«Der Staat ist eine Institution, die von Banden geführt wird, die aus Mördern, Plünderern und Dieben besteht, umgeben von willfährigen Handlangern, Propagandisten, Speichelleckern, Gaunern, Lügnern, Clowns, Scharlatanen, Blendern und nützlichen Idioten - eine Institution, die alles verdreckt und verdunkelt, was sie berührt.» (– Prof. Hans-Hermann Hoppe).
ANF NEWS (Firatnews Agency) - kurdische Nachrichtenagentur
EUTCC: „Recht auf Hoffnung“ für Öcalan und andere Gefangene garantieren
Die EU Turkey Civic Commission (EUTCC) hat den Europarat eindringlich aufgefordert, angesichts des Widerstands der Türkei gegen das sogenannte „Recht auf Hoffnung“ konkrete Schritte einzuleiten. In einem an den Vorsitz des Ministerkomitees, die ständigen Vertretungen der Mitgliedstaaten sowie den Ausschuss zur Verhütung von Folter (CPT) gerichteten Schreiben warnt die Kommission vor einem schwerwiegenden Bruch menschenrechtlicher Verpflichtungen durch die Türkei.
Anlass des Schreibens ist die Entscheidung der türkischen Regierung, lebenslang Inhaftierten – darunter auch Abdullah Öcalan – auch künftig keine realistische Perspektive auf Entlassung einzuräumen. Diese Haltung geht aus dem letzten Aktionsplan hervor, den die Türkei im Juni dem Ministerkomitee des Europarats im Zuge der Überwachung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) übermittelt hatte.
Recht auf Hoffnung – ein Prinzip der Menschenwürde
„Die Türkei hat erklärt, dass sie das Recht auf Hoffnung für zu lebenslanger Haft Verurteilte nicht anerkennen wird. Das ist inakzeptabel und widerspricht den menschenrechtlichen Grundprinzipien des Europarats“, heißt es in dem von EUTCC-Vorsitzender Prof. Kariane Westrheim unterzeichneten Schreiben.
Das „Recht auf Hoffnung“ wurde vom EGMR bereits 2014 als menschenrechtlich verbindlich festgelegt. Demnach verstoßen lebenslange Freiheitsstrafen ohne reale Chance auf Haftüberprüfung oder Entlassung gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der unmenschliche oder erniedrigende Behandlung verbietet.
Nicht nur eine Frage individueller Rechte
In dem Schreiben erinnert die EUTCC den Europarat an die eigene Verpflichtung, für die Umsetzung dieser Rechtsprechung zu sorgen. Der Appell richtet sich insbesondere an die ständige Vertreterin Islands, Ragnhildur Arnljótsdóttir, die dem Ministerkomitee derzeit vorsitzt. Die Kommission betont, dass es beim Fall Abdullah Öcalan nicht allein um individuelle Menschenrechte gehe. Vielmehr habe das Prinzip des Hoffnungrechts „auch eine politische Dimension“ im Kontext der kurdischen Frage und des Dialogprozesses zwischen Öcalan und dem türkischen Staat.
„Die Anwendung des Rechts auf Hoffnung ist nicht nur für die persönlichen Rechte von Herrn Öcalan relevant, sondern auch für mögliche Schritte hin zu einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage und einer demokratischen Öffnung der Türkei insgesamt“, so die EUTCC.
Kritik an mangelnden Fortschritten
Die EUTCC verweist darauf, dass seit der Verurteilung durch den EGMR keine substanziellen Fortschritte bei der Umsetzung des Urteils durch die Türkei erzielt worden seien. Die Kommission ruft daher das Ministerkomitee auf, die im September 2024 beschlossenen Maßnahmen nun dringend umzusetzen und die Türkei nachdrücklich an ihre Verpflichtungen zu erinnern.
Die EUTCC organisiert seit 2004 regelmäßig internationale Konferenzen im Europäischen Parlament mit dem Fokus auf die kurdische Frage und demokratische Entwicklungen in der Türkei. Dabei wird sie von verschiedenen Fraktionen des Parlaments unterstützt.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/tulay-hatimogullari-recht-auf-hoffnung-muss-dringend-auf-die-politische-agenda-47852 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/die-verweigerung-des-rechts-auf-hoffnung-gefahrdet-den-gesamten-prozess-47754 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/juristin-die-turkei-manipuliert-das-ministerkomitee-des-europarats-47274 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/turkei-verweigert-Ocalan-weiterhin-recht-auf-hoffnung-46996 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kurdische-organisationen-mobilisieren-fur-recht-auf-hoffnung-in-strassburg-47526
GfbV: Scheinwahlen in Syrien legitimieren islamistisches Regime
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) warnt eindringlich davor, die geplanten „Parlamentswahlen“ in Syrien als legitimen demokratischen Prozess zu bezeichnen. Die Menschenrechtsorganisation kritisiert die von den islamistischen Machthabern in Damaskus angekündigte Abstimmung als „Scheinwahl“, die lediglich der Machtsicherung diene und große Teile der Bevölkerung gezielt ausschließe. „Es gibt keine freien oder demokratischen Wahlen in Syrien. Wer von Wahlen spricht, legitimiert ein kriminelles Regime“, erklärte der GfbV-Nahostreferent Dr. Kamal Sido am Dienstag in Göttingen.
Bei den bevorstehenden „Parlamentswahlen“, für die es bislang keinen konkreten Termin gibt, sollen insgesamt 210 Abgeordnete in das sogenannte syrische Parlament einziehen. 140 Mandate sollen durch regionale Wahlgremien vergeben werden, deren Mitglieder jedoch vom selbsternannten Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa eingesetzt werden. Die restlichen 70 Sitze werden direkt von al-Scharaa persönlich ernannt. „So werden faktisch alle Sitze von den syrischen islamistischen Machthabern bestimmt“, betont die GfbV.
Kurd:innen, Drus:innen und Oppositionelle ausgeschlossen
Besonders kritisiert die GfbV, dass große Bevölkerungsgruppen systematisch vom angeblichen Wahlprozess ausgeschlossen werden – darunter Kurd:innen, Drus:innen, Alawit:innen sowie die demokratische arabisch-sunnitische Opposition. In der Autonomieregion Nord- und Ostsyriens etwa wurden gar keine Wahlgremien eingerichtet. Gleiches gilt für die drusischen Regionen rund um die Provinz Suweida im Süden des Landes. Darüber hinaus sein sämtliche oppositionelle oder nicht-islamistische Kräfte durch Gesetze und Verordnungen von einer Kandidatur ausgeschlossen. Als nicht wählbar gelten laut Regime „Separatisten, Terroristen und Agenten des Auslands“ – Begriffe, die in Syrien regelmäßig auf Regierungskritiker, Aktivist:innen und Minderheiten angewendet werden.
„Islamistisch-faschistische Diktatur“ mit externer Unterstützung
Die GfbV spricht mit Blick auf das derzeitige Machtsystem in Syrien von einer „islamistisch-faschistischen Diktatur“, die unter dem Deckmantel einer Übergangsregierung versuche, das Land religiös zu homogenisieren. Unterstützt werde dieses Regime von Regierungen wie der Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan und dem Emirat Katar, die enge Verbindungen zu islamistischen Strukturen pflegen.
Sido warnt davor, durch eine unkritische Wortwahl zur Legitimation des Regimes beizutragen: „Wer diese Vorgänge als Wahlen bezeichnet, hilft einem kriminellen Islamisten, der alawitische und drusische Frauen massenweise entführen und vergewaltigen lässt oder dies duldet, de facto als Präsidenten anzuerkennen und zu legitimieren.“
Appell an Bundesregierung
Die GfbV fordert die deutsche Bundesregierung auf, die „Ergebnisse“ der angekündigten Abstimmungen nicht als rechtmäßige Wahlen anzuerkennen und keinen politischen Dialog mit dem Regime unter al-Scharaa zu führen.
„Wer dies dennoch tut, macht sich mitschuldig an den Massenmorden und Vergewaltigungen von Drusen, Alawiten und anderen Volksgruppen durch das Regime in Damaskus. Die deutsche Außenpolitik redet von Demokratie und Menschenrechten in Syrien, unterstützt aber die Feinde der freiheitlich-demokratischen Werte“, so Sido, der im Frühjahr zahlreiche syrische Regionen bereist hatte.
Breite Ablehnung innerhalb Syriens
Die geplanten Wahlen stoßen laut GfbV auch innerhalb Syriens auf breite Ablehnung, insbesondere bei Minderheiten und Frauen, die aus dem Prozess ausgeschlossen werden. Auch die nordostsyrische Selbstverwaltung, die drusische Bevölkerung im Süden, die alawitische Minderheit an der Küste und die säkular-demokratische Opposition lehnen das Vorhaben strikt ab.
https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/undemokratisch-daanes-lehnt-parlamentswahl-in-syrien-ab-47647 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/msd-ohne-anerkennung-aller-gesellschaftlichen-gruppen-kein-frieden-in-syrien-47756 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/dialog-ja-unterordnung-nein-foza-yusif-uber-verhandlungen-mit-damaskus-47674 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/mazlum-abdi-syrien-braucht-eine-neue-verfassung-dezentral-und-inklusiv-47401 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/syrien-will-neues-parlament-im-september-wahlen-47291
Kommunalwahl: SPD-Kandidierende Evin Kina und Kendal Yakut bei Çira Fokus
In der heutigen Ausgabe der deutschsprachigen Sendung Çira Fokus führt Moderator Yilmaz Pêşkevin Kaba ein weiteres Gespräch über die anstehenden Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen (NRW) am 14. September. Die Studiogäste sind die Bielefelder:innen Evin Kina und Kendal Yakut (beide SPD). Evin Kina möchte Brake im Stadtrat von Bielfeld vertreten, Yakut stellt sich in Baumheide der Wahl.
Themen der Sendung sind unter anderem die Vorstellung der Kandidierenden sowie ein Gespräch über Vorhaben und Ziele der Kandidierenden für die Menschen in der Stadt Bielefeld. Weitere Fragen sollen sich rund um das Wahlrecht, parlamentarische Präsenz und die Mitentscheidung von Menschen mit Migrationsgeschichte drehen.
Die Sendung Çira Fokus am 9. September beginnt um 20 Uhr und kann live über den Stream https://linktr.ee/ciratv, alternativ: https://myflixtv.com/ verfolgt werden, nachträglich auch über den YouTube-Kanal von Çira TV, über die Eingabe Çira Fokus. Die Sendungsübersicht ist erreichbar über: Playlist - ÇIRA FOKUS.
Wer selbst Interesse an einer Teilnahme an einer Sendung bei Çira Fokus hat und unter anderem eigene Initiativen, Kampagnen, Organisationen, Projekte, etc. vorstellen möchte, kann unter der E-Mail-Adresse peskevin@gmail.com Kontakt mit der Redaktion aufnehmen.
Fotos Kina & Yakut © Christian Pirskanen via Çira Fokus
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kon-med-ruft-zur-beteiligung-an-den-kommunalwahlen-in-nrw-auf-47843
DEM fordert Dialog mit Öcalan und kritisiert autoritären Kurs der Regierung
Die Sprecherin der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM), Ayşegül Doğan, hat sich auf einer Pressekonferenz in Ankara zu einer am Vortag abgehaltenen Sitzung des zentralen Exekutivausschusses ihrer Partei zur aktuellen politischen Lage in der Türkei geäußert. Im Mittelpunkt standen dabei die zunehmenden autoritären Tendenzen, die Rolle der Justiz sowie der Ausschluss oppositioneller Stimmen – insbesondere im Hinblick auf einen Friedensprozess zur Lösung der kurdischen Frage.
Besondere Aufmerksamkeit richtete sich auf die Aussage, dass der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan der Imrali-Delegation der DEM-Partei übermitteln ließ: „Ich habe wichtige Dinge, die ich der Parlamentskommission mitteilen möchte.“ Doğan forderte in diesem Zusammenhang, dass Gespräche mit Öcalan dringend aufgenommen werden müssten, wenn eine glaubwürdige politische Lösung überhaupt angestrebt werde. „Die Kommission muss einen Weg finden, mit Herrn Öcalan zu sprechen. Das ist notwendig, legitim und überfällig“, sagte Doğan.
