«Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und von Furcht.» (– Willy Brandt, 14. Juni 1987).
ANF NEWS (Firatnews Agency) - kurdische Nachrichtenagentur
Nach rassistischen Fangesängen gegen Leyla Zana: Juristinnen erstatten Strafanzeige
Nach wiederholten sexistischen und rassistischen Beleidigungen gegen die kurdische Politikerin Leyla Zana in türkischen Fußballstadien hat die Vereinigung freiheitlicher Jurist:innen (ÖHD) in Amed (tr. Diyarbakır) Strafanzeige erstattet. Vor dem Gerichtsgebäude kritisierte die Frauenkommission der Organisation die Parolen als Teil einer „systematisch organisierten Hasskampagne“, die sich gegen Frauen, Kurd:innen und politische Meinungsäußerung richte.
Im Zentrum der Kritik stehen Fangesänge, die in den vergangenen Tagen in den Stadien der türkischen Fußballclubs von Bursaspor, Ankaragücü und Rizespor ertönten. Die Parolen richteten sich persönlich gegen Zana – eine der bekanntesten kurdischen Politikerinnen und ehemalige Abgeordnete des türkischen Parlaments.
„Organisierte Angriffe, keine Einzelfälle“
Ekin Yeter, Ko-Vorsitzende von ÖHD, erklärte in einer Ansprache, dass die verbalen Angriffe nicht als spontane Reaktionen einzelner Fans gewertet werden könnten: „Diese Schmähungen entspringen der Verbindung eines männerdominierten Denkens mit tief verwurzelten rassistischen Strukturen. Sie sind Teil einer gezielten Einschüchterungsstrategie.“ Es sei bezeichnend, dass eine Frau ohne Bezug zum Fußball, allein wegen ihrer politischen und ethnischen Identität zur Zielscheibe werde.
Yeter warf den verantwortlichen Vereinen, der Fußballaufsicht und den Sicherheitskräften Untätigkeit vor. Bereits beim Spiel zwischen Bursaspor und Amedspor im März 2023, wo es zu einem rassistisch motivierten Lynchversuch gekommen war und Bilder des JITEM-Verbrechers Mahmut Yıldırım („Yeşil“) sowie Abbildungen weißer Toros-Fahrzeuge – beides Symbole für die staatliche Politik des „Verschwindenlassens“ im Kurdistan der 1990er Jahre – gezeigt worden waren, blieben die Verantwortlichen weitestgehend untätig.
Kritik an TFF und systemischer Untätigkeit
Die Frauenkommission der ÖHD forderte den Türkischen Fußballverband (TFF) und staatliche Stellen auf, ihrer Pflicht zur Intervention gegen solche Vorfälle und das in Stadien geschaffene „Klima der Angst“ nachzukommen. „Die Disziplinarordnung verlangt nicht nur ein Einschreiten bei Verstößen, sondern verpflichtet auch zur aktiven Verhinderung solcher Vorfälle. Dass weder Schiedsrichter noch Funktionäre bei den sexistischen Fangesängen gegen Leyla Zana reagierten, stellt eine Verletzung dieser Pflicht dar“, sagte Yeter.
Die Juristin kritisierte zudem die Normalisierung von Hassrede im Stadionumfeld. Fußball, als Raum mit breiter gesellschaftlicher Strahlkraft, werde zunehmend zu einem Schauplatz von Diskriminierung und Hetze. Dies widerspreche dem eigentlichen Geist des Sports und gefährde den sozialen Zusammenhalt. „Diese Angriffe treffen nicht nur Zana – sie richten sich gegen die Idee von Frieden, Gleichberechtigung und einem gemeinsamen Leben in Würde“, so Yeter. Die Erklärung endete mit der kurdischen Losung „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit).
Sportminister kündigt rechtliche Schritte an
Unterdessen äußerte sich auch Jugend- und Sportminister Osman Aşkın Bak im Parlament zu den Beleidigungen gegen Leyla Zana. Man habe gemeinsam mit dem TFF rechtliche Schritte eingeleitet. „Wir werden diese Ereignisse niemals akzeptieren. Die Verantwortlichen werden gemäß dem Gesetz 6222 – das Gewalt und Ausschreitungen im Sport sanktioniert – belangt“, sagte der Minister. Dazu könnten Stadionverbote und weitere disziplinarische Maßnahmen gehören. Bak betonte, dass Hassrede und diskriminierende Äußerungen dem ethischen Geist des Sports widersprächen. „Wer auch immer dahintersteckt, solches Verhalten ist inakzeptabel“, so der Minister.
https://deutsch.anf-news.com/frauen/wut-nach-sexistischen-fangesangen-gegen-leyla-zana-49320 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/organisierter-lynchangriff-auf-fussballverein-amedspor-36550 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/rassismus-ein-altbekanntes-phanomen-im-turkischen-fussball-48394
Imrali-Delegation und CHP setzen auf Dialog für Frieden und Demokratie
Die Imrali-Delegation der DEM-Partei hat sich mit dem CHP-Vorsitzenden Özgür Özel zu einem Gespräch in Ankara getroffen. Im Zentrum der Begegnung standen der türkisch-kurdische Dialogprozess, die Arbeit der parlamentarischen „Kommission für nationale Solidarität, Geschwisterlichkeit und Demokratie“ sowie Fragen gesellschaftlicher Versöhnung im Zusammenhang mit der kurdischen Frage.
An dem Treffen nahmen die DEM-Abgeordneten Pervin Buldan und Mithat Sancar sowie der Rechtsanwalt Faik Özgür Erol von der Istanbuler Kanzlei Asrin teil. Das Gespräch fand in der CHP-Zentrale in Ankara statt und wurden im Anschluss durch eine gemeinsame Pressekonferenz abgeschlossen.
Özel: Hoffnung auf eine gerechte und friedliche Zukunft
CHP-Chef Özgür Özel betonte in seinem Statement die Verantwortung der Politik, Wege aus der gesellschaftlichen Polarisierung zu finden. Ziel sei es, ein Klima zu schaffen, in dem alle Bevölkerungsgruppen in Frieden leben könnten. „Wir hoffen auf ein Morgen, in dem weder türkische noch kurdische Kinder Angst vor der Zukunft haben müssen, in dem Bildung, Sicherheit und Gerechtigkeit für alle erreichbar sind“, sagte Özel.
Er kündigte an, dass die parteiübergreifende Parlamentskommission zur Vorbereitung eines Abschlussberichts ihrer Arbeit bald in die nächste Phase gehe. Die Beratungen sollen nach einem Treffen mit Parlamentspräsident Numan Kurtulmuş strukturiert fortgeführt werden. „Unser Ziel ist ein gemeinsamer Text, der sowohl den Wunsch nach einem Leben ohne Terror als auch nach echter Demokratie miteinander verbindet“, so Özel.
Scharfe Kritik an Anfeindungen gegen Leyla Zana
Özel nutzte die Gelegenheit, um die rassistischen und sexistischen Beleidigungen gegen die kurdische Politikerin Leyla Zana im öffentlichen Raum scharf zu verurteilen. Solche Angriffe seien „inakzeptabel, respektlos und kulturell unvereinbar mit der Tradition Anatoliens“. Er kritisierte insbesondere, dass politische Hetze in Fußballstadien ausgetragen werde, und sprach sich gegen jede Form von Ausgrenzung und Stimmungsmache aus.
Syrien und regionale Stabilität als Thema
Neben innenpolitischen Fragen ging Özel auch auf die Lage in Syrien ein. Er sprach sich für ein friedliches und verfassungsmäßiges Zusammenleben aller ethnischen und religiösen Gruppen sowohl in der Türkei als auch in Syrien aus. Eine stabile Beziehung zwischen beiden Ländern sei nicht nur für die Region, sondern auch für das Miteinander der Völker entlang der Grenze entscheidend. „Wenn die Türkei und Syrien ihre Beziehungen auf Frieden und Zusammenarbeit gründen, profitieren davon Türken, Kurden und die gesamte Region“, so Özel.
Buldan: „Jetzt ist Zeit für gemeinsame Verantwortung“
Die DEM-Politikerin Pervin Buldan unterstrich die Bedeutung des Dialogs mit der CHP. „Die kurdische Frage ist keine parteipolitische Frage, sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung“, sagte sie. Es sei Zeit, dass alle politischen Kräfte Verantwortung übernehmen. „Wir haben jahrzehntelanges Leid erleb. Jetzt müssen wir gemeinsam verhindern, dass sich das wiederholt.“
Sancar: Dialog statt Konfrontation
Ihr Fraktionskollege Mithat Sancar hob hervor, dass echte Veränderung nur im Rahmen eines Verhandlungsprozesses möglich sei. „Wir müssen den Unterschied zwischen Debatte und Verhandlung verstehen. In der Debatte will man gewinnen, in der Verhandlung will man verstehen“, sagte er. Die Gespräche mit der CHP seien ein Beispiel dafür, dass trotz Unterschieden eine gemeinsame Sprache möglich sei.
Sancar betonte, dass politischer und gesellschaftlicher Konsens von zentraler Bedeutung seien, um Auswege aus der derzeitigen Polarisierung zu finden. Die CHP zeige, dass sie bereit sei, in diesem Prozess eine konstruktive Rolle zu übernehmen. „Wir dürfen den Raum nicht jenen überlassen, die auf Eskalation, Provokation und Ausgrenzung setzen.“
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/chp-bericht-zum-friedensprozess-reformforderungen-ohne-kurs-zur-konfliktlosung-49321 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/imrali-delegation-trifft-akp-im-parlament-dialog-braucht-rechtliche-grundlage-49337 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/imrali-delegation-trifft-tip-frieden-ist-voraussetzung-fur-demokratie-und-freiheit-49339 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/bakirhan-wir-sprechen-von-demokratie-sie-von-liquidierung-49330 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/akp-bericht-zur-kurdischen-frage-bedingungen-statt-Offnung-49329
Türkische Regierungsdelegation in Damaskus
Eine hochrangige türkische Regierungsdelegation unter Leitung von Außenminister Hakan Fidan ist zu Gesprächen in der syrischen Hauptstadt Damaskus eingetroffen. Begleitet wird er von Verteidigungsminister Yaşar Güler und MIT-Chef Ibrahim Kalın. Nach Angaben aus Regierungskreisen soll es bei dem Arbeitsbesuch um sicherheitspolitische und wirtschaftliche Fragen sowie die Umsetzung des Integrationsabkommens zwischen Damaskus und den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) gehen.
Ziel der Gespräche sei eine politische und sicherheitstechnische Bilanz der bilateralen Beziehungen seit dem Sturz des Assad-Regimes vor einem Jahr. Ein weiterer Schwerpunkt seien die Auswirkungen der israelischen Präsenz im Süden Syriens und daraus resultierende sicherheitspolitischen Risiken. Darüber hinaus soll über Projekte zum Wiederaufbau Syriens gesprochen werden. Geplant sei eine Bewertung laufender bilateraler Initiativen sowie eine mögliche Unterstützung der syrischen Regierung beim institutionellen Kapazitätsaufbau, hieß es.
Fidan: Geduld der Beteiligten „nahezu aufgebraucht“
Vor drei Tagen hatte Außenminister Fidan im türkischen Auslandssender TRT World die QSD attackiert und vor einer möglichen militärischen Eskalation gewarnt. Das multiethnische Bündnis, dessen Rückgrat die Volksverteidigungseinheiten (YPG) bilden, zögere die Umsetzung des 10.-März-Abkommens mit Damaskus bewusst hinaus, behauptete Fidan. „Wir möchten keine neuen militärischen Maßnahmen ergreifen. Aber die Geduld der beteiligten Akteure ist nahezu aufgebraucht.“
Fidan warf den QSD-Führungskräften vor, auf eine regionale Eskalation – etwa durch den Nahost-Konflikt – zu hoffen, um politischen Druck zu umgehen. Die Existenz einer bewaffneten Gruppe außerhalb der staatlichen Armee sei mit syrischer Souveränität unvereinbar, sagte er. „Man kann in einem Staat nicht mehrere bewaffnete Formationen dulden.“ Auch Verteidigungsminister Yaşar Güler hatte den QSD zuletzt wieder gedroht. In der Art und Weise, wie beide türkischen Regierungsvertreter diese Themen öffentlich adressieren, treten sie zunehmend wie Akteure innerhalb des syrischen politischen Systems auf.
Treffen im „3+3-Format“
Im Rahmen der Reise soll auch der neu ernannte türkische Botschafter Nuh Yılmaz seine Tätigkeit in Damaskus aufnehmen. Die Ernennung gilt als weiterer Schritt zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Ankara und der syrischen Regierung unter dem selbsternannten Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa. Bereits in den vergangenen Monaten hatte es mehrere Treffen im sogenannten „3+3-Format“ zwischen hochrangigen Vertretern beider Staaten gegeben.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/turkischer-verteidigungsminister-droht-qsd-49332 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/zwischen-stellvertretern-und-strategien-die-fragile-ordnung-in-syrien-49356 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/qsd-generalkommandant-abdi-2026-wird-ein-neuanfang-fur-uns-49336
DEM-Abgeordneter fordert Einführung von Weihnachten als Feiertag
Der DEM-Abgeordnete George Aslan hat im türkischen Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht, mit dem der 25. Dezember als gesetzlicher Feiertag anerkannt werden soll. In der Begründung seines Vorschlags verweist der Politiker auf die jahrtausendealte religiöse und kulturelle Vielfalt der Türkei. Diese Vielfalt sei mit der Gründung der Republik zunehmend unterdrückt worden – etwa durch eine Politik der kulturellen Vereinheitlichung, die christliche Gemeinschaften wie Armenier:innen, Griech:innen und Suryoye marginalisiert habe.
