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Aktualisiert: vor 1 Stunde 15 Minuten

Schottisches Parlament befasst sich mit Friedensprozess in der Türkei

19. Dezember 2025 - 15:00

Der schottische Abgeordnete Bill Kidd hat eine parlamentarische Initiative eingebracht, um den Friedensprozess zwischen der kurdischen Bewegung und dem türkischen Staat im schottischen Parlament zu thematisieren. Ziel sei es, eine politische Haltung Schottlands zur Unterstützung des Prozesses zu formulieren, so Kidd.

Mit dem Vorstoß wird der Friedensprozess erneut zum Thema auf parlamentarischer Ebene im Vereinigten Königreich. Zuvor hatte bereits das walisische Parlament eine Stellungnahme veröffentlicht, in der die Entwicklungen in der Türkei als „historische Chance“ für eine politische Lösung gewürdigt wurden.

Kidd, Abgeordneter der linksliberalen Scottish National Party (SNP), forderte in seinem Antrag eine aktive Befassung mit den Friedensbemühungen. In dem Papier verweist er auf zentrale Schritte wie die von der PKK ausgerufene Waffenruhe, deren Bereitschaft zur Entwaffnung sowie eine politische Transformation der Bewegung. Diese Entwicklungen sollten als Elemente eines umfassenden Friedensprozesses anerkannt werden, so Kidd.

Hinweis auf parlamentarische Kontrollmechanismen in der Türkei

In der Begründung seines Antrags verweist Kidd auch auf die im türkischen Parlament eingerichtete „Kommission für nationale Solidarität, Geschwisterlichkeit und Demokratie“, die Vorschläge für eine Lösung der kurdischen Frage und den Prozess der Entwaffnung sowie eine politische Übergangsphase erarbeiten soll. Der SNP-Abgeordnete betonte, dass eine solche parlamentarische Einbindung ein wichtiges Signal für eine demokratisch legitimierte Konfliktlösung sei.

Darüber hinaus lenkt Kidd die Aufmerksamkeit auf mögliche verfassungsrechtliche Reformen in der Türkei. Diese könnten künftig auch kulturelle, sprachliche und administrative Rechte der kurdischen Bevölkerung umfassen. Eine solche Öffnung sei eine zentrale Erwartung innerhalb der kurdischen Gesellschaft und könne langfristig zur Stabilisierung beitragen.

Schottisches Parlament soll Friedensprozess politisch einordnen

Mit der eingereichten Initiative wird das schottische Parlament aufgefordert, den Friedensprozess zwischen der kurdischen Bewegung und dem türkischen Staat auf parlamentarischer Ebene zu beraten. Dabei soll der Fokus auf die eingeleiteten Schritte zur Waffenruhe, zur Entwaffnung und auf die Mechanismen im türkischen Parlament gelegt werden. Die offizielle Debatte über die Initiative im schottischen Parlament wird in den kommenden Tagen erwartet. Ziel ist eine Stellungnahme des Parlaments zur politischen Unterstützung des laufenden Friedensprozesses in der Türkei.

Foto: Schottisches Parlament, Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0

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Fest des Lichts: Ezid:innen feiern Îda Êzî

19. Dezember 2025 - 15:00

Mit Îda Êzî oder Cejna Êzî begehen Ezid:innen weltweit ihren höchsten religiösen Feiertag. Gefeiert wird er am dritten Freitag im Dezember – und markiert zugleich das Ende einer dreiwöchigen Fasten- und Festzeit, die sich an der Wintersonnenwende orientiert.

Im Mittelpunkt steht dabei die Sonne als sichtbares Symbol göttlicher Gegenwart. Während der dunklen Tage rund um die Sonnenwende hoffen die Gläubigen auf die bald wiederkehrende Kraft des Lichts – und damit auf die Rückkehr von Leben, Wärme und göttlichem Segen.

Die Feierlichkeiten schließen eine dreitägige Fastenzeit zu Ehren Gottes ab, die für alle Ezid:innen – mit Ausnahme von Kindern und Kranken – verpflichtend ist. Während der „Rojiyên Êzî“ wird von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang auf Nahrung und Getränke verzichtet. Zuvor hatten bereits zwei weitere Festwochen stattgefunden: eine zu Ehren des Sonnenengels Şêşims, die andere zur Würdigung familiärer Schutzpatrone (Îda Xwedan).

Îda Êzî hebt sich von den vorherigen Festen durch seinen gemeinschaftlichen Charakter ab. Während die früheren Feiern meist im Familienkreis stattfinden, kommen zum Abschlussfest ganze Gemeinden zusammen, etwa im ezidischen Gemeindehaus „Mala Êzdîyan“. Nach religiösen Zeremonien, Segenssprüchen und Textvorträgen wird gemeinsam gegessen, getanzt und gefeiert.

Auch Besuche auf Friedhöfen zur Ehrung der Verstorbenen gehören vielerorts zur Tradition – teils in Begleitung religiöser Autoritäten. Mit dem Gruß „Îda Êzî li we pîroz be!“ wünschen sich Ezid:innen ein gesegnetes, friedliches und gesundes Fest.

https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/die-ezid-innen-und-das-ezidentum-41800 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/ferman-gedenken-drei-minuten-stillstand-in-Sengal-47370 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/Sengal-organisiert-kommunale-selbstverwaltung-neu-49068

 

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Gewaltfälle in Amed: Kommunen setzen auf Prävention und Selbsthilfe

19. Dezember 2025 - 15:00

In der nordkurdischen Provinz Amed (tr. Diyarbakır haben im Jahr 2025 insgesamt 971 Frauen kommunale Anlaufstellen wegen erlittener Gewalt aufgesucht. Die Anlaufstellen, die von DEM-geführten Kommunen eingerichtet wurden, sind damit für viele Betroffene zur ersten Adresse bei häuslicher oder struktureller Gewalt geworden.

Die häufigsten Formen der gemeldeten Gewalt waren psychischer, ökonomischer und physischer Natur. Allein im Bezirk Payas (auch Peyas / Kayapınar) dokumentierten die Behörden zwischen Januar und November 117 Gewaltfälle – Tendenz steigend.

Mehr Prävention, mehr Beratung, mehr Präsenz

Die Kommunen wollen ihre Angebote im Jahr 2026 deutlich ausweiten. Geplant sind zusätzliche Frauenzentren, eine intensivere Arbeit in Stadtvierteln und ländlichen Regionen sowie mehr Aufklärung im öffentlichen Raum. Bereits 2025 erreichten die mobilen Teams rund 8.900 Frauen durch direkte Ansprache in Nachbarschaften, Parks oder bei Veranstaltungen.

 


Ziel der Aktivitäten ist es laut Verantwortlichen nicht nur, Gewalt sichtbar zu machen, sondern betroffene Frauen zu stärken und in lokale Unterstützungsnetzwerke einzubinden. „Unsere Arbeit beginnt nicht erst mit der Gewalterfahrung“, sagt Ebru Demir vom Gewaltpräventionsteam der Stadtverwaltung Payas. „Wir wollen Frauen frühzeitig erreichen und gemeinsam mit ihnen Strukturen aufbauen, in denen sie sich gegenseitig stützen können.“

Frauen benennen Gewalt heute klarer

Demir berichtet von einer gestiegenen Sensibilität im Umgang mit Gewalt. „Viele Frauen können heute genau benennen, was sie erleben – etwa psychische oder ökonomische Gewalt“, so die Sozialarbeiterin. Diese Bewusstwerdung sei eine wichtige Grundlage für langfristige Veränderungen. Auch Fragen wie Scheidung, Sorgerecht, Vermögensaufteilung oder Schutz vor Übergriffen spielen in den Beratungen eine zentrale Rolle.

Fokus auf ökonomische Selbstständigkeit und Kooperativen

Neben rechtlicher Unterstützung rückt auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit in den Mittelpunkt der Arbeit. „Viele Frauen sind von Armut betroffen und das erschwert nicht nur den Alltag, sondern auch den Weg aus der Gewaltspirale“, sagt Demir. In Kooperation mit lokalen Kurszentren wollen die Gemeinden Frauen verstärkt in gemeinschaftliche Produktionsgruppen einbinden.

Besonders die Idee der Kooperative wird dabei als zukunftsweisend betrachtet. „Wenn Frauen gemeinsam arbeiten und verdienen, entstehen nicht nur ökonomische Perspektiven, sondern auch Räume für Solidarität und Selbstbestimmung“, erklärt Demir. Die Bekämpfung von Gewalt, wirtschaftliche Teilhabe und Bildung müssten zusammengedacht werden.

Bedarfsgerechte Modelle statt zentraler Vorgaben

Für 2026 sind laut Demir neue Projekte in Vorbereitung, die sich stärker an den konkreten Lebensrealitäten der Frauen orientieren sollen. Anstatt zentral verordneter Programme setzen die Kommunen auf partizipative Prozesse. „Wir entwickeln unsere Angebote nicht über die Köpfe der Frauen hinweg – sie sagen uns, was gebraucht wird“, so Demir. Der Aufbau solidarischer, von den Frauen selbst gestalteter Strukturen sei der zentrale Baustein dieser Arbeit. „Es gibt Alternativen zu zentralstaatlichen Modellen und wir haben sie bereits erprobt. Jetzt wollen wir sie auf weitere Stadtteile ausweiten.“

https://deutsch.anf-news.com/frauen/dem-kommunen-verabschieden-haltungspapier-gegen-geschlechtsspezifische-gewalt-48740 https://deutsch.anf-news.com/frauen/payas-startet-aktionsplan-gegen-feminizide-47458 https://deutsch.anf-news.com/frauen/erklarung-der-kurdischen-frauenbewegung-zum-25-november-48661 https://deutsch.anf-news.com/frauen/amed-plant-modellprojekt-als-frauenstadt-48722

 

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Wan: Mitglied der DEM-Jugend entführt und gefoltert

19. Dezember 2025 - 15:00

Im Stadtzentrum von Wan (tr. Van) ereignete sich in der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember ein brutaler Überfall auf Enes Sezgin, Mitglied des Jugendrats der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM). Der junge Mann ist von sieben Maskierten entführt und misshandelt worden. Schließlich haben ihn die Täter unter Drohungen in einem verlassenen Gebiet wieder freigelassen.

Brutaler Einschüchterungsversuch

Übereinstimmenden Medienberichten zufolge ist der Jugendliche nachts überfallen und in einem Transporter aus der Stadt gebracht worden. Enes Sezgin gab an, dass er während der Entführung sowohl in dem Fahrzeug als auch in verlassenen Gebieten außerhalb der Stadt gefoltert und mit Morddrohungen und sexistischen Beleidigungen konfrontiert wurde. Die Täter wollten ihn offenbar zwingen, die Stadt zu verlassen. Sezgin betonte, dass er Wan nicht verlassen werde, und rief junge Menschen dazu auf, sich zu organisieren.

„Diese Gruppen sind es, die der Freiheit des kurdischen Volkes im Wege stehen und ihm Verleugnung und Vernichtung auferlegen. Egal, wer sich uns in den Weg stellt, wir werden darauf bestehen, unsere Organisation aufrechtzuerhalten. Wenn sie es mit dem Friedensprozess ernst meinen, müssen sie dieser Gruppe ein Ende setzen. Demokratische Integration kann nicht durch Faschismus erreicht werden“, sagte der junge Mann.

Erinnerungen an die 1990er Jahre

Nach dem Vorfall veranstalteten Mitglieder des Jugendrats der DEM-Partei und Vertreter:innen der Partei der demokratischen Regionen (DBP) eine Protestaktion im Stadtzentrum. In ihrer Presseerklärung vom Donnerstag wurde darauf hingewiesen, dass der Fall von Enes Sezgin an die Entführungs- und Foltervorfälle der Konter-Guerilla in den 1990er Jahren erinnerten, und gefordert, die Täter zu entlarven.

Adem Yılmaz von der DEM-Jugend verlas die Erklärung, in der es hieß: „Wir erklären, dass wir unseren Kampf gegen Banden und Gegenstrukturen intensivieren und allen Völkern den Prozess für Frieden und eine demokratische Gesellschaft näherbringen werden. Wir sind entschlossen, diese Politik des Drucks und der Gewalt gemeinsam mit unserem Volk zu vereiteln, indem wir uns stark organisieren und den Kampf gegen die Mentalität der Entführungen und Morddrohungen, die in letzter Zeit in Wan vorherrschte, intensivieren.“ Die Protestaktion endete mit Parolen.

https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/ein-krieg-gegen-das-bewusstsein-perspektiven-auf-den-turkischen-spezialkrieg-in-kurdistan-49272 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/dem-jugend-startet-marsch-von-amed-nach-amara-45783

 

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19. Dezember 1978 – Der Beginn des Pogroms von Gurgum

19. Dezember 2025 - 13:00

Am 19. Dezember 1978 sollte im Çiçek-Kino in Gurgum (tr. Maraş) der Film Zeynel und Veysel vorgeführt werden. Kurz zuvor wurde dieser jedoch „auf Wunsch“ ausgetauscht, und stattdessen lief das extrem nationalistische Machwerk Wann geht die Sonne auf?. Der antikommunistische Film glorifizierte auf türkisch-nationalistische Weise den „Kampf der Türken“ auf der Krim gegen Russland. Während der Vorführung in der damals als links geltenden Hochburg Gurgum detonierte eine Schockgranate – sie verletzte niemanden, diente jedoch als Vorwand und Auftakt für ein Massaker an Hunderten kurdisch-alevitischen Männern, Frauen und Kindern.

Schritt für Schritt zum Massaker

Bereits vor 1978 hatte es in der Türkei bedeutsame politische Entwicklungen gegeben. Nach dem Wahlsieg der CHP unter Bülent Ecevit im Jahr 1977 ging die geschwächte nationalistische Rechte zunehmend zum Angriff über. Die erste alarmierende Nachricht kam aus Erzîrom (Erzurum): Der Dozent Dr. Orhan Yavuz wurde von rechten Kräften entführt, mit acht Messerstichen schwer verletzt und in einem Waldstück zum Sterben zurückgelassen. Kaum war diese Nachricht verklungen, wurden ein Jugendlicher beim Plakatieren in Ankara und der Vorsitzende des Volkshauses von Fatsa ermordet. Kurz darauf starben fünf weitere Linke bei einem Gefecht in Ankara. Die Zahl der Todesopfer stieg täglich. Die Schlagzeilen der Zeitungen kündeten Tag für Tag von neuen Toten, die Unruhe nahm zu. In Ankara wurden drei Cafés, in Kilis ein Lehrerlokal beschossen; bei einem Bombenanschlag an der Universität Istanbul wurden 44 Studierende schwer verletzt.