Demokratiefrage betrifft nicht nur die CHP
In ihrer Erklärung übte Doğan scharfe Kritik an der Ernennung eines kommissarischen Leiters anstelle der gewählten Parteiführung der CHP in Istanbul. Das Vorgehen sei „weder rechtmäßig noch legitim“ und bedrohe die Grundlagen demokratischer Teilhabe in der Türkei insgesamt. Die DEM-Partei sehe darin keine parteipolitische Angelegenheit, sondern einen Angriff auf die Demokratie selbst.
„Es geht nicht darum, ob man die CHP verteidigt. Es geht um das Wahlsystem, die Rechtsstaatlichkeit und den Raum für demokratische Politik.“ Doğan warf der Regierung vor, politische Konkurrenz durch „Kumpaneien und Intrigen“ auszuschalten, statt sich einem fairen demokratischen Wettbewerb zu stellen.
Kritik an der Rolle der Justiz
Auch die Rolle der Justiz wurde in der Pressekonferenz thematisiert. Doğan warf den Gerichten vor, politische Interessen zu schützen, statt für Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zu sorgen. „Die Justiz soll das Recht schützen, nicht politische Manöver absichern“, sagte sie. Gerade in einer Zeit, in der sich demokratische Räume zunehmend verengen, sei es entscheidend, das Vertrauen in ein unabhängiges Rechtssystem wiederherzustellen.
„Tabus müssen fallen“
In Bezug auf die jüngst gebildete Parlamentskommission zur Demokratisierung warnte Doğan davor, den Kontakt zu zentralen Akteuren wie Öcalan auszublenden: „Wer den Kontakt zu Öcalan verweigert, verliert die Orientierung. Wer Lösungen will, muss sich von politischen Tabus verabschieden und neue Wege beschreiten.“
Die Zeit der Sprachlosigkeit müsse vorbei sein, so Doğan. Die Kommission solle nicht zum Instrument folgenloser Rhetorik werden, sondern ernsthafte Gespräche ermöglichen. Der Verweis auf frühere Friedensversuche sei mehr als Symbolik – vielmehr gehe es darum, den „einzigen Akteur“, der über jahrzehntelange politische Erfahrungen im Konflikt verfüge, einzubeziehen.
Kritik an Syrien-Politik und Kriegsrhetorik
Auch die Haltung der türkischen Regierung gegenüber der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien wurde deutlich kritisiert. Statt auf Gespräche mit Vertreter:innen der dortigen Selbstverwaltung zu setzen, befeuere Ankara eine feindselige Rhetorik gegen die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und die Partei für eine Demokratische Einheit (PYD), so Doğan. Dies sei „nicht die Sprache der Freundschaft und auch nicht die Sprache der Lösung“.
Besonders verwies sie auf eine Äußerung des PYD-Politikers Salih Muslim, der sich bereit erklärt hatte, für einen Friedensdialog nach Ankara zu reisen: „Warum nutzt Außenminister Hakan Fidan diese Bereitschaft nicht und spricht mit ihm oder mit Ilham Ehmed?“, fragte Doğan. Letztere ist Ko-Außenbeauftragte der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES).
Barzanî und das „Tabu Öcalan“
Mit Blick auf eine Äußerung des PDK-Vorsitzenden Mesûd Barzanî, der in einem Interview sagte, er würde Öcalan gern besuchen – „aber nicht im Gefängnis“ – betonte Doğan, dass es breites Interesse an direktem Kontakt mit Öcalan gebe: „Es ist nicht ungewöhnlich, mit Herrn Öcalan sprechen zu wollen. Es ist vielmehr notwendig und der Weg dorthin darf nicht länger blockiert werden.“
Die derzeitige Behandlung des Themas als Tabu sei kontraproduktiv und demokratiefeindlich. Menschen strebten danach, Öcalan direkt zu hören und mit ihm in Kontakt zu treten – dies müsse endlich möglich gemacht werden.
Ankündigung eines Besuchs auf Imrali
Abschließend kündigte Doğan an, dass eine hochrangige Parteidelegation der DEM – darunter die beiden Ko-Vorsitzenden Tülay Hatimoğulları und Tuncer Bakırhan – in der bevorstehenden Woche die Gefängnisinsel Imrali besuchen werde, um mit Öcalan zu sprechen.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/tulay-hatimogullari-recht-auf-hoffnung-muss-dringend-auf-die-politische-agenda-47852 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/losungsprozess-mithat-sancar-fordert-friedensrecht-in-drei-dimensionen-47837 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/bahceli-droht-mit-angriff-auf-nord-und-ostsyrien-47792 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/die-turkei-ist-noch-weit-von-einem-positiven-frieden-entfernt-47753
Widerstand in Botan: Ökologieplattform mobilisiert zu Protest gegen Ökozid
Die systematische Zerstörung der Natur in der Botan-Region in Nordkurdistan hat nach Einschätzung von Umweltschützer:innen einen neuen Höhepunkt erreicht. Neben massiven Waldrodungen sind auch Staudammprojekte und Bergbauaktivitäten Teil einer gezielten Politik der „Entvölkerung und Entwurzelung“, so die Einschätzung der Ökologieplattform Şirnex. Für heute ruft die Plattform zu einer Demonstration in der Provinzhauptstadt Şirnex (tr. Şırnak) sowie zu einer anschließenden Mahnwache in Besta auf, wo aktuell erneut Wälder zerstört werden.
„Diese Plünderung können wir nur gemeinsam stoppen“, sagte der Sprecher der Plattform, Adnan Şenbayram, im Vorfeld der Aktion. Die Eingriffe in die Ökosysteme der Region würden seit Jahren unvermindert und unter staatlicher Duldung oder Beteiligung fortgeführt. Besonders betroffen seien die Gebiete Cûdî und Gabar, die einst für ihre Artenvielfalt und Wasserquellen bekannt waren.
Rodungen als Teil staatlicher Sicherheits- und Profitpolitik
Laut Şenbayram hat die Entwaldung spätestens seit 2018 massiv zugenommen. Eine frühere Untersuchung der Plattform – der sogenannte „Cûdî-Bericht“ – dokumentierte anhand von Satellitenbildern über die Jahre 2013 bis 2022 eine signifikante Abnahme der Waldflächen. Auch die Anwaltskammer von Şirnex stellte in einer Strafanzeige fest, dass bereits rund acht Prozent der Waldbestände zerstört wurden.
„Was heute als Umweltzerstörung erscheint, ist in Wahrheit ein gezielter ökologischer Krieg“, so Şenbayram. Der Staat rufe in regelmäßigen Abständen sogenannte Sicherheitsgebiete in mehreren Landkreisen aus – darunter Şirnex, Elkê (Beytüşşebap), Qilaban (Uludere), Cizîr (Cizre), Silopiya (Silopi) und Basa (Güçlükonak). „In diesen angeblich aus Sicherheitsgründen gesperrten Gebieten werden Waldflächen abgeholzt und wirtschaftlich ausgebeutet. Eine Kontrolle ist kaum möglich, denn die offiziellen Daten bleiben intransparent.“
Besonders dramatisch sei die Lage am Gabar-Berg, wo großflächige Ölbohrungen kaum noch Vegetation übriggelassen hätten. Auch am Cûdî-Massiv dringen Kohleminen inzwischen bis in die historische Sefîne-Region vor – ein Ort, der mythologisch mit der Arche Noah verbunden wird.
„Ziel ist die Entvölkerung durch ökologische Mittel“
Şenbayram zieht Parallelen zur Politik der verbrannten Erde in den 1990er Jahren, mit der tausende Dörfer zerstört und hunderttausende Kurd:innen vertrieben wurden. Heute geschehe Ähnliches „unter dem Deckmantel wirtschaftlicher Entwicklung“. Dabei würden nicht nur Wälder zerstört, sondern auch Dörfer unter Druck gesetzt: In Komate etwa werde von Dorfbewohner:innen unter Zwang Zustimmung zu Rodungen eingeholt. In anderen Dörfern würden Menschen mit dem Versprechen von Lohnarbeit zur Unterstützung der Abholzungen bewegt.
„Die Natur wird dem Profit geopfert – ohne Rücksicht auf ökologische oder kulturelle Werte“, so Şenbayram weiter. Eine Nachpflanzung der Bäume, wie sie das türkische Forstgesetz vorschreibt, finde in der Realität nicht statt.
Gouverneur leugnet Rodungen
Trotz gegenteiliger Zusicherungen der Behörden halte die Umweltzerstörung unvermindert an. Zwar habe der Provinzgouverneur erklärt, es werde „keine neuen Ausschreibungen“ geben und „keine weiteren Rodungen“ zugelassen. Doch laut Şenbayram transportieren täglich Dutzende LKWs gefälltes Holz aus den Bergen. „Der Gouverneur ist unzufrieden, die Dorfbewohner:innen sind es, selbst die Waldarbeiter:innen sind es – aber das Plündern geht weiter. Wem sollen wir glauben: unseren Augen oder den Amtsstuben?“, fragt Şenbayram.
Er ruft alle gesellschaftlichen Gruppen auf, sich dem Protest anzuschließen: „Wenn diese Zerstörung gestoppt werden soll, dann reicht symbolischer Widerstand nicht mehr aus. Wir brauchen jetzt breite und sichtbare Aktionen.“
https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/massenprotest-in-besta-angekundigt-wir-stehen-auf-der-seite-der-natur-47841 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/der-naturraubbau-muss-gestoppt-werden-47844 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/waldbrand-in-der-besta-region-bei-Sirnex-47787 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/dorfer-am-gabar-massiv-seit-jahren-ohne-sauberes-wasser-47649 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/Okologische-vernichtung-als-strategie-47638
Utopie als Widerstand: Konstantin Wecker würdigt Öcalan in neuem Buch
Der Münchner Musiker, Liedermacher und Autor Konstantin Wecker hat in seinem neuen Buch Der Liebe zuliebe ein leidenschaftliches Plädoyer für eine bessere, gerechtere Welt veröffentlicht – und sich dabei ausdrücklich auf den kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan bezogen. In einem zentralen Kapitel mit dem Titel „Die Kraft von Utopia“ würdigt Wecker die utopischen Gedanken Öcalans als „rettende Inspiration“ und stellt sie in den Zusammenhang eines weltweiten Widerstands gegen Militarismus, Patriarchat und kapitalistische Ausbeutung.
ANF dokumentiert den vollständigen Auszug mit freundlicher Genehmigung des Autors und des bene!-Verlags. In dem Text verknüpft Wecker poetische Reflexionen mit politischen Klarstellungen – etwa zur Kriminalisierung der kurdischen Bewegung in Europa, zur Rolle der Bundesregierung im völkerrechtswidrigen Krieg gegen Rojava oder zur Bedeutung von Hoffnung als radikale Praxis.
Besonders hervor hebt Wecker das von Abdullah Öcalan formulierte Ideal einer ethisch-politischen Gesellschaft jenseits von Staat, Macht und Gewalt. Mit deutlichen Worten schreibt er über den „Despoten vom Bosporus“, die jahrzehntelange Isolationshaft Öcalans und den Unterschied zwischen staatlicher Rhetorik und tatsächlichem Friedenswillen.
„Die Geschichte entscheidet letztlich darüber, wer Despot und wer Streiterin oder Streiter für den Frieden und eine gerechtere Welt ist“, schreibt Wecker – und zieht eine direkte Linie von der kurdischen Frauenbewegung über die Proteste in Iran bis hin zu eigenen Erfahrungen mit Widerstand und Kunst.
Der Text endet mit einem persönlichen Gedicht, das wie eine letzte Einladung zum gemeinsamen Träumen und Handeln klingt: „Dass diese Welt nie ende, / nur dafür lasst uns leben.“
Konstantin Wecker zählt seit Jahrzehnten zu den markantesten Stimmen des deutschen Kulturbetriebs, wenn es um Antimilitarismus, Antifaschismus und solidarische Gesellschaftsutopien geht. Seine offene Bezugnahme auf Öcalans Werk und die kurdische Bewegung ist bemerkenswert – in einem kulturellen Klima, in dem öffentliche Solidarität mit Kurd:innen und ihren politischen Zielen in Deutschland oft kriminalisiert oder marginalisiert wird.
