. Laut HPG bestärkte ihn dieser persönliche Verlust darin, seinen Kampf intensiver fortzuführen. Nach mehreren Einsätzen in verschiedenen Regionen Syriens, darunter bei der Anti-IS-Offensive in Deir ez-Zor, äußerte er den Wunsch, sich dem Guerillakampf in den Bergen Kurdistans anzuschließen.

 


Insbesondere die türkische Besatzungsoperation in der Gare-Region im Jahr 2021 markierte für Demhat Dirbêsiyê einen Wendepunkt: Er habe darin einen strategischen Einschnitt gesehen, der die Notwendigkeit einer neuen Guerillataktik deutlich machte. „Als Demhats Vorschlag zur Verlegung in das Guerillagebiet entsprochen wurde, ist er mit großem Einsatz in das neue Leben gestartet“, heißt es in dem Nachruf. Er bildete sich sowohl ideologisch als auch militärisch weiter. In der Şehîd-Mahîr-Akademie absolvierte er eine Ausbildung im Bereich schwerer Waffen, die ihn für Einsätze in verschiedenen Regionen qualifizierte. Mit wachsender Erfahrung übernahm er auch Verantwortung in der Schulung seiner Mitkämpfenden. Die HPG beschreiben ihn als jemanden, der seine Kenntnisse im Umgang mit unterschiedlichen Waffengattungen sowie neue Guerillataktiken aktiv weitergab.

Demhat Dirbêsiyê beteiligte sich an Guerillaoffensiven in Zap, Avaşîn und Metîna. Insbesondere in Zap sei er maßgeblich an Gegenoperationen im Widerstand gegen die türkische Besatzung beteiligt gewesen. „Dort agierte er mit hoher Disziplin, Ausdauer und ideologischer Festigkeit.“ Am 30. November 2023 kam Demhat Dirbêsiyê bei einem Angriff des türkischen Staates ums Leben. Die HPG würdigen ihn als „kampferfahrenen, ausgebildeten Guerillakämpfer mit Führungsqualitäten“, der sowohl durch sein Fachwissen als auch durch seine persönliche Haltung prägend war.

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Zinar Hesekê

Zinar Hesekê wurde in der nordostsyrischen Stadt Hesekê geboren und stammte aus einer arabischen Familie. Er wuchs in einem multiethnischen und multireligiösen Umfeld auf, was sein Verständnis für ein gleichberechtigtes Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen prägte. Er ließ sich weder von nationalistischen noch von religiös-extremistischen Ideologien beeinflussen – weder während der Herrschaft der Baath-Partei noch während der Besetzung weiter Teile der Region durch den IS, heißt es.

 


Mit dem Beginn der Rojava-Revolution beobachtete Zinar Hesekê die Entwicklung neuer politischer und gesellschaftlicher Strukturen in Nord- und Ostsyrien. Er nahm wahr, dass unterschiedliche ethnische und religiöse Gemeinschaften dort gemeinsam leben, und begann sich für die dahinterstehenden politischen Konzepte zu interessieren. Im Jahr 2015 vertiefte er diese Auseinandersetzung und kam erstmals mit den Selbstverteidigungskräften in Kontakt. Nach Angaben der HPG trat Zinar Hesekê in diesem Zeitraum den Kampfeinheiten Rojavas bei und nahm an militärischen Ausbildungsprogrammen teil. In den folgenden Jahren war er an verschiedenen Einsätzen gegen die Terrormiliz IS sowie gegen syrische Regimemilizen beteiligt und sammelte dabei intensive militärische Erfahrung. „Er war ein Kämpfer, der sich rasch an unterschiedliche Einsatzbedingungen anpassen konnte“, heißt es.

Nach der türkischen Invasion in Efrîn im Jahr 2018 wurde Zinar Hesekê in die benachbarte Şehba-Region verlegt. In dieser Phase erlernte er den Umgang mit verschiedenen Waffensystemen und nahm laut HPG an diversen Aktionen gegen türkische Besatzungstruppen und mit ihnen verbündete Dschihadistenmilizen teil. Parallel dazu suchte Zinar Hesekê eine vertiefte ideologische Auseinandersetzung. Er beschäftigte sich mit den politischen Konzepten Abdullah Öcalans, insbesondere mit der Idee der demokratischen Nation, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben unterschiedlicher Völker vorsieht. Die HPG beschreiben ihn in diesem Zusammenhang als „internationalistisch orientierten Kämpfer“, der sich bewusst gegen ethnische oder religiöse Abgrenzung gestellt habe.

 


In dieser Zeit beschloss Zinar Hesekê, sich der Guerilla in den Bergen Kurdistans anzuschließen. Er ging davon aus, dass der bewaffnete Widerstand in diesen Regionen ein zentraler Bestandteil des Kampfes gegen die türkische Besatzung sei. Nach seinem Wechsel in die Guerillagebiete absolvierte er weitere militärische und ideologische Schulungen und beteiligte sich an Einsätzen in den Regionen Metîna, Zap und Avaşîn. In den folgenden Jahren war er Teil halb-mobiler Einheiten und nahm an diversen Guerillaoperationen teil. Die HPG heben hervor, dass er trotz umfangreicher militärischer Erfahrung seine eigene Rolle stets kritisch reflektiert und nach weiterer Qualifizierung gesucht habe. Besonders die Kämpfe in unterirdischen Tunnelanlagen, bei denen es neben schweren Gefechten auch zum Einsatz von Chemiewaffen durch die türkische Armee kam, prägten seine letzten Einsatzjahre. Zinar Hesekê war zuletzt im Operationsraum der Einheit „Şehîd Delîl Zagros“ an der schwer umkämpften Westfront der Zap-Region tätig. Dort kam er ebenfalls im November 2023 bei einem Angriff ums Leben.

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YPJ geben Tod von Kommandantin Bêrîtan Fuad bekannt

24. Dezember 2025 - 19:00

Die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) haben den Tod der Kommandantin Bêrîtan Fuad bekanntgegeben. Wie die YPJ-Generalkommandantur am Mittwoch mitteilte, starb die Revolutionärin am 20. Dezember in einer Klinik in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien an den Folgen einer Erkrankung. In einem Nachruf wird sie mit den Worten gewürdigt: „Bêrîtan Fuad war eine jener Frauen, die mit der ersten Welle der Revolution nach Rojava gekommen sind. Ihr Leben war Ausdruck von Entschlossenheit und Selbstlosigkeit.“

Bêrîtan Fuad stammte aus der Botan-Region in Nordkurdistan und wuchs laut YPJ-Angaben in einem familiären Umfeld auf, das von der kurdischen Widerstandskultur geprägt war. Bereits als Jugendliche kam sie mit der kurdischen Freiheitsbewegung in Kontakt. In den Jahren der revolutionären Volksaufstände, den sogenannten Serhildan, und unter dem Eindruck des Verlusts ihres Bruders Fuat Amed, der bei der kurdischen Guerilla war, verstärkte sich ihr politisches Engagement.


Im Jahr 2012 ging Bêrîtan Fuad nach Rojava und schloss sich dort den bald darauf gegründeten Frauenverteidigungseinheiten an. Sie gehörte damit zu den ersten Frauen aus Nordkurdistan, die die türkisch-syrische Grenze überquerten, um sich der Verteidigung von Rojava anzuschließen. Während der ersten Besatzungsangriffe dschihadistischer Gruppierungen war Fuad laut den YPJ an mehreren Frontabschnitten aktiv, insbesondere in Auseinandersetzungen mit der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Sie habe aber nicht nur im bewaffneten Kampf, sondern auch im Aufbau der Demokratischen Selbstverwaltung eine führende Rolle gespielt, heißt es.

Die YPJ beschreiben Bêrîtan Fuad als eine Kämpferin, die trotz gesundheitlicher Probleme stets weiterarbeitete und „nie von ihrem Widerstand abließ“. Ganz besonders habe sie sich für die Umsetzung der Ideen des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan eingesetzt, betont die Frauenarmee. Angesichts des Verlusts der Kommandantin sprachen die YPJ den Angehörigen von Bêrîtan Fuad und der kurdischen Bevölkerung ihr Mitgefühl aus.

https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/haci-integration-bedeutet-nicht-identitatsverlust-sondern-demokratische-partnerschaft-49246 https://deutsch.anf-news.com/frauen/ypj-die-befreiung-von-raqqa-war-ein-wendepunkt-48465 https://deutsch.anf-news.com/frauen/ypj-kommandantin-zu-gesprachen-mit-damaskus-integration-heisst-nicht-unterwerfung-48453

 

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Hîlala Zêrîn erinnert an Sîdar Amed

24. Dezember 2025 - 19:00

Die Frauenkulturbewegung Hîlala Zêrîn der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) hat den Tod von Sîdar Amed bekannt gegeben. Die Künstlerin war seit 2005 in der kurdischen Frauen-Kulturarbeit aktiv und verstarb im Jahr 2025 als Mitglied von Hîlala Zêrîn in Rojava. In einer veröffentlichten Erklärung würdigt die Bewegung Sîdar Ameds Engagement für Kultur und Gesellschaft.

Gefallene als historisches Gedächtnis

In ihrem Nachruf beruft sich Hîlala Zêrîn auf das Verständnis des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan, wonach Gefallene eine Leitfunktion für ein sinnerfülltes Leben übernehmen. Ihnen wird die Rolle als „historisches Gedächtnis“ und Quelle gesellschaftlicher Kraft zugeschrieben. Wörtlich heißt es: „Diejenigen, die sich entschließen, leitende Rollen einzunehmen, nehmen große Risiken in Kauf. Die Gefallenen zahlen einen hohen Preis für den Kampf gegen die kapitalistische Moderne.“

Laut Hîlala Zêrîn spiegelten die Gefallenen „die Wirklichkeit eines Volkes wider, das zahlreiche Söhne und Töchter verloren hat“. Die Errungenschaften des kurdischen Freiheitskampfes seien untrennbar mit diesen Opfern verbunden. Die Bewegung beschreibt sie als Menschen, „die das Schweigen der Gegenwart nicht akzeptieren“ und sich ihrer Verantwortung mit Gewissen stellten.

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Die Rolle der Kunst in der Revolution

Die Rojava-Revolution wird von Hîlala Zêrîn als Teil dieser historischen Entwicklung verstanden. Künstler:innen wie Sîdar Amed hätten durch ihre Beiträge im Bereich Kultur, Literatur und Fotografie das gesellschaftliche Projekt mitgestaltet. Die Revolution sei nicht nur der Kampf des kurdischen Volkes oder einer bestimmten Region, sondern das gemeinsame Bestreben derjenigen, die für die Würde der Menschheit einstehen. In Rojava sei dieser Prozess von Frauen angestoßen worden und werde daher auch als „Frauenrevolution“ in Erinnerung bleiben.

Aufwachsen in Widersprüchen

Sîdar Amed wurde 1987 als Nihal Ay in Farqîn (tr. Silvan) in der Provinz Amed (Diyarbakır) geboren. Nach Angaben der Kulturbewegung wuchs sie in einer kurdischen Familie auf, die viel Repression und Leid erfahren habe. So wurde ihr Vater Abdullah Ay 1992 von der staatlichen Todesschwadron Hizbullah ermordet. Dieses Ereignis habe sie laut Hîlala Zêrîn früh mit dem Preis von Freiheit konfrontiert und ihr Verantwortungsgefühl geprägt.

Doch schon als Kind habe Sîdar Amed etliche Widersprüche erlebt – unter anderem in Bezug auf Sprache und Identität in der Schule, die Rolle der Frau in der Gesellschaft und die Ungleichheit der Geschlechter. Nach einem Umzug in den Landkreis Pasûr (Kulp) sei sie auch mit der sozialen Ungleichheit zwischen ländlichem und städtischem Leben konfrontiert gewesen.

Frühes Engagement für Kultur

In dem Nachruf heißt es weiter, dass sich viele Mitglieder von Sîdar Ameds Großfamilie dem kurdischen Befreiungskampf angeschlossen hätten. Auch dies habe sie geprägt. Ihr starkes politisches Bewusstsein und ihr künstlerisches Talent führten sie im Jahr 2005 zum Kulturzentrum Dicle-Fırat, wo sie sich der Bewahrung und Weiterentwicklung kurdischer Kultur widmete. Mit der Zeit sei ihr Wunsch nach Freiheit immer stärker geworden, sodass sie 2008 beschloss, sich dem Freiheitskampf anzuschließen. Im selben Jahr habe auch ihre Schwester Hatice Ay diesen Weg gewählt. Letztere kam 2022 in Amed bei einem Angriff der türkischen Armee ums Leben. Dieses Ereignis habe Sîdar Amed in ihrem Entschluss bestärkt, den revolutionären Kampf in sich selbst voranzutreiben.