„Für Allah in den Krieg“

Die „nicht endende Wut“ der nationalistischen Jugend wurde durch den damaligen MHP-Vorsitzenden Alparslan Türkeş weiter angeheizt. Er verkündete: „Diese Regierung wird mit Sicherheit verschwinden, das ist erst die Warnung“ – und bereitete so den kommenden Massakern ideologisch den Weg. Das Morden ging weiter: Sieben Menschen wurden in Ankara durch Kugeln hingerichtet aufgefunden, ein Bus der Stadtverwaltung von Ankara beschossen – zwei Menschen starben, über zwanzig wurden verletzt. Ständig wurden Paketbomben an Bürgermeister:innen, Gouverneure und andere Funktionsträger:innen verschickt. Ziel dieser Eskalation war es, die Grundlage für ein Militärregime zu schaffen. Der beste Weg dahin: das Land in einen Bürgerkrieg zu treiben.

Rechte Kreise, die den Putsch vorbereiteten, versuchten insbesondere, in Städten wie Xarpêt (Elazığ), Ezirgan (Erzincan), Gurgum und Meletî (Malatya) Sunnit:innen gegen Alevit:innen aufzuwiegeln. Dabei wurden Alevit:innen als „links“ und Sunnit:innen als „rechts“ codiert. In den kurdischen Provinzen herrschte systematische Assimilation. Der Staat hatte gezielt die Demografie verändert und sich insbesondere über sunnitische Strukturen organisiert. Das legte den Grundstein für den kurdisch-türkischen Konflikt. Die Behauptung, man sei Kurde, wurde als Verstoß gegen den Islam unterdrückt. Kurdische Sunnit:innen in Großstädten wurden so turkisiert und gegen Alevit:innen instrumentalisiert.

Die Bombe vom 19. Dezember

Die nationalistische Rechte setzte alles daran, die Regierung zu stürzen und einen Militärputsch zu ermöglichen. Offenbar reichten die täglichen Todesmeldungen nicht mehr – ein größeres Massaker wurde vorbereitet.

Am 19. Dezember wurde in letzter Minute, trotz vorheriger Ankündigung, der geplante Film durch den Hetzfilm Wann geht die Sonne auf? ersetzt. Die nationalistische Jugend besuchte geschlossen die Vorführung als eine Schockgranate explodierte. Die Zuschauer:innen rannten panisch hinaus, riefen: „Die Linken haben das Kino bombardiert!“ Die Nachricht verbreitete sich rasend schnell.

Unter dem islamistischen Schlachtruf „Tekbir“ und Parolen wie „Wir wollen keine Aleviten“ formierte sich eine aufgebrachte Menge. Der nationalistische Jugendverein (ÜGD) brachte gezielt Faschisten aus den umliegenden Orten in die Stadt. Sie riefen: „Auch wenn unser Blut fließt – der Sieg gehört dem Islam!“ und griffen das CHP-Gebäude an.

Angeführt wurde der Angriff vom Vorsitzenden der ÜGD-Maraş, Mehmet Leblebici, und seinem Stellvertreter Mustafa Kanlıdere. Die Bombe im Kino wurde von Ökkeş Kenger gelegt – alle genannten Namen sollten später politische Karrieren machen.

Parole: „Tötet die Aleviten“

Wer glaubte, es handle sich um einen spontanen Aufstand, irrte. Die Planer hatten bewusst ein Massaker angeordnet, das in die Geschichte eingehen sollte. Am Abend des 20. Dezember explodierte eine weitere Bombe – diesmal in einem alevitischen Café. Dutzende Menschen wurden verletzt, viele trauten sich aus Angst nicht ins Krankenhaus. Am 21. Dezember wurden zwei alevitische Lehrer ermordet.

Die Situation eskalierte bei ihrer Beerdigung: Mustafa Yıldız, Imam der Bağlarbaşı-Moschee, in der die Leichen aufgebahrt wurden, rief in seiner Predigt: „Mit Fasten und Beten wird man nicht zum Hadschi. Jeder, der einen Aleviten tötet, erlangt so viel Gnade Gottes, als wäre er fünfmal zur Hadsch gegangen. Alle meine Glaubensbrüder müssen gegen die Regierung, die Kommunisten und die Ungläubigen aufstehen; wir werden unsere Umgebung von Aleviten und CHP-Atheisten säubern.“

Anschließend zog die Menge unter der Parole „Aleviten beten nicht“ los und griff die Trauergäste an. Der Mob verwüstete alevitische Geschäfte. An diesem Tag starben drei weitere Menschen.

Das große Massaker beginnt

Am nächsten Tag marschierten bewaffnete Faschisten durch die Straßen und behaupteten, die Alevit:innen planten einen Angriff. Die sunnitische Bevölkerung wurde zur Bewaffnung aufgerufen und mit Waffen versorgt.

Dann begann das Massaker: Die Faschisten attackierten wahllos Menschen, die sie für „kommunistisch, links, alevitisch, ungläubig oder gottlos“ hielten. Sie plünderten, brannten, mordeten. Die Polizei hielt sich an die zuvor verkündete Ausgangssperre. Militärische Hilfe aus Ankara blieb aus – niemand außer den herangekarrten Faschisten betrat die Stadt.

Die Angreifer stürmten systematisch alevitische Viertel wie Yenimahalle, Serintepe, Mağaralı, Karamaraş, Yörükselim und weitere. Häuser wurden mit Kreuzen markiert, dann beschossen, bombardiert, in Brand gesetzt. Verletzte erhielten keine Hilfe, starben vor Ort. Wer versuchte, ein Krankenhaus zu erreichen, wurde erschossen. Frauen, Kinder, Alte, Kranke – alle wurden getötet. Die Rechten warteten nur noch auf den Putsch.

Offiziell starben 111 Menschen beim Massaker von Gurgum. Inoffizielle Quellen gehen von bis zu 500 Opfern aus. Über 200 Häuser und etwa 70 Geschäfte wurden zerstört. Am 26. Dezember lebten keine einzigen Angehörigen der alevitischen Gemeinschaft mehr in Gurgum – die Überlebenden waren geflohen. Die türkischen Medien stellten das Geschehen als Auseinandersetzung zwischen Rechten und Linken dar. Rassistische Berichterstattung verleugnete den pogromartigen Charakter des Massakers. Auch internationale Medien griffen dies auf und beschrieben es im Kontext eines „Durcheinanders“ im Nahen Osten.

Was hat der Staat verborgen?

Das Massaker von Gurgum gilt als entscheidender Auslöser für den Militärputsch vom 12. September 1980. Nach dem Pogrom wurden der Notstand ausgerufen und über 13 Städte Ausgangssperren verhängt. Doch die MHP zeigte sich weiterhin unzufrieden – das politische Klima entsprach nicht ihren Vorstellungen. Der Prozess um das Pogrom von Gurgum zog sich bis 1991. Über 800 Personen standen vor Gericht. Einer der prominentesten Angeklagten war Ökkeş Kenger (später: Şendiller) – er wurde freigesprochen. 1991 zog er als Abgeordneter der islamistischen Refah-Partei ins Parlament ein. In Erinnerung bleibt er als Auslöser des Massakers und als Auftragsmörder. Auch seine Weggefährten gelangten in Machtpositionen: Ünal Osmanağaoğlu, Haluk Kırcı, Bünyamin Adanalı, Ahmet Ercüment Gedikli – sie alle waren in Gurgum, doch ihre Verfahren wurden 1991 im Rahmen des Antiterrorgesetzes eingestellt. Nur zwei Jahre später, am 2. Juli 1993, wurde in Sivas (kurdisch: Sêwas) ein Massaker an alevitischen Intellektuellen und Künstler:innen verübt. Die Geschichte zeigt: Hätte man das Pogrom von Gurgum wirklich aufgearbeitet, wäre Sivas vielleicht verhindert worden.

https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/2-juli-1993-brandanschlag-auf-das-madimak-hotel-in-sivas-46906 https://deutsch.anf-news.com/kultur/alevitisches-gedachtnis-erstmals-digital-zuganglich-46849 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/4-mai-gedenktag-des-tertele-genozids-in-dersim-46159

 

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CHP-Bericht zum Friedensprozess: Reformforderungen ohne Kurs zur Konfliktlösung

19. Dezember 2025 - 13:00

Die Republikanische Volkspartei (CHP) hat dem türkischen Parlament einen 53-seitigen Bericht zur Arbeit der „Kommission für nationale Solidarität, Geschwisterlichkeit und Demokratie“ vorgelegt. Darin spricht sich die größte Oppositionspartei für rechtsstaatliche Reformen aus – etwa für Meinungsfreiheit, richterliche Unabhängigkeit und das Ende von Zwangsverwaltungen in Kommunen. Die eigentliche Zielsetzung des Ausschusses, Vorschläge für eine politische Lösung der kurdischen Frage zu erarbeiten, bleibt in dem Bericht jedoch weitgehend außen vor. Fragen wie kollektive Rechte, Übergangsjustiz oder gesellschaftliche Teilhabe nach einer möglichen Entwaffnung der kurdischen Guerilla werden nicht behandelt. Auch zu einer künftigen Friedensarchitektur oder zu konkreten Integrationsgesetzen enthält der Bericht keine Ansätze.

Kurdische Frage bleibt Randnotiz

Zwar fordert die CHP unter anderem die Abschaffung einzelner Paragrafen im Antiterrorgesetz (TMK) und die Stärkung kommunaler Selbstverwaltung, doch zentrale Punkte wie Muttersprachgebrauch, lokale Demokratie und kulturelle Rechte kommen kaum vor. Eine politische Rahmung der kurdischen Frage fehlt, ebenso wie eine Auseinandersetzung mit dem staatlich geprägten Sicherheitsdiskurs im Umgang mit ihr. Begriffe wie „Kampf gegen den Terror“ werden im Bericht übernommen, ohne hinterfragt zu werden. Auch zu den politischen und juristischen Folgen des bewaffneten Konflikts findet sich keine Positionierung. Beobachter:innen kritisieren, dass die CHP damit strukturelle Aspekte der kurdischen Frage ausblendet und sich auf technische Reformvorschläge beschränkt.

Keine Friedensperspektive, kein Dialogbezug

Der Bericht enthält zahlreiche Forderungen – etwa die Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Verbesserungen im Haftrecht oder eine Stärkung der Pressefreiheit. Als Beitrag zu einem Friedensprozess wird das Papier aber kaum gelesen: Die CHP geht nicht auf gesellschaftliche Versöhnung oder Dialogmechanismen ein. Auch die Rolle des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan oder die Wiederaufnahme eines Dialogs mit Imrali wird nicht angesprochen. Das Konzept des „Rechts auf Hoffnung“, das schon länger im Kontext lebenslanger Freiheitsstrafen diskutiert wird, bleibt ebenfalls unerwähnt. Stattdessen wird der Bericht von Parteivertreter Murat Emir öffentlich als Erfolg dargestellt – ein Punkt, der zusätzlich für Kritik sorgte.

Kritik an inhaltlicher Leerstelle

Aus Sicht vieler Kritiker:innen bleibt der Bericht hinter den Erwartungen an den parlamentarischen Ausschuss zurück. Dessen eigentliche Aufgabe sei es, Vorschläge für eine gesetzlich verankerte demokratische Integration zu entwickeln – ein Punkt, den die CHP weitgehend ausklammere. Damit nehme die Partei eher eine beobachtende Position gegenüber dem Friedensprozess ein, statt ihn aktiv mitzugestalten. Zwar wird der autoritäre Kurs der AKP-Regierung im Bericht deutlich kritisiert. Doch eine strategische Auseinandersetzung mit den politischen Ursachen des Konflikts bleibt aus – ebenso wie konkrete Vorschläge für eine Lösung.

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-partei-veroffentlicht-losungsbericht-fur-parlamentskommission-49226 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kommissionsbericht-kommt-nach-neujahr-ins-parlament-49301 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/imrali-delegation-und-davutoglu-sprechen-uber-rechtliche-grundlage-fur-friedensprozess-49280

 

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Wut nach sexistischen Fangesängen gegen Leyla Zana

19. Dezember 2025 - 13:00

Nach sexistischen und beleidigenden Sprechchören gegen die kurdische Politikerin Leyla Zana durch Anhänger des türkischen Vereins Bursaspor während eines Fußballspiels mehren sich die Rufe nach Konsequenzen. Beim Heimspiel gegen Somaspor am 16. Dezember hatten Teile der Fans Zana mit vulgären und politisch motivierten Parolen angegriffen. Der Vorfall löste breite Kritik bei der kurdischen Gesellschaft aus. Zahlreiche Stimmen forderten die Türkische Fußballföderation (TFF) sowie die Justiz auf, zu reagieren. Insbesondere wurde gefordert, die Vorfälle strafrechtlich unter dem Aspekt der „Volksverhetzung“ gemäß türkischem Strafrecht zu prüfen. Auch die mangelnde Reaktion von Sportverbänden wurde kritisiert.

Amedspor: Hassrede wird gezielt ins Stadion getragen

Der Präsident des Fußballvereins Amedspor, Nahit Eren, verurteilte die Sprechchöre und sprach von einer gezielten Verbreitung diskriminierender Sprache in Fußballstadien: „Wir sind uns bewusst, mit welcher Absicht diese Beleidigungen gegenüber Leyla Zana ausgesprochen wurden – einer wichtigen Stimme des kurdischen politischen Lebens.“ Derartige Äußerungen dürften nicht isoliert betrachtet werden, sondern seien Teil eines gesellschaftlichen Klimas. Eren erinnerte daran, dass schon in der Vergangenheit auf entsprechende Gefahren hingewiesen worden sei, ohne dass Gegenmaßnahmen ergriffen worden wären. Er forderte die zuständigen Behörden erneut auf, aktiv zu werden.

Amedspor'un Şehmus Özer Tesisleri'ne Leyla Zana pankartı asıldı:

"Şêr şêre çi jine çi mêre" pic.twitter.com/hbRRAttEBs

— Mücadele (@MucadeleGzt) December 17, 2025

Anwaltskammer: „Leyla Zana ist nicht allein“

Die Anwaltskammer von Amed (tr. Diyarbakır), Mitglied im Solidaritätsnetzwerk der Stadt, äußerte sich ebenfalls. In einer Stellungnahme wurde nicht nur auf die Beleidigungen gegen Zana, sondern auch auf Banner mit der Aufschrift „Weißer Toros“ im Stadion hingewiesen – die Autos der Marke Renault waren die typischen Dienstfahrzeuge des Geheimdienstes der türkischen Militärpolizei (JITEM), die für eine Vielzahl von schweren staatlichen Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Provinzen verantwortlich ist, insbesondere in den 1990er Jahren. „Nicht mit Hass, sondern mit Frieden werden wir leben. Leyla Zana ist nicht allein“, heißt es in der Erklärung.

Forderung nach rechtlichen Konsequenzen

Die Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM) forderte ein konsequentes Vorgehen gegen sexistische und ethnisch motivierte Hassrede im Sport. „Der auf den Tribünen geäußerte Hass ist Ausdruck einer patriarchalen, rassistischen und autoritären Haltung“, hieß es. Sexistische Beleidigungen, Hassrede und gezielte Diffamierung sind keine Meinungsäußerung, sondern Straftaten. „Wer dazu schweigt, macht sich mitschuldig.“ Die Partei appellierte an das Justizministerium, die Fußballföderation und die Spielleitung, umgehend Maßnahmen zu ergreifen. Darüber hinaus betonte sie die Notwendigkeit eines Antidiskriminierungsgesetzes in der Türkei: Diskriminierung und Hassrede müssten im Strafrecht gesondert geregelt und strenger geahndet werden. Bislang ist jedoch keine offizielle Ermittlung oder sportrechtliche Sanktion bekannt geworden.