Sein Buch „Der Liebe zuliebe“ ist am 1. September 2025, dem Internationalen Antikriegstag, im bene! Verlag (Droemer Knaur) erschienen und umfasst 272 Seiten. Es begleitet seine gleichnamige Tournee im Jahr 2026. Weitere Informationen zum Buch und zur Tour finden sich unter www.wecker.de
Dokumentation: Auszug aus dem Buch „Der Liebe zuliebe“ von Konstantin Wecker
»Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen.« Was für ein schöner, bewegender und großartiger Satz, den Ernst Bloch uns geschenkt hat in seinem Werk Das Prinzip Hoffnung. Für Bloch ist Hoffen ein philosophisches Prinzip und eine soziale Praxis zugleich. Und so werden gesellschaftliche Entwicklungen seit Jahrtausenden maßgeblich von den Hoffnungen der Menschen auf ein besseres Leben und eine gerechtere Welt vorangetrieben. Oder wie es der Münchner Filmemacher und Autor Alexander Kluge einmal formuliert hat: »Eine aktuelle Wirklichkeit besteht aus Vergangenheit, Zukunft und dem Konjunktiv der Möglichkeit, die neben ihr einhergeht und große Gravitation hat – wie ein Echo begleitet die Möglichkeit die sogenannte Wirklichkeit.«
(…)
In den letzten Jahren habe ich mich in meinen Konzerten auf eine lange und intensive Reise nach Utopia begeben und den schrecklichen Zeiten zum Trotz am Anfang eines jeden abends gesagt: »Ich werde weiter von einer herrschaftsfreien Welt träumen und für sie kämpfen.« Denn nur eine sozial gerechte Welt solidarischer Menschen wird uns von Kriegen, Klimawandel, Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus befreien.
Eine weltweite Bewegung von unten ist viel wirklicher als die tödliche und zerstörerische Machtpolitik der Militärblöcke. Nur sie kann das jahrtausendealte Patriarchat stoppen, das sich vor allem auch durch Kriege und militärischen Gehorsam immer wieder aufs Neue an der Macht hält.
Wer sich auf die Suche nach Utopia macht, wird in der Vergangenheit und in der Gegenwart vielen Menschen begegnen, die die Menschlichkeit und damit die Möglichkeit einer besseren Welt für uns alle durch ihr Tun lebendig gemacht und wachgehalten haben. Auch in den finstersten Stunden von Krieg, Faschismus, Folter, Hunger, Unterdrückung, Ausbeutung und Leid.
Hoffen macht Mut. Und, wenn wir uns gegenseitig Mut machen, können wir auch in diesen stürmischen Zeiten wieder zusammen das Hoffen lernen:
(…)
Seit Jahrtausenden wollen uns Fürsten und Könige, Herrscher, Generäle und Politiker einreden, dass eine andere, gerechtere Gesellschaft unmöglich sei: Lasst uns endlich dafür sorgen, dass angeblich »nicht Verwirklichbare« zu suchen und möglich zu machen, bevor die Reichen und Mächtigen die Welt für immer zerstört haben werden.
Folgen wir denen nach, die sich bereits vor uns auf die Suche begeben haben und ohne die wir nicht wären, was wir sind. Ab heute gibt es für uns keine Denkverbote mehr: Wir machen einfach gemeinsam, was für uns alle ein besseres Leben möglich macht. Jeden Tag, jede Nacht und überall.
(…)
Der kurdische Politiker, Repräsentant und bedeutende Theoretiker Abdullah Öcalan schreibt in seinem Buch Jenseits von Staat, Macht und Gewalt: »Attraktiv finde ich ethischpolitische Menschen, die Freundschaft mit Tieren pflegen, in Eintracht mit der Natur leben, auf einem Gleichgewicht der Geschlechter aufbauen, in Freiheit, Gleichheit und Liebe leben und die Kraft der Wissenschaft und der Technik davor bewahren, Spielzeug für Krieger und Mächtige zu sein. (…) Ich rede von einem geistigseelischen Paradigma. Kategorisch sage ich: Das Anbeten von Kraft und Macht, das funkelnde und glitzernde Leben aller blutbesudelten Zivilisationen, ich habe es wirklich satt und hasse es. (…) Die Kindheit der Menschheit, die ins Vergessen gestoßene Geschichte der Werktätigen und der Völker, die Welten der Freiheit und der Gleichheit in den Utopien der Frauen, der Kinder und der Kind gebliebenen Greise – ich will mich lieber an ihnen beteiligen, dort einen Erfolg erzielen. All das ist Utopie. Aber manchmal sind Utopien die einzig rettende Inspiration. Aus den heutigen Bauten, die schlimmer sind als Gräber, wird man natürlich durch Utopien ausbrechen.«²³
Öcalan sitzt seit 25 Jahren in Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer. Eine gerechte und friedliche Lösung für die Menschen in Kurdistan setzt die Freilassung von Abdullah Öcalan voraus. Doch der Despot vom Bosporus nennt ihn bis heute einen Terroristen, so wie Nelson Mandela jahrzehntelang als Terrorist diffamiert wurde. Die Geschichte entscheidet letztlich darüber, wer Despot und wer Streiterin oder Streiter für den Frieden und eine gerechtere Welt ist.
In unserem gemeinsamen antimilitaristischen Manifest zum internationalen Antikriegstag am 1. September 2023 haben die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und ich geschrieben: »Als Künstler*innen, als Literatin und als Musiker, bestehen wir darauf, was Ernst Bloch formuliert hat: ›Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen.‹«²⁴
Ein besseres Leben für alle Menschen auf unserer Welt ist möglich – davon zu träumen, darüber zu schreiben, davon zu singen, darauf zu bestehen und sich gemeinsam dafür zu engagieren, das wollen wir alle einzeln und zusammen tun – überall und jeden Tag weltweit. Wir werden niemals aufhören zu träumen von einer herrschaftsfreien Welt ohne Kriege, Faschismus, Rassismus, Patriarchat, ohne die zerstörerische Ausbeutung von Menschen und Natur. Die Aufstandsbewegung im Iran nach der Ermordung der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini hat weltweit Hoffnung auf eine globale feministische Perspektive wachsen lassen: »Jin, Jiyan, Azadi – Frau, Leben, Freiheit – Woman, Life, Freedom!« Diese visionäre Position hat eine lange Geschichte in der kurdischen feministischen Bewegung für Geschlechtergerechtigkeit.
Unsere Träume können die Kriegsherren und Politikerinnen und Politiker dieser Welt weder verbieten, noch können sie unsere Versuche, diese Wirklichkeit werden zu lassen, auf Dauer verhindern. Weder in Ankara noch in Teheran, weder in Moskau, in Washington, Peking oder Berlin.«²⁵
Der Anthropologe, Anarchist und Antifaschist David Graeber ist am 2. September 2020 viel zu früh aus dem Leben gerissen worden. Er, der Denker, der Forscher und OccupyAktivist, versichert seinen Leserinnen und Lesern stets, dass wir die Probleme der Welt überwinden können, indem wir Alternativen schaffen. Darum sollten wir nie aufhören, zu träumen, zu hoffen und uns auf die Suche zu machen. So wie er selbst, der mit seinen Büchern und seinem Handeln so vielen Menschen Mut gemacht hat. Er ist mehrmals nach Rojava gereist und hat die Menschen dort aktiv unterstützt. In einem Gespräch mit der Journalistin Pinar Öğünç über die Bedeutung der »echten Revolution« in Rojava, einer basisdemokratisch selbstverwalteten Region in Nordsyrien, sagte David Graeber: »Es scheint mir unsere Verantwortung als Intellektuelle, oder einfach als denkende menschliche Wesen, zu sein, wenigstens darüber nachzudenken, wie etwas Besseres aussehen könnte. Und wenn es Menschen gibt, die tatsächlich versuchen, dieses Bessere zu erschaffen, dann ist es unsere Verantwortung ihnen zu helfen.« Er wusste, dass die Utopie von Rojava uns alle angeht: Die Menschen dort brauchen jetzt unsere weltweite Solidarität. Und wir brauchen die Utopie von Rojava: dieses gesellschaftliche Experiment einer basis und rätedemokratischen, feministischen, ökologischen und sozial gerechten, multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft. Seit Jahren ist das selbstverwaltete Projekt in Rojava ein Hoffnungsschimmer in der gesamten Region für Frieden und es ist gelebte antirassistische Solidarität gegen Hass und Zerstörung. Heute umso mehr angesichts der Eskalation der Kriege in der gesamten Region. Doch die deutsche Regierung, die deutschen Konzerne und die deutsche Rüstungsindustrie unterstützen weiterhin das verbrecherische und rassistische ErdoğanRegime: Damit machen sich die regierenden Politiker und die Waffenhändler mitschuldig an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg – denn die türkische NATOArmee begeht ihre Kriegsverbrechen mit deutschen Waffen und deutschen Panzern. Das ist unerträglich!
»Wer die Geschichte gelesen hat, weiß, dass Ungehorsam die ursprüngliche Tugend des Menschen ist. Durch Ungehorsam ist der Fortschritt geweckt worden, durch Ungehorsam und Rebellion«, erkannte der großartige englische Schriftsteller Oscar Wilde bereits 1881, und die brillante Denkerin Hannah Arendt forderte kurz und konsequent: »Niemand hat das Recht zu gehorchen.«
Die Poesie gehört uns allen, denn sie wartet schon immer darauf, gepflückt zu werden wie die Blüten eines Maulbeerbaumes, oder im Wind zu verwehen. Alle Verse sind schon geschrieben, von einer tieferen Weisheit, als unsere Schulweisheit es sich erträumen lässt. Lasst uns irre, einsame, verlassene, tatsächliche Rebellinnen und Rebellen sein. Nur so werden wir diese gierige, profitorientierte, klägliche und zerstörerische Welt in ein liebevolles Miteinander verwandeln. In diesem Sinne möchte ich meinen kurzen Text »Die Kraft von Utopia« mit einigen meiner Zeilen enden lassen, die mich seit vierzig Jahren begleiten:
So wie wir jetzt kurz vor dem Untergang stehen,
kaum noch eine Hoffnung, in Würde zu überleben,
so lasst uns jetzt mal die Möglichkeit ergreifen,
alles ganz anders zu versuchen
wie einer,
der kurz vor seinem Tod noch das Leben
erleben und durchleben möchte,
ohne Rücksicht auf das Gequassle
der Zyniker und Drübersteher.
Dass diese Welt nie ende,
nur dafür lasst uns leben.
Quellen:
²³ Abdullah Öcalan, Jenseits von Staat, Macht und Gewalt © 2019 Edition Mezoptamya, Edition 8, eine Gemeinschaftsausgabe von Mandelbaum, Verlag eG, Wien & Unrast Verlag e.V., Münster
²⁴ Ernst Bloch, a.a.O.
²⁵ https://www.weckersblog.de/post/lasst-uns-wieder-das-hoffen-lernen-und-aus-allen-imperialen-kriegen-desertieren
© Aus: Konstantin Wecker: Der Liebe zuliebe; © 2025 bene! Verlag;
ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG Maria-Luiko-Straße 54, 80636 München. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Foto Konstantin Wecker © Thomas Karsten
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/wecker-deutschland-ist-mitschuldig-am-krieg-in-kurdistan-39874 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/aufruf-von-elfriede-jelinek-und-konstantin-wecker-lasst-uns-desertieren-38834 https://deutsch.anf-news.com/kultur/konstantin-wecker-liest-text-von-abdullah-Ocalan-39890
Kenan Ayaz nach mehr als zwei Jahren deutscher Haft zurück in Zypern
Der kurdische Aktivist Kenan Ayaz (offiziell Ayas) ist nach mehr als zwei Jahren Haft in Deutschland nach Zypern zurückgekehrt. Das teilte die zypriotische „Beobachtungsstelle für den Prozess gegen Kenan Ayaz“ am Montagabend in Nikosia mit. „Seine Rückkehr markiert einen bedeutenden Tag für die kurdische Gemeinschaft in Zypern ebenso wie für alle, die sich mit seinem Kampf solidarisch gezeigt haben“, heißt es in der Erklärung.