Einsatz in verschiedenen Bereichen

Nach Angaben von Hîlala Zêrîn war Sîdar Amed in zahlreichen Regionen und Strukturen der kurdischen Bewegung aktiv. Ihr Engagement habe sich auf militärische, gesellschaftliche und kulturelle Felder erstreckt, darunter den Kampf bei der kurdischen Guerilla. Besonders hervorgehoben wird ihr Beitrag zur Kulturarbeit: In Liedern und Texten habe sie kurdische Identität und Widerstandsgeist zum Ausdruck gebracht. In der Erklärung heißt es: „In den Liedern, die sie sang und schrieb, spiegelten sich die Werte des Volkes wider. Sie drückte diese Werte mit ihrer kraftvollen Stimme aus. Mit ihrer klaren Stimme verwandelte sie kurdische Lieder und Melodien, die aus der Wärme eines Frauenherzens entsprangen, in revolutionäre Klänge.“

Nachruf der Frauenbewegung

Die Frauen von Hîlala Zêrîn würdigten Sîdar Amed als „Revolutionärin und Künstlerin“, deren Leben Ausdruck einer tiefen Überzeugung gewesen sei. In ihrem Nachruf bekräftigten sie das Versprechen, das kulturelle und politische Vermächtnis der Gefallenen weiterzutragen. „Wir versprechen, in ihrem Sinne ein wahrhaftiges und sinnvolles Leben zu führen und unseren Kampf auszuweiten, um ihre Träume zu verwirklichen“, heißt es zum Abschluss.

Diese Meldung wurde um 18:48 h aktualisiert

https://deutsch.anf-news.com/kultur/hilala-zerin-eine-bewegung-des-kulturellen-widerstands-31438 https://deutsch.anf-news.com/kultur/frauenkulturfestival-in-kobane-43515 https://deutsch.anf-news.com/kultur/hilala-zerin-veroffentlicht-musikvideo-jinen-suriye-45425

 

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Zivilfahrzeug im Gebiet Şêxmeqsûd-Eşrefiyê bombardiert

24. Dezember 2025 - 17:00

Bewaffnete Gruppen, die der syrischen Übergangsregierung angehören, sollen einen zivilen Bulldozer in der Nähe der Viertel Şêxmeqsûd und Eşrefiyê in Aleppo bombardiert haben, melden die Kräfte der Inneren Sicherheit von Nord- und Ostsyrien (Asayîş). Sie betonen, dass der Angriff einen Verstoß gegen den Waffenstillstand darstelle.

Bei der Attacke sei ausschließlich Sachschaden entstanden, das Fahrzeug sei komplett fahruntauglich. Die Asayîş gaben zudem an, dass weitere Verstöße in der Umgebung des Stadtteils Şêxmeqsûd, insbesondere in der Nähe des Al-Shihan Kreisel und des Awaredh Kontrollpunktes, registriert worden seien.

Die internen Sicherheitskräfte erklärten, dass diese Vorfälle die Sicherheit der Zivilbevölkerung direkt bedrohen und die öffentliche Sicherheit gefährden, und machten die Übergangsregierung für diese Verstöße verantwortlich.


Gefallenenfriedhof von Şêxmeqsûd und Eşrefiyê

Angriff auf Gefallenenfriedhof

Am Montag hatten mutmaßlich der Übergangsregierung zugehörige Truppen die kurdischen Stadtteile Şêxmeqsûd und Eşrefiyê in Aleppo mit teils schwerer Artillerie angegriffen. Nach einer Nacht voller Explosionen und Angriffe auf Wohnviertel ist die Zerstörung groß. Bei den Angriffen sind nach bisherigen Informationen 19 Menschen verletzt und eine Frau getötet worden.

Wie nun bekannt gegeben wurde, ist auch der Gefallenenfriedhof der Viertel am späten Montagabend mit Raketen beschossen worden. Der Beschuss soll erheblichen Schaden angerichtet und die Ruhestätte verwüstet haben.

https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/msd-Ubergangsregierung-muss-abkommen-einhalten-49391 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/gemeinderat-in-aleppo-fordert-konsequenzen-nach-angriff-auf-kurdische-viertel-49384 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/bilder-der-zerstorung-in-aleppo-49379

 

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Menschenrechte bleiben außerhalb der Gitterstäbe

24. Dezember 2025 - 16:00

Die Riha-Niederlassung der Vereinigung freiheitlicher Jurist:innen (ÖHD) hat ihren Bericht über Menschenrechtsverletzungen in den T-Typ-Hochsicherheitsgefängnissen von Tokat, Osmaniye, Siverek und Urfa veröffentlicht. Die ÖHD-Gefängniskommission hat bei regelmäßigen Besuchen politischer Gefangener in den Haftanstalten im Zeitraum von Juli bis Dezember gravierende Mängel und Menschenrechtsverletzungen festgestellt.

Insbesondere dokumentiert der Bericht Verstöße gegen das Recht auf Gesundheit, willkürliche Haftzeitverlängerungen, Einschränkungen beim Zugang zu Büchern und Kommunikation sowie diskriminierende Praktiken gegenüber politischen Gefangenen.

Paradoxer Verlauf

Rechtsanwältin Dicle Aksu stellte den Bericht im Namen der Vereinigung der Presse vor. Sie unterstrich hierbei, dass in einer Zeit, in der Diskussionen über den „Friedens- und Demokratisierungsprozess“ geführt werden, diskriminierende und repressive Praktiken in den Gefängnissen zunähmen, und erklärte, dass die aktuellen Justizpakete im Widerspruch zum Geist dieses Prozesses stünden.

„Da die Schaffung eines echten Friedens und der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft nicht allein durch die Niederlegung der Waffen möglich sind, müssen die gerichtlichen und gesellschaftlichen Anforderungen unverzüglich erfüllt werden“, forderte die Juristin in diesem Zusammenhang.

Dokumentierte Menschenrechtsverletzungen

Dem Bericht zufolge wird schwer kranken Häftlingen in besagten Gefängnissen der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt, und Anträge auf Strafvollstreckungsaufschub und Entlassung werden willkürlich abgelehnt.

Auffällig sind auch die Forderungen nach „Reue“ gegenüber politischen Gefangenen in den Gefängnissen von Osmaniye und Tokat, die politischen Fragen in den Anhörungen der Beobachtungsgremien der Verwaltungen und die anschließende Verwendung dieser Antworten als Begründung für die Verlängerung von Haftstrafen.

Im Gefängnis von Tokat sei außerdem die Anzahl der Bücher auf sieben begrenzt und bei Videochats und Telefonaten werde offen zwischen politischen und anderen Gefangenen unterschieden.

In den Gefängnissen von Urfa und Siverek gibt es laut Berichten erhebliche Probleme mit der Heizung, der Warmwasserversorgung, der Beleuchtung und dem Zugang zu Grundbedürfnissen, und die erzwungenen „Mundhöhlenkontrollen“ beeinträchtigen faktisch das Recht auf Gesundheit. Außerdem dokumentiert der Bericht Es wurde berichtet, dass die Haftstrafen einiger seit langem inhaftierter Häftlinge im Gefängnis von Siverek wiederholt willkürlich verlängert wurden.

Einhaltung von Rechten braucht international Kontrolle

Die ÖHD-Niederlassung in Riha betonte, dass strenge Isolationsbedingungen in Gefängnissen immer häufiger vorkommen, und forderte das Justizministerium, die Menschenrechtskommission der türkischen Nationalversammlung und das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) zum Handeln auf. Der Verein erklärte, dass unverzüglich unabhängige Kontrollmechanismen eingerichtet werden müssen, die mit nationalem und internationalem Recht im Einklang stehen.

https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/das-recht-auf-leben-und-wurde-wird-in-bolu-systematisch-untergraben-49388 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/willkur-bei-haftentlassungen-anwaltskammer-ruft-vier-institutionen-an-47310 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/Ohd-und-tuhad-fed-fordern-freilassung-kranker-gefangener-46209

 

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Parlamentskommission verlängert Arbeitsdauer um zwei Monate

24. Dezember 2025 - 16:00

Die parlamentarische „Kommission für nationale Solidarität, Geschwisterlichkeit und Demokratie“, die aktuell einen Dialog um Frieden und Demokratisierung in Kurdistan und der Türkei führt, ist heute zu ihrer 20. Sitzung zusammengekommen. Der gemeinsame Bericht, der die konkreten Empfehlungen der Kommission enthalten soll, könne nicht bis zum Jahresende fertig gestellt werden, lautet das heutige Ergebnis. Die anberaumte Arbeitsdauer der Kommission ist daher um zwei Monate verlängert worden.

Die Kommission unter dem Vorsitz von Parlamentspräsident Numan Kurtulmuş hatte ihre Arbeit ursprünglich bis zum 31. Dezember befristet. Der einstimmige Beschluss, diese Frist um zwei Monate zu verlängern, galt allerdings bereits als sicher: Der Bericht über die zu erwartenden rechtlichen Schritte könne in dieser Zeit nicht fertiggestellt werden.

Analyse der einzelnen Positionen

Außerdem hielten Prof. Dr. Havva Kök Arslan und Murat Sevecen in der heutigen Zusammenkunft einen Vortrag über die Analyse der während der Sitzungen der Kommission geführten Gespräche. Hierbei gingen sie auf die Ähnlichkeiten, Unterschiede und Notwendigkeiten in den Äußerungen der Kommissionsmitglieder ein, während die Abgeordneten auf die Präsentation und deren Anforderungen lenkten.

Neben dem heutigen Sitzungstermin der gesamten Kommission, plat das Schreibteam zudem eine weitere Zusammenkunft am Donnerstag, den 25. Dezember.

Ziel der Kommission ist es, parteiübergreifende Empfehlungen für gesetzgeberische Schritte im Kontext des sogenannten Friedens- und Demokratisierungsprozesses vorzulegen. Nach Fertigstellung soll der Bericht dem Parlament übergeben und in einen Gesetzesvorschlag überführt werden.

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/abschlussbericht-der-parlamentskommission-verzogert-sich-49367 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/imrali-delegation-trifft-akp-im-parlament-dialog-braucht-rechtliche-grundlage-49337 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/bakirhan-wir-sprechen-von-demokratie-sie-von-liquidierung-49330 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/akp-bericht-zur-kurdischen-frage-bedingungen-statt-Offnung-49329

 

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Kenanoğlu: Rechtliche Schritte zügig möglich

24. Dezember 2025 - 14:00

Der Ko-Sprecher des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK), Ali Kenanoğlu, setzt die aktuellen Geschehnisse in Kurdistan und der Türkei in einen Zusammenhang mit der hundertjährigen Geschichte der Republik Türkei. In diesem Jahr seien bedeutende Schwellen überschritten worden, findet der Politiker und betont, dass das kommende Jahr ein kritischer Zeitraum werde. Für ihn ist klar, dass der aktuelle Prozess umgehend auf eine rechtliche Grundlage gestellt werden muss.

Mit dem Herannahen des neuen Jahres zeichnete sich 2025 als ein Jahr ab, das sowohl politisch als auch gesellschaftlich von wichtigen historischen Wendepunkten geprägt war. Der Friedens- und Demokratisierungsprozess, der nach Abdullah Öcalans Aufruf vom 27. Februar große Resonanz in der Öffentlichkeit fand, wurde durch die im türkischen Parlament eingerichtete Kommission fortgesetzt. Während dieser Zeit wurden die Treffen mit dem inhaftierten Begründer der Arbeiter Partei Kurdistans (PKK) in Imrali der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und auf die Videobotschaft aus Imrali folgte am 11. Juli eine Zeremonie der Waffenverbrennung der PKK in Silêmanî (Sulaimaniyya), die breite internationale Aufmerksamkeit erregte.

Diese Schritte spiegelten die Entschlossenheit des kurdischen Volkes und der kurdischen politischen Akteur:innen wider, einen demokratischen Prozess voranzutreiben. Die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen wurden hingegen vielerseits als unzureichend angesehen. Da die Rechtsreformen und die Erwartungen an eine gleichberechtigte Staatsbürgerschaft im Jahr 2025 nicht verwirklicht wurden, dürften diese Forderungen auch 2026 weiterhin fest auf der Tagesordnung stehen.