„Einst lebten Millionen christliche Gläubige in Anatolien – heute sind es nur noch Tausende“, heißt es im Gesetzentwurf. Diese Entwicklung sei Ergebnis von politischen Maßnahmen, die religiöse Minderheiten unterdrückt und aus dem öffentlichen Leben gedrängt hätten. Mit der Einführung eines offiziellen Weihnachtsfeiertags solle ein Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung und gesellschaftlicher Anerkennung christlicher Bürger:innen getan werden. Das Fest der Geburt Jesu Christi sei von hoher spiritueller Bedeutung und ein zentraler Bestandteil religiöser Identität, so Aslan.
Ein gesetzlicher Feiertag würde nicht nur die Gleichstellung fördern, sondern auch das Grundrecht auf Religionsfreiheit im Alltag sichtbarer machen, betonte Aslan, der selbst Suryoye ist und gebürtig aus der Provinz Mêrdîn (tr. Mardin) stammt. Zugleich könne dies ein Signal für mehr gesellschaftliche Inklusion und gegenseitigen Respekt in einem multireligiösen Staat sein, so die Argumentation im Antrag.
https://deutsch.anf-news.com/kultur/aramaisches-dorf-arbo-erhalt-historischen-namen-zuruck-48765
KOMAW organisiert Treffen in Stuttgart mit Familien von Gefallenen
Die Vereinigung der Familien von Gefallenen in Kurdistan (KOMAW) hat am Sonntag in Stuttgart ein Treffen mit Angehörigen organisiert. Dutzende Teilnehmende aus verschiedenen Städten Baden-Württembergs kamen zusammen, um über Erinnerungskultur, aktuelle politische Entwicklungen und die Arbeit der Organisation zu sprechen.
Nach einer Schweigeminute für die Gefallenen der kurdischen Freiheitsbewegung und einer Video-Präsentation eröffnete der Ko-Vorsitzende von KOMAW, Ali Konkurd, das Treffen mit einer Grundsatzrede. Die kurdische Freiheitsbewegung habe nur durch die Opferbereitschaft der Gefallenen Bestand, betonte er. „Ihre Ideale weiterzutragen ist vor allem Aufgabe ihrer Familien“, sagte Konkurd. Er zitierte den kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan, der den Angehörigen eine zentrale Rolle bei der Wahrung des Vermächtnisses der Gefallenen zuschreibt. Die oft zitierte Losung „Şehîd namirin“ („Gefallene sind unsterblich“) müsse mit Inhalt gefüllt werden – etwa durch politische Arbeit und Erinnerungspflege.
Dokumentation, Vernetzung und internationale Aufklärung
Konkurd erläuterte, KOMAW arbeite derzeit in zwei zentralen Bereichen: Zum einen seien dies interne Maßnahmen zur Organisation der Angehörigen und zur Archivierung persönlicher Gegenstände gefallener Kämpfer:innen. In einer laufenden Kampagne seien bereits über 1.500 Familien kontaktiert worden.
Zum anderen verfolge KOMAW diplomatische Initiativen. In mehreren Sprachen erstellte Dossiers würden unter anderem an das Europäische Parlament sowie an politische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen in Europa übergeben. Ziel sei es, auf Menschenrechtsverletzungen und den Einsatz von Chemiewaffen in Kurdistan aufmerksam zu machen sowie die Forderung nach Freilassung von Öcalan international zu verankern.
Kritik an Frankreich wegen Pariser Attentaten
Cahîde Goyî, ebenfalls Ko-Vorsitzende von KOMAW, forderte in ihrer Rede eine lückenlose Aufklärung der tödlichen Angriffe auf kurdische Aktivist:innen in Paris. „Wir haben dort einen hohen Preis gezahlt – sechs Gefallene. Doch es reicht nicht, den Schützen zu benennen. Es geht um die Strukturen dahinter“, sagte Goyî. Wenn Frankreich diese nicht offenlege, sei es mitverantwortlich. Zum Abschluss des Treffens rief sie zur weiteren Stärkung der Organisation auf. Die Familien der Gefallenen seien eine tragende Säule im Kampf um politische Anerkennung und Gerechtigkeit.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/achter-komaw-kongress-in-herne-47761
Zwischen Stellvertretern und Strategien: Die fragile Ordnung in Syrien
In seiner aktuellen Analyse zeichnet der Journalist und Autor Aykan Sever ein vielschichtiges Bild der sich wandelnden geopolitischen Ordnung in Syrien. Im Spannungsfeld zwischen den USA, der Türkei, Israel und regionalen Akteuren wie „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS) identifiziert er fragile Allianzen, strukturelle Bruchlinien und widersprüchliche Interessen. Zentral ist dabei die Kritik an der US-Strategie, die auf eine Neustrukturierung Syriens unter Einbindung von HTS zielt – ein Vorhaben, das aus Severs Sicht an inneren Widersprüchen scheitert. Verschärft wird die Lage durch das anhaltende Zerwürfnis zwischen Ankara und der israelischen Regierung, das sich zunehmend auf das syrische Kriegsgebiet überträgt. Auch die Bedrohungslage in Rojava sowie die Aufhebung der Caesar Acts verortet Sever als Faktoren, die die politische Unsicherheit in der Region weiter vertiefen.
„Sie betrachten Syrien als formbares Material“
Sever führt aus, dass Syrien von einer Vielzahl internationaler und regionaler Akteure als strategisches Konfliktfeld betrachtet werde – ein Umstand, der sich aus der geopolitischen Lage des Landes ergibt. Vom östlichen Mittelmeerraum bis zur geplanten Neugestaltung des Nahen Ostens spiele Syrien eine Schlüsselrolle, was jede Entwicklung im Land in einen mehrschichtigen Konkurrenzkampf um Einfluss verwandle: „Syrien wird als formbare Masse verstanden – und zwar von einer ganzen Reihe von Akteuren. Dazu zählen die Vereinten Nationen, die Europäische Union, ebenso wie Russland, die USA, die arabischen Staaten, die Türkei, Israel und Frankreich. Die strategische Bedeutung Syriens ist sowohl in Bezug auf die Kontrolle über den östlichen Mittelmeerraum als auch im Kontext einer möglichen geopolitischen Neuordnung des Nahen Ostens enorm. Syrien ist nicht nur Syrien; wie so oft gilt, dass kein Konflikt in einer Region ausschließlich auf sich selbst beschränkt bleibt.“
In diesem Zusammenhang betont Sever die Vielschichtigkeit der internationalen Einmischung. Jede beteiligte Macht versuche, ihre eigenen Interessen im syrischen Raum zu verankern. So habe die EU ihr Personal entsendet, um politischen Einfluss zu sichern, während sich auch die UN weiter bemühten, über diplomatische Kanäle Einfluss auf die Entwicklung in Syrien zu nehmen. Russland wiederum strebe Abkommen mit der HTS-Regierung an, um seine bestehende Position in der Region zu behaupten. Die zentrale Rolle jedoch spielten nach wie vor die Vereinigten Staaten.
US-Hegemonie und Nahost: Monroe-Doktrin 2.0
Aykan Sever zufolge verfolgt Donald Trump eine globale Ordnungsvorstellung, die die USA im Zentrum sieht und auf einer hegemonialen Neuinterpretation der Monroe-Doktrin basiert. Ziel sei es, unter amerikanischer Führung eine weltweite Vormachtstellung zu sichern – mit einem besonderen Fokus auf Europa. Doch die Realität erfordere zwangsläufig auch eine Ausweitung dieser Strategie auf den Nahen Osten: „Selbst wenn das Hauptaugenmerk auf Westeuropa und der EU liegt – wer dort hegemonial agieren will, kann sich dem Nahen Osten nicht entziehen.“
Wie Trump diesen Anspruch praktisch umzusetzen versucht, lasse sich auch an seinen Reaktionen auf aktuelle Ereignisse ablesen – etwa auf den tödlichen Angriff bei Palmyra, bei dem drei US-Amerikaner getötet wurden. Laut Sever offenbare sich hier eine strategische Simplifizierung: „Trump reagiert nicht mit komplexer Analyse, sondern reduziert das Geschehen auf bekannte Schlagworte, etwa indem er auf den Islamischen Staat (IS) verweist und damit das politische Umfeld ausblendet. Auch in Bezug auf Akteure wie Ahmed al-Scharaa, Erdoğan, Netanjahu oder Kronprinz Mohammed bin Salman zeigt sich dieses Denken: Für Trump sind sie alle machtvolle Figuren, die er als mögliche Stellvertreter in seinem geopolitischen Kalkül einsetzen will.“
Die USA, so Sever, setzten damit auf eine individualisierte Machtlogik – jenseits langfristiger Strategien oder institutioneller Verantwortung. Statt kohärenter Ordnungspolitik dominiere ein Denken in kurzfristigen, personalisierten Allianzen.
Aykan Sever | Foto: privat
Eine „NATO des Nahen Ostens“ als hegemoniale Utopie
Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen geht Sever auf die mit den Abraham-Abkommen verbundenen Blockbildungen ein, die auf eine strukturelle Neugestaltung der Region zielen. Seiner Einschätzung nach handelt es sich dabei nicht nur um eine politische Allianz, sondern auch um den Versuch, ein sicherheitspolitisches Bündnissystem zu etablieren, in dem Israel eine zentrale Rolle einnehmen soll: „Im Rahmen der Abraham-Abkommen wird nicht nur ein politischer Block angestrebt, sondern explizit auch ein militärischer. Man kann von dem Versuch sprechen, eine Art ‚NATO des Nahen Ostens‘ zu konstruieren – mit Israel als Dreh- und Angelpunkt.“
Obwohl Sever die Machbarkeit eines solchen Projekts infrage stellt, verweist er auf die strategische Logik dahinter. Insbesondere die Kontrolle über Energie- und Versorgungskorridore sei im Kontext der neuen Monroe-Doktrin zentral. Regionen wie die Straße von Hormus, das Rote Meer oder die Verbindungen von Indien nach Europa gelten demnach als geopolitisch hochrelevant. Vor diesem Hintergrund erklärt Sever das Interesse der USA und ihrer Verbündeten, etwa im Jemen Kontrolle auszuüben und den Einfluss von Iran am Persischen Golf zurückzudrängen.
Die Grenzen der US-Strategie im Nahen Osten
Aykan Sever zufolge offenbart der Nahe Osten eine strukturelle Unbeherrschbarkeit, die jegliche Vorstellung vollständiger Kontrolle illusorisch erscheinen lässt. Wer nicht in der Lage sei, die Region als Ganzes zu dominieren, könne auch in keinem ihrer Teile nachhaltige Hegemonie ausüben. In diesem Licht sei das amerikanische Bestreben, den Nahen Osten nach eigenen Vorstellungen zu modellieren, zum Scheitern verurteilt – wie sich exemplarisch am Beispiel Syriens zeige: „Die US-Administration entwirft eine Wunschvorstellung des Nahen Ostens, doch ob sie diese realisieren kann, ist mehr als fraglich. Zumindest in Syrien sehen wir bereits, dass sie dazu nicht in der Lage ist. Der Versuch basiert auf mechanischen Kalkülen. Es herrscht die Illusion, dass imperiale Akteure über ausgefeilte Strategien verfügen, alles wissen und alles kontrollieren könnten. Doch das entspricht nicht der Realität.“
Ein zentrales Hindernis in diesem Kalkül sieht Sever in der strukturellen Unzulänglichkeit der selbsternannten Übergangsregierung aus HTS. Diese sei aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung nicht in der Lage, ein inklusives Gesellschaftsmodell für Syrien zu bieten – eine grundlegende Voraussetzung für jegliche Form von Stabilität. „Jede Beobachterin und jeder Beobachter vor Ort kann erkennen, dass das derzeitige Damaskus strukturell defizitär ist, insbesondere in Bezug auf Kontrolle und Inklusivität. Von Demokratie ganz zu schweigen – ein solcher Anspruch lässt sich in Trumps Syrien-Politik ohnehin nicht erkennen. Aber auch innerhalb eines sunnitisch-arabischen Rahmens, den HTS als Grundorientierung gewählt hat, bleibt kein Raum für die Einbindung von Minderheiten wie Alawit:innen, Drus:innen, Kurd:innen oder Armenier:innen. Eine von Anfang an exkludierende Haltung verhindert jegliche Integration.“
Sever verweist dabei auf ein Treffen zwischen dem selbsternannten syrischen Übergangspräsidenten al-Scharaa und Vertretern der alawitischen Gemeinschaft, das von letzteren im Nachgang als rein symbolisch und ohne Garantien für Sicherheit oder Existenzrechte eingestuft wurde. Auch die Lage der Drus:innen und Kurd:innen bleibe prekär – sie befänden sich weiterhin in einer verletzlichen, von Angriffen bedrohten Position. In dieser Konstellation sei die von den USA favorisierte Integration laut Sever kaum umsetzbar: „Die ideologische Grundhaltung – tief verwurzelt im dschihadistischen, schariabezogenen Denken – prägt weiterhin das politische Handeln von HTS. Daraus ergibt sich ein Staatsentwurf, der weder Inklusion zulässt noch von anderen akzeptiert werden kann. Man erwartet, dass sich alle diesem Modell unterwerfen, notfalls mit Zwang.“ Vor diesem Hintergrund sei es höchst unwahrscheinlich, dass die unter der Trump-Doktrin entworfene Ordnung in Syrien oder im weiteren Nahen Osten je Wirklichkeit werden könnte.