Ayaz war im März 2023 auf Betreiben deutscher Behörden in Larnaka festgenommen und drei Monate später an Deutschland ausgeliefert worden. Im September 2024 verurteilte ihn das Oberlandesgericht Hamburg wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu vier Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe. Ihm wurden keine individuellen Straftaten vorgeworfen. Menschenrechtsorganisationen und seine Verteidigung kritisierten das Verfahren als politisch motiviert.
In der Stellungnahme erklärte die Beobachtungsstelle, Ayaz‘ Rückkehr markiere nicht das Ende, sondern die Fortsetzung eines gemeinsamen Kampfes für Würde, Freiheit und Gerechtigkeit. Der kurdische Aktivist habe stets betont, dass die Freiheit Kurdistans untrennbar mit dem Widerstand der zypriotischen Bevölkerung gegen die türkische Besatzung verbunden sei. „Wir hoffen, dass sich in Zypern das Rechtsstaatsprinzip gegenüber politischer Heuchelei durchsetzen wird“, so die Gruppe.
„Die Strafverfolgung in Deutschland war ein Schlag gegen die Menschenrechte und machte die politische Zielrichtung deutlich, die hinter der Kriminalisierung der kurdischen Bewegung in Europa steht. Von Anfang an war klar: Es ging nie um eine persönliche Angelegenheit, sondern um den kollektiven Widerstand gegen die genozidale Politik der Türkei – und die stille Duldung dieser Politik durch europäische Staaten“, betonte die Beobachtungsstelle.
Für Mittwoch, den 10. September, rufen Unterstützer:innen zu einer Solidaritätskundgebung um 18:00 Uhr vor dem Zentralgefängnis in Nikosia auf. Dort solle nicht nur die Rückkehr von Kenan Ayaz gefeiert, sondern auch ein deutliches Zeichen gegen Ungerechtigkeiten gesetzt werden.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kenan-ayaz-vor-ruckfuhrung-nach-zypern-klage-vor-egmr-angekundigt-47662 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kenan-ayaz-kehrt-am-8-september-nach-zypern-zuruck-47782 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kenan-ayaz-berufung-abgelehnt-46473
Enver Şimşek: Erstes Opfer des NSU
Am 9. September 2000 wurde der Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg-Langwasser an einem mobilen Verkaufsstand durch acht Schüsse aus zwei verschiedenen Pistolen lebensgefährlich verletzt. Zwei Tage später, am 11. September 2000, starb er mit 38 Jahren im Krankenhaus an den Folgen des Anschlags, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Er war das erste Mordopfer des rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU). Seine Geschichte ist bis heute ein Symbol für die tödliche Gewalt des Rechtsterrorismus – und für den institutionellen Rassismus in Polizei, Behörden und Gesellschaft.
Der türkeistämmige Şimşek kam 1985 nach Deutschland, arbeitete zunächst in einer Fabrik und baute sich später einen Blumengroßhandel mit stationären Läden und mobilen Verkaufsständen auf. An jenem Tag sprang er selbst am Verkaufsstand ein, weil ein Mitarbeiter im Urlaub war. Zurück blieben seine Frau Adile und die Kinder Semiya und Abdulkerim. Für sie begann nicht nur eine Zeit der Trauer, sondern auch eine zweite Form der Gewalt: staatliches Misstrauen, falsche Verdächtigungen, gesellschaftliche Stigmatisierung. Statt die offensichtliche rechte Spur zu verfolgen, kriminalisierten Ermittler:innen die Familie, konstruierten Erzählungen über Drogenhandel oder familiäre Konflikte und verbreiteten damit rassistische Vorurteile – verstärkt durch Medienberichte über sogenannte „Dönermorde“.
Staatliches Versagen und offene Fragen
Erst nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 – durch den Suizid von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die Bekennervideos von Beate Zschäpe und den Fund der Mordwaffe Česká 83 – wurde bekannt, dass Neonazis die Verantwortung für die Mordserie trugen. Bis dahin hatte der rassistische Ermittlungsfokus die Täter:innen geschützt – und die Opfer erneut entrechtet.
Bis heute sind die zentralen Fragen nicht beantwortet:
▪ Wie eng war der Verfassungsschutz mit der Neonazi-Szene und dem NSU-Netzwerk verflochten?
▪ Wer waren die Helfer:innen und Hintermänner?
▪ Warum wurden Akten vernichtet oder nur unzureichend genutzt?
Fest steht: Der NSU war keine isolierte Zelle aus drei Personen. Rechte Netzwerke existieren fort, wie die Drohschreiben des „NSU 2.0“ oder die Anschläge von Halle, Hanau und Kassel zeigen.
Erinnern heißt Kämpfen
Eins ist klar: Erinnerung darf nicht bei symbolischen Gesten stehenbleiben. Das Gedenken an Enver Şimşek und die anderen Opfer des NSU ist eine kollektive Verantwortung, die untrennbar mit dem Kampf gegen institutionellen und gesellschaftlichen Rassismus verbunden ist.
Die Kundgebungen in Nürnberg und an anderen Orten zeigen: Angehörige, Initiativen und Aktivist:innen fordern seit Jahren Gedenktafeln, Straßenumbenennungen und politische Konsequenzen – bis hin zur Abschaffung des Verfassungsschutzes. Zwar wurden Gedenktafeln und -stellen errichtet, doch vielfach fehlt es bis heute an einer umfassenden Entschuldigung und an tiefgreifenden Konsequenzen. Eine Gesellschaft, die rechte Gewalt systematisch verharmlost und Rassismus nicht benennt, macht sich mitschuldig.
Die Erinnerung an Enver Şimşek und alle Opfer des NSU ist mehr als Gedenken. Sie ist Mahnung und Auftrag: Nie wieder dürfen rassistische Strukturen vertuscht werden. Nie wieder dürfen Opfer zu Täter:innen gemacht werden. Nie wieder darf rechter Terror verharmlost werden.
Foto: https://nsukomplexaufloesenjena.noblogs.org/
https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/abdurrahim-Ozudogru-ermordet-kriminalisiert-und-bis-heute-nicht-anerkannt-46662 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/nsu-hanau-keupstrasse-das-system-hat-namen-46611 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/funf-jahre-hanau-die-forderung-nach-aufklarung-bleibt-45345
DEM-Partei solidarisiert sich mit CHP in Istanbul
Die DEM-Partei hat der CHP nach der Absetzung ihrer Istanbuler Parteiführung öffentlich den Rücken gestärkt. Eine Delegation der Partei, darunter die Istanbuler Ko-Vorsitzende Arife Çınar, die Abgeordnete Kezban Konukçu sowie der ESP-Vorsitzende Murat Çepni, besuchte am Montag die CHP-Zentrale im Istanbuler Stadtteil Sarıyer. Aufgrund polizeilicher Absperrungen war ein Zugang zum Gebäude nach Angaben der Delegation jedoch nicht möglich.
Hintergrund des Besuchs ist die umstrittene Entscheidung eines Istanbuler Gerichts, den amtierenden Vorstand des Provinzvorstands der Istanbuler CHP abzusetzen und den früheren Abgeordneten Gürsel Tekin als kommissarischen Leiter einzusetzen – ein Schritt, der parteiintern wie auch über Parteigrenzen hinweg für scharfe Kritik gesorgt hat.
„Wir erleben in der Türkei eine systematische Politik der Zwangsverwaltung, die nicht nur gewählte Mandatsträger:innen, sondern auch den demokratischen Willen der Bevölkerung trifft“, sagte Arife Çınar vor der Parteizentrale. Die Blockade demokratischer Prozesse gefährde das friedliche Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen, so die DEM-Politikerin weiter. „Wir werden nicht aufhören, für den Aufbau einer echten Demokratie und für Frieden zu kämpfen.“
Auch die DEM-Abgeordnete Kezban Konukçu kritisierte das Vorgehen scharf: „Dieses Vorgehen richtet sich nicht nur gegen die CHP, sondern gegen die Demokratie selbst.“ Die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan versuche, demokratische Strukturen weiter zurückzudrängen und autoritäre Verhältnisse zu verfestigen. „Ohne Gerechtigkeit und Demokratie kann es keinen Frieden geben“, sagte Konukçu.
Die Absetzung der CHP-Führung in Istanbul hatte innerhalb der Partei zu erheblichem Unmut geführt. Auch andere Oppositionsparteien warnten vor einem politischen Klima, in dem demokratische Beteiligung zunehmend eingeschränkt werde. Bei Protesten vor der weiterhin polizeilich abgesperrten Parteizentrale in der Bosporus-Metropole waren am Montag mindestens zehn CHP-Anhänger:innen festgenommen worden.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/gursel-tekin-betritt-chp-zentrale-unter-polizeieskorte-47865 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/polizeigewalt-gegen-chp-anhanger-innen-in-istanbul-47861
Kondolenzbesuch in Nisêbîn für gefallene Kämpfer
In der nordkurdischen Stadt Nisêbîn (tr. Nusaybin) kamen am Montag zahlreiche Menschen zusammen, um den Familien von Ferhat Demir und Bilal Tutal ihre Anteilnahme auszusprechen. Der Kondolenzbesuch im Stadtteil Dicle wurde vom Solidaritätsverein MEBYA-DER organisiert und begleitet von Vertreter:innen verschiedener politischer Parteien, Organisationen sowie vielen Bewohner:innen der Region.
Ferhat Demir (Codename: Dengtav Amed) war Guerillakämpfer der Volksverteidigungskräfte (HPG) und kam im August 2021 bei einem Gefecht mit türkischen Besatzungstruppen in der südkurdischen Gare-Region ums Leben. Bilal Tutal (Birûsk Firat) war Mitglied der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD). Er starb im Dezember 2024 bei einem türkischen Angriff auf die Qereqozax-Brücke am Euphrat in Rojava. Der Tod beider Gefallener wurde erst kürzlich bekannt.
An der zentralen Kreuzung in Dicle versammelten sich zahlreiche Menschen und zogen gemeinsam zum Trauerzelt. Sie trugen Bilder der Gefallenen und riefen Parolen wie „Şehîd namirin“ (Die Gefallenen sind unsterblich), „Bijî Serok Apo“ (Es lebe der Vorsitzende Apo) und „Ey şehîd, xwîna te li erdê namîne“ (Oh Gefallener, dein Blut bleibt auf dieser Erde). Im Anschluss an eine Schweigeminute wurde gemeinsam die Hymne „Çerxa Şoreşê“ angestimmt.
Vertreter:innen von MEBYA-DER erinnerten in ihren Worten an die Bedeutung von Nisêbîn für die kurdische Freiheitsbewegung und unterstrichen das Vermächtnis der Gefallenen. Kamuran Tanhan, Abgeordneter der DEM-Partei, sprach im Namen seiner Fraktion: „Wir folgen dem Aufruf Abdullah Öcalans vom 27. Februar und sagen: Schluss mit Krieg und Tod. Unser Ziel bleibt ein würdevoller Frieden.“
Auch die Familien von Demir und Tutal äußerten sich. Sie erklärten ihre Unterstützung für den von Öcalan angestoßenen Prozess für Frieden und eine demokratische Gesellschaft und forderten von der Regierung konkrete Schritte.
Der Kondolenzbesuch endete mit einem gemeinsamen Gebet.
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/grabstatten-kurdischer-gefallener-am-herekol-dem-erdboden-gleichgemacht-47831
Suchthilfe in Amed: „Alle tragen Verantwortung“
Die Zahl der Menschen mit Suchterkrankungen nimmt in Kurdistan weiter zu. Vor allem Jugendliche geraten immer häufiger in Abhängigkeit – teils bereits im Kindesalter. Die Ursachen sind vielfältig, doch für Murat Burtakuçin vom Suchthilfezentrum der Stadt Amed (tr. Diyarbakır) steht eines fest: Die steigende Verbreitung ist auch das Resultat gezielter politischer Strategien.