Unter Berücksichtigung sowohl der historischen Schritte als auch des politischen Ansatzes der Regierung erklärt Ali Kenanoğlu, Ko-Sprecher des HDK, dass der Prozess nun einen Punkt erreicht habe, an dem es kein Zurück mehr gebe. Nach einem Jahr, das von „kritischen Schwellen“ geprägt war, sollte das kommende Jahr mit neuen Gesetzen und konkreten Maßnahmen eingeläutet werden, meint der Politiker. Kenanoğlu erinnert auch daran, dass die kurdische Frage in der gesamten Geschichte der Republik Türkei durch Leugnung, Assimilation, Unterdrückung und Konflikte angegangen wurde, und fügt hinzu, dass der Staat diese Politik manchmal durch gesetzliche Regelungen und manchmal durch Zwangsmaßnahmen aufrechterhalten habe.

Die Regierung hat keine Rechtfertigung mehr

Betrachte man ein einzelnes Jahr isoliert, so Kenanoğlu, könne es den Anschein haben, dass keine größeren Schritte unternommen worden seien. Die Entwicklungen im Jahr 2025 seien aber aus einer jahrhundertelangen Perspektive betrachtet von großer Bedeutung. Mit Verweis auf die sich rasch verändernden politischen Verhältnisse in der Türkei und im Nahen Osten stellt der HDK-Ko-Sprecher fest, dass der Prozess vor dem Hintergrund dieser umfassenderen Realität bewertet werden müsse: „Die Tatsache, dass wir heute überhaupt in der Lage sind, diese Aussagen zu treffen, ist an sich schon eine wichtige Entwicklung. Vor einem Jahr waren ähnliche Aussagen noch nicht möglich, und der öffentliche Raum stand unter starkem Druck.“

Kenanoğlu betont auch, dass der Prozess nicht allein durch die Initiative der Regierung vorangetrieben werden könne, ein Großteil des Jahres 2025 sei durch Stagnation geprägt gewesen. Statt konkrete Schritte zu unternehmen, habe die Regierung bloß gelegentlich die Notwendigkeit von Maßnahmen betont, dies gelte insbesondere für den Koalitionspartner MHP und den Staatsapparat im weiteren Sinne.

Entscheidende Schritte kamen von kurdischer Seite

Themen wie die Niederlegung der Waffen durch die PKK und die Auflösung der Organisation seien wiederholt wichtige Themen der Tagesordnung gewesen. Diese Initiativen, die den Weg nach vorn ebneten, so hebt Kenanoğlu hervor, seien immer wieder von der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrem Vorsitzenden, Abdullah Öcalan, ergriffen worden: „In jeder Phase, in der der Prozess blockiert war, schaltete sich Herr Öcalan ein, und es wurden neue Schritte entwickelt, um ihn voranzubringen. Von diesem Punkt an sind die Rechtfertigungen, die die Regierung vorbringen kann, weitgehend erschöpft.“

Zeit für rechtliche Schritte drängt

Ali Kenanoğlu sagt, dass rechtliche Regelungen im Jahr 2026 nun unvermeidlich geworden seien: „Die Entwaffnung, die Auflösung der Organisation und entsprechend die notwendigen Gesetzesänderungen, vor allem des Anti-Terror-Gesetzes und des türkischen Strafgesetzbuches, müssen vorgenommen werden. Diese Schritte können innerhalb der ersten drei Monate des Jahres 2026 oder spätestens innerhalb der ersten sechs Monate unternommen werden. Der Prozess wird unter Berufung auf die Entwicklungen in Syrien hinausgezögert. Es wird gesagt, dass die QSD sich an das Abkommen vom 10. März halten muss, doch die Partei, die das Abkommen effektiv verletzt hat, wird ignoriert. Die unmittelbar nach dem Abkommen unternommenen Schritte stehen in klarem Widerspruch zu dieser Vereinbarung.“

Eine unumkehrbare Phase ist erreicht

Bezüglich der aktuellen Entwicklungen, in der von kurdischer Seite zahlreiche Schritte gegangen wurden und die Arbeit der parlamentarischen Kommission weit vorangeschritten ist, kommt der Politiker zu dem Schluss, dass der aktuelle Prozess sich von früheren Lösungsversuchen unterscheide; er habe nun eine unumkehrbare Phase erreicht und könne nicht mehr einfach mit den Worten „wir haben ihn aufgegeben“ beendet werden: „Es wurden konkrete Schritte unternommen, und die politische Verantwortung für eine Umkehr wäre schwerwiegend.“

„Die Sozialisierung des Friedens ist von entscheidender Bedeutung“

Ali Kenanoğlu meint, dass es innerhalb der Gesellschaft Bedenken hinsichtlich des Prozesses gebe, betont jedoch, dass die Erwartungen an den Frieden weiterhin groß seien. Dem müsse aktiv begegnet werden: „Die Gesellschaft muss stärker in diesen Prozess einbezogen werden. Die Sozialisierung des Friedens ist für den Erfolg dieses Prozesses von entscheidender Bedeutung. Lassen Sie es mich so sagen: Im Einklang mit unseren Zielen hat unsere Partei, die Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM), internationale Konferenzen organisiert, und ähnliche Initiativen auch innerhalb der DEM-Partei selbst durchgeführt.

Was wir bei diesen Konferenzen als gemeinsame Realität erkannt haben, war Folgendes: Wenn die Gesellschaft etwas fordert und darauf besteht, können weder Organisationen noch der Staat oder die Regierung sich aus dieser Frage zurückziehen. Mit anderen Worten, die Angelegenheit hängt weitgehend von der gesellschaftlichen Nachfrage ab. Prozesse wie dieser kommen nur zustande, wenn die Gesellschaft sie fordert und wenn öffentlicher Druck entsteht. Daher ist es entscheidend, wie stark die Gesellschaft den Prozess unterstützt. Genau deshalb ist die Sozialisierung des Friedens so wichtig.“

Das Beharren der Gesellschaft wird über das Schicksal dieses Prozesses entscheiden

Abschließend bekräftigt Kenanoğlu, dass sie als HDK und DEM-Partei in verschiedenen Regionen Aktivitäten durchgeführt hätten, insbesondere um den Anliegen und Erwartungen der Öffentlichkeit in den Regionen „Schwarzes Meer“ und „Ägäis“ Gehör zu schenken. „Wenn die Gesellschaft darauf besteht, können sich weder der Staat noch Organisationen aus diesem Prozess zurückziehen. Was über das Schicksal dieses Prozesses entscheiden wird, ist der Wille der Gesellschaft. In der Gesellschaft herrschen große Besorgnis, Angst und Misstrauen gegenüber der Regierung. Trotzdem sind die Erwartungen an den Erfolg dieses Prozesses nach wie vor recht hoch. Die Menschen wollen sich nun von diesen Nöten, Problemen und dem Konflikt befreien“, konstatiert er.

https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/Ubergangsjustiz-als-voraussetzung-fur-demokratische-integration-49342 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/sancar-demokratische-legitimitat-braucht-parlamentarische-ruckendeckung-49380 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/imrali-delegation-trifft-akp-im-parlament-dialog-braucht-rechtliche-grundlage-49337

 

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Die Schwelle der Erinnerung

24. Dezember 2025 - 13:00

Ali Doğan Yıldırım, Halil Çavgun, Salih Kandal, Edip Solmaz, Delil Doğan, Sakine Kırmızıtaş, Veli Geçit, Ahmet Marangoz, Zeki Yıldız, Baki Kahraman, Mustafa Ayçiçek, Salih Kılıç, Nuri Elaltunkara, Mehmet Salih Şahin, Vahdettin Kıtay, Kazım Kulu, İsmet Özkan, Şıxo Özkan, Ahmet Özkan, Tekin Kışın, İbrahim İncedursun, Ahmet Dizin, Erdiven Bozkurt, Emel Çelebi, Lezgin Bilgin, Mustafa Gezgör, Şıxo Dirlik, Erdal Gedik, Hüseyin Özbey, Süleyman Alıcı, Vahap Geçmez, Selim Ülker, Zeynep Kınacı, Leyla Kaplan, Yılmaz Uzun, Abbas Yokuş, Gurbetelli Ersöz, Engin Sincer, Filiz Yerlikaya, Orhan İlbay, Berzan Öztürk, Ahmet Kılıç, Sinan Dersim, Leyla Agirî, Atakan Mahir, Egîd Civyan, Rıza Altun, Ali Haydar Kaytan, Nûreddîn Sofî, Koçero Urfa, Berfîn Nûrhaq, Aryen Arê, Masîro Kobanê, Sabrî Tendurek, Munzur Stêrk, Emine Erciyes und Mordem Çewlîk…

Namen, die unseren Weg auf die eine oder andere Weise gekreuzt haben; Namen, die wir gehört haben, deren Geschichten wir lauschten; Namen, in denen jede:r etwas von sich selbst wiederfinden kann. Jeder von ihnen trägt eine Erinnerung in sich, die für eine bestimmte Zeit steht. Es gibt Persönlichkeiten, die die Erinnerung und den Lebensweg all derer geprägt haben, die auf die eine oder andere Weise mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Berührung gekommen sind.

Moralische Kontinuität, die die Zukunft gestaltet

Was die Erinnerung aufrechterhält, ist nicht die Individualität oder das Ausmaß des Schmerzes, sondern die Realität, wie er getragen wird. Eines der deutlichsten historischen Beispiele dafür findet sich in der tiefen Erinnerungspraxis der jüdischen Diaspora und des Staates Israel. Dort wurde der Schmerz nicht zu einem Wettbewerb. Die Erinnerung wurde nicht auf Slogans reduziert. Sie wurde nicht der Vergessenheit überlassen. Namen wurden nicht anonymisiert. Verluste wurden nicht auf Zahlen reduziert. Die Namen wurden einzeln aufgeschrieben, laut vorgelesen, wiederholt und in die Sprache, die Bildung und den öffentlichen Raum übertragen. Auf diese Weise hörte die Erinnerung auf, eine an die Vergangenheit gebundene Trauer zu sein, und wurde zu einer moralischen Kontinuität, die die Zukunft gestaltet.

Für uns ist genau das der springende Punkt. Die Erinnerung nicht emotionalen Ausbrüchen oder stiller Akzeptanz zu überlassen. Sie nicht den Erzählungen anderer, den Kalendern anderer, den Schatten anderer oder dem Tempo des Vergessens anderer zu überlassen. Die Erinnerung muss durch Namen und Orte lebendig gehalten werden, aber Erinnerung besteht nicht nur aus Namen. Es gibt historische Brüche, die diese Namen hervorgebracht haben, und Momente, die wie ein Bumerang zurückkehren und sich wiederholen. Deshalb hat Erinnerung auch eine Zeitachse:

* 1925 – Şêx Seîdê Pîran (dt. Scheich Said)

* 1930 – Agirî–Zîlan

* 1938 – Dersim

* 1943 – Die Ermordung von 32 Kurden in Wan-Qelqelî (tr. Van-Özalp)

* 1960er Jahre – Das Wiederaufleben der kurdischen Identität

* 1978 – Das Massaker von Gurgum (Maraş)

* 1980 – Der Putsch vom 12. September und der Widerstand im Gefängnis von Amed (Diyarbakır)

* 1984 – Die Initiative vom 15. August

* 1990er Jahre – Ausnahmezustand, Evakuierung von Dörfern und „ungeklärte“ Morde

* 2011 – Massaker von Roboskî

* 2013 – Der Dialogprozess

* 2015 – Erklärungen zur Selbstverwaltung und organisierter Staatsterror

* 2025 – Eine neue Schwelle zum Frieden?

Menschliches Handeln bei der Gestaltung des Schicksals

Die eine Liste offenbart die Kosten, die andere zeigt die Richtung. Die eine spricht durch Namen, die andere durch Daten, doch beide gehören zur selben Erinnerung, denn die eine ist die Fortsetzung der anderen.

Der Dichter Cemal Süreya, auch bekannt als „Kurdischer Cemo“, beschrieb einmal seine eigene Geschichte in einem Fernsehinterview, das 1986 ausgestrahlt wurde, und sagte: „Was uns nährt, prägt uns unweigerlich. Ich wurde 1931 geboren, meine Mutter starb 1937, ich las Dostojewski 1944, und seit diesem Tag habe ich nie Frieden gekannt.“

Dieser Text entstand aus genau dieser Unruhe heraus. Unruhe ist hier kein Mangel, sondern der Name einer Form des Bewusstseins. Man sagt, Geografie sei Schicksal, doch ein Mensch greift in sein Schicksal ein, indem er wählen kann, welche Erinnerungen er mit sich trägt. Nun, da wir das erste Viertel des neuen Jahrhunderts hinter uns lassen, war dieses Jahr weder ein Jahr der Abrechnung noch eine Zeit, in der sich die Antworten vervielfachten.