Unvereinbarkeit der US-Strategie mit der Struktur von HTS
Aykan Sever analysiert die anhaltenden Widersprüche zwischen dem, was die USA in Syrien aufzubauen versuchen, und der realen Struktur von HTS. Insbesondere hebt er hervor, weshalb das am 10. März unter amerikanischem Druck geschlossene Abkommen zwischen Damaskus und der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) mit großer Skepsis betrachtet wird. Die syrische Regierung, so Sever, befürchte einen Kontrollverlust über zentrale sicherheits- und verwaltungspolitische Bereiche, weshalb sie das Abkommen faktisch nicht umsetzen wolle. Die Reaktion der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) auf den Angriff in Palmyra dagegen markiert laut Sever einen Wendepunkt in der Positionierung gegenüber Washington. Die QSD hätten dabei zwei zentrale Botschaften vermittelt: „Erstens erinnerten sie die USA daran, dass sie ein verlässlicher Bündnispartner sind – was sich in einer kritischeren Berichterstattung über HTS in amerikanischen Medien niederschlug. Zweitens erklärten sie ihre Bereitschaft, im gesamten syrischen Staatsgebiet gegen den IS zu kämpfen.“
Diese strategische Neupositionierung sei zwar auch ein Versuch gewesen, die eigene politische Stellung zu festigen, habe jedoch nicht dazu geführt, dass Washington von seinem Kurs abgerückt sei. Die Signale aus der US-Administration deuteten vielmehr darauf hin, dass weiterhin auf HTS gesetzt werde – trotz aller internen wie externen Widersprüche: „Die amerikanische Linie bleibt HTS-zentriert. Nahezu alle relevanten internationalen Akteure, die ich eingangs genannt habe, verfolgen derzeit eine Syrienpolitik, in deren Mittelpunkt HTS steht.“ Mit dieser Einschätzung macht Sever deutlich, dass die tiefgreifenden strukturellen Unvereinbarkeiten zwischen der von den USA angestrebten Ordnung und der faktischen Verfasstheit von HTS weiterhin ignoriert oder unterschätzt werden – mit weitreichenden Folgen für die Stabilität und die sozialen Dynamiken in Syrien.
Israels rote Linien
Im Gegensatz zu anderen internationalen Akteuren nimmt Israel in der Syrienfrage eine klar abweichende Haltung ein. Aykan Sever zufolge verfolgt die Regierung von Benjamin Netanjahu eine Politik definierter roter Linien, die sowohl auf geostrategischen als auch auf sicherheitspolitischen Erwägungen beruhen. Drei Aspekte stehen dabei im Vordergrund: „Erstens möchte Israel nicht, dass al-Scharaa zu einer Marionette der Türkei wird. Eine dauerhafte türkische Präsenz entlang der syrischen Grenze oder in unmittelbarer Nähe zu von Israel kontrollierten Gebieten wird entschieden abgelehnt. Zweitens verfolgt Israel das Ziel, die drusische Gemeinschaft als Pufferstruktur zu erhalten, weshalb deren Sonderstatus gewahrt bleiben soll. Und drittens lehnt Israel die Etablierung eines Scharia-Staates in Syrien ab, der aus israelischer Sicht ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen würde.“
Die jüngsten Demonstrationen in Syrien, bei denen antiisraelische Parolen skandiert wurden, stehen nach Sever im Widerspruch zu früheren Haltungen innerhalb der HTS-nahen Milieus. Während etwa die Tötung von Hisbollah-Kommandeuren in der Vergangenheit von HTS-Anhängern gefeiert wurde, sei nun eine zunehmende Fragmentierung und ideologische Unschärfe innerhalb der Gruppe zu beobachten – ein Resultat ihrer heterogenen Zusammensetzung und historisch gewachsener Nähe zu Organisationen wie dem IS.
Ideologische Leerstelle im Westen: Warum der IS nicht verschwindet
Sever kritisiert in diesem Zusammenhang die oberflächliche Herangehensweise westlicher Staaten an den sogenannten Krieg gegen den Terror. Die politische Strategie gegenüber dem IS beschränke sich nach wie vor auf Kontrolle und militärische Maßnahmen, ohne die sozialen und ideologischen Wurzeln des Phänomens ernsthaft zu hinterfragen: „Der IS kann nicht allein durch militärische Mittel bekämpft werden, solange seine ideologische und gesellschaftliche Basis unangetastet bleibt. Westliche Akteure haben bislang weder die Entstehungsbedingungen analysiert noch eine kohärente Gegenstrategie entwickelt. Das politische Kalkül bleibt oberflächlich. Und genau das macht den IS langfristig überlebensfähig.“
Diese Kritik bettet Sever in eine grundsätzliche Analyse globaler sozialer Verwerfungen ein. Die strukturellen Defizite des Kapitalismus, insbesondere in Ländern mit hoher muslimischer Bevölkerung wie in Afrika, führten zu wachsender Perspektivlosigkeit, wirtschaftlichem Niedergang und einem Fehlen gesellschaftlicher Alternativen – ein Nährboden für radikale Ideologien: „In einer solchen Situation erscheint der Anschluss an eine militante Gruppe für viele Jugendliche als letzter Ausweg. Das ist keine individuelle, sondern eine kollektive Verantwortung und sie betrifft die internationale Gemeinschaft als Ganze. Doch die Realität zeigt, dass die tieferliegenden Ursachen nicht erkannt oder bewusst ignoriert werden. Die Vorstellung, dass kurzfristige Maßnahmen oder oberflächliche Politiklösungen die Probleme beheben könnten, ist ein fataler Irrtum.“
Die Türkei und der anhaltende Druck auf Rojava
Aykan Sever zufolge ist der Versuch, die Spannungen zwischen Israel und der Türkei zu entschärfen, maßgeblich an der Eskalation im Gazastreifen gescheitert. Die diplomatischen Gespräche – etwa das Treffen des Sonderbeauftragten der USA für Syrien, Tom Barrack, mit dem israelischen Premierminister Netanjahu und dem türkischen Außenminister Hakan Fidan – zielten auf eine Normalisierung der bilateralen Beziehungen. Doch insbesondere die Möglichkeit eines türkischen Militäreinsatzes in Gaza blockiere diesen Prozess nachhaltig: „Es gibt Bemühungen um eine Annäherung zwischen Israel und der Türkei, doch der Gazastreifen bleibt ein unüberwindbares Hindernis. Bei einem Gipfel in Doha wurde die Türkei trotz breiter internationaler Beteiligung nicht eingeladen – ein deutliches Signal dafür, dass Israel Ankara als Störfaktor betrachtet. Insbesondere die Sorge, türkische Truppen könnten in Gaza verbleiben, sobald sie dort einmarschiert sind, verstärkt das israelische Misstrauen.“
Solange dieser grundsätzliche Dissens nicht überwunden ist, so Sever, werde sich die Gegnerschaft beider Staaten auch auf syrischem Boden fortsetzen. Die aggressive Haltung der Türkei gegenüber Rojava sei dabei ein permanenter Krisenherd mit erheblichem Eskalationspotenzial. Im Kern dieser Bedrohung liege die türkische Ablehnung jeglicher kurdischer Autonomie: „Aus Sicht des türkischen Staates darf es in Syrien keine kurdische Selbstverwaltung geben. Ziel ist es, die Region zu entwaffnen, zu entmachten und letztlich zur Kapitulation zu zwingen.“ Sever warnt vor der realen Gefahr eines Völkermords an der kurdischen Bevölkerung in Rojava. Zwar existiere dort eine gewisse politische und militärische Selbstorganisierung, doch die Bedrohungslage sei keineswegs gebannt: „Die Gefahr eines Genozids ist nicht vom Tisch. Sie ist nicht akut, aber sie ist spürbar als konstant mitschwingende Drohung. Ob es dazu kommt, ist ungewiss. Doch die Möglichkeit besteht, und sie sollte sehr ernst genommen werden.“
Diese latente Bedrohung werde zusätzlich durch die innenpolitische Entwicklung in der Türkei und durch Ankaras expansive Ambitionen im Nahen Osten begünstigt. Sever appelliert in diesem Zusammenhang an die internationale Öffentlichkeit, sich nicht auf beschwichtigende Erwartungen zu verlassen: „Die Annahme, dass die USA oder andere Staaten einen Angriff verhindern würden, ist trügerisch. Was wir in Palästina gesehen haben, zeigt: Appelle, Erklärungen und diplomatische Initiativen folgen meist erst, wenn es bereits zu spät ist. Konkrete Schutzmaßnahmen werden im Ernstfall nicht ergriffen.“
Aufhebung des Caesar-Acts
Sever kommentierte auch die Aufhebung der US-amerikanischen Caesar-Sanktionen gegen Syrien, die ursprünglich zur wirtschaftlichen Isolierung des Assad-Regimes eingeführt worden waren. Zwar sei der Schritt politisch noch nicht abschließend formalisiert, jedoch markiere er eine klare Kehrtwende in der Syrien-Politik Washingtons. „Die Aufhebung ist an Bedingungen geknüpft. So soll weiterhin regelmäßig über die innenpolitische Lage in Syrien berichtet werden, insbesondere im Hinblick auf Reformfortschritte und regionale Stabilität“, erklärte Sever.
Besonders relevant sei der Schritt mit Blick auf die Interessen Israels, die Rolle der QSD und die ambivalente Position des syrischen Übergangspräsidenten. „Auch wenn es nicht offen ausgesprochen wird, erwarten Teile der internationalen Gemeinschaft, dass Syrien künftig in sicherheitspolitische Abkommen eingebunden wird – etwa durch eine Annäherung an die Abraham-Abkommen oder durch eine geregelte Einbindung der QSD.“ Al-Scharaas Handlungsspielraum bleibe indes begrenzt: „Er hat weder die vollständige Kontrolle über seine eigene Organisation bzw. Regierung, noch ist er für externe Akteure wie die USA ein verlässlicher Partner. Viele seiner Kommandeure stammen ursprünglich aus IS-nahen Strukturen. Das lässt sich nicht allein durch einen Uniformwechsel ändern.“
Al-Scharaa versuche zwar, sich als souveräner Akteur in der Region zu behaupten, doch die Vielzahl konkurrierender Interessen mache seine Position instabil. „Ein Machtvakuum oder eine Schwäche können schnell von anderen Akteuren genutzt werden“, so Sever. Sollte das Vertrauen internationaler Partner ausbleiben, sei auch die Zukunft des von dem HTS-Anführer angestrebten zentralisierten Verwaltungsmodells ungewiss. Abschließend betonte Sever die Bedeutung eines inklusiven politischen Modells für Syrien und die gesamte Region: „Letztlich geht es darum, Bedingungen für ein demokratisches Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen zu schaffen. Wenn wir die Konflikte in Syrien ignorieren, werden sie früher oder später auch uns betreffen. Rassistische oder hegemoniale Narrative bieten keine Lösung – weder für Syrien noch für die Türkei.“
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/gesellschaft-fur-bedrohte-volker-warnt-vor-wachsendem-einfluss-islamistischer-krafte-49326 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/turkischer-verteidigungsminister-droht-qsd-49332 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/qsd-verurteilen-angriff-auf-koalitionstruppen-49243
Festgenommener IS-Emir gesteht Beteiligung an Anschlägen
Nach seiner Festnahme durch die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) vor rund zwei Wochen hat ein mutmaßlicher Kommandeur der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) gestanden, an mehreren Anschlägen in der Region Deir ez-Zor beteiligt gewesen zu sein. Laut Angaben der QSD war der Mann nicht nur direkt in Angriffe auf Sicherheitskräfte und Fahrzeuge verwickelt, sondern auch für die Lagerung und Weitergabe von Waffen und Sprengstoff innerhalb einer IS-Zelle verantwortlich.
Der Verdächtige, der als Sahr Ahmad al-Khalaf al-Abdullah identifiziert wurde, gab demnach an, sich vor zwei Jahren dem IS angeschlossen zu haben. Seither habe er eine Reihe gezielter Angriffe gegen Einheiten der QSD mitorganisiert und mitausgeführt. In einem der ersten Fälle sei eine Sprengladung am Straßenrand nahe Mahimida zur Detonation gebracht worden, wobei zwei Mitglieder der Inneren Sicherheit (Asayîş) getötet wurden. Weitere Anschläge erfolgten mit Schusswaffen und erneut mit Sprengmitteln gegen militärische Fahrzeuge.