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/keine-ermittlungen-gegen-verkauf-von-beyaz-toros-und-jitem-t-shirts-48769 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kon-med-graue-wolfe-und-fair-play-im-fussball-42635 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/geldstrafe-gegen-amedspor-wegen-kurdischem-slogan-48129 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/rassismus-ein-altbekanntes-phanomen-im-turkischen-fussball-48394

 

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Plädoyers im Hamburger PKK-Prozess – Urteil am 23. Dezember erwartet

19. Dezember 2025 - 11:00

Der letzte Verhandlungstag im Hamburger Prozess gegen zwei Kurden aus Schleswig-Holstein wegen PKK-Mitgliedschaft begann zunächst mit der Verlesung der letzten Punkte der Beweisaufnahme durch den Vorsitzenden Richter. Dabei ging es unter anderem um die staatlicherseits getätigte „Notveräußerung“ des Autos eines der beiden Angeklagten, welches im Rahmen der Razzien im vergangenen März in Kiel beschlagnahmt wurde. Die dafür einkassierten 3.400 Euro sollen einbehalten werden und somit ohne ersichtlichen Grund in die Staatskasse fließen.

Nachdem die Beweisaufnahme geschlossen wurde, begann Oberstaatsanwalt Schakau mit dem Plädoyer der Generalstaatsanwaltschaft. In einer langen Rede, die in Teilen einer Hetzschrift gegen die PKK glich, schloss er sich der verbreiteten staatlichen Einordnung der PKK als „autoritär geführter Terrororganisation“ überzeugt an und unterstellte der kurdischen Bewegung, dass der aktuell laufende Friedensprozess nur „taktischer Natur“ sei. Schließlich seien die Forderungen der PKK nach gleichberechtigter Teilnahme an den Verhandlungen im Friedensprozess unrealistisch, und es zeige sich hier „PKK-Propaganda“. In seinen Ausführungen hangelte er sich im Wesentlichen entlang der Anklageschrift, wiederholte die Vorwürfe akribisch und spekulierte munter drauflos.

Beleidigungen durch die Staatsanwaltschaft

So deklarierte er jede noch so kleine Summe Bargeld, die im Laufe von neun (!) Hausdurchsuchungen aufgefunden wurde, pauschal als PKK-Spendengeld – ungeachtet dessen, dass es dafür größtenteils keinerlei Beweise gibt. Ebenso verlor er sich in ausschweifenden Bewertungen darüber, dass Menschen Bargeld nicht zu Hause aufzubewahren hätten. Jede Art der Aufbewahrung in der eigenen Wohnung bezeichnete er als Versteck. Das „Verstecken“ von Geld zu Hause berechtigte für den Staatsanwalt den Vorwurf der Terrorfinanzierung. Auch vergingen etliche zähe Minuten mit der oberstaatsanwaltlichen Belehrung darüber, wie sich Freund:innen gegenseitig Geld zu leihen hätten – Abweichungen hiervon erschienen ihm grundsätzlich verdächtig und unglaubwürdig. Dass die Familie ein Haus, welches sie kaufen wollte, selbstständig säubern und renovieren könne, schloss er quasi aus und maßte sich obendrein an, zu fragen, ob das Haus groß genug sei, ohne dabei die bisherigen prekären Wohnverhältnisse irgendwie zu berücksichtigen.

Haftstrafen von bis zu zweieinhalb Jahren gefordert

Nach einem eher stichwortartigen Ritt durch die in der Anklageschrift formulierten Vorwürfe der Betätigungshandlungen der Angeklagten – wie das Organisieren vereinsbezogener Veranstaltungen, der Verkauf von Eintrittskarten oder Zeitschriften und das Sammeln von Spenden – nahm die Frage der Spendengeldsammlung den größten Raum ein. Hier unterstellt die Generalstaatsanwaltschaft auch nach zwölf Verhandlungstagen weiterhin, dass es sich bei sämtlichem beschlagnahmtem Geld um Spendengeld zur Finanzierung der PKK handle.

Oberstaatsanwalt Schakau stellte sämtliche Zeug:innenaussagen von Freund:innen und Verwandten, die der Familie des Angeklagten Geld geliehen hatten, in Frage und bezichtigte sie der Unglaubwürdigkeit. Auch die Beweise über die Verwendung des Geldes für den Hauskauf zweifelte er an. Dabei beschuldigte er den Angeklagten nicht nur der Falschaussage, sondern wertete es als strafschärfend, dass dieser Zeug:innen zu Falschangaben gebracht oder diese aufgrund ihrer Bereitschaft zu Falschangaben benannt habe. In diesem Zusammenhang beschuldigte Schakau den Angeklagten der Rechtsfeindlichkeit und Uneinsichtigkeit. Als Fazit forderte er Haftstrafen von zwei Jahren und sechs Monaten für Nihat Asut und ein Jahr und neun Monaten für den Lübecker Angeklagten. Für beide Angeklagten kommen aus seiner Perspektive Bewährungsstrafen nicht in Frage.

Nach einer kurzen Pause folgten die Plädoyers der Verteidigung

Zunächst ging Dr. Björn Elberling (Verteidigung Nihat Asut) in seinem Plädoyer auf die seinem Mandanten gemachten Vorwürfe, das zu Prozessbeginn zwischen Gericht, Generalstaatsanwaltschaft und Verteidigung geführte Verständigungsgespräch und die unterschiedliche Bewertung des politischen Engagements kurdischer Aktivist:innen in Deutschland ein. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Rede bezog sich auf die Entwicklungen im aktuellen Friedensprozess zwischen der PKK und dem türkischen Staat und die damit einhergehende notwendige Neubewertung auch seitens des deutschen Staates. Dazu benannte er diverse vergleichbare Urteile gegen Kurd:innen in Deutschland aus der jüngsten Vergangenheit, bei denen jeweils Bewährungsstrafen verhängt wurden. Insbesondere die Strafzumessung seitens deutscher Gerichte unter Berücksichtigung dessen, dass den Angeklagten nie individuelle Straftaten zur Last gelegt werden, sondern die bloße Mitgliedschaft in kurdischen Vereinen für eine Verurteilung ausreicht, müsse sich dringend verändern. Elberling weiter: „Es war wichtig, dass wir uns das (den Friedensprozess, Anm. d. Red.) sehr genau angeschaut haben, denn diese Beweiserhebung hat gezeigt, dass der Prozess von kurdischer Seite sehr ernst genommen wird und dass vor allem die Erklärungen von Abdullah Öcalan keine Erklärungen in Friedensverhandlungen sind, die bei Scheitern der Verhandlungen jederzeit die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen erlauben, sondern dass hier eine endgültige Abkehr vom bewaffneten Kampf als Mittel der Auseinandersetzung erklärt wird, hinter die die Organisation, hinter die die kurdische Bewegung nicht mehr zurück kann, auch wenn der Staat seinen Teil der Abmachung nicht einlöst.“

Hoffmann: Behauptungen der Anklage „reine zielgeleitete Spekulationen“

Anschließend trug Rechtsanwalt Alexander Hoffmann sein Plädoyer vor. Zunächst stellte dieser heraus, dass eine Verurteilung von PKK-Unterstützer:innen nach § 129a/b grundsätzlich nicht haltbar sei. Er geht davon aus, dass dies international und auch in deutscher Rechtsprechung in der Zukunft noch Berücksichtigung finden werde. Danach ging er schwerpunktmäßig auf die von der Staatsanwaltschaft als „Spendengelder zur Terrorfinanzierung“ umgedeuteten Gelder ein, die bei seinem Mandanten bei der Razzia im Frühjahr beschlagnahmt worden waren. Er schilderte anschaulich, wie sehr sich die Vorstellungen eines deutschen Gerichts von den Gepflogenheiten und Umgangsformen einerseits und der Lebensrealität einer vor Krieg und Terror in der Türkei geflohenen Familie in der Diaspora andererseits unterscheiden. Abgesehen davon, dass die engmaschige Überwachung der Beschuldigten auch in der Hauptverhandlung keinerlei Beweise erbracht habe, dass es sich bei dem aufgefundenen Geld tatsächlich um Spendengelder gehandelt habe, wertete er die Behauptungen des Oberstaatsanwalts Schakau als „reine zielgeleitete Spekulationen“ und als beleidigend gegenüber seinem Mandanten. Auch Geld in zweifelsfrei beschrifteten Spendendosen für Heyva Sor a Kurdistanê (Kurdischer Roter Halbmond) hatte dieser dreist der PKK zugeordnet. Das Fazit des Verteidigers lautete insofern: „Die Grundannahme stimmt schon nicht!“ Solidarische Prozessbeobachter:innen äußerten nach den Plädoyers, dass die Diskrepanz der grundverschiedenen Darstellungen und Bewertungen zwischen Anklageseite und der Verteidigung kaum offensichtlicher hätte sein können.

Schlussbemerkung eines Angeklagten

Am Ende des Verhandlungstages ergriff Nihat Asut noch einmal selbst das Wort. Ihm war es ein Anliegen, dem deutschen Staat die Soziologie des kurdischen Volkes verständlich zu machen. Anhand seiner persönlichen Lebensgeschichte schilderte er kurz den Weg seiner Politisierung. Die erlebte Unterdrückung der Kurd:innen, der Krieg und die zahlreichen Massaker, Misshandlungen und Plünderungen gegen Kurd:innen, Ezid:innen und Armenier:innen führten ihn zur kurdischen Freiheitsbewegung. Als abschließenden Wunsch formulierte er die Hoffnung, dass der von Abdullah Öcalan eingeleitete Friedensprozess erfolgreich sein werde und der Krieg gegen Kurd:innen nun beendet werden könne. Gleichwohl forderte er den deutschen Staat auf, den Friedensprozess endlich aktiv zu unterstützen und politischen Einfluss darauf zu nehmen. Schließlich lebten in Deutschland rund zwei Millionen Kurd:innen, und Deutschland müsse sich um eine Beendigung des Krieges bemühen.

Der Angeklagte aus Lübeck trug keine eigene Erklärung vor und schloss sich dem Plädoyer seines Anwalts an.

Die Urteilsverkündung findet am 23. Dezember um 10:00 Uhr statt. Bereits um 8:30 Uhr startet eine solidarische Kundgebung vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamburg stattfinden. Die Prozessbeobachtung ruft dazu auf, zahlreich zu erschienen und unseren Genossen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind! Und bedenkt die Wartezeit wegen der Sicherheitskontrollen!

Spendenkonto

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Arjin Dilek Öncel: „Wir setzen ihre Arbeit unter schwierigen Bedingungen fort“

19. Dezember 2025 - 11:00

Ein Jahr nach dem tödlichen Drohnenangriff auf die kurdischen Journalist:innen Nazım Daştan und Cihan Bilgin hat deren Kollegin Arjin Dilek Öncel an die Arbeit der beiden Reporter:innen erinnert. Im Gespräch mit ANF betonte sie die Bedeutung von Journalismus in Kriegs- und Krisenregionen und sprach von einem „beruflichen und politischen Vermächtnis“, das man übernommen habe.

Der ANF-Reporter Nazım Daştan und die ANHA-Korrespondentin Cihan Bilgin waren am 19. Dezember 2024 in der Nähe des Tişrîn-Damms im Norden Syriens durch eine türkische Drohne gezielt getötet worden. Die beiden berichteten zu diesem Zeitpunkt über Militärbewegungen der Türkei und deren dschihadistischen Hilfstruppen in der Region.

Einsatz unter schwierigen Bedingungen

Arjin Dilek Öncel berichtete, sie habe Nazım Daştan während ihrer Tätigkeit im Büro der Nachrichtenagentur Dicle Haber in Riha (tr. Urfa) kennengelernt. Die Zusammenarbeit habe sie geprägt. „Wer über Journalismus spricht, erwähnt meist als Erstes die Schwierigkeiten des Berufs“, sagte sie. „Für mich persönlich ist es jedoch am schwierigsten, über Kolleg:innen zu sprechen, die wir verloren haben. Deshalb fällt es mir nicht leicht, über Nazım zu sprechen.“

 


Öncel begann ihre journalistische Arbeit im Jahr 2015. Daştan sei einer der ersten beruflichen Kontakte gewesen, die sie damals geknüpft habe. Sie beschrieb ihn als offen, engagiert und beruflich überzeugend. „Sein Einsatz und seine Haltung haben Eindruck hinterlassen“, so Öncel. Besonders in Erinnerung geblieben sei ihr auch sein Umgang mit anderen: „Viele sprechen von seinem Lächeln. Es war auffällig und blieb vielen im Gedächtnis.“

„Nazım hat uns geprägt“

Obwohl sie während ihrer aktiven Zeit nicht gemeinsam im Einsatz gewesen seien – Daştan arbeitete damals in Dîlok (Gaziantep), Öncel in Riha – habe es einen regelmäßigen fachlichen Austausch gegeben. Auch nach beruflichen Veränderungen sei der Kontakt nicht abgerissen. Später übernahm Öncel selbst Aufgaben in Dîlok, wo Daştan zuvor lange journalistisch tätig gewesen war. Bei der Recherche zu Geflüchtetenfamilien aus Rojava habe sie festgestellt, wie stark seine Arbeit vor Ort gewirkt habe. „Mehrere Familien fragten uns direkt nach Nazım“, sagte sie. „Viele kannten ihn mit Namen und er war in verschiedenen Teilen der Stadt bekannt.“

Daştan sei häufig dort gewesen, wo es zu Menschenrechtsverletzungen gekommen sei: in Vierteln mit prekären Lebensbedingungen, bei Arbeiterfamilien oder Geflüchteten. In vielen dieser Orte habe er persönliche Geschichten dokumentiert und das Vertrauen der Menschen gewonnen. „Er war jemand, der viele Türen gekannt und viele Gespräche geführt hatte“, so Öncel. „Wie er uns geprägt hat, hat er auch in den Städten, in denen er arbeitete, Spuren hinterlassen.“

Berichterstattung aus Kriegsgebieten

Erstmals nach Rojava reiste Nazım Daştan bereits 2014 während der Besatzung der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Später berichtete er laut Öncel vom Widerstand für Selbstverwaltung in Nordkurdistan und war in Silopiya aktiv, wo er zahlreiche Ereignisse dokumentierte. In diesem Zusammenhang kam es auch zu einer Inhaftierung. Nach seiner Freilassung habe er seine journalistische Arbeit fortgesetzt – „in derselben Weise, wie zuvor“, erinnert sich Öncel.