Vielmehr markiert es eine Schwelle, an der wir erneut die Last der Erinnerung auf unseren Schultern gespürt haben. Verluste wurden nicht gezählt, sondern tief empfunden.

Erinnerung als Treuhandgut tragen

Dieser Text wurde nicht geschrieben, um eine politische Forderung zu stellen oder endlose Debatten fortzusetzen. Er wurde geschrieben, um Erinnerung nicht als Schmuckstück, sondern als Treuhandgut zu tragen. Manche Menschen treten nicht nur mit Erinnerungen in unser Leben, sondern auch mit Prinzipien. Wenn sie gehen, bleibt nicht nur eine Leere zurück, sondern ein Maßstab dafür, wie das Leben gelebt werden sollte. Dieser Maßstab wird mit den Jahren nicht leichter.

Jemandem wie Atakan Mahir zuzuhören, einer Persönlichkeit, die Maß und intellektuelle Tiefe verkörperte, kann sogar den Körper selbst erschüttern. Das ist nicht nur Bewunderung, sondern auch eine Konfrontation mit sich selbst. Die Scham, sich mit weniger zufrieden gegeben zu haben. Das ist kein erniedrigendes Gefühl, sondern ein nachhaltiges, eine Scham, die einen Menschen aufrecht hält.

Die Notwendigkeit der Versöhnung und der Suche nach einem gemeinsamen Weg

Ein Volk existiert nicht durch Zahlen, sondern durch die Menschen, die es hervorbringen kann. Aus diesem Grund sind Verluste nicht nur eine Verringerung, sondern eine Warnung an uns alle. In diesem Sinne muss die kurdische Freiheitsbewegung in Erinnerung bleiben. Die hohen moralischen Standards, die im Laufe der Jahre aufgebaut wurden, haben nicht nur ihre eigene innere Kohärenz offenbart, sondern auch den Zustand der ihr gegenüberstehenden Struktur. Die Kluft zwischen den politischen und moralischen Positionen der kurdischen Freiheitsbewegung und der Republik Türkei hat sich so weit vergrößert, dass der diskutierte Verfall nicht mehr zu verbergen ist. Dies ist kein Anspruch auf Überlegenheit, sondern vielmehr die offensichtliche Aufdeckung von Maßlosigkeit durch eine Linie, die mit Maß gezogen wurde.

Dieser erhöhte moralische Maßstab konfrontiert den Menschen nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der harten Realität der Gegenwart. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die diese Erinnerung und dieses Maß tragen; auf der anderen Seite steht die Realität einer Republik Türkei, deren Verfall nicht mehr zu leugnen ist, deren intellektuelle Adern ausgetrocknet sind, deren Intelligenz verschwindet; ein Land, das durch Banden und eine normalisierte Spirale der Gewalt Schritt für Schritt in die schleichende Destabilisierung durch Strukturen der organisierten Kriminalität abgleitet; das sich faschistischen und rassistischen Strömungen hingibt, die vom Staat finanziert und aufrechterhalten werden; ein Staat und eine soziale Realität, die in dieser Ordnung gefangen sind und das Gefühl vermitteln, am Rande eines Abgrundes zu stehen.

Zwischen diesen beiden Realitäten liegt eine unvermeidliche Notwendigkeit: sich hinzusetzen, sich zu versöhnen, zu sprechen und einen gemeinsamen Weg zu suchen.

Eine äußerst schwierige moralische Prüfung

Dies ist keine einfache politische Frage, sondern eine außerordentlich anspruchsvolle moralische Schwelle, die einen Menschen innerlich zermürbt. Wenn man an diesem Tisch sitzt, bringt man nicht nur Forderungen mit, sondern auch die Toten, Grabsteine, fehlenden Knochen und unvollendeten Leben. Wenn ein Mensch mit solchen Erinnerungen an diesem Tisch sitzt, trägt er nicht nur Hoffnung, sondern auch Wut und Schweigen mit sich. An diesem Tisch zu bleiben, ist nicht nur eine Frage des politischen Willens, sondern eine außerordentlich schwere und anstrengende moralische Prüfung für alle Beteiligten, einschließlich der repräsentativen Macht, die dort Platz nimmt.

Erinnerung findet ihren Ausdruck nicht in großartigen Texten, sondern in kleinen, hartnäckigen Akten des Widerstands, in denen die Moral auf die Probe gestellt wird, manchmal in einem Grabstein, der nicht aufgestellt werden darf, manchmal in der Angst, vergessen zu werden, manchmal in dem beharrlichen Bemühen, die Würde zu bewahren.

Die Geschichten der Kinder

Wie Fadime Karakaya sagte: „Mein Sohn sagte immer, er würde zurückkommen, wenn Frieden herrschen würde... Ob es Frieden gibt oder nicht, wenn ich diesen gravierten Stein nicht zu Lebzeiten auf das Grab meines Erdal setze, werde ich mit offenen Augen sterben.“

Wie Nesim Bilgin über seine Tochter Cihan, eine Journalistin, sagte: „Meine Tochter suchte nach der Wahrheit. Ihr Name darf nicht in Vergessenheit geraten.“

Die Geschichte von Nuriye Turan zeigt, wie Erinnerung zu einem Maßstab für Moral wird. Ihr Sohn Fedakar Turan wurde 1994 gefoltert, verbrannt und begraben. Jahre später, im Jahr 2017, wurden seine Überreste vom Staat aus dem Friedhof von Garzan exhumiert. Zusammen mit 267 anderen Leichen wurden seine Gebeine gestohlen und unter Gehwegen und neben öffentlichen Toiletten in Istanbul-Kilyos begraben.

Eine andere Mutter war gezwungen, ihren Sohn nicht nur einmal, sondern viele Male zu begraben.

Genau hier stellen sich uns die folgenden Fragen:

* Wie werden diese beiden Realitäten, Namen und Momente, im nächsten Jahrhundert weiterleben?

* Wo werden sie in einem gemeinsamen Lehrplan, der gemeinsam mit dem türkischen Volk erstellt wird, in Geschichtsbüchern, in der öffentlichen Sprache und in unserer gemeinsamen Zukunft ihren Platz finden?

* Und vielleicht am wichtigsten: Werden wir in der Lage sein, diese Erinnerung auf Augenhöhe mit den Kindern weiterzugeben, ohne sie zu erschrecken, ohne sie zu verzerren, ohne sie in eine Last zu verwandeln, sondern in einen festen Boden, auf dem sie stehen können?

Was uns das Gewissen sagt

Während wir das erste Viertel des neuen Jahrhunderts hinter uns lassen, spricht das Gewissen zu uns wie ein Ruf und sagt:

Ich bin Erinnerung.

Ich bin der Preis, der gezahlt wurde.

Ich bin eine moralische Haltung.

Und ich bin wir, bevor ich ich selbst bin.

Ich bin die Mutter, die den Grabstein ihres Sohnes in den Händen hält.

Ich bin der Vater, der durch einen stillen Schrei die Forderung vermittelt, dass seine Tochter nicht vergessen wird.

Ich bin die Würde der Mutter, die gezwungen ist, die Überreste ihres treuen Sohnes erneut zu begraben.

Ich bin der Bruder, die Schwester, die mit DNA-Testergebnissen in der Hand nach den Gebeinen ihrer Geschwister suchen.

Ich bin die Erinnerung, die all dies in sich trägt, damit ein freies Kurdistan, das auf Augenhöhe mit den Kindern stehen kann, hinterlassen werden kann.

https://deutsch.anf-news.com/kultur/sinan-hezer-unsere-geschichte-ist-nicht-zu-ende-49230 https://deutsch.anf-news.com/kultur/kunstinitiative-legt-acht-punkte-plan-fur-frieden-vor-47293 https://deutsch.anf-news.com/kultur/alevitisches-gedachtnis-erstmals-digital-zuganglich-46849

 

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MSD: Übergangsregierung muss Abkommen einhalten

24. Dezember 2025 - 13:00

Der Demokratische Syrienrat (MSD) hat sich in einer Erklärung zu den Angriffen auf die kurdischen Stadtteile Şêxmeqsûd und Eşrefiyê in Aleppo geäußert und insbesondere die Gefährdung der Zivilbevölkerung scharf kritisiert. Die Eskalation widerspräche außerdem der aktuell besonders gebotenen Sensibilität: „In dieser kritischen Phase, die ein Höchstmaß an Weisheit und Zurückhaltung erfordert und mit einem Gefühl der nationalen Verantwortung angegangen werden muss, verfolgen wir mit großer Sorge die Bombardierung durch Truppen, die der Übergangsregierung angehören und schwere Waffen einsetzen.“

Zivile Opfer durch militärische Attacken

Infolge der Bombardierung der beiden Stadtteile sind bereits 17 Zivilist:innen verletzt und eine Frau getötet worden. Der Rat kritisiert diese Gefährdung des Lebens und des Eigentums der Zivilbevölkerung als gravierenden Rechtsbruch: „Wir verurteilen diese Angriffe, die den Erfordernissen der inneren Stabilität und des Friedens zuwiderlaufen.“

Die Eskalation stelle außerdem einen klaren Verstoß gegen bestehende Vereinbarungen dar, insbesondere gegen diejenige vom 1. April bezüglich der beiden Viertel. Hierin sieht der MSD nicht nur einen Angriff auf die Sicherheit der beiden Stadtteile, sondern auch negative Auswirkungen auf jegliche Bemühungen für den generellen Abbau von Spannungen im Land.

Abkommen müssen eingehalten werden

Der MSD fordert mit Nachdruck die an der syrischen Übergangsregierung beteiligten Parteien zur Einhaltung der geschlossenen Vereinbarungen, vor allem des 10.-März-Abkommens mit den Demokratischen Kräften Syrien (QSD), auf. Zudem müsse den „höchsten nationalen Interessen Syriens Vorrang“ eingeräumt und gemeinsam der Schutz der Zivilbevölkerung gewährleistet werden. Der Rat ruft dazu auf, „den Waffenstillstand zu stärken und einen nationalen politischen Prozess zu unterstützen, der Syrien auf den Weg zum Frieden bringen wird“. Abschließend spricht er den Familien der Getöteten sein Beileid aus und wünschte den Verletzten eine schnelle Genesung.

https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/gemeinderat-in-aleppo-fordert-konsequenzen-nach-angriff-auf-kurdische-viertel-49384 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/bilder-der-zerstorung-in-aleppo-49379 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/selbstverwaltung-verurteilt-angriffe-in-aleppo-49372 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/zahl-der-verletzten-in-aleppo-steigt-auf-15-49371

 

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KNK fordert Strafe für Angriff auf Leyla Zana

24. Dezember 2025 - 11:00

Die kurdische Politikerin Leyla Zana ist kürzlich während eines Fußballspiels durch Anhänger des türkischen Vereins Bursaspor mit sexistischen und beleidigenden Sprechchören angegriffen worden. Die Frauenkommission des kurdischen Nationalkongresses bezeichnet den Vorfall in einer schriftlichen Erklärung als „abscheulichen Angriff auf den Willen der kurdischen Frauen in der Person von Leyla Zana“.

Übergriffe sollen Dialogprozess sabotieren

Die Frauen betonten in der Erklärung insbesondere, dass der tiefe Veränderungsprozess, der im Nahen Osten und Kurdistan stattfindet, die Interessen der Menschen und der Frauen zum Ausdruck bringe. Sie bezogen sich hiermit auf die aktuellen Entwicklungen rund um der erneuten Dialogprozess zur Lösung der kurdischen Frage, den insbesondere Abdullah Öcalans Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft vom 27. Februar vorangetrieben hat. Der Erfolg dieses Prozess erfordere jedoch „einen aktiven, entschlossenen und konstruktiven Willen“.

„Das Stadion ist kein Ort für Rassismus“

Obwohl auch die etablierten Parteien in der Türkei sich für die Fortsetzung dieser Entwicklungen einsetzten, gäbe es auch Kräfte, die gegen den angestrebten gesellschaftlichen Frieden und die Gleichberechtigung des kurdischen Volkes aktiv seien und versuchten, den Prozess zu sabotieren. Den Angriff auf Leyla Zana bewertet die KNK-Frauenkommission als Ausdruck dieser Bestrebungen und setzt dem klar die verbindende Komponente des sportlichen Geistes gegenüber:

„Das Bursaspor-Stadion ist ein Ort, der den Völkern gehört, es ist ein Ort der Zusammenkunft; es ist kein Ort für Rassismus oder verabscheuungswürdige Angriffe. Aus diesem Grund muss der Sportminister seiner Verantwortung nachkommen, und die Personen, die diesen Angriff verübt haben, müssen bestraft werden.