Anschläge auf militärische Ziele und Zivilpersonen
Nach QSD-Angaben räumte der Festgenommene ein, insgesamt an rund sieben von etwa 20 geplanten oder ausgeführten Operationen beteiligt gewesen zu sein. Darunter sei auch ein Angriff mit einer Panzerabwehrwaffe auf einen Kontrollpunkt gewesen. Eine weitere Aktion habe versehentlich ein Wohnhaus getroffen. Neben militärischen Zielen seien auch Zivilpersonen gezielt attackiert worden – etwa, weil sie sich der Abgabe sogenannter „Zakat“-Zahlungen (Almosen) verweigerten.
Die Gruppe habe nach Einschätzung der QSD konspirativ operiert. Um nicht geortet zu werden, seien während der Angriffe keine Mobiltelefone mitgeführt worden. Bild- und Tonmaterial der Anschläge sei nachträglich digital übermittelt und mit Geldzahlungen vergütet worden. Die Planung sei meist in größeren Städten wie Deir ez-Zor erfolgt. Die Kommunikation mit einem regionalen IS-Anführer habe ausschließlich über verschlüsselte digitale Kanäle stattgefunden. Vor Ort sei der Kontaktmann ein Mann mit dem Alias „Abu Ali Muhaib“ gewesen.
Waffendepot im Haus
Der Verdächtige habe zudem zugegeben, selbst Waffen, Munition und Sprengstoffe in seinem Haus versteckt zu haben. Die Verteilung an andere Zellenmitglieder sei unter anderem mit Motorrädern erfolgt. Dabei seien die Materialien zur Tarnung in Lieferungen mit Gemüse oder Kleidung versteckt worden. Die Überquerung des Euphrat erfolgte laut QSD-Angaben meist ohne Ausweisdokumente, um die IS-Mitglieder als unauffällige Zivilisten erscheinen zu lassen.
Die QSD sehen in den Aussagen einen weiteren Beleg für die anhaltende Bedrohung durch IS-Zellen in der Region. Der Kampf gegen Terrorstrukturen werde fortgesetzt, hieß es. Ziel bleibe es, verbleibende Netzwerke zu zerschlagen und die Stabilität im Nordosten Syriens zu sichern.
https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/is-emir-in-deir-ez-zor-gefasst-49186 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/asayis-nimmt-21-verdachtige-bei-sicherheitsoperation-in-nordsyrien-fest-49269 https://deutsch.anf-news.com/rojava-syrien/angriff-auf-qsd-posten-in-ostsyrien-abgewehrt-49190
Protest im Camp Mexmûr: Flüchtlinge fordern ihre Grundrechte ein
Im Flüchtlingslager Mexmûr in Südkurdistan haben am Sonntag zahlreiche Bewohner:innen gegen die fortgesetzte Isolation und Einschränkung ihrer Rechte protestiert. Mit einer Demonstration zogen sie vom Gebäude des Gefallenenverbands zum Büro der Vereinten Nationen (UN), um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Die Teilnehmenden forderten unter anderem Bewegungsfreiheit, Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und Versorgungsgütern.
Camp Mexmûr liegt rund 60 Kilometer südwestlich von Hewlêr (Erbil) in einem zwischen der Regierung der Kurdistan-Region Irak (KRI) und der irakischen Zentralregierung umstrittenen Gebiet. Es wurde in den 1990er Jahren von Geflüchteten aus Nordkurdistan gegründet, die im Zuge der „Aufstandsbekämpfung“ des türkischen Staates aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Aktuell leben rund zwölftausenden Menschen in dem Lager. Sie bilden damit die größte kurdische Flüchtlingsgemeinschaft weltweit.
Video: Roj News
Appell an UN, Bagdad und Hewlêr
Das Lager steht seit Jahren unter hohem politischem und militärischem Druck – insbesondere durch die Türkei, aber zunehmend auch durch die in Hewlêr herrschende Demokratische Partei Kurdistans (PDK) und die Zentralregierung in Bagdad. Die Protestierenden trugen Schilder mit Forderungen und riefen die Parole „Bijî berxwedana Mexmûrê“ (Es lebe der Widerstand von Mexmûr). Vor dem UN-Gebäude wurde eine Erklärung der Jugendbewegung verlesen, eingeleitet von einer Schweigeminute für die Gefallenen der kurdischen Bewegung.
In der Erklärung hieß es, die Lagerbevölkerung lebe seit drei Jahrzehnten infolge von Krieg, Repression und Vertreibung durch den türkischen Staat im Exil. Trotz ihrer langjährigen Präsenz und ihrer Rolle im Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) würden die Bewohner:innen weiterhin von grundlegenden Rechten ausgeschlossen. „Wir sind nie eine Last für den Irak gewesen – im Gegenteil, wir haben in Zeiten der Krise Verantwortung übernommen“, heißt es in dem Appell.
Die Lagerleitung beklagt unter anderem fehlende Identitätsdokumente, mangelnden Zugang zu Universitäten, die Nichtbereitstellung von Heizöl für den Winter, tägliche Einschränkungen beim Verlassen und Betreten des Camps, sowie die Weigerung, Gespräche mit offiziellen Stellen über ihre Situation zuzulassen. Zudem wurden die Sicherheitsmaßnahmen rund um das Camp n in den letzten Jahren massiv verschärft. Ein- und Ausgänge unterliegen einer Genehmigungspflicht – ein Zustand, den die Bewohner:innen als entwürdigend und völkerrechtswidrig bezeichnen.
Türkei, Irak und die ungelöste kurdische Frage
Die Aktivist:innen verwiesen zudem auf die strategische Bedeutung der laufenden Friedensbemühungen zur Lösung der kurdischen Frage in der Türkei. In der Erklärung wurde Bezug auf den Dialog zwischen PKK-Begründer Abdullah Öcalan und dem türkischen Staat genommen. „Dieser Prozess ist nicht nur für die Türkei, sondern auch für den Irak historisch bedeutsam“, heißt es darin. Die irakische Regierung wird aufgefordert, eine konstruktive Haltung einzunehmen und bestehende Hürden zu beseitigen. Abschließend richten die Protestierenden einen klaren Appell an die Vereinten Nationen, die irakische Zentralregierung und die Regionalregierung in Hewlêr „praktische Lösungen“ zu entwickeln. Sollte es zu keinen Fortschritten kommen, werde man die demokratischen Protestaktionen fortsetzen.
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/jugendrat-in-mexmur-schliesst-dritten-kongress-ab-49234 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/mexmur-ko-vorsitzender-von-volksrat-wieder-frei-48182 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/Ocalan-ruft-mexmur-fluchtlinge-zu-gemeinschaftlicher-ruckkehr-auf-47453 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/kritik-an-schweizer-asylpraxis-gefluchtete-aus-mexmur-warnen-vor-abschiebung-in-die-turkei-47670 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/irakische-militardelegation-im-fluchtlingslager-mexmur-47405
Öcalan: Wahres Gedenken heißt, das Leben zu verteidigen
Der Solidaritätsverein ANKA-DER hat am Sonntag in Istanbul seinen vierten ordentlichen Kongress abgehalten. Im Fokus der Veranstaltung, an der auch Vertreter:innen kurdischer Parteien und Organisationen teilnahmen, stand eine verlesene Botschaft des seit 1999 inhaftierten kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan. Er rief darin zu einer neuen Phase des politischen Engagements für Frieden, Demokratie und Gewaltfreiheit auf.
Der Kongress der „Vereinigung der Familien von Verschwundenen in Anatolien“ fand in einem Veranstaltungssaal im Istanbuler Stadtteil Okmeydanı statt. Neben Lokalpolitiker:innen der Parteien DEM und DBP sowie Vertreter:innen der Graswurzelbewegung HDK und der Frauenbewegung TJA nahmen auch zahlreiche Aktivist:innen aus der kurdischen der Gefangenensolidarität sowie Angehörige von Vermissten an der Versammlung teil.
Begleitet von der Parole „Şehîd namirin“ (Die Gefallenen sind unsterblich) begann der Kongress mit einer Schweigeminute. Im weiteren Verlauf wurde Abdullah Öcalans Botschaft sowohl auf Kurmancî als auch auf Türkisch verlesen. Darin hieß es:
Den politischen Kampf über die Verteidigung des Lebens führen
„Die wahre Verbundenheit mit dem Andenken unserer Gefallenen besteht darin, eine demokratische Gesellschaft in Frieden aufzubauen. Ich verneige mich mit Respekt, Dankbarkeit und tiefer Verbundenheit vor allen, die auf diesem Boden ihr Leben für Freiheit, Würde und ein gleichberechtigtes Miteinander der Völker gegeben haben. Ihr Opfer ist zu einem Teil des kollektiven Bewusstseins, der Entschlossenheit und der historischen Erfahrung dieses Volkes geworden. Sie sind das moralische Gewissen unseres Kampfes und unauslöschlich eingebrannt in das Gedächtnis unseres Volkes.
Doch eines muss deutlich gesagt werden: Die heutige Phase der Freiheitsbewegung darf nicht mehr durch das Vermehren des Todes, sondern muss durch die Kunst der Organisation des Lebens geprägt sein. Das Gedenken an unsere Gefallenen erhält seine Bedeutung nicht durch neue Verluste, sondern durch den Aufbau jenes demokratischen, würdevollen und gleichberechtigten Lebens, für das sie einstanden. Jeder Verlust ist für mich nicht nur ein Grund weiterzukämpfen, sondern zugleich eine schwere Last im Herzen. Ich wünsche mir, dass kein junger Mensch mehr sein Leben verliert und dass keine Mutter mehr um ihr Kind trauern muss.
Wahre Verbundenheit bedeutet, den Weg zu neuen Verlusten zu verschließen und stattdessen mutig die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen für einen friedlichen Wandel zu schaffen. Das Erbe, das uns hinterlassen wurde, ist nicht die Fortsetzung des Krieges, sondern die Entschlossenheit, eine demokratische Lösung zu ermöglichen. Die Gefallenen kämpften, weil sie an eine gemeinsame und freie Zukunft der Völker glaubten. Unsere Aufgabe heute ist es, dieses historische Vermächtnis mit dem Frieden zu verbinden und auf der Grundlage demokratischer Verständigung ein neues Kapitel zu eröffnen.
Denn wahres Gedenken bedeutet, neue Verluste zu verhindern. Wahres Gedenken bedeutet, den Kampf auf ein höheres, bewussteres und lebensbejahenderes Niveau zu tragen. Die Treue zu den Gefallenen zeigt sich im Mut, an ihrer Stelle eine demokratischere, freiere und menschlichere Gesellschaft aufzubauen. In diesem Geist und mit dieser Verantwortung verneige ich mich in tiefem Respekt vor dem Andenken aller Gefallenen und grüße ihre Angehörigen mit unvergänglicher Achtung und Liebe.“
Appell an Staat und Gesellschaft
Mehrere Redner:innen nahmen Bezug auf den Inhalt der Erklärung. So erklärte Arife Çınar, Ko-Vorsitzende des DEM-Verbands in Istanbul, es brauche angesichts der anhaltenden staatlichen Repressionen ein erneuertes politisches Bewusstsein. „Öcalans Philosophie ist nicht auf Kurdistan beschränkt, sie reicht weit über diese Region hinaus. In einer Welt voller Dunkelheit bringt sie Licht“, sagte Çınar.
Die Parlamentsabgeordnete Meral Danış Beştaş betonte die zentrale Rolle der Gefallenen für die kollektive Identität der kurdischen Bevölkerung. Sie verband die Erinnerung an die Verstorbenen mit einem Appell zur Fortsetzung des politischen Kampfes auf demokratischem Weg: „Wir wollen keinen einzigen Bruder, keine einzige Schwester mehr verlieren. Der Dialog muss an die Stelle des Konflikts treten.“
Der Kongress endete nach den Redebeiträgen mit der Wahl des Vorstandes der Organisation: Ilhami Kurt und Hülya Ilbars wurden als Ko-Vorsitzende von ANKA-DER bestätigt. Die Zusammenkunft klang anschließend mit traditionellen Kreistänzen zu kurdischer Musik aus.
Titelfoto: Newroz 2025 in Qamişlo, Symbolbild © ANF
https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/Ubergangsjustiz-als-voraussetzung-fur-demokratische-integration-49342 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/gedenken-in-paris-kurdische-organisationen-fordern-aufklarung-von-anschlagen-49287 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/ein-krieg-gegen-das-bewusstsein-perspektiven-auf-den-turkischen-spezialkrieg-in-kurdistan-49272 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/imrali-delegation-trifft-akp-im-parlament-dialog-braucht-rechtliche-grundlage-49337
Iran: Todesurteil gegen kurdischen Demonstranten bestätigt
In Iran hat der Oberste Gerichtshof das Todesurteil gegen den politischen Gefangenen Mehrab Abdollahzadeh bestätigt. Der 27 Jahre alte Kurde war während der Proteste der „Jin, Jiyan, Azadî“-Bewegung (Frau, Leben, Freiheit) festgenommen worden. Mit der Rechtskraft des Urteils droht ihm nun unmittelbar die Hinrichtung.
Wie das Kurdistan Human Rights Network (KHRN) unter Berufung auf eine mit dem Fall vertraute Quelle am Sonntag berichtete, wurde Abdollahzadeh kürzlich von der Vollstreckungsabteilung der Staatsanwaltschaft Urmia (ku. Ûrmiye) offiziell über die Entscheidung informiert. Zugleich sei er aufgefordert worden, ein Gnadengesuch zu unterzeichnen – ein Schritt, der in Iran häufig kurz vor Hinrichtungen verlangt wird.