Daştan kehrte nach der Haftentlassung zurück nach Nordsyrien. Die Region war zu diesem Zeitpunkt weiterhin Ziel militärischer Angriffe. „Er wollte sich sowohl an der Revolution beteiligen als auch über die Situation vor Ort berichten“, so Öncel. In den folgenden Monaten verfasste er zahlreiche Beiträge, viele davon unter schwierigen Bedingungen. Wie andere Kolleginnen und Kollegen der kurdischen Presse habe auch er sich bewusst dafür entschieden, in einem von Krieg und Instabilität geprägten Umfeld zu arbeiten, sagte Öncel.

Keine Zeit für Trauer

Mit Blick auf den Tod von Nazım Daştan und Cihan Bilgin sowie weiterer kurdischer Medienschaffender betonte Arjin Dilek Öncel, deren gemeinsames Ziel sei es gewesen, über die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort zu berichten – auch unter Gefahr. „Wir haben viele verloren“, sagte sie. Die Häufung der Todesmeldungen lasse kaum Raum für individuelle Trauer. „Es gibt zu viele aufeinanderfolgende Verluste – wir haben keine Zeit, um richtig zu trauern.“

Stattdessen versuche man, die Arbeit der Getöteten fortzuführen. „Wir setzen ihre Arbeit fort, mit denselben Mitteln: mit ihren Stiften, Kameras und Aufnahmegeräten“, sagte sie. Der journalistische Einsatz sei Teil eines kollektiven Auftrags geworden: „Was sie begonnen haben, führen wir weiter – mit dem gleichen Anspruch, die Realität sichtbar zu machen.“

https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/nesim-bilgin-cihan-war-auf-der-suche-nach-wahrheit-49299 https://deutsch.anf-news.com/pressefreiheit/wpf-gezielte-angriffe-auf-journalist-innen-sind-kriegsverbrechen-44717 https://deutsch.anf-news.com/pressefreiheit/was-immer-sie-auch-tun-wir-werden-nicht-ausgeloscht-werden-44718

 

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Partei der armenischen Einheit in Nordostsyrien gegründet

19. Dezember 2025 - 10:00

In der nordsyrischen Stadt Hesekê ist am Donnerstag die Partei der armenischen Einheit (AUP) gegründet worden. Der Gründungskongress stand unter dem Motto „Gerechtigkeit und Erneuerung im Gedenken an den Völkermord an der armenischen Nation“. Ziel der neuen Partei ist es, die politische und gesellschaftliche Teilhabe der armenischen Gemeinschaft in Syrien zu stärken und die Erinnerung an die historischen Verbrechen wachzuhalten.

An der Veranstaltung nahmen Vertreter:innen von politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Stammesräten, der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES), der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), der Partei PYD sowie zahlreiche Aktivist:innen und Intellektuelle teil.

Tetriyan: Armenier:innen sind integraler Teil Syriens

Nach einer Schweigeminute eröffnete der Politiker Imad Tetriyan den Kongress. In seiner Rede unterstrich er die historische Bedeutung der Parteigründung sowohl für die armenische als auch für die syrische Gesellschaft. Die Parteistatuten bezeichnete er als moralische und politische Grundlage, auf der die Rechte aller Bevölkerungsgruppen gleichermaßen geschützt werden sollen. Tetriyan wurde später zum Generalsekretär der Partei gewählt.

Die YPJ-Kommandantin Rohilat Efrîn erinnerte in ihrem Redebeitrag an die Opfer des 1915 von der jungtürkischen Regierung im Osmanischen Reich verübten Völkermords an den Armenier:innen. Sie betonte die historische Verbundenheit zwischen kurdischem und armenischem Widerstand und forderte den Aufbau eigenständiger Strukturen zum Schutz aller Bevölkerungsgruppen vor Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung.

Efrîn wies auf die anhaltende Unsicherheit in Syrien hin und betonte, dass die Selbstorganisation der verschiedenen Gemeinschaften ein zentrales Element der Friedenssicherung sei. Frauen hätten dabei eine tragende Rolle gespielt und würden auch künftig beim Aufbau eines demokratischen Syriens vorangehen.

Demokratische Nation als Antwort auf Ausgrenzung

Aldar Xelîl, Mitglied des Exekutivrats der PYD, begrüßte die Parteigründung als Schritt zur Überwindung von Ausgrenzung und nationalstaatlicher Unterdrückung. Die Revolution in Nord- und Ostsyrien sei Ausdruck des Konzepts der demokratischen Nation, das Vielfalt, Gleichheit und Koexistenz fördere, so Xelîl.

Auch Mahmoud al-Mislat, Ko-Vorsitzender des Demokratischen Syrienrats (MSD), bezeichnete die Parteigründung als Akt der historischen Erneuerung und Anerkennung der armenischen Präsenz in Syrien. Hamdan al-Abd, stellvertretender Ko-Vorsitzender der Selbstverwaltung, sprach von einem „neuen Anfang“ für die armenische Gemeinschaft im Land.

In einer Grußbotschaft per Video rief auch der religiöse Führer Şêx Mûrşîd El Xeznewî dazu auf, die Rechte aller ethnischen und religiösen Gruppen zu wahren. Die armenische Beteiligung an der politischen Neugestaltung Syriens sei ein bedeutender Beitrag zur Freiheitsgeschichte des Landes.

Parteibeschlüsse: Gegen Ausgrenzung, für Mitsprache

Der Kongress endete mit der Wahl des Politbüros sowie der Diskussion des Statuts. Neben Imad Tetriyan als Generalsekretär wurden Kohar Khajodrian, Fayez El Hisên, Can Mardo und Silda Simon in das Politbüro gewählt. Die Delegierten verabschiedeten unter anderem folgende Grundsätze:

▪ Ablehnung des Minderheitenstatus: Die Armenier:innen sollen als integraler Teil der syrischen Gesellschaft anerkannt werden, nicht als Minderheit.

▪ Beteiligung an nationalen Prozessen: Die Armenier:innen sollen in eine zukünftige Syrische Nationalversammlung eingebunden werden.

▪ Verfassungsanspruch: Eine künftige Verfassung müsse die armenische Identität und Sprache ausdrücklich schützen.

▪ Repräsentation: Armenier:innen sollen in allen zivilen, politischen und administrativen Gremien vertreten sein, besonders in Nord- und Ostsyrien.

▪ Zuständigkeit: Kein zentrales Organ dürfe im Namen der Armenier:innen handeln, ohne Abstimmung mit der Partei.

▪ Verantwortung: Der Schutz aller Bevölkerungsgruppen sei eine gemeinsame nationale Verpflichtung.

https://deutsch.anf-news.com/weltweit/volkermordgedenken-in-jerewan-41934 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/plattform-gegen-volkermorde-gibt-grundung-bekannt-45788 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/armenische-gemeinde-fordert-ende-der-belagerung-von-berg-karabach-36148 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/armenisches-bataillon-nicht-nur-gedenken-sondern-kaempfen-10965

 

 

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Temelli: Haushaltsentwurf vertieft soziale und wirtschaftliche Krise

19. Dezember 2025 - 8:00

Der Fraktionsvizevorsitzende der DEM-Partei, Sezai Temelli, hat den Haushaltsentwurf der türkischen Regierung für das Jahr 2026 als eine politische Entscheidung bezeichnet, die die bestehende wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise im Land weiter verschärfe. Der Etat trage zur Vertiefung struktureller Probleme in der öffentlichen Finanzverwaltung bei, insbesondere durch wachsende Zinszahlungen und stark erhöhte Militärausgaben, die erhebliche finanzielle Ressourcen binden würden, so Temelli gegenüber ANF.

Zugleich kritisierte der Politiker die anhaltende Ungleichverteilung der Steuerlast: Während arbeitende Bevölkerungsschichten zunehmend belastet würden, blieben wohlhabende Gruppen weitgehend steuerlich privilegiert oder gar verschont. Die Kombination aus hoher Inflation und steigender Abgabenlast untergrabe die Kaufkraft der Bevölkerung massiv. Die Tatsache, dass mittlerweile rund 20 Millionen Menschen auf staatliche Sozialhilfe angewiesen seien, zeige die reale Dimension der weitverbreiteten Armut in der Türkei. Solange kein „Haushalt für Brot und Frieden“ aufgestellt werde, so Temelli, sei weder eine wirksame Armutsbekämpfung noch gesellschaftliche Gerechtigkeit erreichbar.

Zwei Konstanten bestimmen den Haushalt

Im Rahmen der laufenden Haushaltsdebatten bezeichnete Temelli den Entwurf als Ausdruck eines politischen Grundverständnisses, das sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter der regierenden AKP verfestigt habe. Die nunmehr 24. Budgetvorlage der Erdoğan-Partei folge dabei einem wiederkehrenden Muster: „Unabhängig von der wirtschaftlichen oder politischen Lage, von den herrschenden Dynamiken oder Prioritäten – das Budget der AKP orientiert sich konstant an zwei zentralen Interessen: den Bedürfnissen des Kapitals und den Forderungen einer sicherheitsorientierten Bürokratie“, so Temelli. Diese Prioritätensetzung sei nicht neu, sondern lasse sich durchgängig in der über hundertjährigen Geschichte der Republik erkennen. „Doch unter der Regierung der AKP, die sich sowohl mit neoliberalen Wirtschaftsmodellen arrangiert als auch stark unter dem Einfluss sicherheitspolitischer Bürokratie steht, treten diese Tendenzen heute in besonders ausgeprägter Form zutage.“

„Ein Haushalt, der die Friedenshoffnung ignoriert“

Temelli kritisierte besonders scharf, dass der Haushaltsentwurf keinerlei Bezug zu den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen des Jahres 2025 nehme – insbesondere nicht zu den Hoffnungen auf eine friedliche Lösung der kurdischen Frage, die durch den „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ Abdullah Öcalans vom 27. Februar neuen Auftrieb erhalten hätten. Der von der Regierung vorgelegte Etat bleibe gegenüber diesen Entwicklungen völlig unberührt und verweigere jede inhaltliche Reaktion auf die landesweit geführten Debatten um soziale Gerechtigkeit und eine Politik des Friedens.

„Trotz all unserer Kritik hatten wir gehofft, dass der Haushalt für 2026 sichtbare Veränderungen mit sich bringt“, erklärte Temelli. „Im Jahr 2025 ereigneten sich womöglich die bedeutsamsten Entwicklungen der Geschichte der Republik. Im Zentrum stand dabei zweifelsohne die Erklärung von Herrn Öcalan – ein historischer Schritt, der eine neue Phase des Wandels einleitete, nicht nur für die Türkei, sondern mit internationaler Wirkung. Der Haushalt wäre ein zentraler Ort gewesen, um diesen politischen Wandel greifbar werden zu lassen. Doch leider hat der Haushaltsentwurf diese Dynamik vollständig ignoriert – vor allem, was die Bemühungen um eine demokratische Lösung der kurdischen Frage betrifft.“

Als Reaktion auf diese Leerstelle habe die DEM-Partei erneut einen alternativen Haushalt vorgelegt, den sie bewusst als „Haushalt für Brot und Frieden“ bezeichnet. „Dieser Entwurf war zugleich ein Protest gegen die Politik der Regierung und ein Appell an die gesamte Gesellschaft sowie die Herrschenden für mehr Sensibilität gegenüber den sozialen und politischen Realitäten“, so Temelli. Der Grundgedanke sei klar: Ohne Frieden könne es auch kein Brot geben. Angesichts der erdrückenden Armut und der wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft fordere die Bevölkerung längst konkrete Verbesserungen. „Deshalb haben wir gemeinsam mit der Gesellschaft diese Initiative ins Leben gerufen – mit dem Ziel, unserer Forderung nach einer gerechten und friedensorientierten Haushaltspolitik Ausdruck zu verleihen.“

Landesweite Gespräche mit der Bevölkerung

Im Rahmen dieser Kampagne sei man im ganzen Land unterwegs gewesen, erklärte Temelli weiter. Von Êlih (tr. Batman) bis Tekirdağ, von Aydın bis Hatay seien Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammengekommen – Landwirt:innen, Händler:innen, Arbeiter:innen, Erwerbslose, Frauen, Jugendliche, Studierende. „Alle haben sich mit ihren Worten, mit ihrer Beteiligung, mit ihrer Stimme eingebracht“, so Temelli. Der Höhepunkt der Initiative war ein Sternmarsch auf Ankara, an dem sich Menschen aus allen Teilen des Landes beteiligten. Ihre Forderungen seien in die Haushaltsdebatten im Parlament eingebracht worden. „Mit unseren Redebeiträgen und politischen Interventionen versuchen wir weiterhin, dieses Bewusstsein zu stärken, doch leider muss man feststellen: Der Haushalt 2026 wird in Erinnerung bleiben als ein Haushalt, der gegenüber unseren zentralen Anliegen völlig unempfindlich geblieben ist.“

Haushaltsausrichtung zugunsten von Kapital und Militarisierung

Temelli sieht im Haushaltsentwurf ein deutliches Symptom der strukturellen Krise der öffentlichen Finanzverwaltung in der Türkei. Die zentralen Probleme – eine wachsende Zinslast, eine tiefgreifende Steuerungerechtigkeit sowie drastisch gestiegene Militärausgaben – machten aus dem Budget ein Instrument zur Absicherung kapitalistischer Interessen, betont der studierte Finanzökonom. „Wenn man sich die generelle Entwicklung der türkischen Haushalte und der Wirtschaft ansieht, wird deutlich: Das zentrale Problem ist ein strukturelles Defizit in der öffentlichen Finanzierung“, erklärte der DEM-Politiker. „Und diese Last wird dauerhaft auf die Schultern der Lohnabhängigen und der Rentner:innen abgewälzt.“

Ein zentrales Beispiel sei die exponentiell wachsende Zinsbelastung. Für das Jahr 2026 seien bereits jetzt zwei Billionen Türkische Lira für Schuldzinsen eingeplant – ein Betrag, der bis Jahresende voraussichtlich noch steigen werde. Zugleich gelinge es dem Staat nicht, eine faire Besteuerung von Vermögenden und Unternehmen durchzusetzen. „Stattdessen gibt der Staat rund 3,7 Billionen Lira für sogenannte Steueraufwendungen aus – also für Einnahmen, auf die bewusst verzichtet wird. Diese ‚nicht erhobenen‘ Steuern sind faktisch Steuergeschenke.“

Ein drittes zentrales Problem sei die weiterhin stark ausgeprägte Militarisierung des Haushalts. Die Verteidigungsausgaben stiegen trotz der angespannten sozialen Lage weiter massiv an. „Alle sicherheitspolitischen Forderungen werden in vollem Umfang bedient. Während sie im Vorjahr noch bei 40 Milliarden US-Dollar lagen, sind sie nun auf 55 Milliarden Dollar angewachsen.“ Zusammengenommen, so Temelli, zeige dies deutlich: „Der Haushalt schützt das Kapital um jeden Preis und die Regierung ist nicht bereit, von ihrer militaristischen Ausrichtung abzuweichen.“ Ein Ausweg aus der Finanzierungskrise sei mit dieser Haushaltspolitik jedoch nicht möglich. Im Gegenteil: Die Staatsverschuldung werde weiter steigen, und angesichts der anhaltenden Inflation werde der Bevölkerung noch mehr Kaufkraft entzogen.