Leyla Zana ist die Ehre des kurdischen Volkes; Leyla Zana ist nicht allein!“

https://deutsch.anf-news.com/frauen/nach-rassistischen-fangesangen-gegen-leyla-zana-juristinnen-erstatten-strafanzeige-49361 https://deutsch.anf-news.com/frauen/wut-nach-sexistischen-fangesangen-gegen-leyla-zana-49320

 

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Kurdische Institutionen gratulieren zu Weihnachten

24. Dezember 2025 - 11:00

Der Nationalkongress Kurdistans (KNK) und die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) gratulieren der Christenheit zu ihrem höchsten Fest und übersenden ihre Wünsche für das kommende Jahr. Frieden und das Streben nach Demokratie würden in den verschiedenen Glaubensrichtungen als heilig anerkannt. Auch in diesem Sinne stelle die Geschwisterlichkeit der Völker eine wahre Perspektive für die Lösung der Probleme der Menschheit dar.

KCK: „Frohe Weihnachten an die christliche Welt“

Das KCK-Komitee für Völker und Glaubensgemeinschaften erklärt in seiner schriftlichen Glückwunschbotschaft, dass die weitere Verstärkung der Bemühungen aller Glaubensrichtungen im Sinne einer demokratischen Nation die angemessenste Reaktion auf die aktuelle Zeit seien. Getreu des von der kurdischen Freiheitsbewegung vertretenen Prinzips der gleichberechtigten Koexistenz der Völker und Glaubensrichtungen, gratuliert die KCK zum Weihnachtsfest: „Wir wünschen uns, dass dieses Weihnachtsfest den Völkern des Nahen Ostens und der gesamten Menschheit Frieden, Brüderlichkeit, Ruhe und Gesundheit bringt.“

Sie erinnert hierbei insbesondere an die vielen christlichen Minderheiten Kurdistans: die kurdisch-armenischen, assyrischen, syrischen und chaldäischen Völker, und wünschen, „dass 2026 ein Jahr der Liebe, des Respekts, des Friedens und der Ruhe für die gesamte Menschheit sein wird“.

Der Wert des Teiles und des Friedens

Angesichts des anstehenden Jahreswechsel betont das Komitee in der Erklärung, dass der Nahe Osten „mit erheblichen, noch ungelösten sozialen Problemen in das Jahr 2026“ geht. Krieg und dessen Folgen erinnerten die Menschen besonders an „den Wert des Teiles und des Friedens“. In diesem Sinne seien Weltfrieden und demokratische Strukturen eine „grundlegende Notwendigkeit“. Die von Abdullah Öcalan vorgeschlagene Perspektive für „Frieden und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft“ stelle hierbei „einen Weg in die Zukunft sowohl für die Gesellschaften des Nahen Ostens als auch für die gesamte Menschheit dar“.

In diesem Zusammenhang unterstreichen die KCK, dass der Wunsch nach Frieden sowie der demokratische Kampf für Gläubige als heilig gelten, und erinnern daran, „dass das Streben nach Frieden ein gemeinsamer Akt der Anbetung für alle Glaubensrichtungen ist“. Dieses müsse durch die „Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls und der Geschwisterlichkeit unter den Völkern“ vorangetrieben werden. Daher ruft das Komitee dazu auf, sich für die Umsetzung von Öcalans „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ einzusetzen.

Frieden zwischen den Völkern

Die KCK-Erklärung endet mit hoffnungsvollen Worten: „Wir glauben, dass 2026 ein Jahr sein wird, in dem Frieden zwischen den Völkern erreicht wird, eine demokratische Gesellschaft aufgebaut wird, der Kampf der Frauenbefreiung wächst und sich weiter ausbreitet und die Werte einer demokratischen Gesellschaft sich zusammen mit dem Widerstand ökologisch bewusster Völker entwickeln und immer weiter verbreiten.“

KNK wünscht „Frieden, Ruhe und Wohlstand“

Der KNK würdigt in seiner schriftlichen Glückwunschbotschaft Weihnachten als heiligen und bedeutenden Feiertag der christlichen Welt. „Religiöse Feiertage sind wertvoll und in allen Religionen anerkannt. Jede Religion feiert diese wichtigen Tage mit großer Begeisterung und Freude, mit Zeremonien untereinander und in ihren Gotteshäusern“, heißt es in dem Schreiben. Auch in Kurdistan werde das Fest seit rund 2.000 Jahren begangen und sei ein Bestandteil der vielfältigen gesellschaftlichen Traditionen.

Seinen christlichen Mitgliedern sowie der gesamten Christenheit spricht der KNK seine feierlichen Grüße aus: „An diesem gesegneten Tag feiern wir Weihnachten mit großem Respekt und Liebe, insbesondere für die Christ:innen in Kurdistan und für alle Christ:innen weltweit. Wir hoffen, dass dieser gesegnete Tag der Menschheit überall auf der Welt Frieden, Ruhe und Wohlstand bringen wird.“

Titelbild © Arnold Plesse

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-abgeordneter-fordert-anerkennung-von-weihnachten-als-feiertag-49358

 

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„Das Recht auf Leben und Würde wird in Bolu untergraben“

24. Dezember 2025 - 9:00

Im Hochsicherheitsgefängnis im westtürkischen Bolu werden politische Gefangene nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen systematisch entrechtet. Die Anwältin Sevgi Karakoç, Mitglied der Vereinigung freiheitlicher Jurist:innen (ÖHD), berichtet im Gespräch mit ANF von einer Reihe gravierender Rechtsverletzungen, die sie als „institutionalisierte Grausamkeit“ bezeichnet – darunter Isolationshaft, verweigerte medizinische Versorgung und politisch motivierte Haftverlängerungen. „Was wir in Bolu sehen, ist keine Aneinanderreihung von Einzelfällen, sondern ein strukturelles System, das gezielt auf die psychische Zermürbung und physische Vernachlässigung politischer Gefangener abzielt“, so Karakoç. Etwa 110 Menschen seien in der Haftanstalt unter besonders restriktiven Bedingungen inhaftiert, viele davon mit lebenslangen Haftstrafen, die zum Teil seit über 30 Jahren andauern.

Isoliert, getrennt, kontrolliert: Alltag im türkischen Knast

Besonders bedrückend sei laut Karakoç die zunehmende Praxis der Einzelhaft. Selbst Gefangene mit erschwerter lebenslanger Haft, die normalerweise in Dreiergruppen untergebracht werden dürfen, würden in Einzelzellen isoliert – ein Zustand, den Karakoç als Folter durch Isolation bewerten. Nur schwer erkrankte Personen würden davon ausgenommen. Unter den derzeit isolierten Gefangenen sind auch die Brüder Ümit und Uğur Doğanay, die trotz familiärer Bindung in getrennten Zellen gehalten werden. „Früher war es möglich, sich zumindest während begrenzter Hofzeiten zu sehen“, so Karakoç. Doch inzwischen koordiniere die Gefängnisleitung selbst diese Zeiten so, dass jeglicher Kontakt unterbunden werde – eine Maßnahme, die laut Karakoç auf die Zerstörung sozialer Beziehungen ziele.

Der seit über 30 Jahren inhaftierte Ramazan Kıran (l.) hat seine Strafe bereits abgesessen, kommt aber nicht frei. Der Kurde ist einer von derzeit rund 500 Gefangenen, die vom Menschenrechtsverein IHD als schwerkrank gelistet sind. Die Vollzugsleitung in Bolu blockiert seine Entlassung.


Verbotene Briefe und „Loyalitätstests“

Zugleich werde das Recht auf Kommunikation systematisch eingeschränkt. So sei dem Gefangenen Ihsan Balkaş das Verschicken von Briefen in kurdischer Sprache untersagt worden mit der Begründung, sie seien „nicht verständlich“. Die Anstaltsleitung habe ihn aufgefordert, die Briefe auf eigene Kosten von einem vereidigten Übersetzer ins Türkische übertragen zu lassen – eine Praxis, die Anwältin Karakoç als „Verstoß gegen nationale und internationale Standards der Meinungsfreiheit“ bezeichnet. Mehr noch: Auch Briefe an Anwält:innen und Parlamentsabgeordnete, in denen Balkaş auf Missstände im Gefängnis hinweise, würden regelmäßig mit pauschalen Begründungen wie „Gefährdung der Anstaltssicherheit“ oder „Aufruf zur Unruhe“ beschlagnahmt. Karakoç sieht darin den Versuch, Gefangene zum Schweigen zu bringen und jede Form der Rechtsausübung zu kriminalisieren.

Verweigerte Entlassungen: Freiheit als politisches Druckmittel

Besonders drastisch sind laut der Juristin die Fälle von mindestens 14 Gefangenen, denen trotz Verbüßung ihrer Strafen die Entlassung verweigert wird. Die sogenannte Gefangenenbeobachtungskommissionen begründe dies oft mit vagen Formulierungen wie „fehlender Reue“, „mangelnder Distanz“ zu politischen Organisationen oder gar damit, dass ein Gefangener sich nicht an Stromsparmaßnahmen beteilige. In anderen Fällen seien Gefangene gedrängt worden, eine schriftliche oder mündliche „Distanzierungserklärung“ abzugeben – de facto ein politischer Loyalitätstest. Laut Karakoç hätten einige Gefangene bereits zum sechsten oder achten Mal eine Verlängerung ihrer Haftzeit erhalten – jeweils um drei bis sechs Monate. Widersprüche gegen diese Entscheidungen würden von Justizbehörden regelmäßig ohne Begründung abgelehnt, womit der Zugang zu einem fairen Verfahren faktisch ausgehebelt werde.

Krank ohne Zugang zur Klinik

In vielen Fällen gehe es inzwischen um Leben und Tod. So sei der schwerkranke Gefangene Abdulvahap Kavak, der an Lungenkrebs und COPD leidet, auf den täglichen Gang zum Anwaltszimmer mit Maske angewiesen – unter anderem, weil sich neben dem Gefängnis ein Betonwerk befinde, das Feinstaub in die Luft abgibt. Trotz ärztlicher Empfehlungen werde sein Antrag auf Verlegung in ein anderes Gefängnis mit besseren Bedingungen von den Behörden abgelehnt.

Hayati Kaytan (l.) und seine 2014 verstorbene Mutter Gülizar Kaytan, die 1938 den Genozid in Dersim überlebte


Auch bei Hayati Deniz Kaytan, der einen Gehirntumor sowie Epilepsie und Bewegungseinschränkungen habe, sei ein entsprechender Antrag ohne Angabe von Gründen abgewiesen worden. „Diese Menschen sind schwer krank, viele von ihnen alt, manche haben bereits über drei Jahrzehnte im Gefängnis verbracht. Dennoch werden ihnen grundlegende Gesundheitsleistungen verweigert“, so Karakoç.

„Wir reden über das Recht auf Leben“

Nach Einschätzung der ÖHD-Vertreterin stehen viele der Praktiken im Hochsicherheitsgefängnis Bolu im Widerspruch zur türkischen Verfassung, der Europäischen Menschenrechtskonvention und internationalen Standards zur Behandlung von Gefangenen. Die Anstalt sei „nur ein Beispiel“, vergleichbare Berichte gebe es aus zahlreichen weiteren Hochsicherheitsgefängnissen. „Wir reden hier nicht nur über Rechtsfragen. Wir reden über das Recht auf Leben, auf Würde, auf medizinische Versorgung, auf Kommunikation und damit über die Minimalstandards einer zivilisierten Gesellschaft“, sagt Karakoç. „All das wird in Bolu systematisch untergraben.“ Sie fordert eine unabhängige, internationale Untersuchung der Zustände in Bolu und anderen F-Typ-Gefängnissen, „bevor es zu Todesfällen kommt“.

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/willkur-bei-haftentlassungen-anwaltskammer-ruft-vier-institutionen-an-47310 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/strategie-der-zermurbung-im-gefangnis-von-bolu-47305 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/bolu-gefangnis-parlamentsausschuss-ignoriert-eigene-beschlusse-47220 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/protest-vor-bolu-gefangnis-gegen-willkurliche-haftverlangerungen-47281 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/bolu-35-lebenslangliche-kommen-trotz-verbussung-der-haft-nicht-frei-47191

 

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Neuer Mindestlohn in der Türkei unter der Hungergrenze

24. Dezember 2025 - 3:00

Der neue monatliche Mindestlohn in der Türkei wird im kommenden Jahr bei 28.075 Lira liegen – das entspricht umgerechnet rund 556 Euro. Das teilte das Arbeits- und Sozialministerium am Dienstag nach Beratungen der zuständigen Mindestlohnkommission mit. Dem Gremium gehören Vertreter:innen der Regierung, der Arbeitgeberseite und ausgewählter Gewerkschaften an.