Verurteilung wegen „Verderbens auf Erden“
Abdollahzadeh war im Oktober 2024 vom Revolutionsgericht in Ûrmiye unter anderem wegen „Verderbens auf Erden“ zum Tode verurteilt worden. Grundlage war der Vorwurf, an der Tötung eines Mitglieds der paramilitärischen Basidsch-Einheiten beteiligt gewesen zu sein. Das Urteil wurde nun von der 9. Kammer des Obersten Gerichtshofs ohne Änderungen bestätigt.
Vorwürfe schwerer Folter
Mehrab Abdollahzadeh wurde im Oktober 2022 an seinem Arbeitsplatz – einem Friseursalon – in seiner Geburtsstadt Ûrmiye von Angehörigen des Geheimdienstes der Revolutionsgarden festgenommen und in ein geheimes Haftzentrum gebracht. Dort sei er 38 Tage lang körperlicher und psychischer Folter ausgesetzt gewesen, um ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Ziel sei es gewesen, seine Beteiligung an den Protesten sowie an der Tötung des Basidsch-Mitglieds zu erzwingen. Abdollahzadeh habe diese Vorwürfe stets bestritten.
Nach Angaben der vom KHRN zitierten Quelle existiere Videomaterial vom Tatort, auf dem Abdollahzadeh nicht zu sehen sei. Dennoch sei er unter dem Druck von Drohungen – unter anderem mit der Festnahme seiner Partnerin und weiterer Familienangehöriger – gezwungen worden, Aussagen im Sinne der Ermittler zu machen. Später habe er diese Geständnisse vor Gericht widerrufen.
Verfahren ohne effektive Verteidigung
Während der ersten Wochen seiner Haft hatte die Familie keinerlei Informationen über seinen Verbleib. Abdollahzadeh habe weder Kontakt zu Angehörigen noch Zugang zu einem Anwalt gehabt. Erst nach Abschluss der Verhöre sei er in das Zentralgefängnis von Urmia verlegt worden. Das Verfahren wurde zunächst bei der Staatsanwaltschaft Urmia geführt und anschließend an das Revolutionsgericht übergeben. Dort fanden drei Verhandlungstermine statt – zwei davon per Videokonferenz. Laut dem KHRN dauerte die letzte Sitzung nur wenige Minuten. Abdollahzadeh habe keine Möglichkeit gehabt, sich wirksam zu verteidigen.
https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/iran-richtet-studenten-wegen-angeblicher-spionage-fur-israel-hin-49347 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/iran-gefangene-protestieren-in-der-99-woche-in-folge-gegen-todesstrafe-49283 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/un-iran-verscharft-repression-nach-israel-krieg-rekordzahl-an-hinrichtungen-48618 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/teilnehmer-der-jin-jiyan-azadi-proteste-hingerichtet-47839
Vorwürfe von Misshandlung in Hochsicherheitsgefängnis von Elazığ
In einem Hochsicherheitsgefängnis in der nordkurdischen Provinz Xarpêt (tr. Elazığ) sind neue Fälle von Misshandlung und repressiver Zellenkontrollen bekannt geworden. Das berichtet die Familie des in der Vollzugsanstalt Elazığ Nr. 2 inhaftierten politischen Gefangenen Mustafa Geylani. Demnach sei es an mehreren Tagen im Dezember zu Durchsuchungen gekommen, die Geylani als erniedrigend und gewaltsam beschrieb.
Geylani, der seit über zwei Jahrzehnten inhaftiert ist und eine verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt, habe sich in einem Telefongespräch mit seinem Bruder über die Situation geäußert. Die Durchsuchungen seien gezielt eskaliert worden, es habe Zerstörungen in der Zelle und psychische Einschüchterung gegeben. „Das war keine Kontrolle, das war organisierte Gewalt“, zitierte sein Bruder Fahir Geylani nach dem Gespräch.
Zusammenhang mit politischen Entwicklungen vermutet
Die Familie vermutet, dass die Übergriffe im Zusammenhang mit politischen Signalen aus Ankara stehen. Mustafa Geylani habe in seinen Aussagen auf jüngste Erklärungen von MHP-Chef Devlet Bahçeli verwiesen: „Es ist auffällig, dass die Übergriffe am 11., 16. und 19. Dezember stattfanden – just an Tagen, an denen Bahçeli in öffentlichen Reden moderate Töne zum türkisch-kurdischen Friedensprozess anschlug“, erklärte sein Bruder. Die Haftbedingungen hätten sich seither merklich verschärft.
Offenbar würden Schritte in Richtung eines Friedensprozesses von Teilen der Gefängnisleitung als Bedrohung empfunden. „Statt Entspannung erleben wir Einschüchterung. Das ist eine gezielte Haltung gegen Versöhnung und politische Lösung“, so Fahir Geylani. Die Betroffenen sprächen nicht nur von körperlicher, sondern auch von anhaltender psychologischer Gewalt – etwa durch willkürliche Zellenverlegungen, Beschlagnahmung persönlicher Gegenstände, systematische Kontrolle von Fotos, Briefen und privaten Aufzeichnungen.
Familie fordert Untersuchung und rechtliche Schritte
Die Familie fordert eine lückenlose Aufklärung der Vorfälle. Besonders die Durchsuchungen vom 11. und 19. Dezember sollten laut Geylanis Angehörigen anhand von Videoaufnahmen rekonstruiert werden. „Die Beweise liegen vor. Die Aufnahmen müssen lediglich gesichtet und dem Parlament vorgelegt werden“, sagte Fahir Geylani. Er werde zudem juristische Schritte gegen die Gefängnisleitung einleiten. „Wir wollen nicht, dass unser Angehöriger in einem Krankenwagen stirbt oder hinter Gefängnismauern verschwindet. Wir wollen, dass das Recht gilt – auch in Haft.“
Über Mustafa Geylani
Mustafa Geylani (56) wurde am 5. März 1999 von Georgien an die Türkei überstellt. Grundlage war ein internationaler Haftbefehl. In der Türkei wurde der Kurde aus Colemêrg (Hakkari) wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation sowie wegen „Gefährdung der staatlichen Einheit und Integrität“ angeklagt. Das Gericht verurteilte ihn zunächst zum Tode. Nach der Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei wurde das Urteil in eine lebenslange Freiheitsstrafe unter verschärften Bedingungen umgewandelt. Seit seiner Inhaftierung wurde er mehrfach in verschiedene Gefängnisse verlegt. Geylani leidet an einer Herzkrankheit und musste sich im Gefängnis bereits einer Operation unterziehen. Seine gesundheitlichen Beschwerden bestehen weiterhin.
https://deutsch.anf-news.com/frauen/istanbul-schwerbewaffnete-polizisten-raumen-zellen-politischer-gefangener-49344 https://deutsch.anf-news.com/frauen/turkei-haftentlassung-von-rozerin-kalkan-wird-seit-20-monaten-blockiert-49343 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/ihd-beklagt-schwere-missstande-in-gefangnis-von-batman-49282 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-abgeordneter-turkei-blockiert-freilassung-politischer-gefangener-systematisch-49331
Temelli fordert „Haushalt für Brot und Frieden“
In der laufenden Debatte über den Haushaltsentwurf für 2026 hat Sezai Temelli, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der DEM-Partei, umfassende Kritik an der Verteilungspolitik der Regierung geübt. Im Parlament warf er der Regierung vor, mit dem neuen Budget soziale Ungleichheiten zu verschärfen – insbesondere zwischen der Westtürkei und den kurdischen Provinzen im Südosten des Landes. „Ist es Zufall, dass in Kurdistan die Arbeitslosigkeit, Armut und Ungleichheit besonders hoch sind? Nein, das ist die Folge eines ungelösten politischen Problems“, sagte Temelli mit Blick auf die kurdische Frage. Der vorliegende Haushaltsplan verkenne erneut die strukturellen Ursachen dieser Ungleichheit, so der Abgeordnete.
Kritik an Bildungs- und Wohnungspolitik
Temelli wies auf die steigende Kinderarmut hin und kritisierte, dass selbst einfache Maßnahmen wie kostenlose Mahlzeiten für Schüler:innen auf Widerstand stießen. Auch das staatliche Wohnungsbauprogramm nahm er ins Visier: Trotz zahlreicher Neubauten sei die Mietquote in den letzten zehn Jahren von 22 auf 36 Prozent gestiegen. Das zeige, dass der Wohnungsbau an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeigehe. „TOKI agiert nicht wie eine soziale Institution, sondern wie ein Bauunternehmen“, sagte Temelli. Auch in der Gesundheitspolitik sieht der DEM-Politiker schwere Versäumnisse. Während mehr Krankenhäuser gebaut würden, mangele es in ländlichen Regionen wie Mûş weiterhin an funktionierender Gesundheitsversorgung. „Menschen sterben auf der Straße, weil das Krankenhaus in Mûş seit Jahren immer noch nicht fertiggestellt ist“, warnte er.
Appell für soziale Gerechtigkeit
Neben materiellen Fragen sprach Temelli auch gesellschaftspolitische Probleme an: wachsende Drogenprobleme, Gewalt gegen Frauen und eine Jugend, die zunehmend mit dem Gesetz in Konflikt gerate. Die Ursache dafür sei strukturelle soziale Ungerechtigkeit, die sich auch auf die politische Kultur auswirke. Ein Hoffnungsschimmer sei aus Sicht Temellis jedoch der im Februar von PKK-Begründer Abdullah Öcalan verfasste „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“. „Ein neuer Weg wurde aufgezeigt – für Frieden und demokratisches Zusammenleben.“ Diese Signale würden von der Regierung weitgehend ignoriert, seien in der Bevölkerung jedoch angekommen, so Temelli. „Wenn wir eine gemeinsame Republik wollen, dann müssen wir über die Ursachen von Konflikten reden, nicht nur über ihre Folgen.“ Frieden sei kein Selbstläufer, sondern erfordere einen konkreten politischen Willen und einen Haushalt, der diesen Willen ausdrückt, betonte der Abgeordnete.
Demokratische Budgetpolitik gefordert
Temelli forderte, den Haushaltsentwurf im Sinne einer „demokratischen Transformation“ zu überarbeiten. Es brauche eine „demokratische Finanzverfassung“, die Ressourcen nicht einseitig dem Kapital zuführe, sondern soziale und regionale Gerechtigkeit herstelle. Frauen, Arme, Menschen mit Behinderung und von Diskriminierung betroffene Gruppen müssten gezielt gestärkt werden, ebenso wie ökologische Anliegen. „Was dieses Land braucht, ist Brot und Frieden. Und zwar beides, denn das eine geht nicht ohne das andere“, sagte Temelli. Er warb für eine „soziale und klimagerechte Haushaltskultur“, die von unten wachse – aus den Schulen, auf den Feldern, auf den Straßen. Dort habe die DEM-Partei bereits symbolisch einen alternativen Haushalt erstellt: „Den Haushalt der Stimmlosen.“ Mit Blick auf die Debatte für eine neue Verfassung schloss Temelli: „Wer eine demokratische Verfassung will, muss mit einem demokratischen Haushalt anfangen.“
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/temelli-haushaltsentwurf-vertieft-soziale-und-wirtschaftliche-krise-49316 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/turkei-dem-partei-lehnt-haushaltsentwurf-2026-ab-49171 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-partei-fordert-haushalt-fur-das-volk-49251
Umweltgruppen pflanzen Eicheln am Cûdî-Gebirge
Am Fuß des Cûdî-Gebirges in der nordkurdischen Provinz Şirnex (tr. Şırnak) haben Umweltaktivist:innen am Sonntag tausende Eicheln gepflanzt. Die Aktion ist Teil einer regionalen Wiederaufforstungskampagne unter dem Motto „Sammle eine Eichel, pflanze eine Eichel.“ Ziel ist es, gegen die fortschreitende Umweltzerstörung in der Region zu protestieren und gleichzeitig ein Zeichen für Hoffnung und Frieden zu setzen.
Veranstaltet wurde die Pflanzaktion von der Ökologieplattform Şirnex in Kooperation mit der Ökologiebewegung Mesopotamiens. Dutzende Menschen nahmen daran teil, darunter Vertreter:innen politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Gruppen sowie Anwohner:innen aus den umliegenden Dörfern. Die Teilnehmenden zogen unter Parolen durch die Landschaft bei Kûnsera, bevor sie gemeinsam mit dem Pflanzen begannen.
Eicheln als Symbol des Neuanfangs
Warum gerade Eicheln? „Sie stehen für Standfestigkeit, lokale Verwurzelung und Erneuerung“, sagte Fadıl Say von der Ökologieplattform. Die Entscheidung, ausgerechnet am Cûdî-Berg zu pflanzen, sei bewusst gefallen. „Hier wurden in den letzten Jahren unter dem Vorwand von ‚Sicherheit‘ unzählige Bäume gerodet und ganze Wälder niedergebrannt“, so Say. Neben der Militarisierung der Region stelle auch ein nahegelegenes Kohlekraftwerk eine massive Belastung für die Natur dar.