„Haushalt für Brot und Frieden nötig“

Temelli, warnte eindringlich vor den sozialen Folgen der bestehenden Steuerpolitik. Die strukturelle Schieflage im Steuersystem führe dazu, dass arbeitende Menschen massiv belastet, während Vermögende systematisch geschont würden. Diese einseitige Belastungsverteilung trage maßgeblich zur Verfestigung von Armut und Ungleichheit in der Türkei bei. Der Politiker machte deutlich, dass eine echte soziale Gerechtigkeit nur durch eine gerechtere Haushaltspolitik erreichbar sei – insbesondere durch einen „Haushalt für Brot und Frieden“. Ohne eine solche Wende könne der Staat weder wirksam gegen Armut vorgehen noch seiner Verantwortung für soziale Gerechtigkeit gerecht werden.

Ein zentrales Problem sieht Temelli in der massiven Ungleichverteilung der Steuerlast: „Während Arbeitnehmer:innen im Schnitt rund 13 Prozent ihres Einkommens effektiv an Steuern abführen, liegt dieser Wert bei Selbstständigen aus vermögenden Schichten, die nach dem sogenannten Substanzwertverfahren veranlagt werden, bei lediglich 1,5 Prozent.“ Diese Diskrepanz sei Ausdruck einer fiskalischen Schieflage, die mit Worten kaum mehr zu beschreiben sei. Zugleich seien es nicht nur statistische Größen, die das Problem verdeutlichten – auch im Alltag sei die Belastung spürbar: „Wer sich heute auf den Straßen, in den Märkten und Einkaufsvierteln umsieht, erkennt sofort: Die Menschen sind von Inflation und Steuerlast gleichermaßen erschöpft. Viele wissen nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen.“

Laut Angaben des Ministeriums für Familie und Sozialdienste erhalten mittlerweile rund 20 Millionen Menschen in der Türkei staatliche Unterstützung – durchschnittlich 8.000 Lira monatlich. „Das bedeutet: 20 Millionen Menschen wird faktisch zugemutet, mit dieser Summe zu überleben.“ Vor diesem Hintergrund komme Temelli zu einem klaren Schluss: „Solange wir keinen gerechten und friedensorientierten Haushalt verwirklichen, werden wir weder die Armut wirksam bekämpfen noch die dringend benötigte gesellschaftliche Gerechtigkeit herstellen können.“

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/turkei-dem-partei-lehnt-haushaltsentwurf-2026-ab-49171 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-partei-fordert-haushalt-fur-das-volk-49251 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/temelli-haushalt-dient-eliten-nicht-der-bevolkerung-49223 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/Oko-Okonomie-als-befreiung-sezai-temelli-uber-Ocalans-alternative-zur-kapitalistischen-moderne-48733

 

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Öztürk: Mit Öko-Ökonomie lässt sich der Sozialismus neu organisieren

19. Dezember 2025 - 8:00

Angesichts des weltweit zunehmenden Zerfalls der kapitalistischen Moderne rückt die Suche nach alternativen Wirtschaftsmodellen verstärkt ins Zentrum linker Diskurse. Der gegenwärtige Zustand des globalen Systems, das sich angesichts wachsender Krisen als unfähig zur Selbstregeneration erweist, bringt tiefgreifende gesellschaftliche und ökologische Verheerungen mit sich. Auch die strukturellen Defizite und Blockaden ehemals realsozialistischer Ökonomien haben zur weiteren Expansion dieses zerstörerischen Modells beigetragen.

In diesem Kontext erfährt das von Abdullah Öcalan entwickelte Konzept der Öko-Ökonomie erneut verstärkte Aufmerksamkeit. Als kritische Gegenposition zum kapitalistischen wie realsozialistischen Paradigma, bietet es insbesondere nach dem Scheitern sozialistischer Experimente einen theoretischen Rahmen für eine neue, lebensdienliche gesellschaftliche Ordnung.

„Enormer gesellschaftlicher Reichtum konzentriert sich in Händen einiger weniger“

„Der Ansatz der Öko-Ökonomie fordert uns dazu auf, das sehenden Auges herannahende Desaster nicht weiter passiv hinzunehmen“, erklärte Hakan Öztürk, Vorsitzender der Partei der Werktätigen (EHP), gegenüber ANF. Der Politiker warnt vor dem Ausmaß der destruktiven Dynamiken kapitalistischer Akkumulation: „Ein enormer gesellschaftlicher Reichtum, der die physische Grundlage unseres Planeten gefährden kann, konzentriert sich in den Händen einiger weniger fantasieloser und skrupelloser Kapitalbesitzer.“

Öztürk führt aus: „Dass der Kapitalismus die Welt in eine Sackgasse führt, ist für nahezu alle sichtbar. Die Eigentümer des Kapitals entreißen der Arbeiterklasse tagtäglich einen Mehrwert von unvorstellbarem Ausmaß. Die Löhne sinken, Armut und Hunger nehmen zu. Viele Lohnabhängige müssen Zweitjobs annehmen, von Hilfsleistungen leben oder sich verschulden, um überhaupt überleben zu können. Dies führt nicht nur zu körperlichem und seelischem Verfall, sondern auch zum Verlust von Perspektiven.“

Gleichzeitig werde künstlich Arbeitslosigkeit erzeugt, während jene, die noch eine Anstellung haben, unter ausbeuterischen Bedingungen schuften müssen, so Öztürk. „Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnen, Bildung, Gesundheit oder Mobilität werden nicht mehr gedeckt. Der Reichtum, der die Welt erschüttern kann, sammelt sich weiterhin in den Händen eben jener wenigen.“

Doch sei das Problem nicht bloß ungerechter Profit, betont Öztürk. Vielmehr liege die eigentliche Katastrophe in den globalen Machtkämpfen zwischen kapitalistischen Staaten, die die Menschheit mit einer Vielzahl an existenziellen Bedrohungen konfrontieren – von der Erderwärmung über ökologische Zerstörung und ökonomische Krisen bis hin zu regionalen und nuklearen Kriegen. „Die unaussprechliche, tief sitzende Tragödie besteht in eben dieser Dynamik. Die Öko-Ökonomie fordert uns dazu auf, diese Katastrophenentwicklung nicht länger als unvermeidlich hinzunehmen“, so Öztürk.

„Wie Öcalan sagt: Die Menschheit steht kurz davor, vom eigenen Monster verschlungen zu werden“

Mit Verweis auf den kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan betont Hakan Öztürk, dass sich existenzielle Bedrohungen oftmals erst aus der Gesamtschau gesellschaftlicher Entwicklungen erschließen: „Man sagt, der Teufel stecke im Detail – doch er verbirgt sich ebenso im großen Ganzen. Manche Verluste werden erst sichtbar, wenn man sich dem Ende nähert und die Gesamtheit der Entwicklungen betrachtet.“

Ein solcher Prozess sei die fortschreitende Entfremdung des Menschen von der Natur – eine Entwicklung, die sich besonders in der kapitalistischen Produktionsweise manifestiere. „Ein Denken, das die metabolische Beziehung zur Natur verleugnet und allein auf Kapitalakkumulation ausgerichtet ist, steuert inzwischen auf seine eigenen logischen Endpunkte zu. Oberflächlich betrachtet mag es um Gewinnmaximierung und Wachstum gehen, doch zugleich verliert der Boden seine Fruchtbarkeit.“

Diese Dynamik zeige sich besonders deutlich in der Landwirtschaft: Zwar werde weiterhin produziert, doch der organische Zusammenhang zwischen ländlichem Raum und städtischem Leben sei nahezu vollständig abgerissen. „Die Rückführung von Nährstoffen wie etwa Stickstoff oder Phosphor aus den urbanen Konsumprozessen in die Böden der Agrarlandschaften findet nicht mehr statt. Der natürliche Kreislauf ist irreversibel gestört. Diese zerstörerische Unterbrechung potenziert sich mit jeder Runde weiter.“

Öztürk zitiert aus Öcalans „Manifest für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“: „Heute steht die Menschheit an der Schwelle, von dem Monster verschlungen zu werden, das sie selbst erschaffen hat.“ Die Frage, ob es bereits Grenzen gebe, müsse mit einem klaren Ja beantwortet werden. „Wir stehen vor einem apokalyptischen Szenario: Die Meere sind erschöpft, die Ozeane leergefischt, die Flüsse und das Trinkwasser vergiftet. Es wird weiter produziert, konkurriert und profitiert, doch sowohl ober- als auch unterirdisch ist die Erde vergiftet. Wälder verschwinden, Tier- und Pflanzenarten sterben aus, die Biodiversität schrumpft rapide.“

Die zentrale Problematik sei dabei nicht allein ethischer Natur, so Öztürk weiter: „Es geht um einen Überlebenskampf – für die Natur, für alles Lebendige, für die Menschheit selbst.“ In diesem Zusammenhang verweist der EHP-Vorsitzende auf die Begriffsbestimmung von Öko-Ökonomie im Manifest: „Im Abschnitt ‚Öko-Ökonomie / Öko-Industrie‘ heißt es: ‚Die sogenannte dritte Natur bezeichnet den Prozess, in dem herrschaftliche Denkweisen und Produktionsformen – die zur Entfremdung von der Natur sowie zu deren Zerstörung und Krise geführt haben – überwunden werden, um auf der Grundlage eines neuen Vertrages mit der Natur Wege zu finden, in Harmonie mit ihr zu leben und darauf aufbauend die Produktions- und Konsumkultur ökologisch zu transformieren‘.“

Nicht nur benennen, sondern Alternativen schaffen

Ausgehend von der Öko-Ökonomie als theoretischem Ansatz lasse sich eine mehrdimensionale Analyse der gegenwärtigen Krise vornehmen, so Hakan Öztürk. Zunächst werde im Manifest deutlich benannt, wo die Wurzeln der Problematik liegen: im Prozess der Entfremdung des Menschen von der Natur. Diese Trennung bedeute eine tiefgreifende Störung der ursprünglichen Einheit von Mensch, Arbeit und Umwelt. Wenn die Produktion vom Menschen entfremdet und die Verbindung zur Natur systematisch gekappt werde, verliere der Mensch nicht nur den Bezug zu seiner eigenen Arbeit, sondern auch zu seiner ökologischen Lebensgrundlage.

Als zweite Ebene analysiert Öztürk den Entstehungsprozess dieser Entfremdung. In Öcalans Manifest, konkret auf Seite 96, heißt es dazu: „Über den Industrialismus lässt sich vieles sagen. Er hat den Untergrund vernichtet, die Erdoberfläche zerstört, die Atmosphäre mit CO₂ gefüllt, die Ozeane mit Müll überflutet. Die Städte sind krebserregend. Niemand kann sich dem entgegenstellen, wenn der kastische Mörder Profit verspricht.“ Die zugrundeliegende Logik, in der die Erzielung von Profit über allem steht, sei demnach nicht nur für die ökologischen Katastrophen, sondern ebenso für die wiederkehrenden ökonomischen Krisen verantwortlich. Es handle sich um einen Prozess, der die Menschheit und den Planeten zunehmend in den Abgrund führe.

Drittens werde im Manifest ein Lösungsweg aufgezeigt – nämlich der der Überwindung. Zentral sei dabei das Ziel, ein Leben im Einklang mit der Natur wiederherzustellen und die Produktions- und Konsumkultur ökologisch zu transformieren. „Diese Überwindung ist kein bloßes Aufzeigen oder Anprangern, sondern verlangt nach einem aktiven Verständnis von Alternativbildung“, so Öztürk. Der Weg dahin sei lang, aber notwendig.

Das Manifest fasse diesen Anspruch an einer anderen Stelle mit einem programmatischen Satz zusammen: „Unsere Perspektive für die neue Epoche besteht in einem gesellschaftlichen Wiederaufbau auf der Grundlage der demokratischen Nation, der Öko-Ökonomie und des Kommunalismus. Es ist unsere Aufgabe, das philosophische Fundament, die ideologischen Dimensionen und das konzeptionell-theoretische Rahmenwerk für eine gesellschaftliche Verkörperung dieser Prinzipien zu entwickeln.“ Öztürk kommentiert: „Es handelt sich also um einen begonnenen, aber noch nicht vollendeten Weg.“

Dass das Modell der Öko-Ökonomie eine echte Alternative für das Überleben der Menschheit darstellen könne, stehe für Öztürk außer Frage: „Ja, das kann es – und es muss auch so sein. Wir benötigen einen politischen Ansatz, der sich konsequent anhand der destruktiven Endergebnisse des Kapitalismus positioniert. Unsere Aufgabe ist es, ein universelles politisches Programm zu formulieren, das Natur und Gesellschaft schützt.“

Das von Öcalan formulierte Modell setze genau hier an: Es richte sich gegen Industrialismus, gegen krisenhafte Entwicklungen, gegen Kriege und gegen die ökologische Zerstörung und strebe eine umfassende gesellschaftliche Neuausrichtung an. „Die Ausweitung des Kampfes gegen diese Krisen ist kein bloß taktischer Schritt, sondern ein notwendiger Bestandteil einer politischen Philosophie, die auf sozialistischer Grundlage operiert“, erklärt Öztürk. „Sozialismus bedeutet nicht nur, sich gegen Ausbeutung zu stellen, sondern auch, eine Welt zu schaffen, die in jeder Hinsicht befreit ist.“

Er ergänzt: „Natürlich gab es bislang Probleme, aber es müssen Lösungen entwickelt werden. So wie der sozialistische Feminismus eine Antwort auf die strukturelle Ungleichheit von Frauen bietet, können Öko-Ökonomie und Öko-Industrie als Antwort auf die Zerstörung von Mensch und Natur gedacht werden. Dass manche, die zu diesen Fragen bisher nichts beigetragen haben, diesen Ansatz im Manifest als ‚zu innovativ‘ abtun, sollte nicht ernst genommen werden.“

Am Ende wird sich alles an der Frage der Produktion entscheiden

Die Frage, wie Produktion künftig organisiert werden soll, rückt für Hakan Öztürk ins Zentrum jeder realistischen Gesellschaftsplanung. So weist er darauf hin, dass in jeder Gesellschaftsordnung die Befriedigung von Bedürfnissen ein funktionierendes ökonomisches System voraussetze – unabhängig davon, wie korrekt oder idealistisch die formulierten Prinzipien auch sein mögen. „Ganz gleich, welche Prinzipien wir vertreten – am Ende kommt es auf die konkrete Organisation der Produktion an. Und in diesem Feld setzt sich letztlich immer die Realität durch“, erklärt Öztürk mit Blick auf historische Erfahrungen.