Die Anhebung um rund 27 Prozent liegt nach Einschätzung von Ökonom:innen unterhalb der erwarteten Inflationsrate für 2025, die laut offiziellen Prognosen bei etwa 31 Prozent liegen dürfte. In der Folge bleibt die reale Kaufkraft vieler Beschäftigter rückläufig. Der neue Mindestlohn tritt mit Jahresbeginn 2026 in Kraft.

Scharfe Kritik von Opposition

Die Reaktionen auf die Entscheidung fielen teils heftig aus. Die DEM-Partei sprach von einem „Lohn der Armut“ und warf Regierung und Arbeitgeber:innen vor, die Lebensrealität von Millionen Beschäftigten zu ignorieren. Der Betrag reiche nicht aus, um Grundbedürfnisse wie Wohnen, Energie und Lebensmittel zu decken. „Mit dieser Zahl werden die Menschen nicht leben, sondern überleben müssen“, sagte DEM-Vorsitzender Tuncer Bakırhan. Die Partei fordert stattdessen einen Mindestlohn von mindestens 46.000 Lira monatlich. Bakırhan betonte zudem, dass der Lohn nicht unterhalb der Hungergrenze liegen dürfe, die nach Angaben unabhängiger Institute derzeit bei knapp 30.000 Lira liegt. Die Zahlen der türkischen Statistikbehörde (TÜIK) bezeichnete er als „politisch gesteuert“.

Zehn Millionen Mindestlohn-Beschäftigte

Auch die CHP äußerte scharfe Kritik. Parteivorsitzender Özgür Özel sagte, „zum ersten Mal in der Geschichte der Republik“ sei ein Mindestlohn beschlossen worden, der unterhalb der Hungergrenze liege. In einem Land, in dem für Großprojekte staatliche Einnahmegarantien vergeben würden, gebe es für Millionen Beschäftigte keine Existenzsicherung. Der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu sprach von einem „Todeslohn“ für die etwa zehn Millionen Beschäftigten im Land, die derzeit mit dem Mindestlohn leben müssten.

„Wenn das reicht, soll der Palast davon leben“

Die DEM-Abgeordnete Perihan Koca verwies darauf, dass die täglichen Ausgaben des Präsidentenpalasts bei mindestens 58 Millionen Lira liegen – mehr als das Doppelte des monatlichen Einkommens aller Mindestlohn-Beschäftigten in der gesamten Türkei. „Wenn es so einfach ist, mit dieser Summe zu überleben, dann soll es der Palast selbst versuchen“, sagte sie. Seyit Aslan, Vorsitzender der Arbeiterpartei EMEP, kritisierte den Einfluss internationaler Kapitalinteressen bei der Festlegung des Lohnniveaus. „Die Bedürfnisse der Arbeitenden spielen in dieser Entscheidung keine Rolle. Der Lohn folgt der Logik des Kapitals, nicht der sozialen Gerechtigkeit. Zudem entspricht er lediglich einem Viertel der Armutsgrenze“. Die Rolle der regierungsnahen Gewerkschaften bezeichnete Aslan als „rückgratlos“ – ihre Zustimmung sei „ein Geschenk an das Kapital“.

Unmut auch in sozialen Netzwerken

Auch in sozialen Netzwerken äußerten viele Nutzer:innen Unverständnis. Der Hashtag #AsgariÜcret (Mindestlohn) gehörte am Dienstag zu den meistverwendeten Begriffen auf X (ehemals Twitter) in der Türkei. Zahlreiche Menschen bezeichneten den Betrag als „Zumutung“ und forderten die Regierung auf, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung ernst zu nehmen.

Foto: Pixabay

https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/gewerkschaftsstudie-armut-in-der-turkei-auf-rekordhoch-48264 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/turkisches-parlament-verabschiedet-haushalt-fur-2026-49362 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/temelli-haushaltsentwurf-vertieft-soziale-und-wirtschaftliche-krise-49316 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/Ozturk-mit-Oko-Okonomie-lasst-sich-der-sozialismus-neu-organisieren-49315

 

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Die gesellschaftliche Konstruktion von Freiheit

23. Dezember 2025 - 22:00

Die Frage gesellschaftlicher Freiheit gehört zu den zentralen, zugleich jedoch zu den problematischsten Themen der modernen politischen Theorie. Innerhalb der marxistischen Tradition wird Freiheit in hohem Maße mit der Transformation der Produktionsverhältnisse und der Überwindung der Klassenherrschaft verknüpft. Diese Perspektive hat zwar einen bedeutenden theoretischen Rahmen geliefert, um die strukturelle Funktionsweise kapitalistischer Ausbeutung offenzulegen, doch zeigen historische Erfahrungen, dass Freiheit nicht automatisch durch den Wandel ökonomischer Verhältnisse entsteht.

Selbst unter veränderten Bedingungen der Klassenherrschaft können Herrschaftsverhältnisse in unterschiedlichen Formen neu reproduziert werden – was verdeutlicht, dass die Frage der Freiheit einer tiefergehenden theoretischen Auseinandersetzung bedarf.

Es liegt auf der Hand, dass gesellschaftliche Freiheit im Zusammenhang mit dem Verhältnis zum Sein sowie mit der Weise betrachtet werden muss, in der sich eine Gesellschaft selbst versteht. Mit anderen Worten: Freiheit ist kein nachträglich erreichbares politisches Gut, sondern ein Prozess, der sich innerhalb ontologischer Voraussetzungen, sozialer Beziehungen und praktischer Handlungsformen entfaltet. Wird der Mensch – ebenso wie die Gesellschaft – als statische Essenz begriffen, so wird Freiheit zwangsläufig begrenzt. Demgegenüber eröffnen Ansätze, die das Sein als relationale, prozesshafte und historisch gewordene Formation auffassen, erweiterte materielle und gesellschaftliche Bedingungen für Freiheit.

In diesem Zusammenhang darf Abdullah Öcalans Auffassung des Sozialismus als Gesellschaftlichkeit nicht als bloße Absage an den klassischen dialektischen Materialismus gelesen werden. Vielmehr ist sie als ein Versuch zu verstehen, die durch historische Erfahrungen offengelegten Grenzen dieses Ansatzes zu überwinden. Indem Öcalan Ontologie, Soziologie und Sozialismus als untrennbar miteinander verwobene Notwendigkeiten begreift, eröffnet er die Möglichkeit, Freiheit als eine Problematik gesellschaftlicher Existenz neu zu denken – jenseits einer bloßen Veränderung von Herrschaftsverhältnissen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich folgende Leitfrage formulieren: Lässt sich gesellschaftliche Freiheit allein durch die Transformation der Produktionsverhältnisse herstellen, oder sind das Seinsverständnis und die gesellschaftliche Ontologie konstitutive Bestandteile dieses Prozesses? Diese Fragestellung erlaubt es, die Stärken des klassischen marxistischen Freiheitsverständnisses anzuerkennen, zugleich jedoch die theoretischen und praktischen Blockaden sichtbar zu machen, die durch die Vernachlässigung der ontologischen Dimension entstehen.

Dementsprechend widmet sich dieser Artikel zunächst der Herangehensweise des klassischen dialektischen Materialismus an das Problem der Freiheit und beleuchtet dessen historisch-praktische Grenzen. Im Anschluss wird die Bedeutung ontologischer Fragen im Verhältnis zur Freiheit diskutiert und untersucht, inwiefern die Weise des Mensch- und Gesellschaft-Seins politische Praxis beeinflusst. In den folgenden Abschnitten wird die Notwendigkeit einer Erweiterung der klassenbasierten Analysen in einem soziologischen Rahmen behandelt, wobei Öcalans auf Gesellschaftlichkeit basierende Sozialismusauffassung an der Schnittstelle dieser theoretischen Debatten positioniert wird. Die Untersuchung schließt mit der Überlegung, wie der dialektische Materialismus durch die Integration ontologischer und gesellschaftlicher Dimensionen in einen historischeren und umfassenderen Rahmen überführt werden kann.

Klassischer dialektischer Materialismus und das Problem der Freiheit

Der dialektische Materialismus stellt einen der kraftvollsten theoretischen Rahmen der modernen Gesellschaftskritik dar. Mit Marx und Engels wurde Geschichte auf der Grundlage materieller Produktionsverhältnisse begriffen, wobei der Motor gesellschaftlicher Transformation in der Klassenauseinandersetzung verortet wurde. Diese Perspektive entzog die Freiheit ihrer moralischen oder juristischen Dimension und konzipierte sie stattdessen als ein historisches Problem, das untrennbar mit dem Wandel materieller Bedingungen verknüpft ist. Insbesondere die auf Ausbeutung der Arbeitskraft basierende Struktur der kapitalistischen Produktionsweise war zentral, um zu erklären, warum Freiheit systematisch eingeschränkt wird.

Im klassischen marxistischen Verständnis gilt Freiheit als ein historisches Resultat, das durch die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und die Aufhebung der Klassenherrschaft möglich wird. Der Staat erscheint in diesem Zusammenhang als Repressionsapparat der herrschenden Klasse, der mit dem Verschwinden der Klassen selbst obsolet werden soll. Freiheit wird innerhalb dieses Schemas als ein gesellschaftlicher Zustand gefasst, der nach der Erringung politischer Macht und der Umgestaltung der Produktionsverhältnisse eintritt.

So konsistent dieser Ansatz theoretisch erscheinen mag, so deutlich wurden seine Grenzen durch historische Erfahrungen offengelegt. Die sozialistischen Experimente des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Regionen der Welt zeigen, dass tiefgreifende Veränderungen in den Produktionsverhältnissen nicht automatisch zur Verwirklichung von Freiheit führten. Der Staatsapparat verschwand nicht, im Gegenteil: In vielen Fällen nahm er zentralistischere und stärker eingreifende Formen an, und Herrschaftsverhältnisse wurden auf neue Weise innerhalb des gesellschaftlichen Lebens reproduziert. Diese Entwicklungen legen nahe, dass Freiheit nicht auf den Wandel der ökonomischen Basis reduziert werden kann.

An dieser Stelle stößt das Freiheitsverständnis des dialektischen Materialismus auf zwei zentrale Probleme: Erstens wird Freiheit häufig zu einem Ziel, das in eine ferne Zukunft verschoben wird. Autoritäre Praktiken der Gegenwart werden als temporäre Notwendigkeiten legitimiert, während die Freiheit auf eine Phase „nach der Revolution“ vertröstet wird. Zweitens wird das menschliche Subjekt weitgehend durch seine Klassenposition definiert; alltägliche Lebenspraxen, kulturelle Beziehungen, Geschlechterverhältnisse und die Mikroformen der Machtausübung gelten als nachrangig. Dies erschwert das Verständnis dafür, wie tiefgreifend Herrschaft in das gesellschaftliche Gefüge eingewoben ist.

Dabei ist zu betonen, dass diese Grenzen nicht zwangsläufig aus der Theorie von Marx selbst resultieren. In seinen frühen Schriften tritt ein Praxisverständnis hervor, das betont, dass der Mensch nicht bloß ein Produkt materieller Bedingungen ist, sondern sich in der Auseinandersetzung mit ihnen zugleich selbst verändert. Doch in großen Teilen der marxistischen Tradition trat dieser ontologische Aspekt hinter den Fokus auf historische Determination zurück. Die Dialektik wurde vielfach auf den Bereich der Produktion verengt, Freiheit nicht als eine umfassende Frage gesellschaftlicher Existenz thematisiert.

Das zentrale Dilemma des klassischen dialektischen Materialismus in Bezug auf das Freiheitsproblem liegt folglich nicht in einer Vernachlässigung der materiellen Grundlage, sondern in ihrer zu engen Begrenzung. Die Produktionsverhältnisse bleiben zwar entscheidend. Doch wenn nicht zugleich erklärt wird, wie diese Verhältnisse über das Verständnis von Sein, über gesellschaftliche Bindungen und alltägliche Praktiken reproduziert werden, bleibt die Freiheitsfrage unvollständig. Diese Diagnose macht deutlich, dass es notwendig ist, den dialektischen Materialismus um ontologische und gesellschaftstheoretische Dimensionen zu erweitern.