„Wir säen Hoffnung, um das Leben zu bewahren“, betonte Say. „Jede Eichel steht für ein mögliches Morgen.“ Eines der zentralen Anliegen der Initiative sei es, gemeinschaftlich Lebensräume wiederherzustellen und ein Bewusstsein für ökologische Selbstbestimmung zu fördern.
Naturschutz als Friedensarbeit
Auch Derya Akyol von der Ökologiebewegung sieht in der Aktion mehr als nur Umweltschutz: „Unsere Kampagne ist Teil einer langfristigen Vision. Frieden beginnt mit der Natur. Wer die Umwelt schützt, schützt auch das Leben.“ Sie rief dazu auf, ähnliche Aktionen in anderen Regionen zu starten. Der Gedanke: Jede:r kann vor Ort mit kleinen Mitteln einen Beitrag leisten – ob durch das Pflanzen eines Baums oder das Bewahren eines Stücks Natur.
Begleitet wurde die Aktion von kurdischer Musik und Transparenten, auf denen Sätze wie „Ohne Natur kein Leben“ oder „Jeder Baum ist ein Leben“ zu lesen war. Jung und Alt beteiligten sich gleichermaßen.
https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/Okologie-demokratie-und-frauenbefreiung-sind-untrennbar-miteinander-verbunden-49257 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/waldwiederbelebung-nach-brand-bei-erxeni-49254 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/neue-aufforstungsinitiative-in-nordkurdistan-48534 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/30-000-eicheln-in-gimgim-gepflanzt-49064
Teilen statt kaufen: Tauschladen in Cizîr
In der nordkurdischen Stadt Cizîr (tr. Cizre) ist Anfang Dezember ein ungewöhnlicher Laden eröffnet worden: Die „Kezî“-Solidaritätsboutique verzichtet vollständig auf Geld und basiert stattdessen auf dem Prinzip gegenseitiger Hilfe. Initiiert wurde das Projekt von der DEM-geführten Kommune, getragen wird es von einem Netzwerk aus Frauen, Händler:innen und Nachbar:innen.
Ziel sei es, den Gedanken des gemeinschaftlichen Lebens neu zu beleben, sagte Nuran Kaplan von der Abteilung für Frauenökonomie der Stadtverwaltung. Die Initiative orientiere sich an traditionellen Formen des Teilens, wie sie in ländlichen Regionen und kurdischen Gemeinschaften lange gepflegt wurden.
Der Name „Kezî“ (kurdisch für „Geflecht“ oder „Verflechtung“) symbolisiere das Zusammenkommen verschiedener Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen – vergleichbar mit einer geflochtenen Haarsträhne. Die Wortwahl spiegele auch den Anspruch wider, „ein soziales Geflecht der Solidarität zu knüpfen“, so Kaplan.
Nachbarschaftliche Hilfe als Strukturprinzip
Die im Stadtviertel Cûdî gelegene Boutique sammelt überschüssige Lebensmittel, Kleidung und Haushaltswaren bei lokalen Geschäften und Privatpersonen. Die gespendeten Artikel werden von den Mitarbeiterinnen sortiert und gezielt an Bedürftige verteilt – kostenlos und anonym. Dabei legen die Organisatorinnen Wert auf eine respektvolle, saubere und bedarfsorientierte Weitergabe.
Drei Frauen arbeiten regelmäßig im Laden selbst, weitere Frauen aus der städtischen Wirtschaftsabteilung sind in den umliegenden Vierteln unterwegs. Sie sprechen mit Anwohner:innen, informieren über das Projekt, erfassen Bedarfe und laden zur Mitarbeit ein. „Wir gehen von Tür zu Tür und bauen ein Netzwerk auf. Niemand, der zu uns kommt, geht mit leeren Händen“, sagt Kaplan.
Eröffnung von Kezî
Freiwillige Spenden, offene Türen
Gesammelt werden nicht nur unbenutzte, sondern auch gut erhaltene gebrauchte Gegenstände. Die Auswahl reicht von Kleidung über Schulmaterial bis zu Werkzeug. Entscheidend sei, dass es sich um funktionstüchtige und saubere Artikel handle, so die Organisatorinnen. „Wenn ich etwas übrig habe und weiß, dass meine Nachbarin es braucht, dann teile ich es“, sagt Kaplan. Das sei der Kern des kommunalistischen Gedankens. Jede:r könne sich durch Spenden, Mitarbeit oder einfach durch das Teilen der Idee beteiligen.
Die Türen der Solidaritätsboutique stehen allen offen. Die Initiatorinnen rufen dazu auf, das Projekt zu unterstützen oder ähnliche Initiativen zu starten. „Kommt vorbei, seht es euch an. Gemeinsam können wir ein Netzwerk der gegenseitigen Hilfe aufbauen“, sagt Nuran Kaplan.
https://deutsch.anf-news.com/frauen/dem-partei-stellt-feministische-stadtentwicklungsagenda-vor-49334 https://deutsch.anf-news.com/frauen/Okofeministin-laura-corradi-freiheit-beginnt-mit-der-befreiung-der-frau-49029 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/amed-wahlt-drei-burgerprojekte-fur-partizipativen-haushalt-aus-48523
Iran richtet Studenten wegen angeblicher Spionage für Israel hin
In Iran ist ein Student wegen angeblicher Spionage für Israel hingerichtet worden. Wie die Justizagentur Mizan mitteilte, wurde das Todesurteil gegen Aghil Keshavarz am Samstag vollstreckt. Zuvor hatte die in Paris ansässige Menschenrechtsorganisation Kurdistan Human Rights Network (KHRN) gemeldet, der 27-Jährige sei bereits am Mittwoch (17. Dezember) zur Vollstreckung des Urteils in eine Einzelzelle des Zentralgefängnisses im ostkurdischen Ûrmiye (Urmia) verlegt worden.
Laut Mizan wurde Keshavarz der „Zusammenarbeit mit dem zionistischen Regime“, geheimdienstlicher Tätigkeiten sowie der Anfertigung von Bildmaterial militärischer und sicherheitsrelevanter Einrichtungen schuldig gesprochen. Das Urteil sei nach Bestätigung durch den Obersten Gerichtshof und unter Einhaltung aller rechtlichen Vorgaben vollzogen worden, hieß es.
Unklar bleibt jedoch, wer Keshavarz juristisch vertreten hat, wann das erstinstanzliche Urteil gefällt wurde und zu welchem Zeitpunkt ein Revisionsverfahren beim Obersten Gerichtshof stattgefunden haben soll. Das KHRN berichtete, der Architekturstudent der Universität Schahroud sei erst kurz vor der Vollstreckung darüber informiert worden, dass sein Todesurteil bestätigt wurde. Öffentliche Informationen zu dem Verfahren seien sowohl von dem jungen Mann als auch von seiner Familie aus Sorge vor Repressionen vermieden worden.
Nach Darstellung der Regime-Justiz war Keshavarz von Einheiten des militärischen Geheimdienstes festgenommen worden, als er angeblich ein Armeegelände in Ûrmiye fotografierte. Studierendenkreise beschrieben den Masterstudenten als Autor mehrerer Fachartikel sowie als Übersetzer eines architekturwissenschaftlichen Buches. Seine Festnahme soll zwischen April und Mai und damit vor dem Zwölf-Tage-Krieg zwischen Israel und Iran stattgefunden haben.
Die Hinrichtung reiht sich in eine wachsende Zahl von Exekutionen in Iran ein, die mit dem Vorwurf der Spionage für Israel begründet werden. Seit Beginn des militärischen Konflikts zwischen beiden Staaten im Juni wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mindestens zehn Menschen unter ähnlichen Anschuldigungen hingerichtet. Nach dem Krieg verabschiedete das iranische Parlament zudem ein Gesetz zur Verschärfung der Strafen für Spionage.
https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/iran-gefangene-protestieren-in-der-99-woche-in-folge-gegen-todesstrafe-49283 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/rojhilat-kurdischer-politischer-gefangener-tritt-in-hungerstreik-49303 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/massnahmen-gegen-menschenrechtsverletzungen-des-irans-gefordert-49296
Çelê: Ein Landkreis auf der Karte, nicht im Leben
Im nordkurdischen Grenzbezirk Çelê (tr. Çukurca) sind weite Teile des ländlichen Raums weiterhin für die Zivilbevölkerung gesperrt. Insgesamt 38 Dörfer und Weiler gelten als „Sondersicherheitsgebiete“ – eine Regelung, die ursprünglich vorübergehend eingeführt wurde, sich mittlerweile jedoch dauerhaft etabliert hat. Der Kreis in der Provinz Colemêrg (Hakkari) liegt unmittelbar an der Grenze zur Kurdistan-Region des Irak und zählt zu den am stärksten militarisierten Gebieten des Landes.
Bevölkerung verdrängt und militärische Infrastruktur ausgeweitet
Bereits in den 1990er Jahren wurden zahlreiche Siedlungen in Çelê durch Zwangsräumungen im Rahmen der „Aufstandsbekämpfung“ – der schmutzige Krieg gegen die PKK – vollständig entvölkert und zerstört. Viele der betroffenen Dörfer wurden in der Folge nicht wiederbesiedelt. Stattdessen entstanden militärische Sperrzonen, Stützpunkte und Kontrollposten. Die Rückkehr in diese Gebiete ist bis heute faktisch ausgeschlossen.
Verfügungen der türkischen Provinzverwaltung erklären regelmäßig große Teile des Kreises zu militärischen Sperrgebieten. Der Zugang ist damit nur noch Armee, Polizei und paramilitärischen Dorfschützern erlaubt. Betroffen sind auch landwirtschaftlich genutzte Flächen, Weidegebiete und traditionelle Sommerweiden, die zuvor über Generationen das Rückgrat der regionalen Lebensweise bildeten.
Traditionelles Leben unmöglich
Die Liste der gesperrten Orte ist lang: Neben größeren Dörfern wie Erbîş, Canmeda, Helalî oder Seranî sind auch Dutzende Weiler und abgelegene Siedlungen betroffen, darunter Bite, Barzan, Qesirk oder Sivsîdan. Selbst einige heute noch bewohnte Dörfer wie Serspî oder Siyavik unterliegen regelmäßigen Zugangsbeschränkungen. Die Folge ist eine massive Abwanderung: Der Großteil der Bevölkerung hat Çelê verlassen. Besonders junge Menschen ziehen mangels Perspektiven in andere Städte. Landwirtschaft und Viehzucht – vormals zentrale Einkommensquellen – sind weitgehend zum Erliegen gekommen.
Sicherheitslogik dominiert, kulturelles Erbe marginalisiert
Çelê war einst bekannt für seine kulturelle Vielfalt, seine transregionalen Handelsbeziehungen und eine über Jahrhunderte gewachsene Siedlungsstruktur. Diese kulturelle und soziale Topografie wird zunehmend durch eine Logik der Kontrolle und Sicherheitsdominanz ersetzt. Seit Mitte der 2010er Jahre hat sich die Zahl der militärischen Einrichtungen weiter erhöht. Auf zahlreichen Hügeln wurden neue Beobachtungsposten errichtet, die Sperrgebiete wurden ausgedehnt. Die ursprünglich als „vorübergehend“ deklarierten Maßnahmen gelten mittlerweile als de facto permanent.
Ein Landkreis im Ausnahmezustand
Mit seiner geografischen Lage am Rand des türkischen Staatsgebiets ist Çelê zu einer Art Pufferzone geworden, in der zivilgesellschaftliche Strukturen kaum noch existieren. Menschenrechtsorganisationen wie der IHD kritisieren seit Jahren, dass sich Sicherheitsmaßnahmen zu einem Instrument struktureller Verdrängung entwickelt haben. Ziviles Leben werde nicht nur eingeschränkt, sondern systematisch verhindert. Ein Ende dieser Maßnahmen ist derzeit nicht in Sicht. Auch Rückkehrinitiativen oder infrastrukturelle Wiederbelebungen bleiben bislang aus.
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/ihd-beklagt-systematische-gewalt-und-straflosigkeit-in-colemerg-47615 https://deutsch.anf-news.com/frauen/hirtinnen-in-kato-marinos-klagen-uber-militarprasenz-auf-weideflachen-47621 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/colemerg-sieben-jahre-ausnahmezustand-39667 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/landstreit-in-colemerg-festnahmen-nach-streit-mit-akp-nahem-unternehmer-46979 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/unteroffizier-wegen-gewalt-gegen-kind-in-colemerg-angeklagt-48659
Kundgebung zur Urteilsverkündung im PKK-Verfahren in Hamburg
Am Dienstag wird vor dem Oberlandesgericht Hamburg das Urteil im Prozess gegen Nihat Asut aus Kiel und einen weiteren kurdischen Aktivisten aus Lübeck erwartet. Beiden wird die Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen. Unterstützer:innen rufen anlässlich der Urteilsverkündung zu einer Solidaritätskundgebung auf. Die Kundgebung beginnt am Dienstagmorgen um 8.30 Uhr vor dem Strafjustizgebäude am Sievekingplatz in Hamburg. Die Gruppe „AK Freiheit für Nihat“ macht deutlich, dass der Prozess nicht nur gegen zwei Einzelpersonen gerichtet sei, sondern Teil der Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung in Deutschland. In einem Aufruf heißt es:
„Wieder einmal wollen die deutschen Repressionsbehörden den Kampf gegen die Unterdrückung der Kurd:innen, für die Demokratisierung der Türkei und für internationale Solidarität, an dem sich die beiden Angeklagten ihr Leben lang beteiligt haben, bestrafen und greifen damit gezielt politische Strukturen der kurdischen Befreiungsbewegung an. Wie schon zur Eröffnung des Prozesses rufen wir deshalb auch am Tag der Urteilsverkündung zu einer Kundgebung vor dem OLG Hamburg auf und fordern das einzig hinnehmbare Urteil in diesem Prozess: Freispruch für beide Angeklagten, Rückgabe aller beschlagnahmten Gelder, Übernahme aller bei den Razzien entstanden Schäden!