Er verweist in diesem Zusammenhang auf Lenin, der in Staat und Revolution von einer Übergangsphase nach der Machtübernahme spricht – einer Phase also, die noch nicht die Verwirklichung kommunistischer Ideale bedeutet, sondern von tiefgreifender Instabilität geprägt ist. „Wenn wir uns die Bedingungen vorstellen: Die politische Macht ist errungen, doch alles andere bleibt ungewiss. Selbst wenn man es wollte; eine isolierte Ökonomie kann unter solchen Umständen nicht bestehen. Es wird Handel geben, Waren werden benötigt. Die wirtschaftlichen Erfordernisse zwingen zum Austausch, und dieser bindet jede Einheit unweigerlich an das globale System an.“

Öztürk bringt ein plastisches Beispiel: „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts mögen Brot und Kohle ausgereicht haben. Heute reicht allein der Wunsch nach einem Mobiltelefon, um eine lokale Ökonomie an die globale Wirtschaft anzuschließen. Selbst ein scheinbar autonomes System kann nicht vollständig eigenständig funktionieren. Schon die grundlegendsten ökonomischen Gesetze entfalten eine enorme Wirkungskraft.“

Gemeinden können mit den vorhandenen Mitteln zu produzieren beginnen

Anhand der historischen Entwicklung der Sowjetunion skizziert Öztürk die strukturelle Verwundbarkeit solcher Systeme: „Nehmen wir an, die Sowjetunion hätte länger Bestand gehabt. Allein die äußere Einkesselung hätte genügt, um aggressive wirtschaftliche Konkurrenz zu erzeugen. Diese Konkurrenz mündete – wie im Fall des Zweiten Weltkriegs – schließlich in offenen militärischen Auseinandersetzungen. Die Lehre daraus ist: Es gibt keinen autarken Sonderweg. Isolation ist weder praktikabel noch dauerhaft durchzuhalten. Die äußeren Zwänge wirken fort – lange und zermürbend.“

Im Modell der Öko-Ökonomie kommt dem kommunalen Prinzip eine zentrale Bedeutung zu. Für Öztürk liegt hier eine konkrete Chance, sozialistische Alternativen im Hier und Jetzt erfahrbar zu machen, insbesondere durch die politische Praxis bereits gewonnener Kommunalverwaltungen. „Das Manifest beschreibt die Kommune ausdrücklich auch als kommunalpolitische Struktur. Eine Gemeinde kann – gestützt auf öffentliches Eigentum und kollektive Ressourcen – beginnen, öffentliche Güter und Dienstleistungen bereitzustellen. Ziel ist dabei nicht die Profitmaximierung, sondern die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse.“

Auch wenn dies noch keine vollständige Umsetzung einer künftigen Gesellschaft sei, eröffne es doch bereits jetzt einen Blick auf deren Potenziale und Richtung. „Die Notwendigkeit, genau hier anzusetzen, ist dringender denn je. Jede errungene Kommune und jede gewonnene Gemeinde müssen unter diesem Gesichtspunkt neu bewertet werden.“ Öztürk verweist auf einen bemerkenswerten Gedanken des kanadischen Sozialisten Sam Gindin: „Wir müssen sagen, wie der Sozialismus aussehen soll.“

„Wir müssen zeigen, wie Sozialismus aussehen kann“

„Es reicht nicht aus, über Sozialismus zu sprechen – wir müssen konkret zeigen, wie er aussehen kann. Und wir müssen diese Vorstellungen öffentlich zur Diskussion stellen und sie praktisch untermauern“, fordert der Politiker. Ein möglicher Ausgangspunkt liege in der kommunalen Ebene: Durch die Bereitstellung gemeinwohlorientierter Angebote in Städten und Gemeinden könne eine reale Alternative sichtbar gemacht werden. „Ein solcher Schritt sendet die klare Botschaft: So geht es – und so funktioniert es gut. Denn nach all den Niederlagen stehen wir vor einem Problem der Überzeugungskraft. Unsere größte Krise besteht darin, dass wir nicht als Sieger sprechen, sondern als Teil einer Bewegung, die Rückschläge erlitten hat“, so Öztürk weiter.

Ein einziges gutes Beispiel kann alles verändern

Besonders Kommunen und Städte könnten mit konkreten Projekten gesellschaftliche Dynamiken anstoßen. „Ein einziges überzeugendes Beispiel – sei es eine Kommune oder eine Stadtverwaltung – reicht aus, um alle Vorurteile gegenüber der Öko-Ökonomie zu entkräften. Das hätte das Potenzial, einen Dominoeffekt auszulösen“, betont Öztürk. Er verweist auf den jüngst gewählten Bürgermeister von New York, Zohran Mamdani, der mit einem ambitionierten sozialpolitischen Programm angetreten ist: „Sozialwohnungen sollen gebaut, Kindergärten eröffnet, kommunale Märkte geschaffen, der Mindestlohn angehoben und Studierende durch finanzielle Unterstützung entlastet werden. Zudem sollen die Steuern für Reiche und Großunternehmen steigen.“

All diese Forderungen könnten, so Öztürk, auch von kommunalen Akteuren hierzulande erhoben werden, und zwar sofort: „Ein solches Handeln würde den Spielraum für diese Kommunen enorm erweitern. Sie würden nicht nur über Öko-Ökonomie sprechen, sondern sie real verkörpern.“ Entscheidend sei dabei, soziale Ungleichheit in der lokalen Verwaltung selbst zu verhindern: „Die Entstehung einer privilegierten Funktionärsschicht muss vermieden werden. Oder zumindest ist ihr entschlossen entgegenzutreten.“

Zugleich betont Öztürk, dass ein umfassenderer gesellschaftlicher Wandel weitergehende Strukturen erfordere: „Sobald größere Wirtschaftseinheiten organisiert und geplant werden sollen, braucht es entsprechende Formen kollektiver Selbstverwaltung – seien es Räte, Kommunen oder sowjetähnliche Modelle.“ Ein solcher politischer Übergang könne die gesellschaftliche Wirkung der Kommunen vervielfachen: „Wenn Gemeinden ein öko-ökonomisches Programm verankern, werden sie ihre Wirkungskraft und ihren Einfluss vervielfachen – vielleicht um das Hundertfache.“

„Öko-Ökonomie ist sozialistisch gedacht“

Öztürk unterstreicht die zentrale Bedeutung des Öko-Ökonomie-Konzepts im Rahmen einer zeitgemäßen sozialistischen Strategie. Er bezieht sich erneut auf Abdullah Öcalans Manifest: „Ein Ansatz, der sich das Ziel setzt, die zerstörerischen Produktions- und Herrschaftsformen zu überwinden und stattdessen Wege zu finden, um eine ökologisierte Produktions- und Konsumkultur zu schaffen – das ist aus sozialistischer Perspektive vollkommen richtig.“

Es gehe um eine Form des Sozialismus, die die Zerstörung der Natur nicht als Randthema behandelt, sondern ins Zentrum der Kritik rückt: „Sozialismus heißt, Produktionsverhältnisse in Richtung einer ökologisch verantwortlichen, ausbeutungsfreien Ordnung grundlegend zu verändern. Der Begriff der Öko-Ökonomie umfasst genau diesen Zusammenhang als theoretisches Konzept, als politisches Programm und als praktische Umsetzung. Schritt für Schritt führt dieser Denkansatz genau dorthin.“

„Mit dem Konzept der Öko-Ökonomie lässt sich Sozialismus neu organisieren“

Für Hakan Öztürk steht fest: Die Öko-Ökonomie bietet einen gangbaren Weg zur Reorganisation eines zeitgemäßen Sozialismus. Als Beleg führt er nicht zuletzt die wachsende Bedeutung linker Kommunalpolitik weltweit an. „Ja, es ist möglich und es kann ein großartiger Neubeginn sein. Man braucht nicht einmal einen Überraschungserfolg wie den Wahlsieg von Zohran Mamdani in New York. Die gesellschaftliche Kraft, die hinter dem Gedanken der Öko-Ökonomie steht, hat längst das Potenzial erreicht, um Kommunalverwaltungen zu gewinnen. Was es braucht, ist ein Perspektivwechsel und den entschlossenen Schritt in die Umsetzung.“

Die kommunalen Strukturen – so Öztürks Überzeugung – seien längst bereit: „Es gibt keine Macht, die Gemeinden daran hindern könnte, Demokratie aufzubauen und öffentliche Produktion zu betreiben. Sobald jemand sagt: ‚Wir setzen dieses Programm jetzt um‘ – verändert sich alles. Dann gerät das ganze Land in Bewegung.“ Öztürk verweist auf die historischen Lehren der russischen Revolution: „Nach der Oktoberrevolution erreichte ein Drittel der Welt den Sozialismus – und niemand in Russland hätte sich das je vorstellen können. Wir können es wieder schaffen.“

„Kommunen als Leuchtfeuer“

Sobald Kommunen und Gemeinden erfolgreich seien, könnten sie ihre Kräfte bündeln und zu einer demokratischen Planung übergehen. Doch dieser Weg führe unvermeidlich durch eine Übergangsphase: „Wo immer der Sozialismus seinen Einfluss ausdehnt, wird es eine Zwischenetappe geben. Kommunaler Aufbau ist daher auch Vorbereitung und gleichzeitig ein Zentrum des Widerstands in schwierigen Zeiten.“ Die Geschichte zeige, dass solche Übergangsphasen lang und herausfordernd seien. „Deshalb müssen wir vorbereitet sein: auf die Gegenwart, die Übergangszeit und auf das, was danach kommt.“

Öko-ökonomische Kommunen und linke Stadtverwaltungen könnten dabei als Signale für einen neuen Gesellschaftsentwurf fungieren, betont Öztürk. „Sie sind Leuchtfeuer demokratischer Erneuerung und öffentlicher Produktion. Wenn sie erfolgreich agieren, können sie in die großen Städte ausstrahlen und dort eine hegemoniale Wirkung entfalten.“ Was danach komme, hänge maßgeblich von der politischen Handlungsfähigkeit der Sozialist:innen ab. „Öko-Ökonomie und Kommunen können bis zu diesem Punkt – und darüber hinaus – jede progressive Funktion übernehmen.“

https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/Oko-Okonomie-als-befreiung-sezai-temelli-uber-Ocalans-alternative-zur-kapitalistischen-moderne-48733 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/kommentar-die-notwendigkeit-den-sozialismus-neu-zu-denken-49228 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/ein-krieg-gegen-das-bewusstsein-perspektiven-auf-den-turkischen-spezialkrieg-in-kurdistan-49272 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/das-sozialismusverstandnis-der-neuen-epoche-und-der-kampf-um-tierbefreiung-49176 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/die-positive-revolution-beginnt-in-den-kommunen-49133

 

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Zypern: Verteidigungsrede von Kenan Ayaz als Buch veröffentlicht

19. Dezember 2025 - 8:00

Die Verteidigungsrede des in Deutschland verurteilten kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz ist auf Zypern in Buchform erschienen. Das Werk wurde kürzlich in der zyprischen Hauptstadt Nikosia vorgestellt. Herausgegeben wurde es von der Prozessbeobachtungsgruppe Kenanwatch, die sich aus Jurist:innen und Journalist:innen zusammensetzt.

Ayaz war im September 2024 vom Oberlandesgericht Hamburg wegen „Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung“ nach §129b StGB zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Rund ein Jahr später wurde er nach Zypern abgeschoben, wo er nun den Rest der Strafe im Zentralgefängnis von Nikosia verbüßt.

Im Zentrum der Publikation steht Ayaz’ umfangreiche Verteidigungsrede, in der er sich gegen die gegen ihn erhobenen Terrorvorwürfe wehrt und den Prozess als Angriff auf die politische Identität kurdischer Aktivist:innen bezeichnet. Die Herausgeber:innen sehen in dem Buch ein Zeugnis kollektiven Widerstands und einen Beitrag zur historischen Aufarbeitung von Repression und politischer Verfolgung.

 


Breite Beteiligung bei Vorstellung in Nikosia

An der Buchpräsentation nahmen zahlreiche Vertreter:innen aus Politik, Zivilgesellschaft, Medien und Wissenschaft teil – darunter Abgeordnete, Jurist:innen, Aktivist:innen sowie Familienangehörige von Vermissten infolge der türkischen Invasion von 1974. Moderiert wurde die Veranstaltung von der Journalistin Tonia Stavrinou. Zu Beginn verlas der Anwalt Sokrates Tziazas eine schriftliche Botschaft Ayaz’, der aus dem Gefängnis grüßen ließ.

Ayaz: „Nicht ich, sondern ein Volk wird verurteilt“

In seiner Erklärung erinnerte Ayaz an den 1994 im Auftrag des türkischen Staates ermordeten Theofilos Georgiadis, der Vorsitzender des Kurdistan-Solidaritätskomitees auf Zypern war. Seine Verurteilung in Deutschland richte sich nicht gegen ihn als Individuum, sondern gegen den kollektiven Kampf eines Volkes, ergänzte er. Das Verfahren habe gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, so Ayaz. Er sprach von einer „systematischen Verleugnung des Rechts“.

Kritik: Politisches Verfahren unter dem Deckmantel des Strafrechts

Mehrere Redner:innen betonten den politischen Charakter des Hamburger Prozesses. Der kurdische Politiker Lezgin Serhat erklärte, Ayaz habe seine Verteidigung nicht auf persönliche Freiheit, sondern auf die Rechte eines von Genozid bedrohten Volkes gestützt. Solche Dokumente prägten auch zukünftige Geschichtsschreibung, sagte Serhat und forderte Ayaz’ Freilassung.

Erzbischof: Rechte sind nicht verhandelbar

Auch der zyprische Erzbischof Georgios III. bekundete in einer Grußbotschaft seine Unterstützung. Menschenrechte seien universell und dürften nicht zur Verhandlungsmasse werden. Der kurdische Freiheitskampf erinnere an die Besatzungserfahrung der Zypriot:innen. „Freiheit wird nicht durch Worte, sondern durch Handeln verteidigt“, betonte der Erzbischof.

Buch als Manifest des Widerstands

Die Autorin Despo Pilavaki, die Anwälte Efstatios Efstathiou und Sokrates Tziazas sowie der Politiker Oz Karahan und der Journalist Alekos Michaelides bezeichneten das Buch als ein kollektives Dokument über Widerstand, Gerechtigkeit und politische Identität.

Pilavaki schilderte ihre Eindrücke aus Kurdistan und sprach von tiefem Respekt vor der sozialen Widerstandskraft der Menschen. Die Inhaftierung Ayaz’ bezeichnete sie als beschämend und forderte seine Freilassung. Verteidiger Efstathiou kritisierte, nicht konkrete Taten, sondern politische Haltung und kollektive Identität seien in dem Verfahren kriminalisiert worden. Die Buchpräsentation in Nikosia, einer Stadt „unter Teilbesatzung“, habe daher symbolische Bedeutung.