Die Ontologiefrage: Seinsverständnis und Freiheitsbegriff

Die Reduktion der Freiheitsfrage auf politische oder ökonomische Ebenen zählt zu den grundlegenden Begrenzungen moderner Gesellschaftstheorie. Der klassische dialektische Materialismus bietet zwar eine kraftvolle historische Analyse, indem er die Produktionsverhältnisse ins Zentrum stellt, rückt jedoch die tieferliegenden Verhältnisse des Menschen zur Welt oftmals in den Hintergrund. Genau hier wird die Ontologie – also die Frage nach dem Sein – zu einem zentralen Feld, um die Bedingungen für das Entstehen von Freiheit besser zu verstehen.

Ontologie fragt danach, wie der Mensch in der Welt existiert. Der Mensch ist nicht bloß ein produzierendes Wesen, Träger von Arbeitskraft oder durch seine Klassenlage definiert. Er ist zugleich ein sinnstiftendes, beziehungsfähiges und sich selbst sowie seine Umwelt deutendes Wesen. In dieser Perspektive offenbart sich: Gesellschaftliche Verhältnisse sind nicht lediglich äußere Strukturen – sie werden vom Menschen verinnerlicht und in alltäglichen Praktiken immer wieder neu hervorgebracht. Ohne ein verändertes Seinsverständnis bleibt der Anspruch auf gesellschaftliche Freiheit schwer dauerhaft einzulösen.

Erhellend sind an dieser Stelle die grundlegenden Kritiken Martin Heideggers an der modernen Philosophie. Ihm zufolge reduziert das moderne Denken das Sein auf ein Objekt – es wird das Messbare, Berechenbare und Kontrollierbare zum Maßstab. Diese Haltung beschränkt die Beziehung des Menschen zur Welt auf ein technisches und instrumentelles Verhältnis. Sein verliert seinen Charakter als gelebter und geteilter Prozess und wird stattdessen zu einem verwalteten und regulierten Bereich. Ein solches Seinsverständnis normalisiert Herrschaft, anstatt sie als Ausnahmezustand kenntlich zu machen.

Diese ontologische Verengung ist nicht allein dem Kapitalismus eigen. Auch staatszentrierte sozialistische Projekte zeigen ähnliche Problematiken: Selbst wenn Produktionsmittel vergesellschaftet wurden, blieb das menschliche Dasein häufig durch Mechanismen zentraler Planung, Repräsentation und Disziplinierung definiert. Freiheit verwandelte sich dabei von einem lebendigen, in sozialen Praktiken hervorgebrachten Verhältnis in ein Ziel, das von oben reguliert wurde – und damit in eine neue Spannung zwischen Emanzipation und Macht.

Abdullah Öcalans Ansatz bringt hier die Ontologie in das Zentrum politischer Theorie. Für ihn liegt das Problem nicht ausschließlich in Eigentumsverhältnissen oder Klassenwidersprüchen. Viel entscheidender ist die Frage, wie der Mensch sich selbst und die Gesellschaft begreift. Wenn das Sein als ein fortwährendes, relationales Gefüge von Prozessen gedacht wird, dann wird auch Freiheit zu einem dynamischen, im Alltag ständig aufgebauten, in Frage gestellten und neu geschaffenen Verhältnis. In dieser Perspektive verwandelt sich Freiheit von einem auf die Zukunft projizierten Versprechen zu einer Verantwortung in der Gegenwart.

Das ontologische Verständnis, das Öcalan hier vorschlägt, nimmt zugleich kritische Distanz zu identitären oder nationalistischen Existenzformen ein. Feste Identitäten, unveränderliche Essenzen und einlinige Geschichtsnarrative erfassen das „Sein“ als etwas Starres. Eine relationale Ontologie hingegen verlangt, dass der Mensch sich über die Beziehungen zu anderen definiert – und genau darin liegt der Schlüssel zu einem Verständnis von Freiheit, das nicht als individuelles oder kollektives Eigentum gedacht wird, sondern als ein sich stetig neu formierender Prozess innerhalb des gemeinsamen Lebens.

Aus dieser Perspektive ergibt sich kein hierarchisches Verhältnis zwischen Ontologie, Soziologie und Sozialismus:

▪ Die Ontologie bietet das Fundament für soziologische Analyse,

▪ die Soziologie macht die gesellschaftlichen Erscheinungsformen ontologischer Voraussetzungen sichtbar,

▪ und der Sozialismus ist die praktische Ausrichtung, diese beiden Ebenen in Richtung Freiheit zu transformieren.

Wird der ontologische Aspekt vernachlässigt, verkommt Sozialismus zwangsläufig zu einem administrativen Modell. Genau gegen diese Reduktion richtet sich Öcalans theoretische Intervention.

Die Soziologiefrage: Die Grenzen der Klasse und die pluralen Formen gesellschaftlicher Herrschaft

Die klassische marxistische Soziologie analysiert Gesellschaft primär durch das Prisma von Klassenverhältnissen. Die Beziehung zu den Produktionsmitteln bestimmt die soziale Stellung des Individuums; Politik, Recht, Kultur und Ideologie erscheinen dabei als Überbauphänomene, die auf dieser materiellen Basis beruhen. Dieses Modell war höchst wirkungsvoll in der Aufdeckung der strukturellen Ungleichheiten kapitalistischer Gesellschaften. Doch im Hinblick auf die Erklärung aller Erscheinungsformen gesellschaftlicher Herrschaft ist es mit der Zeit an seine Grenzen gestoßen.

Obgleich die Kategorie der Klasse heute längst nicht mehr als homogen begriffen wird, bleibt sie für das Verständnis der Dynamik des modernen Kapitalismus unverzichtbar. Doch aus historisch-anthropologischer Perspektive reicht sie nicht aus, um das Ganze gesellschaftlicher Wirklichkeit zu erfassen. Denn Hierarchien, geschlechtsspezifische Ungleichheiten sowie religiöse und kulturelle Formen der Unterdrückung existierten bereits in vormodernen und nichtstaatlichen Gesellschaften. Dies legt nahe, dass Herrschaft nicht allein mit der Entstehung von Klassen einherging, sondern tiefere, ältere soziale Organisationsformen aufgreift.

Genau an diesem Punkt setzt Öcalans soziologische Intervention an. Für ihn ist die Klasse zwar eine bedeutende Form gesellschaftlicher Herrschaft, aber nicht ihre erste und grundlegende. Der Bruch, den Gesellschaften mit dem Aufkommen staatlicher Zivilisationen erfahren haben, war nicht nur ein ökonomischer Wandel. Er bedeutete zugleich eine kognitive, kulturelle und organisatorische Zäsur. Patriarchat, hierarchische Autorität, Repräsentationsverhältnisse und Zentralismus entwickelten sich vor der Klassenbildung und wurden durch diese weiter verfestigt.

Diese Perspektive erweitert das Verständnis von Soziologie über einen engen ökonomischen Bezugsrahmen hinaus. Gesellschaft wird nicht lediglich als Resultat von Produktionsverhältnissen begriffen, sondern als lebendige Struktur, die ebenso durch Werte, Normen, Gewohnheiten und alltägliche Praktiken hervorgebracht wird. Herrschaft zeigt sich daher nicht nur in der Fabrik oder in Eigentumsverhältnissen – sie wird auch in Familie, Sprache, Bildung und politischer Repräsentation beständig neu produziert. Dies macht deutlich, dass der Kampf um Freiheit nicht ausschließlich als Klassenkonflikt verstanden werden kann.

Innerhalb der marxistischen Tradition wurde diese Leerstelle auf verschiedene Weisen zu füllen versucht: Antonio Gramscis Konzept der Hegemonie, Louis Althussers Theorie der ideologischen Staatsapparate sowie später kulturell-marxistische Ansätze waren wichtige Schritte, um klassenreduktionistische Perspektiven zu überwinden. Doch oft blieben auch diese Ansätze darin verhaftet, das Modell des zentralistischen Staates oder der Partei nicht grundlegend infrage zu stellen. Gesellschaftlicher Wandel wurde weiterhin als ein von oben organisierter Prozess gedacht.

Demgegenüber stellt Öcalans soziologischer Rahmen die Gesellschaft wieder ins Zentrum. Gesellschaft ist kein passives Objekt, sondern ein Subjekt mit der Fähigkeit zur Selbstorganisation. Kommunen, Räte und lokale Strukturen sind aus dieser Perspektive nicht bloß Verwaltungseinheiten, sondern konstitutive Räume gesellschaftlicher Emanzipation. Soziologie erschöpft sich daher nicht im Analysieren von Klassenverhältnissen – sie wird zu einem Wissensfeld, das die Fähigkeit der Gesellschaft zur Selbstregierung freilegt.

Dabei wird die Kategorie der Klasse keineswegs verworfen – sie verliert jedoch ihre Rolle als alleiniger Bezugspunkt. Klassenkampf, Geschlechterkampf, ökologische Auseinandersetzungen und das Ringen um kulturelle Selbstbestimmung werden als miteinander verflochtene Prozesse begriffen. Dieses Verständnis trägt der Tatsache Rechnung, dass gesellschaftliche Herrschaft nicht monozentral organisiert ist – und verortet die Freiheitskämpfe in einer pluralen Struktur.

Diese soziologische Erweiterung widerspricht keineswegs den zentralen Intuitionen des Marxismus – im Gegenteil: Sie vertieft ihn historisch und gesellschaftlich. Die Klassenanalyse wird nicht aufgegeben, sondern innerhalb eines umfassenderen Gesellschaftsverständnisses neu positioniert. Öcalans Beitrag besteht hier darin, die Soziologie nicht nur als beschreibende Disziplin zu verstehen, sondern als integralen Bestandteil einer emanzipatorischen Praxis.

Sozialismus als Gesellschaftlichkeit: Die gesellschaftliche Konstruktion der Freiheit

In der klassischen sozialistischen Theorie wird Sozialismus über die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Überwindung der Klassenherrschaft definiert. Sozialismus gilt in diesem Rahmen als eine historische Etappe, die nach der Überwindung des Kapitalismus eintritt. Der Staat spielt in dieser Übergangsphase eine zentrale Rolle – Planung, Verteilung und Koordination der Produktion erfolgen über staatliche Strukturen. Die Befreiung der Gesellschaft wird weitgehend an den Erfolg dieses zentralistischen Umgestaltungsprozesses gebunden.

Obwohl dieser Ansatz eine kraftvolle Alternative zu den destruktiven Auswirkungen des Kapitalismus entwarf, hat er im Verlauf der Zeit seine eigenen Begrenzungen hervorgebracht. Sozialismus wurde zunehmend nicht mehr als lebendige Neugestaltung gesellschaftlicher Beziehungen, sondern als ökonomisch-administratives Modell verstanden. Die Gesellschaft verlor ihren Status als aktives Subjekt und wurde zu einem Objekt, über das entschieden wurde. Damit geriet Freiheit aus dem Blick als eine gesellschaftlich hervorgebrachte Qualität – und wurde zu einem verwalteten, technokratischen Anliegen.

An genau diesem Punkt setzt Abdullah Öcalans Verständnis von Sozialismus an und markiert einen grundlegenden Bruch mit diesem Erbe. Für ihn bedeutet Sozialismus vor allem die Freilegung der Fähigkeit der Gesellschaft zur Selbstorganisation und zur kollektiven Entscheidungsfindung. Sozialismus ist aus seiner Perspektive kein bloßes Wirtschaftssystem oder eine bestimmte Staatsform, sondern eine Lebensweise. Der Begriff Gesellschaftlichkeit wird in diesem Zusammenhang zentral. Sozialismus erscheint hier als die Praxis, mit der sich die Gesellschaft selbst neu hervorbringt.

In dieser Perspektive tritt Freiheit nicht automatisch mit dem Rückzug zentraler Machtinstanzen ein. Vielmehr konkretisiert sie sich in Kommunen, Versammlungen und alltäglichen Formen gesellschaftlicher Organisation. Ökonomie, Politik und Kultur können nur dann befreiend wirken, wenn sie durch die direkte Teilhabe der Gesellschaft getragen werden. Gesellschaftlichkeit ist dabei nicht mit einem kollektivistischen Konzept gleichzusetzen, das das Individuum ausblendet, sondern meint eine Beziehungspraxis, in der das Individuum durch seine sozialen Bindungen überhaupt erst an Stärke gewinnt.