Machen wir deutlich, dass der Kampf für Würde und Gerechtigkeit und die Unterstützung des revolutionären Aufbaus in Kurdistan nicht kriminell, sondern Ehrensache sind. Stellen wir noch einmal vor und im Gericht klar, dass die Vereinzelungsstrategie des Staates nicht aufgeht und wir in fester Solidarität mit den Angeklagten stehen, weil wir gleiche politische Werte und Ziele teilen. Wir fordern Freiheit für alle Angeklagten und Gefangenen der kurdischen Befreiungsbewegung und aller antifaschistischen, internationalistischen und revolutionären Kämpfe überall. Kommt zur Urteilsverkündung nach Hamburg!“
Weitere Informationen unter: freenihat.noblogs.org Der AK Freiheit für Nihat sammelt zudem auch Spenden für die Arbeit der Prozessbeobachtungsgruppe.
Spendenkonto
Rote Hilfe e.V.
Verwendungszweck: Hevgertin – Solidarität
IBAN: DE08 4306 0967 4003 1186 03
BIC: GENODEM1GLS
Istanbul: Schwerbewaffnete Polizisten räumen Zellen politischer Gefangener
Im Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy ist es am 19. Dezember zu einem massiven Sicherheitsaufgebot gegen politische Gefangene gekommen. Wie die Frauennachrichtenagentur Jin News berichtet, wurde ein Zellenblock unter Einsatz von rund 50 uniformierten Einsatzkräften geräumt, nachdem Insassinnen sich gegen eine von der Gefängnisleitung angeordnete Verlegung zur Wehr gesetzt hatten. Die Aktion fiel auf den Jahrestag der umstrittenen „Operation Rückkehr ins Leben“ vom 19. Dezember 2000, bei der in mehreren türkischen Gefängnissen dutzende Gefangene ums Leben kamen.
Die Gefängnisleitung hatte laut Angaben von Jin News zwei Zellen politischer Gefangener aus „baulichen Gründen“ zusammenlegen wollen. Die betroffenen Insassinnen verweigerten jedoch die Verlegung. Daraufhin habe die Anstaltsleitung auf die Überbelegung in anderen Bereichen verwiesen und an das „Verständnis“ der politischen Gefangenen appelliert. Aus Anwaltskreisen hieß es, es habe eine gezielte Einschüchterung gegeben.
Verlegung unter Zwang und mit militärischer Präsenz
Am Morgen des 19. Dezember sei den Gefangenen mitgeteilt worden, dass eine Räumung bevorstehe. Gegen 11 Uhr habe sich die Gefängnisleitung gemeinsam mit Vollzugspersonal und einer rund 50-köpfigen Einheit schwerbewaffnete Sicherheitskräfte Zugang zur Zelle verschafft. Laut Berichten von Anwält:innen sei mit psychologischem Druck und Drohungen gearbeitet worden.
Die politischen Gefangenen sollen sich gegen die erzwungene Verlegung aus dem Zellenbereich B4 in den benachbarten B3-Trakt zur Wehr gesetzt haben. Der Zustand des neuen Zellenbereichs sei nach Angaben der Betroffenen „unzumutbar“: Es gebe erhebliche bauliche Mängel, undichte Dächer, marode Wände, verschmutztes Wasser und keine funktionierende Stromversorgung.
Kommunikation unterbrochen, Besuchsrechte eingeschränkt
Im Zuge der Räumung sei zudem der Zugang zu Telefonzellen gesperrt und der Kontakt nach außen systematisch unterbunden worden. Auch anwaltliche Besuche seien zwischenzeitlich mit Verweis auf „technische Störungen“ nicht möglich gewesen. Einem später eintreffenden Verteidiger sei der Zutritt bis zum Nachmittag verweigert worden. Anwält:innen bezeichneten den Einsatz als die erste größere militärische Intervention gegen politische Gefangene seit den Hungerstreiks im Jahr 2019. Der Zeitpunkt der Aktion – exakt am Jahrestag der Gefängnismassaker – werde von vielen Gefangenen als bewusste Provokation verstanden.
Zudem seien die politischen Gefangenen nach ihrer Verlegung umgehend durch Insassinnen des allgemeinen Strafvollzugs ersetzt worden. Persönliche Gegenstände wie Stühle und Schränke hätten sie nicht mitnehmen dürfen. Die Situation im neuen Bereich werde von den Betroffenen als gesundheitlich bedenklich beschrieben. Man habe begonnen, das Wasser mit Tüchern zu filtern.
„Bewusste Parallele zu tödlicher Gefängnisoperation 2000“
Die Gefangenen selbst werten die Maßnahme als gezielte Botschaft. In der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember 2000 hatten 8.500 schwerbewaffnete Soldaten und Beamte der türkischen Militärpolizei, darunter auch speziell ausgebildete Spezialbataillone und Eliteeinheiten der Geheimdienste, insgesamt 20 türkische Gefängnisse gestürmt. Das Massaker sollte drei Tage dauern. Mindestens 30 Gefangene und zwei Soldaten, die ihren Wehrdienst in Haftanstalten leisteten, wurden bei der Erstürmung der Haftanstalten getötet, mehrere hundert zum Teil schwerverletzt. Insgesamt 34 Menschen gelten bis heute als offiziell „verschwunden“. Die Bezeichnung „Rückkehr ins Leben“ wird von Betroffenen bis heute als zynisch kritisiert.
https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/istanbul-kamerauberwachung-in-frauengefangnis-sorgt-fur-emporung-46165 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/neuer-ausweiszwang-in-turkischen-gefangnissen-sorgt-fur-protest-49266 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/ihd-beklagt-schwere-missstande-in-gefangnis-von-batman-49282 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/19-dezember-2000-auftakt-der-operation-ruckkehr-ins-leben-40268 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/gericht-stellt-verfahren-zur-ruckkehr-ins-leben-operation-wegen-verjahrung-ein-48870
Türkei: Haftentlassung von Rozerin Kalkan wird seit 20 Monaten blockiert
Obwohl Rozerin Kalkan ihre gesetzlich vorgesehene Haftzeit bereits vor 20 Monaten verbüßt hat, bleibt die politische Gefangene weiterhin in türkischer Haft. Ihre vorzeitige Entlassung wurde seit April 2024 bereits zweimal durch eine Gefängniskommission blockiert – zuletzt mit Verweis auf Briefe mit „belastendem Inhalt“, die ihr jedoch nicht ausgehändigt wurden. Menschenrechtsgruppen sprechen von einem willkürlichen und politisch motivierten Vorgehen.
Rozerin Kalkan befindet sich seit ihrer Festnahme im August 2016 in Haft. Die damals 19-Jährige war in der kurdischen Provinz Mêrdîn (tr. Mardin) festgenommen und neun Tage lang auf einer Polizeiwache verhört worden. Sie wirft den Behörden vor, in dieser Zeit sexualisierter Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. Später wurde sie von einem Gericht wegen „Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation“ zu zehn Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.
Kritik an intransparenten Kriterien
Nach Stationen in mehreren Haftanstalten wurde sie in das Hochsicherheitsgefängnis für Frauen im westtürkischen Şakran nahe Izmir verlegt. Dort wurde sie im April 2024 erstmals von einem Bewertungsausschuss angehört. Die Gremien prüfen unter anderem das Verhalten in Haft und können über eine vorzeitige Entlassung oder deren Aufschub entscheiden.
In Kalkans Fall wurde die Entlassung zunächst mit Verweis auf „fehlende Reue“, ihre Teilnahme an Hungerstreiks sowie ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Zelle um elf Monate verschoben. Als sie im März 2025 erneut geladen wurde, verweigerte sie die Teilnahme an der Anhörung mit Verweis auf die ihrer Ansicht nach vorab feststehende Entscheidung. Auch dieser zweite Antrag auf Haftentlassung wurde abgelehnt, erneut mit einer Verlängerung um elf Monate.
Besondere Kritik zieht der Umstand auf sich, dass Kalkans Entlassung unter anderem mit Briefen begründet wurde, die sie nie erhalten hatte. Diese seien laut Kommission geeignet, „Mitglieder der Organisation zu motivieren“. Ihre Anwält:innen legten mehrfach Widerspruch gegen die Entscheidung ein, blieben bislang aber erfolglos. „Mir wurde nie gesagt, was in den Briefen steht, aber man legt sie mir nun als Schuldnachweis vor“, ließ Kalkan über ihre Familie ausrichten. „Ich rechne immer mit einer Verlängerung, aber dass es gleich elf Monate sind, hatte ich nicht erwartet.“
Mutter fordert Ende des Systems
Auch ihre Mutter Şerife Kalkan kritisierte das Verfahren scharf: „Meine Tochter hätte schon längst frei sein können. Doch sie bleibt auf der Grundlage von Einschätzungen eingesperrt, nicht von Gesetzen.“ Sie forderte die Abschaffung der Kommissionen, die sich aus Vollzugsanstellten zusammensetzen: „Diese Gremien haben mit Recht und Gesetz nichts zu tun. Wir wollen, dass Rozerin endlich freikommt.“
4.000 Entlassungen seit 2021 abgelehnt
Laut Daten der kurdischen Juristenorganisation ÖHD sind seit Einführung der Bewertungskommissionen Anfang 2021 rund 4.000 vorzeitige Haftentlassungen politischer Gefangener abgelehnt oder verschoben worden. Betroffene berichten von Fragen zur politischen Haltung, zu Kontakten innerhalb der Haft oder gar zur Wahl des Zellenbereichs. Die gängigen Fragen, die sie für ihre Prognosen an die Gefangenen richten, lauten „Ist die PKK Ihrer Meinung nach eine Terrororganisation?“ und „Was halten Sie von Abdullah Öcalan?“.
Instrument für Anwendung von Feindstrafrecht
Die Kommissionen, offiziell als Maßnahme zur „Resozialisierung“ eingeführt, stehen schon lange in der Kritik, politische Gesinnung statt juristischer Kriterien zu bewerten. Gerade im Umgang mit kurdischen Gefangenen ist immer wieder von „Feindstrafrecht“ die Rede. Angehörige und Menschenrechtsgruppen fordern seit Jahren die Abschaffung dieser Kommissionen sowie die sofortige Entlassung der Betroffenen nach Ablauf der gesetzlichen Haftzeit.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-abgeordneter-turkei-blockiert-freilassung-politischer-gefangener-systematisch-49331 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/ihd-beklagt-schwere-missstande-in-gefangnis-von-batman-49282 https://deutsch.anf-news.com/pressefreiheit/gericht-bestatigt-entscheidung-keine-vorzeitige-entlassung-fur-journalisten-kurt-49276 https://deutsch.anf-news.com/frauen/ex-burgermeisterin-melike-goksu-bleibt-in-haft-49036 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/neuer-ausweiszwang-in-turkischen-gefangnissen-sorgt-fur-protest-49266Übergangsjustiz als Voraussetzung für demokratische Integration
Einen der zentralen Schritte für eine neue politische Phase sieht der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan in der Etablierung einer Übergangsjustiz. Diese sei eine notwendige Voraussetzung für eine demokratische Integration. Öcalan stützt das Konzept einer demokratischen Integrationsgesetzgebung auf drei grundlegende Prinzipien.
Obwohl die Idee von Übergangsjustiz in der Türkei vergleichsweise neu ist, reicht ihr Ursprung bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Als historisches Beispiel gelten insbesondere die Nürnberger Prozesse, in denen führende Verantwortliche des NS-Regimes zur Rechenschaft gezogen wurden – ein erster praktischer Ausdruck von Übergangsjustiz.
Übergangsjustiz und demokratische Integration werden in diesem Zusammenhang als komplementäre Prozesse verstanden. Nach der Definition der Vereinten Nationen umfasst Übergangsjustiz sämtliche gerichtlichen und außergerichtlichen Maßnahmen, die darauf abzielen, systematische Menschenrechtsverletzungen in einem Land aufzuarbeiten und Wiedergutmachung zu leisten. Dazu zählen unter anderem Wahrheitskommissionen, die Überarbeitung repressiver Gesetzgebung sowie Entschädigungsprogramme.
Bereits in einer am 3. Dezember veröffentlichten Mitteilung hatte Öcalan deutlich gemacht, was er unter dem Begriff versteht, indem er von einem „Gesetz für den Übergang in ein Jahrhundert des Friedens“ sprach. Kritisch merkt er an, dass die einzelnen Maßnahmen der Übergangsjustiz in der öffentlichen Debatte oft als voneinander unabhängige Initiativen dargestellt werden, obwohl sie in einem ganzheitlichen Zusammenhang betrachtet werden müssten.