„In Kurdistan ist die Ausbreitung von Drogenabhängigkeit Teil der Spezialkriegspolitik“, sagt der Psychologe, der seit der Eröffnung des kommunalen Beratungs- und Bildungszentrums zur Suchtprävention im November 2024 dort tätig ist. Gerade in Stadtteilen wie Sûr, Rezan (Bağlar) und Ben û Sen ist die Problematik besonders sichtbar.
Doch Burtakuçin warnt davor, Drogenkonsum bestimmten Stadtteilen oder Bevölkerungsgruppen zuzuschreiben: „Solche Zuschreibungen führen dazu, dass die gesellschaftliche Verbindung zu diesen Orten weiter abreißt. Das Gegenteil von Abhängigkeit ist nicht Abstinenz, sondern Bindung.“
Sucht hat viele Ursachen und Gesichter
Eine der zentralen Ursachen sieht Burtakuçin in der Identitätskrise vieler junger Menschen: „Wenn Jugendliche keine Beziehung zu ihrer eigenen, oft verleugneten Identität aufbauen können, suchen sie Bindung woanders, manchmal in Drogen.“
Murat Burtakuçin | Foto: MA
Im ersten Jahr seines Bestehens verzeichnete das Zentrum rund 50 direkte Anfragen von Betroffenen – ein beachtlicher Wert, der laut Burtakuçin aber nur ein Bruchteil des tatsächlichen Bedarfs sei. „Für eine Stadt wie Amed reicht ein einziges Zentrum nicht aus. Jede Gemeinde bräuchte eine eigene Anlaufstelle.“
Zwei Säulen: Prävention und Begleitung
Die Arbeit des Zentrums gliedert sich in zwei Bereiche: präventive Maßnahmen und psychosoziale Begleitung. Im präventiven Bereich bietet das Zentrum Workshops für Eltern und Erwachsene an. Dort geht es darum, Substanzen und ihre Wirkungen zu erkennen, frühzeitig Anzeichen von Abhängigkeit zu deuten und entsprechende Hilfe zu suchen.
Für Kinder bietet das Zentrum eine „Lebenskompetenz-Werkstatt“ im sogenannten Lebenspark: „Wir sprechen mit den Kindern nicht direkt über Drogen, sondern stärken ihre sozialen Fähigkeiten: Entscheidungsfindung, Umgang mit Konflikten, Freundschaft und Selbstwert“, erklärt der Psychologe.
„Sucht ist eine Krankheit, keine moralische Schwäche“
Das Zentrum versteht sich als Beratungsstelle, bietet aber keine medizinische Behandlung an. Dafür arbeitet es mit Fachkräften aus dem Gesundheitswesen zusammen und vermittelt bei Bedarf an AMATEM oder ÇEMATEM – zwei spezialisierte Kliniken in Amed.
Der Rehabilitationsansatz ist ganzheitlich. Neben psychologischer Betreuung geht es um soziale Stabilisierung, zum Beispiel durch Schulungen, Freizeitangebote oder Jobvermittlung in Kooperation mit der Handelskammer. „Abhängigkeit ist eine Krankheit, keine Charakterschwäche. Menschen mit Suchterkrankung brauchen Begleitung, nicht Ausgrenzung“, sagt Burtakuçin. Deshalb sei es falsch, Betroffene vorschnell als „schlecht“ oder „gefährlich“ zu stigmatisieren.
Suchtbekämpfung braucht Gesellschaft
Nach Ansicht von Burtakuçin braucht erfolgreiche Suchtarbeit drei Komponenten: medizinische Behandlung, psychologische Betreuung und soziale Unterstützung. „Man kann sich das wie einen Tisch mit drei Beinen vorstellen – fehlt eines, kippt der ganze Tisch.“ Zudem betont der Psychologe die gesellschaftliche Verantwortung: „Wir brauchen eine Sprache der Verbindung, nicht der Verurteilung. Wer helfen will, muss zuerst verstehen.“
Auch die Rolle von Familien ist entscheidend. Zwar könne niemand zur Therapie gezwungen werden, doch Aufgeben sei keine Lösung. „Wenn jemand nicht bereit ist, Hilfe anzunehmen, muss man ihn nicht fallen lassen. Wer eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen kann, kann auch überzeugen“, so Burtakuçin.
In einer Region, die von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen geprägt ist, erfordere die Bekämpfung von Drogenabhängigkeit mehr als medizinische Intervention. Sie seo eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft – von Kommunen über Familien bis hin zu Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen. „Jede und jeder trägt Verantwortung“, sagt Burtakuçin. „Nicht wegschauen, sondern den Kontakt suchen, das ist der erste Schritt.“
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/protestmarsch-in-merdin-gegen-wachsenden-drogenkonsum-47731 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/plattform-Siyar-be-nimmt-arbeit-in-Elih-auf-47529 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/amed-gesellschaftlicher-schulterschluss-gegen-drogenmissbrauch-46100
Gürsel Tekin betritt CHP-Zentrale mit Polizeieskorte
Der gerichtlich eingesetzte kommissarische Leiter des Istanbuler Provinzverbands der CHP, Gürsel Tekin, hat das Parteigebäude am Montag entgegen früheren Beteuerungen unter massivem Polizeischutz betreten. Im Vorfeld hatte Tekin betont, er wolle das Gebäude nicht „unter Polizeibegleitung“ betreten. Tatsächlich wurde er jedoch von Hunderten Polizist:innen eskortiert, darunter auch Einheiten der Bereitschaftspolizei. Im Zuge andauernder Proteste kam es in der Parteizentrale zum Einsatz von Tränengas.
Zahlreiche Parteimitglieder, die sich in und vor dem Gebäude in einem Protest- und Sitzstreik befanden, protestierten lautstark gegen Tekins Auftauchen und skandierten unter anderem „Özgür Başkan“ – in Anspielung auf den gewählten, aber von der Justiz abgesetzten Istanbuler CHP-Provinzvorsitzenden Özgür Çelik.
Polislerin CHP İstanbul İl Başkanlığı'na girdiği anlar pic.twitter.com/trWwLxqQXi
— ANKA Haber Ajansı (@ankahabera) September 8, 2025Tekins Erklärungsversuch: „Wir sind keine Zwangsverwalter“
In einer Erklärung gegenüber Presseleuten vor dem Eintritt in das Gebäude versuchte Gürsel Tekin, den Eindruck eines autoritären Eingriffs zurückzuweisen: „Wir sind keine Zwangsverwalter. Wir wurden nicht von außen eingesetzt, sondern folgen einem Gerichtsentscheid, den andere CHP-Mitglieder selbst angestoßen haben.“
Er sprach von einer „parteiinternen Auseinandersetzung“, die durch gegenseitige Vorwürfe und ein „Jahrzehnte altes Problem“ entstanden sei. Man wolle nun zur „Einheit der Partei“ zurückfinden und arbeite an einer diplomatischen Lösung.
Tekin betonte, dass er mehrfach versucht habe, mit Parteichef Özgür Özel sowie dessen Vorgänger Kemal Kılıçdaroğlu in Kontakt zu treten, jedoch ohne Erfolg. „Wir handeln ehrenhaft. Niemandem schulden wir etwas – und wir lassen uns auch von niemandem einschüchtern“, sagte er weiter.
Gürsel Tekin, polis eşliğinde CHP İstanbul İl Başkanlığı'na giriyor #Canlı https://t.co/QBsM2OKKLw
— ANKA Haber Ajansı (@ankahabera) September 8, 2025Ankündigung vs. Realität
Noch vor wenigen Minuten hatte Tekin auf die Frage, ob er das Gebäude betreten werde, geantwortet: „Wir könnten jederzeit hineingehen, tun es aber nicht mit Gewalt. Wir sind im Dialog mit den Genossen.“
Nach seiner Rede zog sich Tekin zunächst in sein Fahrzeug zurück. Kurz darauf jedoch betrat er – entgegen seiner Ankündigung – das Gebäude unter Polizeischutz, begleitet von einer Hundertschaft der Polizei. Währenddessen setzten Sicherheitskräfte Tränengas im Gebäude ein, um Protestierende zu vertreiben. Die Szenerie wurde von zahlreichen Medien dokumentiert.
Fraktionsvize Ali Mahir Başarır: „Ein Schandbild“
Innerhalb der CHP wird der Vorgang als gefährlicher Präzedenzfall gewertet. CHP-Fraktionsvize Ali Mahir Başarır kritisierte Tekin scharf und sprach von einem „Schandbild“: „Wer das Volk verrät, braucht Polizeischutz – aber kann nicht erhobenen Hauptes ins eigene Haus zurückkehren.“
Auch Vertreter:innen der DEM-Partei, der TIP und anderer Oppositionsparteien zeigten sich solidarisch mit der CHP und den Protestierenden. Sie kritisieren, dass mit der juristischen Einsetzung Tekins eine Entmündigung parteiinterner demokratischer Strukturen verbunden sei.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/polizeigewalt-gegen-chp-anhanger-innen-in-istanbul-47861
Berlin: Prozess gegen kurdischen Aktivisten Mehmet Karaca gestartet
Vor dem Berliner Kammergericht hat der Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Mehmet Karaca begonnen. Die Bundesanwaltschaft wirft dem 50-Jährigen vor, sich von 2014 bis zu seiner Festnahme im vergangenen Jahr als Mitglied der mittlerweile aufgelösten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) betätigt zu haben. Er soll unter anderem verschiedene „PKK-Sektoren“ in Deutschland geleitet haben, wie aus der am Montag verlesenen Anklage hervorging.
Inhaltlich geht die Anklage gegen Karaca jedoch nur auf zwei Zeiträume in 2014/2015 sowie in 2024 ein; was er in der Zwischenzeit gemacht haben soll, bleibt offen. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit sei der Bundesanwaltschaft zufolge die Überwachung von vermeintlichen Spendengeldern für die PKK gewesen. Zudem habe Karaca „Propagandaveranstaltungen und Versammlungen“ organisiert. Der Vorwurf gegen ihn lautet auf mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer „terroristischen“ Vereinigung im Ausland nach §§ 129a.
Mehmet Karaca war Ende November in Berlin festgenommen worden und sitzt seitdem in Untersuchungshaft in der JVA Moabit. Zum Prozessauftakt ließ er über seinen Verteidiger, den Berliner Rechtsanwalt Lukas Theune, eine Erklärung abgeben. Darin ging er auf die gegen die Beschuldigungen der Anklage nicht ein, erklärte aber, sich stets für Frieden und Demokratie eingesetzt zu haben.
Verhandlungstermine bis Ende November
Der Prozessauftakt wurde von zahlreichen Zuschauer:innen verfolgt. Das Gericht setzte zunächst Verhandlungstermine bis Ende November an, der nächste ist am morgigen Dienstag. Das Verfahren wird von der Solidaritätsgruppe „Free Mehmet Karaca“ beobachtet, die angekündigt hat, regelmäßige Berichte über die Verhandlungstage zu veröffentlichen. Auch der Rechtshilfefonds AZADÎ e.V. verfolgt den Prozess. Der Kölner Verein hatte der Bundesanwaltschaft mit Blick auf das Verfahren vorgeworfen, „dem Friedensaufruf Abdullah Öcalans“ von Ende Februar und „den Bestrebungen der PKK zur Beendigung des bewaffneten Kampfs und ihrer Selbstauflösung eine deutliche Absage“ zu erteilen.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/prozesse-wegen-pkk-mitgliedschaft-in-berlin-hamburg-und-stuttgart-47830 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/nachstes-pkk-verfahren-in-hamburg-aufruf-zur-solidarischen-prozessbegleitung-47735 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/schirdewan-fordert-stopp-der-abschiebung-von-mehmet-Cakas-47859 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kenan-ayaz-vor-ruckfuhrung-nach-zypern-klage-vor-egmr-angekundigt-47662
Waldbrand in Şemzînan droht außer Kontrolle zu geraten
Ein Waldbrand in Şemzînan (tr. Şemdinli) in der kurdischen Provinz Colemêrg (Hakkari) droht außer Kontrolle zu geraten. Schon seit den frühen Morgenstunden des Sonntags stehen in der Umgebung des Dorfes Derya weite Teile eines bewaldeten Gebiets in Flammen. Trotz des Einsatzes der Feuerwehr ist der Brand auch am Montag noch nicht unter Kontrolle gebracht worden.