Oz Karahan, Vorsitzender der Union der Zypriot:innen und Mitglied der Grünen, erinnerte daran, dass Ayaz der erste kurdische politische Gefangene der Republik Zypern sei. Seine Verteidigung sei mehr als ein juristisches Dokument – sie sei Teil eines historischen Widerstands gegen Kolonialismus und Unterdrückung. Alekos Michaelides betonte, das Buch sei kein symbolischer Akt, sondern ein Manifest für Gerechtigkeit und Wahrheit. „Die Krise liege nicht im Recht, sondern in seiner selektiven Anwendung zum Nachteil des kurdischen Volkes“, so der Journalist.

https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kenan-ayaz-meine-haft-auf-zypern-ist-eine-politische-entscheidung-48132 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/verteidigung-von-kenan-ayaz-reicht-egmr-beschwerde-ein-48936 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/der-fall-kenan-ayaz-ist-ein-fall-transnationaler-unterdruckung-48238 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kenan-ayaz-warum-will-europa-die-kurdische-frage-nicht-losen-43305 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kenan-ayaz-in-hamburg-zu-uber-vier-jahren-haft-verurteilt-43463

 

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Nesim Bilgin: „Cihan war auf der Suche nach Wahrheit“

19. Dezember 2025 - 7:00

Ein Jahr nach dem tödlichen Drohnenangriff auf die Journalist:innen Cihan Bilgin und Nazım Daştan in Nordsyrien erinnert der Vater der getöteten Reporterin an das Leben und Wirken seiner Tochter – und ringt bis heute um rechtliche Anerkennung und einen würdigen Abschied. Am 19. Dezember 2024 wurden die beiden Medienschaffenden durch eine türkische Kampfdrohne getötet, als sie in einem mit „Presse“ gekennzeichneten Fahrzeug Angriffe der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten auf zivile Infrastruktur wie den Tişrîn-Staudamm und die Qereqozax-Brücke dokumentierten. Trotz internationaler Kritik gab es von türkischer Seite keine offizielle Stellungnahme. Journalist:innen, die sich mit dem Fall solidarisierten, wurden strafrechtlich verfolgt.

Türkei verweigerte Überführung der Leichen

Die Beisetzung von Cihan Bilgin und Nazım Daştan fand unter großer öffentlicher Anteilnahme in Qamişlo statt – doch die Familienangehörigen in der Türkei konnten nicht anwesend sein. Nesim Bilgin, der Vater, schildert, dass eine Überführung der sterblichen Überreste seiner Tochter in die Türkei trotz aller Bemühungen nicht möglich war. „Ein ganzes Jahr ist vergangen, doch wir konnten ihr nicht Lebewohl sagen. Ich konnte nicht einmal ihr Grab sehen“, sagt der Vater. Zweimal habe er versucht, über den innerkurdischen Grenzübergang Sêmalka nach Rojava einzureisen, sei aber jedes Mal zurückgewiesen worden.

 


Uhr blieb um 14:10 h stehen

In der Wohnung der Familie in Midyad erinnern persönliche Gegenstände an die getötete Tochter: Ihre Kamera, ihre Kleidung, eine Haarspange in Schmetterlingsform und die Armbanduhr, die um 14:10 Uhr stehen geblieben ist, dem Zeitpunkt ihres Todes. „Diese Uhr ist für uns alles“, sagt Nesim Bilgin. „Wenn wir sie ansehen, sehen wir Cihan.“ Die Familie habe die Gegenstände von Weggefährt:innen erhalten, die sie nach dem Anschlag aus Nordsyrien mitbrachten. Jeder Blick darauf sei schmerzhaft, aber zugleich ein Akt des Erinnerns.

Der Weg in den Journalismus

Cihan Bilgin wurde am 27. Oktober 1995 in Midyad in der Provinz Mêrdîn (tr. Mardin) geboren. Schon als Jugendliche kam sie mit der kurdischen Medienlandschaft in Kontakt. Ab 2014 engagierte sie sich in der Verteilung von Zeitungen, etwa der Azadiya Welat und der Özgür Gündem, und nahm an den Mahnwachen entlang der Grenze zu Rojava während des Überfalls der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) auf Kobanê teil.

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Später war sie kurzzeitig bei Dihaber tätig, bevor sie Ende 2017 nach Rojava ging, wo sie für die Nachrichtenagentur ANHA (Hawar News) arbeitete. Dort dokumentierte sie das Leben in einer von Krieg, Wiederaufbau und politischen Umbrüchen geprägten Region – insbesondere die Situation von Frauen, Kindern und Vertriebenen. „Meine Tochter konnte das Unrecht nicht ertragen“, sagt ihr Vater. „Sie hat gesagt: Ich kann keine Waffe tragen, aber ich kann eine Kamera tragen. Sie wollte keine Lügen verbreiten, sondern die Wahrheit zeigen.“

Klage beim EGMR

Noch immer existiert kein offizieller Totenschein für Cihan Bilgin. Die türkischen Behörden erkennen ihren Tod nicht an. Das hat weitreichende juristische und persönliche Konsequenzen für die Familie. Der Vater berichtet, dass mehrere Anträge gescheitert seien – nun habe man Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht. „Was immer wir auch tun – sie sagen, unsere Tochter sei nicht gestorben“, sagt Nesim Bilgin. „Doch wir wissen es. Wir tragen diesen Schmerz jeden Tag.“

„Dieser Krieg muss enden“

Neben der Forderung nach Gerechtigkeit spricht der Vater auch einen Appell für Frieden aus. „Es hat genug Blutvergießen gegeben“, sagt er. „Niemand soll das durchmachen müssen, was wir erleben. Der Krieg muss auf beiden Seiten enden.“ Sein Wunsch sei, dass aus der Trauer seiner Familie ein Anstoß für Verständigung und Versöhnung werde. Besonders an Journalist:innen richtet Nesim Bilgin einen bewegenden Appell: „Bitte lasst den Namen meiner Tochter nicht verblassen. Setzt euch weiterhin mit ihrer Geschichte auseinander. Folgt weiter der Wahrheit, wie sie es getan hat.“

https://deutsch.anf-news.com/pressefreiheit/cihan-bilgin-und-nazim-dastan-in-qamislo-beerdigt-44966 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/turkei-verweigert-wohl-Uberfuhrung-getoteter-journalist-innen-44916 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/bewegender-abschied-von-nazim-dastan-und-cihan-bilgin-44907

 

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Eine Erfolgsgeschichte: Die Universität Kobanê

18. Dezember 2025 - 20:00

In den Gebieten der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) hat sich im Rahmen der gesellschaftlichen Revolution seit 2012 auch das Bildungswesen stark entwickelt. Seit gut zehn Jahren wird der Hochschulbereich ausgebaut. Nicht nur die Anzahl von Universitäten, sondern auch deren Möglichkeiten sind dabei gewachsen. Ein Beispiel hierfür ist die 2017 gegründete Universität von Kobanê.

Der Ko-Vorsitzende der Universität Kobanê, Şervan Mislim, sprach mit ANF über den Aufbau und die Entwicklung der Universität: „Nach dem Erfolg des Widerstands von Kobanê und der Niederlage des IS wurde es als notwendig erachtet, eine Universität in Kobanê zu gründen. Zuvor war 2015 die Universität von Efrîn und 2016 die Rojava-Universität in Qamişlo eröffnet worden. Daher hielten wir es auch in Kobanê für notwendig, eine akademische Ausbildung aufzubauen.“ Hierdurch sollte Jugendlichen ermöglicht werden, nach Abschluss der zwölften Klasse eine universitäre Laufbahn einzuschlagen. „Aus diesem Grund wurde 2017 dann die Universität Kobanê eröffnet.“

 


Eine Universität nach gesellschaftlichen Bedürfnissen

Die Universität Kobanê wurde zunächst mit ausschließlich zwei Fakultäten gegründet: Kurdische Sprache und Literatur sowie Physik und Chemie. Heute ist sie eine Einrichtung mit zahlreichen Fachrichtungen und Schwerpunkten. Der Ko-Vorsitzende beschreibt die ersten Schritte des Aufbaus der Universität wie folgt:

„Das System an der Universität Kobanê unterschied sich von den Systemen anderer Universitäten. Wir haben für den Aufbau Erfahrungen aus aller Welt einbezogen und diese analysiert und ausgewertet. Auf Grundlage unserer Schlussfolgerungen haben wir daraus unser eigenes System der Lehre entwickelt. Wir hatten unsere eigenen Prinzipien, nach denen wir uns ausrichten wollten. Daher haben wir die Fachbereiche entsprechend der Bedürfnissen der Gesellschaft ausgerichtet. Wir haben beschlossen, Fachbereiche wie Medizin, Lehramt, Elektrotechnik, Informatik und auch viele weitere zu eröffnen.“

Erste Jahrgänge im Arbeitsleben angekommen

Mittlerweile haben bereits viele Studierende ihren Abschluss erfolgreich erworben. Es gibt heute unter anderem Fakultäten für kurdische, arabische und englische Literatur, sowie Fakultäten für Naturwissenschaften, Physik, Chemie, Mathematik und Biologie. Auch Fachbereiche wie Erziehungswissenschaften, Grundschulbildung und frühkindliche Bildung sind nun an der Universität vertreten.

Mislim berichtete weiter: „Die Fakultät für Rechtswissenschaften und die Fakultät für Sozialwissenschaften umfassen Soziologie, aber auch Jineolojî, Philosophie und Geschichte. Es gibt Fakultäten für Medizin und Krankenpflege, Labore, Notfallmedizin und Anästhesie sowie das sogenannte Höhere Institut für Kommunikation. Es gibt eine Fakultät für Technologie, Informatik und Elektrotechnik ebenso wie das Institut für Statistik. Es gibt auch eine Fakultät für Landwirtschaft.“

Die Studierenden brächten sich nach ihrem Universitätsabschluss entsprechend ihrer Fachrichtung an den Einrichtungen und Institutionen der DAANES beruflich ein. „Wir besuchen Schulen, Krankenhäuser und treffen dort mittlerweile auf unsere Studierenden, die uns dann an ihrem Arbeitsplatz willkommen heißen. Das ist sogar auch in den kommunalen Einrichtungen der Selbstverwaltung so“, erzählte der Ko-Vorsitzende der Universität und ergänzte zudem, dass weiterhin jedes Jahr weitere Fachbereiche eröffnet würden.

Internationale Beziehungen eröffnen Möglichkeiten

Şervan Mislim wies zum Schluss auch auf die Beziehungen zwischen der Universität Kobanê und Hochschulen weltweit hin. So sind auch viele Ärzt:innen und Professor:innen aus ganz Syrien mittlerweile an der Universität Kobanê tätig. Es würden auch aktiv Schritte unternommen, um Beziehungen auf internationaler Ebene aufzubauen. Mislim ordnete dies wie folgt ein: „Das ist auch ein Schritt, um den Ruf der Universität zu stärken. Wir haben Beziehungen zu vielen Akademiker:innen geknüpft und gemeinsam Masterstudiengänge entwickelt und eingerichtet.

Wir treffen derzeit Vorbereitungen dafür, Doktorate im Fachbereich kurdische Sprache und Literatur anbieten zu können. Beziehungen haben wir unter anderem zum Silêmanî-Institut, aber auch zu einer polnischen Universität aufgebaut und mit dieser auch eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnet. Das war ebenfalls ein sehr wichtiger Schritt, denn dadurch ist es unsere, Studierenden möglich, nach Polen zu gehen und polnische Studierende können hierher kommen.“

Wachsende Anerkennung

Die Universität Kobanê habe zudem zu Universitäten in Südkurdistan Verbindungen aufgebaut und strebe mit diesen Kooperationsvereinbarungen an. Kooperationen dieser Art zeigten, dass das Niveau der Ausbildung in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen sei. So seien auch weitere Zusammenarbeiten mit Universitäten in den USA, Polen und den Philippinen durchgeführt worden.

Rückblickend auf die Entwicklungen der Universität sagt Şervan Mislim dazu: „Unsere Arbeit und unser Einsatz tragen nun Früchte; unsere Diplome sind heute anerkannte berufliche Qualifikation und ein Nachweis für die Anerkennung der Universität. Gleichzeitig wird die Universität Kobanê auch im Bereich der künstlichen Intelligenz einen Beitrag leisten, sowohl entsprechend der akademischen Standards, aber auch entsprechend der Bedürfnisse der Gesellschaft.“

https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/kooperationsabkommen-zwischen-universitaten-kobane-und-stettin-unterzeichnet-49187 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/kobane-universitat-eroffnet-fakultat-fur-sozialwissenschaften-46868 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/universitat-kobane-kundigt-umfassende-akademische-erweiterung-an-46144

 

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Gespräche zwischen YNK und PDK zu Regierungsbildung

18. Dezember 2025 - 20:00

Karwan Gazneyi, Sprecher der Patriotischen Union Kurdistans (YNK), hat das jüngste Treffen zwischen seiner Partei und der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) zur Bildung der nächsten Regierung der Kurdistan-Region des Irak (KRI) als konstruktiv und ermutigend bezeichnet. Die Gespräche hätten „eine geeignete Grundlage für die nächste Phase“ der Verhandlungen geschaffen, so sein Wortlaut auf einer Pressekonferenz. Die Diskussionen gingen demnach in eine positive Richtung.

Die YNK und die PDK seien getrennte Partei mit unterschiedlichen Visionen und Politiken, dennoch pflege man den gemeinsamen Wunsch den Menschen in Kurdistan zu dienen und ein faires und effektives Kabinett zu bilden und wolle dafür seine Standpunkte zusammenzuführen, erklärte Gazneyi.

Perspektiven auf die Regierungsbildung

Dem YNK-Sprecher zufolge beruhe der Prozess der Regierungsbildung auf zwei Hauptsäulen: Der Einigung auf eine klare und solide Vision erstens und auf praktische Mechanismen für die Regionalregierung, die den Bedürfnissen der Bürger:innen wirklich gerecht werden, zweitens.

Er fügte hinzu, dass die Differenzen zwischen der YNK und der PDK nicht auf einen einzelnen Posten oder ein isoliertes Thema beschränkt seien. Vielmehr strebe seine Partei eine sinnvolle Partnerschaft bei der Regierung an. Gazneyi bestätigte, dass die YNK ein neues Verhandlungspapier vorgelegt habe und machte deutlich, dass sie an ihren Vorschlägen festhalten werde. Hierbei bestehe sie auf ihre legitimen Wahlansprüche und ihre ihrer Ansicht nach rechtmäßige Rolle in der nächsten Regierung.

https://deutsch.anf-news.com/frauen/kri-fehlendes-parlament-gefahrdet-frauen-und-kinderrechte-49294 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/parteien-in-sudkurdistan-demonstrieren-einigkeit-45441 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/vorlaufiges-ergebnis-pdk-vorn-ynk-zweite-gorran-sturzt-ab-43981 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/in-der-region-kurdistan-im-irak-wird-gewahlt-43970

 

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Kunst und Kino müssen zum Friedensprozess beitragen

18. Dezember 2025 - 18:00

Das 3. Internationale Filmfestival Amed hat in diesem Jahr nach achtjähriger Pause wieder stattgefunden und ist prompt zu einer Plattform für weitreichende Diskussionen über kurdisches Kino, Kultur und Kunst sowie den Friedensprozess geworden. ANF hat in diesem Rahmen mit Regisseur:innen über die Rolle der Kunst in Friedensdebatten gesprochen. Der einhellige Tenor: Sie kann ein starkes Instrument positiver Veränderungen sein.