Das Beispiel der Nürnberger Prozesse
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter dem Begriff Übergangsjustiz ein juristischer und politischer Rahmen geschaffen, um auf systematische Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu reagieren. Seither wurde dieses Konzept in zahlreichen Ländern angewandt, wodurch sich auch praktische Leitlinien herauskristallisierten. Die Nürnberger Prozesse gegen das NS-Regime, aber auch die Maßnahmen zur Aufarbeitung der begangenen Verbrechen markieren die ersten konkreten Schritte in diesem Kontext.
Übergangsjustiz umfasst dabei weit mehr als rein juristische Verfahren. Sie beschreibt einen vielschichtigen, oft sensiblen Prozess, bei dem selbst kleinste Versäumnisse oder Fehlentscheidungen das gesamte Vorhaben gefährden können. Basierend auf bisherigen Erfahrungen lassen sich zentrale Komponenten der Übergangsjustiz benennen:
▪ Beendigung von Menschenrechtsverletzungen
▪ Aufarbeitung früherer Verbrechen
▪ Identifizierung der Verantwortlichen
▪ Sanktionen gegen die Täter
▪ Entschädigung der Opfer
▪ Prävention zukünftiger Verstöße
▪ Nachhaltige Reformen im Bereich der Sicherheitsarchitektur
▪ Legitimation und Sicherung des Friedens
▪ Gleichstellung aller Bürger:innen
▪ Anerkennung des historischen Unrechts
▪ Förderung des gesellschaftlichen Wandels
Diese Elemente stellen keinen Ausdruck von Sieg oder Niederlage einer Konfliktpartei dar. Eine rein strafrechtliche Perspektive greift hier zu kurz und wird der Komplexität des Prozesses nicht gerecht.
Übergangsjustiz ist kein Straferlass
Ein häufiger Irrtum in der türkischen Öffentlichkeit besteht darin, Übergangsjustiz-Gesetze mit einem bloßen „Amnestie“-Ansatz gleichzusetzen. Tatsächlich geht es jedoch nicht um einen pauschalen Straferlass, sondern um eine umfassende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und darum, eine rechtliche und politische Grundlage für die Zukunft zu schaffen. Die Reduktion der Debatte auf eine Amnestie verkennt sowohl den Ernst als auch die Tragweite des angestrebten Prozesses.
In einem Interview vom 28. November erklärte Besê Hozat, Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK):
„Die Kader der Bewegung fordern keine Amnestie. Amnestien gelten für Schuldige. Wir haben kein Verbrechen begangen, für das wir um Vergebung bitten müssten. Wir haben unter den Bedingungen kultureller und politischer Auslöschung für die Würde, Freiheit und Existenz unseres Volkes gekämpft. Es war ein legitimer, ehrenhafter und kollektiver Freiheitskampf gegen eine über ein Jahrhundert währende Politik der Assimilation.
Unser Ziel ist es nicht, in das gesellschaftliche Privatleben zurückzukehren oder uns in das alltägliche Leben einfach einzugliedern. Vielmehr streben wir danach, uns aktiv an der demokratischen Transformation der Gesellschaft zu beteiligen. Was wir wollen, sind Freiheitsgesetze für alle – von den Funktionär:innen bis zu den Kämpfer:innen. Gesetze, die uns ermöglichen, demokratische Politik zu machen und am Aufbau einer ethisch-politischen Gesellschaft mitzuwirken.
Es geht nicht darum, im parlamentarischen Betrieb in Ankara Positionen zu besetzen. Unsere Vorstellung von Politik beschränkt sich nicht auf das Parlament. Für uns bedeutet Politik, sich mit den realen Problemen der Gesellschaft auseinanderzusetzen und Lösungen zu erarbeiten. In diesem Sinne streben wir an, in allen Regionen der Türkei und Kurdistans demokratische Aufbauarbeit zu leisten, die Gesellschaft zu bilden, zu organisieren und in einem ethisch-politischen Sinne zu transformieren.“
Reform des Ausnahmezustands erforderlich
Übergangsjustiz bedeutet auch keine symbolische „Versöhnung“. Vielmehr geht es um konkrete Verantwortung und eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Leid der Vergangenheit – als Voraussetzung für ein Zusammenleben in der Zukunft. Ein zentrales Element besteht darin, gesetzliche Grundlagen aus der Kriegszeit zu überprüfen, abzuschaffen oder im Sinne eines Friedensprozesses neu zu gestalten. Dies wäre ein essenzieller Schritt auf dem Weg zur Deeskalation und damit ein institutionelles Bekenntnis, nicht in vergangene Konfliktmuster zurückzufallen. Fehlt ein solcher Wille, besteht die Gefahr, dass Friedensbemühungen lediglich als taktisches Manöver verstanden werden, während faktisch die Vorbereitung auf neue Konfrontationen betrieben wird.
Instrumentalisierung von Übergangsjustiz
Ohne klare politische Rahmung und organisierte zivilgesellschaftliche Beteiligung kann der Prozess der Übergangsjustiz von staatlichen Akteuren auch zur Reinwaschung eigener Vergehen instrumentalisiert werden. In Argentinien etwa verhinderten starke soziale Bewegungen eine solche Umdeutung.
Ein anderes Beispiel sind die Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg: Zahlreiche hochrangige NS-Funktionäre versuchten dort, ihre Verantwortung mit dem Hinweis auf Befehlsgehorsam abzustreiten – eine Verteidigungsstrategie, die als „Befehlsnotstand“ (die sogenannte Nuremberg Defense) bekannt wurde. Das internationale Militärtribunal wies diese Argumentation zurück und stellte klar, dass das bloße Befolgen rechtswidriger Befehle keine strafrechtliche Immunität gewährt. Die Prozesse führten zu Schuldsprüchen gegen führende Vertreter des NS-Regimes – auch wenn sich viele Angeklagte persönlich nicht schuldig bekannten und bis zuletzt ihre Taten verharmlosten oder leugneten.
Dieses Beispiel verdeutlicht: Selbst wenn Übergangsjustiz formal erfolgt, hängt ihre Glaubwürdigkeit wesentlich davon ab, ob sie strukturelle Verantwortung sichtbar macht oder ob sie von Täter:innen dazu genutzt wird, sich als bloße Ausführende staatlicher Politik darzustellen. Auch die türkische Regierung unter der AKP initiierte zeitweise Verfahren, wie etwa die sogenannten JITEM-Prozesse, die grundsätzlich unter den Rahmen der Übergangsjustiz hätten fallen können. Doch die gerichtliche Aufarbeitung geriet zu einem Instrument staatlicher Selbstentlastung. Kein einziger Staatsbediensteter wurde trotz schwerwiegender Vorwürfe – darunter das Verschwindenlassen von Personen, das Niederbrennen von Dörfern, die Nutzung von Säurebrunnen zur Tötung von Opfern oder außergerichtliche Hinrichtungen – rechtskräftig verurteilt.
Die Rolle der Wahrheitskommissionen
Wahrheitskommissionen spielen eine zentrale Rolle im Rahmen der Übergangsjustiz. Sie gelten in vielen Kontexten als wichtige Garanten für eine glaubwürdige und transparente Aufarbeitung staatlicher Gewaltverbrechen. Diese Kommissionen wurden in Ländern eingerichtet, in denen systematische Menschenrechtsverletzungen stattgefunden hatten. Sie übernahmen dabei eine Schlüsselrolle bei der Untersuchung staatlicher Verbrechen und der Weiterverfolgung entsprechender Verfahren.
Ein besonders prägendes Beispiel stellt Argentinien dar. Nach dem Ende der zivil-militärischen Diktatur (1976-1983), während der schätzungsweise 30.000 Menschen „verschwanden“, setzte die neue demokratische Regierung 1983 die „Nationale Kommission über das Verschwinden von Personen“ (CONADEP) ein. Ziel war es, systematische Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und die gesellschaftliche Grundlage für eine juristische und politische Aufarbeitung zu schaffen.
Der Bericht der Kommission, veröffentlicht unter dem Titel Nunca Más („Nie wieder“), trug maßgeblich dazu bei, das Ausmaß der staatlichen Gewalt öffentlich zu machen. Er identifizierte über 8.900 Fälle von Verschwindenlassen und 365 geheime Haftzentren. Zwar wurden zunächst einige hochrangige Militärs verurteilt, doch politische Rückschläge führten vorübergehend zu Amnestiegesetzen. Erst in den 2000er Jahren konnten diese aufgehoben und zahlreiche Prozesse wieder aufgenommen werden. Einige der angestoßenen Verfahren dauern bis heute an.
Weitere Beispiele
In Peru führte der Bericht der Nationalen Versöhnungskommission dazu, dass der ehemalige Präsident Alberto Fujimori rund 20 Jahre später – wegen Verschleppung, Folter und Hinrichtungen in den 1990er Jahren – zu einer Haftstrafe von 25 Jahren verurteilt wurde. In Guatemala dokumentierte die Historische Aufklärungskommission, dass im Verlauf des guatemaltekischen Bürgerkriegs zwischen 1960 und 1996 etwa 200.000 Menschen getötet wurden – in 93 Prozent der Fälle war der Staat für die Taten verantwortlich.
Das Beispiel Südafrika – Amnestie unter Bedingungen
In Südafrika spielte die Wahrheits- und Versöhnungskommission eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Gewaltverbrechen während des Apartheidregimes. Im Rahmen öffentlicher Anhörungen wurden zahlreiche Täter:innen namentlich benannt und ihre Taten dokumentiert – nicht in erster Linie zur strafrechtlichen Verfolgung, sondern zur gesellschaftlichen Aufklärung und historischen Wahrheitssicherung.
Die Kommission verfügte über die Möglichkeit, Amnestie für politisch motivierte Verbrechen zu gewähren – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Antragsteller:innen ihre Taten vollständig offenlegten und deren politische Motivation glaubhaft darlegten. Insgesamt gingen rund 7.112 Amnestieanträge bei der Kommission ein. Davon wurden nur 849 bewilligt – die große Mehrheit wurde abgelehnt. Dieses Beispiel zeigt, dass Übergangsjustiz nicht notwendigerweise auf Bestrafung basiert, sondern auch alternative Wege zur Aufarbeitung ermöglichen kann – sofern klare Kriterien, Transparenz und öffentliche Teilhabe gewährleistet sind.
Übergangsjustiz und demokratische Integration
Für Abdullah Öcalan stellt die demokratische Integration eine der zentralen Säulen der neuen politischen Epoche dar. Dabei geht es nicht, wie oft im offiziellen Diskurs suggeriert, lediglich um die „Wiedereingliederung“ von Mitgliedern der kurdischen Befreiungsbewegung in das gesellschaftliche Leben. Vielmehr impliziert demokratische Integration einen tiefgreifenden Prozess, in dem der Staat sich von genozidalen Praktiken und rassistischen Strukturen verabschiedet. Der erste notwendige Schritt in diesem Prozess sei die sorgfältige Konzeption und Umsetzung einer Übergangsjustiz auf solider Grundlage.
Mit Blick auf diese Herausforderungen erklärte Öcalan:
„Um den aktuellen Prozess weiterzuentwickeln, müssen wir Geschichte und Soziologie ernster nehmen. Es ist entscheidend, die türkisch-kurdische Beziehung als zwei Säulen einer tausendjährigen gemeinsamen Geschichte zu begreifen. Diese Säulen zu erkennen, zu verstehen und zu heilen, ist der Schlüssel zur Stärkung des Zusammenlebens. Statt Grenzen zu ziehen, sollten wir eine Perspektive entwickeln, die auch aktuelle Probleme einschließt. Unter schwierigen Bedingungen leisten wir ernsthafte Arbeit an einer historischen Frage. Unser Ziel ist es nicht, destruktive oder negative Zustände zu reproduzieren, sondern eine positive Phase einzuleiten.“
Drei Grundprinzipien der demokratischen Integrationsgesetzgebung
In seiner Botschaft an die „Internationale Konferenz für Frieden und Demokratische Gesellschaft“ Anfang Dezember in Istanbul betonte Öcalan die Bedeutung der demokratischen Integration als strategischen Bestandteil der politischen Auseinandersetzung. Dabei verwies er auf ein spezifisches Verständnis von Recht, das auf kollektiven und individuellen Normen aufbaut und das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellt. Die sogenannte demokratische Integrationsgesetzgebung müsse sich auf drei zentrale Grundsätze stützen:
▪ Gesetz für freie Bürger:innen
▪ Gesetz für Frieden und demokratische Gesellschaft
▪ Freiheitsgesetze
Ein solcher gesetzlicher Rahmen solle sowohl den Staat in einen normgebundenen Rechtsstaat transformieren als auch die gesellschaftlichen Errungenschaften institutionell absichern und langfristige Freiheit ermöglichen. Demzufolge gilt: Solange demokratische Integration nicht auf Grundlage dieser Prinzipien verwirklicht wird, kann auch eine Übergangsjustiz im eigentlichen Sinne nicht zur Anwendung kommen.
https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/bese-hozat-in-der-zweiten-phase-braucht-es-gesetze-zur-demokratischen-integration-49054 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/Ocalan-zeit-fur-demokratischen-sozialismus-49136 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/dem-partei-veroffentlicht-losungsbericht-fur-parlamentskommission-49226 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/frieden-beginnt-mit-vertrauen-49288