Öcalans Sozialismusverständnis beruht nicht allein auf einer Kritik vergangener staatszentrierter sozialistischer Modelle. Seine Perspektive ist auch ontologisch und soziologisch fundiert: Wenn der Mensch als ein relationales Wesen begriffen wird, dann kann auch Freiheit nur in Beziehungen entstehen – sie lässt sich nicht von einem Zentrum aus verteilen. Wo gesellschaftliche Organisationsformen keine Freiheit hervorbringen, genügt auch eine Transformation der Eigentumsverhältnisse nicht.

Dieses Konzept von Gesellschaftlichkeit entwertet den Klassenkampf nicht, sondern bettet ihn in ein erweitertes Feld gesellschaftlicher Kämpfe ein. Die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, geschlechtsspezifische Ungleichheiten, ökologische Krisen und kulturelle Unterdrückung werden als verschiedene Ausdrucksformen ein und derselben gesellschaftlichen Krise verstanden. Sozialismus beansprucht, auf jede dieser Krisen eine kollektive, gesellschaftlich fundierte Antwort zu entwickeln.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Sozialismus ist bei Öcalan kein Ziel, das mit der Eroberung staatlicher Macht erreicht wird. Er ist ein Prozess, in dem sich die Gesellschaft selbst neu formiert. Dieser Prozess erfordert ein ständiges Handeln, ein praktisches In-der-Welt-Sein. Gesellschaftlichkeit begreift Freiheit nicht als einen Endzustand, sondern als gelebte Erfahrung. In dieser Hinsicht bietet Öcalans Sozialismus eine Perspektive gesellschaftlicher Befreiung, die über die staats- und machtzentrierte Vorstellung der klassischen Linken hinausgeht.

Die Aktualisierung des dialektischen Materialismus: Prozess, Relationalität und Subjekt

Der dialektische Materialismus ist eine wirkungsmächtige Denkform, die gesellschaftlichen Wandel über das Prinzip des Widerspruchs begreift. Die wechselseitige Beeinflussung von materiellen Bedingungen und gesellschaftlichem Bewusstsein bildet das zentrale Axiom dieses Ansatzes. Doch diese Perspektive wurde im Laufe ihrer theoretischen Entwicklung häufig auf den Bereich der Produktion begrenzt. Dialektik wurde mit den Bewegungsgesetzen der ökonomischen Basis gleichgesetzt. Diese Verengung ist nicht dem dialektischen Denken an sich anzulasten, sondern vielmehr Ergebnis einer spezifischen historischen Interpretation.

Öcalans theoretische Intervention zwingt dazu, Dialektik wieder als ein Denken in Prozessen und Beziehungen zu begreifen. Gesellschaftlicher Wandel kann nicht ausschließlich durch die Auflösung klassengebundener Gegensätze verstanden werden. Er vollzieht sich ebenso in der Transformation der Beziehungen, die der Mensch zu sich selbst, zur Gemeinschaft und zur Natur unterhält. In diesem erweiterten Verständnis wird Dialektik nicht mehr als stufenweise Abfolge historischer Phasen gedacht, sondern als ein fortlaufender, offener Prozess des Werdens.

Im klassischen dialektischen Materialismus wird das Subjekt zumeist als Träger historischer Notwendigkeit verstanden. Die Klasse erscheint dabei als kollektiver Hauptakteur auf der historischen Bühne. Diese Perspektive hebt zwar die Bedeutung kollektiven Handelns hervor, bleibt jedoch hinsichtlich individueller und kollektiver Subjektivierungsprozesse in einem engen Rahmen. Öcalans Ansatz definiert das Subjekt nicht allein über seine Klassenposition. Vielmehr begreift er es als ein in der Praxis entstehendes und sich ständig wandelndes Sein.

Diese Erweiterung bedeutet keine Abwertung materieller Realität – im Gegenteil: Sie zielt auf eine Ausweitung des Verständnisses dessen, was als materiell gilt. Die ökonomischen Produktionsverhältnisse bleiben ein zentraler Aspekt gesellschaftlicher Realität, stellen aber nicht deren einzige Dimension dar. Sprache, Kultur, Geschlechterverhältnisse, ökologische Beziehungen und politische Partizipationsformen werden ebenfalls als Teil des materiellen Gefüges verstanden. So wird Dialektik in die Lage versetzt, nicht nur die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit zu analysieren, sondern auch die vielschichtigen Konfliktlinien gesellschaftlicher Existenz zu erfassen.

Die hier vorgeschlagene Aktualisierung des dialektischen Materialismus bedeutet keine Hinwendung zum Idealismus. Vielmehr geht es darum, über abstrakte Idealisierungen hinaus die konkrete, vielschichtige Struktur gesellschaftlichen Lebens zu erfassen. Materielle Realität ist nicht auf das Messbare oder Zählbare beschränkt – auch gesellschaftliche Beziehungen, Gewohnheiten und Formen des Zusammenlebens haben materielle Qualität. Diese Einsicht vertieft die gesellschaftliche Reichweite des dialektischen Denkens.

In Öcalans Konzeption wird Dialektik von einer Strategie zur Machteroberung zu einer Methode des Verstehens der permanenten Selbstproduktion der Gesellschaft. Der Widerspruch ist nicht primär ein zu beseitigendes Hindernis, sondern ein dynamisches Potenzial für Transformation. Revolution erscheint damit nicht mehr als punktueller Akt des Bruchs, sondern als langfristiger Prozess gesellschaftlicher Selbstgestaltung. Zusammenfassend lässt sich sagen: Diese Aktualisierung hebt den dialektischen Materialismus nicht auf, sondern arbeitet ihn angesichts historischer Erfahrungen und theoretischer Notwendigkeiten weiter aus. Öcalans Beitrag besteht darin, die Dialektik aus ihrem staats-, partei- und klassenzentrierten Rahmen zu lösen und sie in eine lebensweltlich und gesellschaftlich orientierte Denkweise zu transformieren. In dieser Neufassung wird Freiheit nicht länger als fernes Ziel behandelt – sie wird zu einer Praxis im Hier und Jetzt.

Die konstitutive Verbindung von Ontologie, Gesellschaft und Freiheit

Dieser Text hat die Freiheitsfrage anhand der untrennbaren Verknüpfung von Ontologie, Soziologie und Sozialismus neu in den Blick genommen. Die zentrale These lautet: Gesellschaftliche Freiheit kann nicht allein durch die Transformation von Produktionsverhältnissen verwirklicht werden. Solange sich nicht auch das Seinsverständnis des Menschen, seine sozialen Bindungen und seine Formen der Subjektivierung grundlegend verändern, wird Befreiung keine nachhaltige Realität. Ziel der Analyse war es, nicht die grundlegenden Einsichten der klassischen Linken zu verwerfen, sondern jene blinden Flecken sichtbar zu machen, die ihre theoretischen Begrenzungen ausmachen.

Der klassische dialektische Materialismus bleibt ein kraftvolles Instrument zur Analyse kapitalistischer Ausbeutung und sozialer Ungleichheit. Seine Tendenz jedoch, Freiheit als ein in die Zukunft verschobenes Ziel zu begreifen, schafft eine strukturelle Distanz zur gesellschaftlichen Praxis. Die staatlich zentrierten sozialistischen Erfahrungen zeigen deutlich, dass diese Distanz nicht nur ein theoretisches Problem war – sie hatte auch historische Konsequenzen. Wo sich die gesellschaftlichen Beziehungen nicht gleichzeitig mit den ökonomischen wandelten, entstanden neue Formen von Herrschaft.

Vor diesem Hintergrund wurde der ontologische Aspekt in das Zentrum der Analyse gerückt. Der Mensch existiert in der Welt nicht nur innerhalb ökonomischer Strukturen, sondern durch Bedeutungen, Beziehungen und Praktiken. Sein ist kein statischer Zustand, sondern ein Prozess des ständigen Werdens. In diesem Sinne wird auch Freiheit nicht als abgeschlossener Zustand verstanden, sondern als ein soziales Verhältnis, das in kollektiven Lebenszusammenhängen fortwährend hervorgebracht wird. Ontologie verliert damit ihren Charakter als abstrakte Disziplin politischer Theorie und wird zu einem materiellen Fundament der Freiheit.

Die soziologische Diskussion hat gleichzeitig gezeigt, dass die Klassenanalyse unverzichtbar bleibt, gesellschaftliche Herrschaft jedoch nicht auf einen einzigen strukturellen Widerspruch reduziert werden kann. Patriarchale Muster, kulturelle Hierarchien, Zentralismus und Repräsentationsverhältnisse sind historisch mit der Klassengesellschaft verwoben, gehen ihr zum Teil aber auch voraus. Die Befreiung der Gesellschaft erfordert die Auseinandersetzung mit all diesen Formen von Herrschaft. Soziologie wird dadurch nicht nur zu einem analytischen Instrument, sondern zu einem konstitutiven Bestandteil emanzipatorischer Praxis.

Öcalans Verständnis von Sozialismus bringt diese ontologische und soziologische Erweiterung in dem Begriff der Gesellschaftlichkeit zusammen. Sozialismus wird nicht länger als Projekt zur Eroberung staatlicher Macht verstanden, sondern als Freisetzung der kollektiven Fähigkeit der Gesellschaft zur Selbstorganisation. Kommunen, Räte und lokale Strukturen sind in diesem Verständnis keine bloßen Verwaltungseinheiten, sondern Orte, an denen Freiheit konkret hervorgebracht wird. Die Gesellschaft erscheint nicht länger als passives Objekt, sondern als aktive Trägerin ihrer eigenen Befreiung.

Dieser Ansatz zieht notwendigerweise auch Kritik auf sich. Der häufigste Einwand lautet, dass er den Klassenkampf in den Hintergrund dränge. Doch das Ziel besteht hier nicht darin, die Kategorie Klasse zu verwerfen, sondern sie aus ihrer privilegierten Stellung als einzige Erklärungskategorie zu lösen. Der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital bleibt ein zentrales Merkmal des modernen Kapitalismus, aber ohne die Berücksichtigung vormoderner Macht- und Herrschaftsstrukturen lässt sich gesellschaftliche Dominanz nicht vollständig erfassen.

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft den angeblichen Bruch mit dem Marxismus: Die Betonung von Ontologie und Gesellschaft werde als Annäherung an idealistische Denktraditionen gelesen. Doch hier wird die materielle Realität nicht etwa verworfen – sie wird vielmehr breiter verstanden. Gesellschaftliche Beziehungen, alltägliche Praktiken, Organisationsformen und kollektive Lebensweisen sind ebenfalls Teil der materiellen Welt. Diese Perspektive zielt darauf, den oft übersehenen ontologischen Kern des Marxismus wieder sichtbar zu machen.

Auch die Kritik an einer vermeintlich unklaren Haltung zur Machtfrage ist ernst zu nehmen. Der Fokus auf Gesellschaftlichkeit wird bisweilen so interpretiert, als würde er die Problematik zentraler Machtstrukturen verharmlosen. Doch diese Kritik verengt Macht auf das staatliche Gewaltmonopol. In modernen Gesellschaften ist Macht jedoch in vielfältige gesellschaftliche Bereiche diffundiert. Die bloße Übernahme des Staates löst diese dezentralen Herrschaftsformen nicht auf. Gesellschaftlichkeit macht Macht nicht unsichtbar – im Gegenteil: Sie macht sie auf lokaler und pluraler Ebene sichtbar.

Ein letzter Einwand richtet sich auf die praktische Umsetzbarkeit dieses Ansatzes. Gerade unter Bedingungen von Krise, Krieg und Autoritarismus wird bezweifelt, ob gesellschaftszentrierte Modelle nachhaltig realisierbar sind. Doch diese Kritik reflektiert weniger Schwächen der Theorie als vielmehr die Grenzen bestehender Machtverhältnisse. Historische Erfahrungen zeigen, dass Formen gesellschaftlicher Selbstorganisierung selbst unter widrigsten Bedingungen entstehen können – die Praxis in Rojava ist dafür ein eindrückliches Beispiel.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Diese Untersuchung hat aufgezeigt, dass eindimensionale Erklärungsansätze dem komplexen Charakter gesellschaftlicher Freiheit nicht gerecht werden. Wenn Ontologie, Soziologie und Sozialismus gemeinsam gedacht werden, verwandelt sich Freiheit von einem abstrakten Ideal oder verschobenen Versprechen in eine gelebte gesellschaftliche Praxis. Der Beitrag Abdullah Öcalans liegt in dem Versuch, genau diese Ganzheitlichkeit wiederherzustellen – und liefert damit einen bedeutenden Vorschlag für eine theoretische Erneuerung zeitgenössischen linken Denkens.

Sinan Cûdî ist Journalist und lebt und arbeitet in Rojava. 

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