Das einwöchige Festival in der kurdischen Metropole Amed (tr. Diyarbakir), bei dem 84 Filme gezeigt wurden, stieß auf großes Interesse und verzeichnete hohe Besuchszahlen. Mit zahlreichen Streifen aus Kurdistan und der Türkei standen die Themen Erinnerung und Muttersprache im Mittelpunkt des Programms.

Dort teilnehmende Regisseur:innen erklärten gegenüber ANF, dass Kunst eine entscheidende Rolle in Friedensdebatten spielen kann, insbesondere in Bezug auf Erinnerung. Sie sagten, dass sie ein wichtiger Schritt im Friedensprozess sei, und dass sie mehr als nur ein Raum des Ausdrucks sei, sondern ein mächtiges Instrument, das das soziale Gedächtnis lebendig halte und gleichzeitig verschiedene Teile der Gesellschaft zusammenbringe.


Öz: „Wir können den Menschen Frieden durch Praxis demonstrieren“

Mit einem klaren Appell richteten sich die Regisseur:innen auch an die Künstler:innen: Diese sollten ihre Rolle und Mission in dem laufenden Prozess erfüllen. Die „vereinigende Kraft muss so genutzt werden, dass sie der Gesellschaft zugute kommt und zum Prozess beiträgt“.

Der kurdische Regisseur Kazim Öz, mit dem ANF zuerst sprach, hat die folgende Einschätzung zur Rolle der Kunst im Friedensprozess: „Ein neuer Prozess hat begonnen, und die physische Kriegsführung ist zum Stillstand gekommen. In diesem Moment hat ein ernsthafter Kampf begonnen, sowohl in Bezug auf den Prozess selbst als auch in Bezug auf Kunst und Politik.

In diesem Sinne hat das Festival eine wichtige Rolle übernommen; es hatte acht Jahre lang nicht stattgefunden, und das ist sowohl für uns als auch für die Menschen von großer Bedeutung. In Friedensprozessen ist die Rolle der Kunst und der Künstler:innen sehr groß und sehr wichtig. Kunst kann den Menschen Frieden in praktischer Hinsicht näherbringen und dies in allen Bereichen durch Werke und organisierte Aktivitäten demonstrieren.“

Engagement für den Frieden

Künstlerisches Schaffen und Kino habe das Potenzial, so Öz, dem Prozess eine neue Perspektive zu verleihen. Hierfür schlug der Regisseur konkret vor sowohl in kurdischen wie auch in türkischen Städten vermehrt Festivals dieser Art zu veranstalten und den Austausch von Kunstschaffenden zu fördern. „Kultur und Kunst können durch solche Bemühungen den Friedensprozess und die Politik unterstützen. Als kurdischer Regisseur arbeite ich seit Jahren in diesem Bereich. In diesem Prozess bin ich bereit, alles zu tun, was mir für den Frieden zukommt.“

Der Beitrag von Kunst zu sozialem Frieden

Orhan Ince, Regisseur des Films „Hêvî“, sagte, die Wiederbelebung des Festivals habe für sie eine große Bedeutung und sie seien glücklich, nach acht Jahren wieder zusammenzukommen. Ince sagte: „Wir können unsere Sache nur durch Filme zum Ausdruck bringen. Ich sage das als jemand, der diese Arbeit produziert: Auch wenn sonst nichts passiert, sind wir hier. Wir sind zusammen, und wir produzieren weiterhin gemeinsam und schauen uns an, was wir produzieren.“

Die Gesellschaft habe einen großen Bedarf an solchen Veranstaltungen, meinte der Regisseur. Das große Interesse, was gezeigt wurde, sei kein Zufall. „Eine Zunahme solcher Veranstaltungen dient sowohl dem Frieden als auch einer Kultur des Zusammenlebens. Dieser Kampf wird seit Jahren geführt, und wir sind ebenfalls Teil davon. Ich glaube, dass mit der Zunahme solcher Produktionen der soziale Frieden stärker gefestigt wird. Die Menschen werden glücklicher sein, und es werden Räume entstehen, in denen sie sich in ihrer eigenen Sprache ausdrücken und sich selbst widergespiegelt sehen können.“

Ince: „Kunst stirbt nicht“

Ince schloss damit, dass Kunst im Laufe der Geschichte immer ein Mittel des Ausdrucks gewesen sei und sagte: „Die Menschen haben ihren Schmerz, ihre Freude, ihre Trauer und ihre Hoffnung durch Kunst zum Ausdruck gebracht. Es gab Menschen, die diese Arbeit vor uns geleistet haben, und es wird sicherlich Menschen geben, die sie nach uns leisten werden. Kunst ist etwas, das nicht stirbt.“

Şen: „Das Festival vermittelt eine sehr kraftvolle Botschaft“

Elifsu Dilek Şen, Autorin und Juristin, die regelmäßig Filmkritiken sowie Theater- und Kulturanalysen veröffentlicht, betonte ebenfalls, dass die Wiederbelebung des Festivals sowohl für das kurdische Kino als auch für den Friedensprozess äußerst wichtig sei. „Es ist sehr wertvoll, dieses Festival nach einer achtjährigen Pause wieder zu veranstalten. Ich habe dieses Jahr mehr als drei Filmfestivals besucht, und die meisten Filme waren einander sehr ähnlich. Hier haben wir jedoch die Möglichkeit, sehr unterschiedliche Filme zu sehen. Das Festival ist mit der Öffentlichkeit verflochten und erstreckt sich über die Straßen. In dieser Form vermittelt es eine sehr kraftvolle Botschaft über Frieden und Diyarbakır.“

Unterrepräsentierte Perspektive auf Frieden

Kurdische Filme fehlten auf Mainstream-Festivals fast vollständig, bedauerte Şen. Die in Amed gezeigten Filme hingegen machten verschiedene oppositionelle Stimmen des Landes und die Geschichten der Marginalisierten sichtbar. Die Kritikerin erinnerte an Bernard Chauvins Worte, dass „Kunst eine der wichtigsten Möglichkeiten ist, sich mit der Realität auseinanderzusetzen“, und sagte, das Festival biete „eine ganz andere Perspektive auf die Realität und den Frieden“.

Yıldırım : „Kunst kann Menschen zusammenbringen“

Emine Yıldırım, Regisseurin des Films „Gündüz Apollo Gece Athena“, stellte als größte Stärke der Kunst deren Fähigkeit dar, Menschen zusammenzubringen. „Kunst bietet nicht nur einen Raum für Debatten, sondern kann diesen Raum zu etwas machen, das die Menschen annehmen. Sie hat die Kraft, Menschen definitiv zusammenzubringen und eine starke emotionale Dynamik zu erzeugen. Ohne Kunst gibt es kein Leben.“

Kunstschaffenden schreibt die Regisseurin eine wichtige Verantwortung im Produktionsprozess zu: „Wenn sie einen Film drehen, müssen Künstler:innen ih8re Position kennen, und fest dazu stehen. Es ist sehr wichtig, das Werk für Diskussionen mit der Öffentlichkeit zu öffnen und offen für Kritik zu sein. Der Beitrag der Kunst zum Friedensprozess liegt in ihrer Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen, die sonst niemals Seite an Seite stehen würden. Vielleicht kann sie es ihnen ermöglichen, sich um dasselbe Gefühl zu vereinen.“

https://deutsch.anf-news.com/kultur/3-internationales-filmfestival-amed-feiert-starken-abschluss-49256 https://deutsch.anf-news.com/kultur/3-internationales-filmfestival-amed-eroffnet-49162 https://deutsch.anf-news.com/kultur/kino-gegen-das-vergessen-sitav-erzahlt-kindheit-im-ausnahmezustand-49232

 

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Wan: Mitglied der DEM-Jugend entführt und gefoltert

18. Dezember 2025 - 18:00

Im Stadtzentrum von Wan (tr. Van) ereignete sich in der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember ein brutaler Überfall auf Enes Sezgin, Mitglied der Jugendversammlung der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM). Der junge Mann ist von sieben Maskierten entführt und misshandelt worden. Schließlich haben ihn die Täter unter Drohungen in einem verlassenen Gebiet wieder freigelassen.

Brutaler Einschüchterungsversuch

Übereinstimmenden Medienberichten zufolge ist der Jugendliche nachts überfallen und in einem Transporter aus der Stadt gebracht worden. Enes Sezgin gab, dass er während der Entführung sowohl in dem Fahrzeug als auch in verlassenen Gebieten außerhalb der Stadt gefoltert und mit Morddrohungen und sexistischen Beleidigungen konfrontiert wurde. Die Täter wollten ihn offenbar zwingen, die Stadt zu verlassen. Sezgin betonte daraufhin später, dass er die Stadt nicht verlassen werde, und rief junge Menschen dazu auf, sich zu organisieren.

„Diese Gruppen sind es, die der Freiheit des kurdischen Volkes im Wege stehen und ihm Verleugnung und Vernichtung auferlegen. Egal, wer sich uns in den Weg stellt, wir werden darauf bestehen, unsere Organisation aufrechtzuerhalten. Wenn sie es mit dem Friedensprozess ernst meinen, müssen sie dieser Gruppe ein Ende setzen. Demokratische Integration kann nicht durch Faschismus erreicht werden“, sagte der junge Mann.

Erinnerungen an die 1990er Jahre

Nach dem Vorfall veranstalteten Mitglieder der Jugendversammlung der DEM-Partei und Vertreter:innen der Partei der demokratischen Regionen (DBP) eine Protestaktion im Stadtzentrum. In ihrer Presseerklärung vom Donnerstag wurde darauf hingewiesen, dass der Fall von Enes Sezgin an die Entführungs- und Foltervorfälle der Konter-Guerilla-Methoden in den 1990er Jahren erinnerten, und gefordert, die Täter zu entlarven.

Adem Yılmaz von der DEM-Jugend verlas die Erklärung, in der es hieß: „Wir erklären, dass wir unseren Kampf gegen Banden und Gegenstrukturen intensivieren und allen Völkern den Prozess für Frieden und eine demokratische Gesellschaft näherbringen werden. Wir sind entschlossen, diese Politik des Drucks und der Gewalt gemeinsam mit unserem Volk zu vereiteln, indem wir uns stark organisieren und den Kampf gegen die Mentalität der Entführungen und Morddrohungen, die in letzter Zeit in Wan vorherrschte, intensivieren.“ Die Protestaktion endete später mit Parolen.

https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/ein-krieg-gegen-das-bewusstsein-perspektiven-auf-den-turkischen-spezialkrieg-in-kurdistan-49272 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/dem-jugend-startet-marsch-von-amed-nach-amara-45783

 

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Keine unabhängige medizinische Untersuchung für Mohammadi

18. Dezember 2025 - 18:00

Die iranischen Behörden haben einen Antrag der Friedensnobelpreisträgerin und Menschenrechtsaktivistin Narges Mohammadi auf Untersuchung durch eine:n unabhängige:n Mediziner:in abgelehnt. Angaben ihrer Familie zufolge ist die 53-Jährige bei der Festnahme vergangene Woche von der Polizei mit Knüppeln misshandelt worden. Unterstützungskreise planen eine Eingabe bei der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs.

Haftbedingungen und -ort noch immer unklar

Narges Mohammadi wurde zusammen mit anderen Aktivist:innen in der nordostiranischen Stadt Maschhad festgenommen, nachdem sie bei einer Gedenkfeier für den unter fraglichen Umständen verstorbenen Anwalt Khosrow Alikordi gesprochen hatte. Ihre Familie gab an, dass Mohammadi durch Polizeigewalt während der Festnahme Prellungen an Hals und Gesicht erlitten habe. In einem kurzen Telefonat soll die Gefangene berichtet haben, dass sie aufgrund dieser Verletzungen bereits zweimal in die Notaufnahme gebracht worden sei. Eine Untersuchung durch unabhängiges medizinisches Personal wird ihr offenbart verwehrt.

Noch immer soll darüber hinaus ungeklärt sein, wo und unter welchen Bedingungen Mohammadi festgehalten wird, was bei ihrem Ehemann, Taghi Rahmani, und ihrer Familie ernsthafte Besorgnis erregt. Unter anderem Amnesty International warf den Sicherheitskräften Folter und Misshandlung von Narges Mohammadi und einer weiteren Aktivistin vor.

Antrag beim Internationalen Strafgerichtshof angekündigt

Während die iranischen Behörden angaben, dass 39 Personen während besagter Gedenkfeier festgenommen worden seien, werden laut dem Anwalt der Familie mindestens 50 Personen willkürlich festgehalten. Auch wurde berichtet, dass Mohammadi wegen „Zusammenarbeit mit der israelischen Regierung“ angeklagt werden soll.

Aufgrund der weit verbreiteten und systematischen Unterdrückung im Iran plane der Unterstützungskreis der Menschenrechtlerin in den kommenden Tagen einen Antrag bei der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs zu stellen. Obwohl der Iran nicht Vertragspartei des Römischen Statuts ist, argumentieren die Anwält:innen, dass dennoch eine Untersuchung wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet werden könnte.

https://deutsch.anf-news.com/frauen/friedensnobelpreistragerin-mohammadi-bei-festnahme-misshandelt-49271 https://deutsch.anf-news.com/frauen/kjar-verurteilt-festnahme-von-aktivist-innen-in-iran-49253 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/eu-und-nobelkomitee-fordern-freilassung-von-narges-mohammadi-49245 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/iranische-friedensnobelpreistragerin-narges-mohammadi-festgenommen-49229

 

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Vorläufige Einigung über militärische Integration in Syrien erzielt

18. Dezember 2025 - 16:00

Das Verhandlungskomitee für Nord- und Ostsyrien hat eine Erklärung zu seinen Gesprächen mit der syrischen Übergangsregierung veröffentlicht, in der es heißt, dass eine vorläufige Einigung über die Beibehaltung von drei Einheiten der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) innerhalb der militärischen Struktur der syrischen Armee erzielt worden sei.

„Die Details zur Organisationsstruktur der Institutionen werden derzeit von Fachausschüssen beider Seiten diskutiert. Konkrete Schritte werden in naher Zukunft erwartet“, so weiter im Wortlaut. Dieser Schritt habe laut Erklärung „klare internationale Unterstützung gefunden, was zu einer dialogbasierten politischen Lösung geführt hat“.

Der Komitee merkte an, dass diese Option der realistischste Weg sei, um Stabilität zu gewährleisten, und fügte hinzu: „Jeder bedeutende Fortschritt erfordert ein Ende des Medienkriegs und der Hassreden.“ Versöhnung und Zusammenarbeit seien demnach der einzige Weg, um eine dauerhafte Lösung in Syrien zu erreichen.

https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/haci-integration-bedeutet-nicht-identitatsverlust-sondern-demokratische-partnerschaft-49246 https://deutsch.anf-news.com/frauen/ypj-kommandantin-zu-gesprachen-mit-damaskus-integration-heisst-nicht-unterwerfung-48453 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/hiso-fordert-ruckzug-der-turkei-aus-syrien-und-dialog-mit-autonomieverwaltung-49244 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/mazlum-abdi-die-integration-der-qsd-wurde-syrien-stabilitat-bringen-48958

 

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