Augenzeug:innen berichten, dass sich das Feuer durch starken Wind rasant ausdehnt. Die Vegetation ist ausgetrocknet, das Gelände schwer zugänglich. Lokale Behörden und die Bevölkerung vor Ort warnen eindringlich vor einer weiteren Eskalation. Mittlerweile breiten sich die Flammen in Richtung bewohnter Gebiete aus.
„Ein Helikopter war zwar im Einsatz, ist aber seit mehreren Stunden zur Betankung außer Gefecht. Die Feuer breiten sich weiter aus. Ohne sofortige und effektive Luftunterstützung lässt sich dieses Feuer nicht eindämmen“, erklärte Muharrem Tekin, Vorsitzender der Handels- und Handwerkskammer von Colemêrg, am Montag.
Tekin betonte, dass es durch das steile, unwegsame Gelände für Löschfahrzeuge nahezu unmöglich sei, das Brandgebiet zu erreichen. „Mit bloßer Muskelkraft ist dieser Brand nicht zu löschen. Wir fordern dringend den Einsatz weiterer Hubschrauber und Löschflugzeuge.“ Die genaue Ursache des Feuers ist derweil noch unklar.
KNK fordert Entscheidung im Europarat zum „Recht auf Hoffnung“
Der Nationalkongress Kurdistan (KNK) hat in einem breit angelegten Vorstoß das Ministerkomitee des Europarats dazu aufgerufen, die seit Langem diskutierte Frage des „Rechts auf Hoffnung“ im Fall des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan endlich zu entscheiden. Vom 16. bis 18. September findet die nächste Sitzung des Ausschusses zur Überwachung der Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) statt.
Seit Ende August versendet das KNK gemeinsam mit zahlreichen Unterstützer:innen Briefe an die ständigen Vertreter:innen der Mitgliedstaaten sowie an den Vorsitz des Ministerkomitees. In den Schreiben fordern sie, dass das Gremium seiner Verantwortung gerecht wird und endlich eine Entscheidung trifft – mit Blick auf die schwerwiegenden Verstöße gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung untersagt.
EGMR-Urteil verpflichtet Türkei
Der Hintergrund: Der EGMR hatte bereits 2014 festgestellt, dass die Praxis der lebenslangen verschärften Haftstrafe ohne realistische Aussicht auf Entlassung, wie sie Abdullah Öcalan und anderen Gefangenen in der Türkei auferlegt wurde, gegen die EMRK verstößt. Daraus leitet sich das sogenannte „Recht auf Hoffnung“ ab – die Pflicht, auch bei lebenslangen Freiheitsstrafen eine Perspektive auf Überprüfung und mögliche Entlassung zu ermöglichen.
Der KNK betont, dass die Türkei bislang keine gesetzlichen Änderungen vorgenommen hat, um dem Urteil gerecht zu werden – trotz Aufforderungen des Europarats. Ein vom türkischen Staat vorgelegter „Aktionsplan“ habe im Gegenteil deutlich gemacht, dass Öcalan und anderen Betroffenen dieses Recht ausdrücklich verwehrt bleiben soll.
Internationale Unterstützung
Der Vorstoß des KNK wird von zahlreichen internationalen Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen mitgetragen. Gemeinsam fordern sie den Europarat auf, die Türkei zur Umsetzung der EGMR-Entscheidung per Mahnbeschluss zu verpflichten. Andernfalls, so die Befürchtung, werde das Vertrauen in die Menschenrechtsstandards des Europarats weiter erodieren.
Friedensprozess in der Schwebe
In den Schreiben des KNK wird auch die politische Bedeutung Abdullah Öcalans betont. Trotz über zwei Jahrzehnten in Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali habe der PKK-Begründer „wiederholt Schritte in Richtung Frieden“ unternommen. Besonders hervorgehoben wird seine Rolle als Schlüsselfigur für eine mögliche demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage in der Türkei.
„Die Anerkennung von Abdullah Öcalan als legitimer Gesprächspartner ist unabdingbar für jede realistische Friedensperspektive“, so der KNK. Eine positive Entscheidung des Ministerkomitees könne einen entscheidenden Beitrag zu einer politischen Öffnung in der Türkei leisten.
Der KNK fordert den Europarat daher auf, eine aktive und positive Rolle in diesem Prozess zu übernehmen: „Das Komitee ist in der Pflicht, die Türkei zur Einhaltung der menschenrechtlichen Mindeststandards zu zwingen. Gleichzeitig sollte er anerkennen, dass eine Lösung der kurdischen Frage ohne Abdullah Öcalan nicht denkbar ist.“
https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/die-verweigerung-des-rechts-auf-hoffnung-gefahrdet-den-gesamten-prozess-47754 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/juristin-die-turkei-manipuliert-das-ministerkomitee-des-europarats-47274 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/kurdische-organisationen-mobilisieren-fur-recht-auf-hoffnung-in-strassburg-47526 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/asrin-fordert-umsetzung-von-egmr-urteil-zu-Ocalans-recht-auf-hoffnung-47249
Polizeigewalt gegen CHP-Anhänger:innen in Istanbul
In der westtürkischen Metropole Istanbul protestieren Anhänger:innen der größten Oppositionspartei CHP gegen die Absetzung der lokalen Parteispitze. Die Polizei hat die Gegend um die Zentrale der Partei im Stadtteil Sarıyer komplett abgeriegelt. Dennoch versammelten sich Demonstrierende und versuchten, die Barrikaden zu durchbrechen. Unter ihnen sind auch Vertreter:innen und Mitglieder anderer Parteien, die ihre Solidarität mit der CHP bekundeten. Die Polizei setzte Pfefferspray gegen die Menge ein; ein 54-jähriger Mann erlitt einen Schwächeanfall. Mindestens zehn weitere Personen wurden vorläufig festgenommen.
Der von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan eingesetzte Gouverneur von Istanbul hatte zuvor ein dreitägiges Demonstrationsverbot in mehreren Bezirken verhängt. Etwa zeitgleich wurde der Zugang zu zahlreichen Online-Plattformen in der Türkei eingeschränkt. Unter anderem seien YouTube, Instagram und WhatsApp betroffen, schrieb die Organisation Netblocks, die vor allem für die Beobachtung von Internetsperren bekannt ist, auf X. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel rief Parteianhänger:innen in einer Rede am späten Sonntagabend dazu auf, trotz der Blockade zur Parteizentrale in Istanbul zu ziehen. „Wer die republikanische Volkspartei verteidigt, verteidigt die Republik“, sagte er. Am Montagmorgen wurden weitere Barrieren aufgestellt.
Auslöser der Proteste ist ein Gerichtsbeschluss vom letzten Dienstag: Ein laut Jurist:innen für Parteiwahlen nicht zuständiges Bezirksgericht hatte den gesamten Vorstand der Istanbuler CHP wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten beim Parteitag vor zwei Jahren des Amtes enthoben und den bis dahin amtierenden Vorstand mit dem Vorsitzenden als Zwangsverwalter bestellt. Gegen den Willen seiner Partei hat Tekin die Anordnung des Gerichts angenommen. Die CHP will mit den Protesten verhindern, dass er und sein Team die Geschäfte in der Istanbuler Provinzzentrale übernehmen und hat angekündigt, Tekin aus der Partei ausschließen.
Özgür Özel: Demokratischer Widerstand gegen autoritäre Umgestaltung
Bei einer Sitzung des CHP-Organisationsrates äußerte sich Parteivorsitzender Özgür Özel am Montag zur aktuellen Entwicklung. „Wir stehen einer erschöpften, orientierungslosen Regierung gegenüber, die diesem Land nichts mehr zu geben hat“, sagte Özel. Erdoğan sei bereit, „das Land ins Chaos zu stürzen, um seinen Platz an der Macht zu sichern“, so der Oppositionspolitiker weiter. Er bezeichnete die Angriffe auf seine Partei als gezielte politische Repression: „Die Regierung sieht in der CHP die größte Bedrohung für ihren Machterhalt. Das mehrparteiliche System ist in der Türkei ernsthaft gefährdet – der Angriff auf die CHP ist Ausdruck dessen.“
Özel sprach von einem „schleichenden Putsch gegen die demokratischen Institutionen – mit dem 19. März als Wendepunkt. An diesem Tag war der Istanbuler Oberbürgermeister und CHP-Präsidentschaftskandidat Ekrem Imamoğlu festgenommen und abgesetzt worden, was Özel als „Dammbruch“ bezeichnete. Seitdem sei die demokratische Ordnung außer Kraft gesetzt. „Seit 173 Tagen erleben wir einen Putsch gegen die Zukunft der Türkei – und wir leisten Widerstand“, so Özel. „Was auch immer sie tun: Sie werden scheitern. Unsere Entschlossenheit ist stärker als ihre Repression.“
Verfahren gegen Özel am 15. September
Die Amtsenthebung des Istanbuler Vorstandes ist Teil eines umfassenden Plans der Regierung, die Führung der CHP auszuschalten. Seit Monaten rollt die Repressionswelle bereits gegen die Partei; mehr als ein Dutzend Bürgermeister:innen wurden abgesetzt und verhaftet, auch hunderte Angestellte der CHP-geführten Kommunalverwaltungen sind festgenommen worden. In einem Verfahren am 15. September droht auch dem Parteivorsitzenden Özgür Özel die Absetzung.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/neue-antrage-auf-immunitatsaufhebung-gegen-sechs-abgeordnete-47784 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/operation-gegen-chp-istanbuler-bezirksburgermeister-festgenommen-47530 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/weitere-festnahmen-in-chp-gefuhrten-stadtverwaltungen-47496
HPG erinnern an Kommandantinnen Emine Erciyes, Zîn Zagros und Ekîn Amara Toldar
Am 20. April 2020 kamen drei Kommandantin der Verbände freier Frauen (YJA Star), Emine Erciyes Zîn Zagros und Ekîn Amara Toldar, bei einem Angriff der türkischen Armee in der Gare-Region in Südkurdistan ums Leben. Das gaben die Volksverteidigungskräfte (HPG) bekannt und veröffentlichten einen Nachruf auf die drei Frauen. Die Erklärung enthält auch biografische Angaben über die Gefallenen und persönliche Aufzeichnungen von Emine Erciyes, die als langjährige Kämpferin, Guerillakommandantin und Künstlerin innerhalb der kurdischen Bewegung eine prägende Rolle spielte.
Codename: Emine Erciyes
Vor- und Nachname: Nazlı Taşpınar
Geburtsort: Nevşehir
Namen von Mutter und Vater: Meryem – Abdurahman
Todestag und -ort: 20. April 2020 / Gare
Codename: Zîn Zagros
Vor- und Nachname: Leyla Acar
Geburtsort: Wan
Namen von Mutter und Vater: Sevkiyat – Aydın
Todestag und -ort: 20. April 2020 / Gare
Codename: Ekîn Amara Toldar
Vor- und Nachname: Şehriban Akın
Geburtsort: Colemêrg
Namen von Mutter und Vater: Mıselma – Mustafa
Todestag und -ort: 20. April 2020 / Gare
Emine Erciyes
Die HPG würdigen Emine Erciyes als eine der tragenden Figuren des „sozialistischen, internationalistischen und geschlechterbefreienden Kampfes“ der letzten Jahrzehnte und als Beispiel für die gelebte Praxis des Paradigmas der demokratischen Nation, das in der kurdischen Freiheitsbewegung zentrale Grundlage ist. Sie wurde 1976 in der zentralanatolischen Provinz Nevşehir geboren – in einer religiös-konservativen, ländlich geprägten türkischen Familie. Ihre frühe Kindheit verbrachte sie in einem kleinen Dorf unweit des Erciyes-Massivs, bevor die Familie in die Stadt zog. Die Verbundenheit mit dem ländlichen Leben, mit Erde, Herkunft und Kultur sollte sie nie verlieren: „Vielleicht kennt mich heute im Dorf niemand mehr. Aber ich weiß, dass ich aus diesem Boden gemacht bin – und das schafft eine Nähe, die nie vergeht“, schrieb sie in ihren Notizen.
Ihre Kindheit und Jugend erlebte Emine Erciyes in einem Umfeld, in dem Geschlechterrollen klar verteilt, patriarchale Normen tief verankert waren. Schon früh entwickelte sie ein Gespür dafür, dass sie nicht in das ihr zugedachte Leben passen wollte – ohne jedoch anfangs über die Sprache zu verfügen, um diese innere Rebellion auszudrücken.
Sie war eine begabte Schülerin, die es auf ein staatliches Elitegymnasium schaffte – eines jener „modernen Rekrutierungsstätten“, wie sie selbst später über die Schulen sagte, die aus bildungsfernen Regionen talentierte Jugendliche rekrutieren, um sie in den Dienst des Staates zu stellen. Bildung erschien ihr als Ausweg: „Ich dachte: Wenn ich studiere, kann ich diesem klassischen Frauenleben entkommen. Ich wollte keine Frau sein, der das Recht abgesprochen wird, ihr Leben selbst zu bestimmen.“
Doch der erhoffte Bruch blieb aus. In Istanbul, wohin sie zum Studium zog, erlebte sie die Entfremdung der Großstadt ebenso wie die Hohlheit der Versprechen des urbanen Lebens: „Ich fühlte mich in diesen Hochhäusern wie eine hilflose Ameise. Das Ideal vom urbanen, modernen Leben bedeutete nichts für mich.“
In dieser Phase lernte sie kurdische Kommiliton:innen kennen – viele von ihnen waren politisiert und in der kurdischen Bewegung verankert. Über sie hörte sie zum ersten Mal von Abdullah Öcalan. Was sie zunächst anzog, war nicht nur die politische Analyse, sondern die Möglichkeit, die eigene existenzielle Leere in einer neuen, kollektiven Vision zu überwinden.
Die Entscheidung, sich der PKK anzuschließen, fiel nicht über Nacht. Sie beobachtete lange, stellte Fragen, verglich verschiedene Strömungen der türkischen Linken. „Die PKK hatte sich als Kraft etabliert. Sie sprach von Freiheit für alle Völker, war in der Lage, dem Staat konkrete Schritte entgegenzusetzen. Im Unterschied zu vielen türkischen linken Gruppen war sie organisiert und glaubwürdig.“
1996 schloss Emine Erciyes sich über die Balkanroute der PKK an. Bereits ein Jahr später gelangte sie an die Parteischule der PKK in einem Vorort von Damaskus und lernte Abdullah Öcalan kennen. Dort begann ein ideologischer Prozess, der sie tief prägte. Insbesondere die von Öcalan entwickelte Frauenbefreiungsideologie wurde zu ihrem theoretischen und praktischen Bezugspunkt. Sie arbeitete an Konzepten wie der „Theorie der Abspaltung“ mit, die den Bruch mit patriarchaler Sozialisation zum Ausgangspunkt einer neuen Frauenidentität macht.
In den Jahren nach 1998 nahm Emine Erciyes an zahlreichen politischen und militärischen Ausbildungen teil. Sie durchlief verschiedene Stationen in den Medya-Verteidigungsgebieten, war Mitglied des Koordinationsrats der Frauenpartei PAJK und später auch Kommandantin im zentralen Hauptquartier der YJA Star.
Neben ihrer militärischen Rolle legte sie stets Wert auf den ideologischen Anspruch des Freiheitskampfes – und prägte die Schulung von jungen Kämpferinnen mit. Viele Jahre war sie an Bildungsakademien tätig, darunter an der Akademie Bêrîtan, dem Zentrum für Frauenbildung.
„Doch Emine Erciyes war nicht nur Kommandantin. Sie war auch Künstlerin – mit einer tiefen Liebe zu Poesie, Theater, Film und Musik“, so die HPG. In der Guerilla schrieb sie Theaterstücke, spielte in zahlreichen Inszenierungen mit und war Hauptdarstellerin im Film „Dema Jin Hez Bike“ („Wenn die Frau liebt“), der von vielen jungen Kurd:innen als Ausgangspunkt ihrer politischen Auseinandersetzung benannt wird. In ihren Notizen findet sich ein prägender Satz: „Ich glaube, jeder Mensch trägt eine Melodie in sich. Abdullah Öcalan hat einmal gesagt: Die PKK ist ein Marsch mit Liedern – und ich glaube, das stimmt.“
Emine Erciyes verbrachte viele Jahre in den Zagros-Bergen, einem der härtesten Guerillagebiete Kurdistans. Für sie war diese Zeit entscheidend: „Zagros hat mich gezwungen, meine Schwächen zu erkennen. Ich lernte, Verantwortung zu übernehmen, meine Individualität hinter die Bedürfnisse der Gruppe zu stellen. Zagros hat mich geformt – nicht nur als Kämpferin, sondern als Mensch.“
Bis zu ihrem Tod am 20. April 2020 war sie an zentralen Planungs- und Strukturprozessen der YJA Star beteiligt. Ihre Weggefährtinnen beschreiben sie als verbindlich, kompromisslos, humorvoll – und als eine Frau, die wusste, woran sie glaubte.
HPG: „Sie war das gelebte Bild der Völkerfreundschaft“
In ihrer Gedenkerklärung bezeichneten die HPG Emine Erciyes als „Verkörperung des sozialistischen Menschentyps“, als internationalistische Frau, die den Mut hatte, ihr Leben in den Dienst einer kollektiven Vision zu stellen – ohne Herkunft oder ethnische Zugehörigkeit zu verabsolutieren.
„Als Kind aus den Ebenen Anatoliens fand sie sich in den Bergen Kurdistans wieder – und lebte dort die Einheit der Völker, für die so viele gefallen sind. Sie war das gelebte Bild der Völkerfreundschaft.“ Mit dem Gedenken an Emine Erciyes ehre man nicht nur eine Kommandantin, sondern eine Frau, die gezeigt habe, dass Freiheit kein Versprechen ist, sondern eine Praxis.
Zîn Zagros
Zîn Zagros stammte aus der nordkurdischen Provinz Wan (tr. Van), einer Region mit starker patriotischer Tradition und tief verankerter Widerstandskultur. In einem politisierten, dem Freiheitskampf verbundenen familiären Umfeld aufgewachsen, entschied sie sich 2015, ihr Soziologiestudium an der Yüzüncü-Yıl-Universität abzubrechen und der Guerilla beizutreten. Der Grund: die Weigerung, Teil eines Systems zu bleiben, das ihrer Einschätzung nach auf „Leugnung, Assimilation und kultureller Auslöschung“ basierte.
Zunächst wirkte sie in der jugendpolitischen Arbeit mit, bevor sie sich entschied, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. In den Medya-Verteidigungsgebieten wurde sie zu einer eigenständigen Kommandantin ausgebildet, die nicht nur an Operationen teilnahm, sondern auch Verantwortung in organisatorischer und ideologischer Arbeit übernahm. „Sie zeichnete sich durch Disziplin, Mut und eine klare freiheitliche Haltung aus.“ Die HPG beschreiben sie als „empathisch, präzise und tief verwurzelt im Geist der kollektiven Verantwortung“.
Zîn Zagros war Teil des Zentralkommandos der YJA Star und genoss das Vertrauen ihrer Mitstreiter:innen. „In ihrer Haltung zeigte sie die Entschlossenheit, sich als Frau nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen die strukturelle Gewalt des Patriarchats zu behaupten. Wie Emine Erciyes, von der sie viel lernte, sah sie in der Entwicklung einer autonomen, freien Frauenidentität den Kern ihres revolutionären Selbstverständnisses“, so die HPG.
Ekîn Amara Toldar
Ekîn Amara Toldar wurde in Gever (Yüksekova) geboren, in eine Familie, in der der Widerstand tief verwurzelt war. Ihre ältere Schwester war bereits Teil der Guerilla, bevor sie selbst sich im Jahr 2015 entschloss, ihren eigenen Weg in den Bergen Kurdistans zu gehen.
Ihre Ausbildung begann in Xakurke, später war sie in zahlreichen Regionen der Medya-Gebiete aktiv, darunter Avaşîn – ein hart umkämpftes Terrain, in dem sie an mehreren Guerillaoperationen beteiligt war. Dort entwickelte sie sich zur taktisch versierten Kommandantin, die militärisches Können mit ideologischer Tiefe verband.
Die HPG beschreiben Ekîn Amara Toldar als „mutig, diszipliniert und verbindlich“. „Sie galt als jemand, der vor allem dann präsent war, wenn Situationen schwierig wurden.“ Ihre Geradlinigkeit, ihre praktische Intelligenz und ihr Verständnis für Verantwortung machten sie zu einer gefragten Ansprechperson, heißt es im Nachruf. „Als selbstlose Apoistin lag ihr Fokus auf der Verbindung zwischen Theorie und Praxis, besonders im Aufbau der Frauenarmee und der Stärkung der kollektiven militärischen Handlungsfähigkeit.“
In ihrem Nachruf schreiben die HPG: „Zîn, Ekîn und Emine waren Töchter von Erciyes, Botan und Zagros – vereint in einem Leben, das sie der Freiheit und der Völkerfreundschaft gewidmet haben. Sie waren und sind keine abstrakten Symbole, sondern lebendige Vorbilder: als Kommandantinnen, Künstlerinnen, Ideologinnen und Kämpferinnen. Sie haben den Kampf um Selbstbestimmung, Geschlechterbefreiung und soziale Gerechtigkeit auf würdige Weise verkörpert und durch ihren Einsatz konkrete Fortschritte innerhalb unserer Bewegung ermöglicht. Sie trugen die Fahne des Kampfes unter schwersten Bedingungen bis in die Gegenwart. Wer in Würde und Menschlichkeit leben will, steht in der Verantwortung, sie weiterzutragen.“ Den Angehörigen der Gefallenen und der kurdischen und türkischen Gesellschaft sprachen die HPG ihr Mitgefühl aus.
[album=21388]
Schirdewan fordert Stopp der Abschiebung von Mehmet Çakas
Der Europaabgeordnete Martin Schirdewan (Die Linke) hat die drohende Abschiebung des kurdischen Aktivisten Mehmet Çakas in die Türkei scharf kritisiert und einen sofortigen Stopp des Verfahrens gefordert. „Die Abschiebung von Mehmet Çakas in die Türkei muss verhindert werden“, erklärte Schirdewan, Ko-Vorsitzender der Linksfraktion im Europäischen Parlament, am Montag in Brüssel. „Deutschland darf Menschen nicht in ein Land abschieben, in dem keine Rechtsstaatlichkeit herrscht und Kurdinnen und Kurden verfolgt werden.“
Schirdewan verwies darauf, dass das Bundesjustizministerium ein entsprechendes Auslieferungsersuchen der Türkei bereits im Jahr 2023 abgelehnt hatte – mit Hinweis auf die Gefahr politischer Verfolgung sowie menschenunwürdiger Haftbedingungen. Es sei „schlicht inakzeptabel“, dass Çakas entgegen der damaligen Entscheidung „nun unter dem Deckmantel einer Abschiebung ausgeliefert werden soll“.
Gericht verhandelt über Abschiebung
Am heutigen Montag verhandelt das Verwaltungsgericht Lüneburg über die rechtliche Zulässigkeit der geplanten Abschiebung. Derzeit verbüßt Mehmet Çakas in der Justizvollzugsanstalt Uelzen eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten wegen vermeintlicher Unterstützung der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Nach Ablehnung seines Asylantrags soll er nun aus aufenthaltsrechtlichen Gründen in die Türkei abgeschoben werden.
Eine Aktivistin auf einer Demonstration für die Freilassung von Mehmet Çakas | Foto: ANF
Die ursprünglich für den 28. August angesetzte Abschiebung war am Vortag vorläufig gestoppt worden. Das Gericht muss nun klären, ob eine Rückführung rechtlich zulässig ist – trotz bestehender Schutzentscheidungen auf deutscher und europäischer Ebene.
Drohende Haft unter Sonderbedingungen
Laut Angaben des Republikanischen Anwältinnen- und Anwaltsvereins (RAV) droht Çakas in der Türkei eine lebenslange Freiheitsstrafe unter erschwerten Haftbedingungen, basierend auf vagen Vorwürfen nach dem türkischen Anti-Terror-Paragrafen. Menschenrechtsorganisationen verweisen auf systematische Misshandlungen in türkischen Gefängnissen sowie politische Urteile gegen kurdische Oppositionelle.
Auch das für die Überstellung von Çakas zuständige italienische Gericht hatte seinerzeit deutlich gemacht, dass eine Weiterleitung in die Türkei unzulässig sei. Die Bedingung der Nicht-Auslieferung war Teil der Entscheidung zur Übergabe an die deutschen Behörden.
Politische Dimension des Falls
Schirdewan sieht in dem Verfahren einen Präzedenzfall: „Es handelt sich nicht um einen Einzelfall, sondern um eine Grundsatzentscheidung – ob Deutschland Erdoğan bei der politischen Verfolgung der Kurd:innen unterstützt.“ Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Lüneburg wird in den kommenden Tagen erwartet.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/cansu-Ozdemir-fordert-rechtsschutz-fur-mehmet-Cakas-47789 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/gefahr-der-abschiebung-von-mehmet-Cakas-am-28-august-gebannt-47693 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/bundesregierung-schweigt-zu-drohender-abschiebung-von-mehmet-Cakas-47617 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/abschiebung-von-mehmet-Cakas-fur-den-28-august-angesetzt-47399
„Frauen dürfen im Friedensprozess nicht nur Zuschauerinnen sein – sie müssen mitbestimmen“
Die von der Bewegung Freier Frauen (TJA) ins Leben gerufene Kommission „Frauen und Recht im Friedensaufbau“ setzt sich dafür ein, dass Frauen im Friedensprozess nicht nur am Rande stehen, sondern eine gestaltende Rolle einnehmen. Ziel der Initiative ist es, den Prozess durch die Stärkung der Mitspracherechte von Frauen und eine entsprechende rechtliche Verankerung auf eine demokratische Grundlage zu stellen.
Die Rechtsanwältin Sevda Çelik Özbingöl, Ko-Sprecherin der DEM-Kommission für Recht und Menschenrechte, erklärte gegenüber ANF, dass Frieden nur gelingen könne, wenn er mit und durch Frauen gedacht wird. „Ohne Recht gibt es keine Lösung – und ohne Frauen kein Recht“, so Özbingöl.
Friedensprozess als gesellschaftlicher Wandel
Özbingöl betonte, dass der Friedensprozess nicht nur rechtlich, sondern vor allem im Kontext eines gesellschaftlichen und demokratischen Wandels betrachtet werden müsse. Frauen müssten von Anfang an einbezogen werden – nicht nur bei frauenspezifischen Fragen, sondern in allen Bereichen, in denen gesellschaftliche Veränderungen stattfinden. Die Kommission ruft daher alle Frauenorganisationen und -strukturen auf, sich aktiv einzubringen, auch wenn dies Veränderung und neue Anstrengungen bedeute. In diesem Zusammenhang kündigte sie das zweite Frauentreffen am 11. September in Mêrdîn (tr. Mardin) an.
Beteiligung über Repräsentation hinaus
Nach dem Friedensaufruf von Abdullah Öcalan sei die Einsetzung der „Kommission für nationale Solidarität, Geschwisterlichkeit und Demokratie“ im türkischen Parlament ein wichtiger Schritt, so Özbingöl. Doch dabei dürfe es nicht bei symbolischer Repräsentation bleiben. Die aktive Mitwirkung von Frauen müsse garantiert werden, fordert die Juristin.
Positiv sei in dem Zusammenhang, dass auch den Friedens- und Samstagsmüttern eine Stimme gegeben wurde. Problematisch sei jedoch, dass es ihnen nicht erlaubt wurde, sich in ihrer Muttersprache zu äußern. Für viele Frauen sei Sprache ein zentrales Ausdrucksmittel von Identität und politischer Teilhabe.
„Es ist ein gravierendes Defizit, dass Müttern die Möglichkeit verweigert wurde, sich in ihrer Muttersprache auszudrücken – gerade wenn sie Hoffnung auf Frieden haben und aktiv an dessen Gestaltung mitwirken wollen“, so Özbingöl. Diese Stimmen müssten systematisch in die Arbeit der Friedenskommission einfließen, um den Prozess glaubwürdig und inklusiv zu gestalten.
Friedensprozess braucht Vielfalt und Verantwortung
Frauen litten besonders stark unter Krieg und bewaffneten Konflikten, erklärte Özbingöl weiter, und müssten daher im Friedensprozess an vorderster Stelle stehen. Es seien oft die Frauen, die am härtesten kämpfen – und kämpfen müssten.
Ein dauerhafter Frieden sei nur möglich, wenn alle Teile der Gesellschaft einbezogen würden. Dazu gehöre auch die gemeinsame Beteiligung von syrischen, ezidischen und alevitischen Frauen. Ohne ihre Perspektiven könne es keine umfassende Lösung geben. Ein inklusiver Ansatz sei notwendig, um religiöse und gesellschaftliche Konflikte wirksam zu adressieren.
Auch die Sprache des Friedens müsse bewusst gewählt werden, betonte Özbingöl. Sie müsse sensibel, respektvoll und auf Verständigung ausgerichtet sein. Frieden beginne nicht nur mit politischen Entscheidungen, sondern auch mit der Art, wie gesprochen, zugehört und verstanden werde. In diesem Zusammenhang wies sie auch auf die jüngsten Drohungen der türkischen Regierung gegen Rojava hin: „Die Aussage ‚Frieden kennt keine Verlierer‘ ist eine Definition, auf die sich alle gesellschaftlichen Gruppen und Konfliktparteien verständigen können“, so Özbingöl.
Sensibilität und Glaubwürdigkeit entscheidend
Der Friedensaufbau sei ein langfristiger Prozess, der auf schwerem Leid beruhe: verlassene Dörfer, tausende Tote – darunter Guerillakämpfer:innen, Soldaten und Opfer der Praxis des Verschwindenlassens. Umso wichtiger sei ein sensibler Umgang mit diesem kollektiven Schmerz.
Gleichzeitig warnte Özbingöl vor zu großer Politisierung: Politische Interessen und kurzfristige Positionierungen sollten in der Friedenspraxis außen vor bleiben, auch wenn Vertreter von Staat und Regierung zentrale Akteure seien.
Vertrauensdefizit als größte Hürde
Ein zentrales Hindernis sei laut Özbingöl das fehlende Vertrauen der Bevölkerung in den Prozess. Viele Menschen hätten Sorge, dass die Gespräche scheitern könnten. Entscheidend sei daher die rasche Umsetzung konkreter, glaubwürdiger Maßnahmen, die auf Dauer angelegt sind. „Es reicht nicht, über Frieden zu sprechen. Man muss ihn auch praktisch und sichtbar umsetzen.“ Nur durch spürbare Fortschritte könne das Vertrauen in einen echten Friedensprozess wachsen – und der Weg zu Gerechtigkeit und Gleichberechtigung geöffnet werden.
https://deutsch.anf-news.com/frauen/kurdische-frauenbewegung-fordert-mitsprache-bei-neuer-verfassung-47651 https://deutsch.anf-news.com/frauen/kurdische-rechtsanwaltin-frieden-braucht-die-stimme-der-frauen-47675 https://deutsch.anf-news.com/frauen/tja-bekraftigt-einsatz-fur-dauerhaften-und-gerechten-frieden-47770 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/die-turkei-ist-noch-weit-von-einem-positiven-frieden-entfernt-47753
Frankfurter Konferenz bekräftigt Ziele der „Jin, Jiyan, Azadî“-Bewegung
Drei Jahre nach dem Ausbruch der „Jin, Jiyan, Azadî“-Revolution in Iran und Ostkurdistan haben Aktivist:innen aus verschiedenen Teilen der Welt bei einer internationalen Konferenz in Frankfurt die Ziele der Bewegung bekräftigt. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen die Forderung nach Gerechtigkeit für die Opfer staatlicher Gewalt, die Stärkung transnationaler Solidarität sowie die Anerkennung der zentralen Rolle von Frauen im gesellschaftlichen Wandel.
Die Konferenz am Sonntag wurde anlässlich des nahenden dritten Jahrestags der Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini organisiert. Die 22-jährige Kurdin war im September 2022 in Polizeigewahrsam der iranischen Sittenpolizei ums Leben gekommen. Ihr Tod löste landesweite Proteste gegen das autoritäre Regime in Teheran aus, die unter der kurdischen Parole „Jin, Jiyan, Azadî“ – Frau, Leben, Freiheit – weltweite Beachtung fanden.
„Revolution der Erinnerung und des Widerstands“
Veranstaltet wurde die Konferenz von der Kampagne „Nein zur Hinrichtung, Ja zum freien Leben“ in Zusammenarbeit mit der Demokratischen Plattform Iran (DPI). Unterstützt wurde sie unter anderem vom Verband der Frauen aus Kurdistan in Deutschland (YJK-E) und dem Kurdischen Frauenrat Amara.
In ihrer Abschlusserklärung betonten die Teilnehmenden, dass die Protestbewegung weit über die Ereignisse von 2022 hinausgehe. Die „Jin, Jiyan, Azadî“-Revolution sei Ausdruck eines jahrzehntelangen Kampfes gegen Unterdrückung, Diskriminierung und soziale Ungerechtigkeit – nicht nur in Iran, sondern in der gesamten Region.
Zentrale Rolle der Frauen und internationale Vernetzung
Besonderes Augenmerk lag auf der Rolle von Frauen als treibende Kraft der Bewegung. In den Panels sprachen unter anderem die ehemalige afghanische Senatorin Belqis Roshan, Bundestagsabgeordnete Janine Wissler (Die Linke), Amina Omar vom Frauenrat Nord- und Ostsyriens sowie Maryam Fathi, Vertreterin der Gemeinschaft Freier Frauen in Ostkurdistan (KJAR). Sie betonten die Notwendigkeit, geschlechtsspezifische Unterdrückung als strukturelles Problem autoritärer Regime zu begreifen – und die zentrale Bedeutung feministischer Perspektiven für künftige Transformationen.
Ein weiteres Panel widmete sich Fragen des Exils, der Diaspora und globaler Solidaritätsstrukturen. Diskutiert wurden unter anderem neue Initiativen für transnationale Zusammenarbeit, etwa eine internationale Kampagne gegen Hinrichtungen und für die Freilassung politischer Gefangener.
Kunst als Ausdruck von Widerstand und Hoffnung
Begleitet wurde die Konferenz von einer Ausstellung des Künstlers Sîwan Saeidian, der in seinen Werken Schmerz, Verlust und Hoffnung im Kontext des Aufstands verarbeitet. Auch künstlerische Performances und kurdisch-iranische Protestlieder bildeten einen festen Bestandteil des Programms. Die Veranstalter:innen sehen in der Kunst ein zentrales Mittel der Erinnerung und des Widerstands.
Perspektiven und nächste Schritte
In der Abschlusserklärung riefen die Organisator:innen dazu auf, die Bewegung lebendig zu halten – durch regelmäßige Austauschformate, digitale Veranstaltungen, internationale Kampagnen und den Ausbau globaler Netzwerke. „Unser Zusammensein ist an sich ein revolutionärer Akt“, heißt es im gemeinsamen Statement. Kein staatlicher Druck könne die Stimmen der Frauen, Jugendlichen und all jener zum Schweigen bringen, die Freiheit und Würde fordern.
[album=21387]
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dritter-jahrestag-der-jin-jiyan-azadi-bewegung-konferenz-in-frankfurt-geplant-47779 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/jina-mahsa-amini-un-bericht-macht-iran-verantwortlich-fur-tod-41327 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/bericht-regimekrafte-vergewaltigten-protestierende-der-jin-jiyan-azadi-bewegung-40115 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/eu-ehrt-jina-mahsa-amini-posthum-mit-sacharow-preis-40179