Die Digitalisierung verändert das Denken: Was das für die Gewerkschaften bedeutet

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Helmut S. - ADMIN
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Die Digitalisierung verändert das Denken: Was das für die Gewerkschaften bedeutet
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Die Digitalisierung verändert das Denken

Was das für die Gewerkschaften bedeutet

von Marcus Schwarzbach

Das Internet verändert unseren Alltag – manche Zeitgenossen sind gar nicht mehr offline. Viele Beschäftigte verbinden digitale Technik ausschließlich mit positiven Erfahrungen. Bestellungen online sind einfach möglich, Informationen leicht verfügbar. Diese Grundhaltung wirkt auch im Betrieb weiter und hat deshalb Bedeutung für Gewerkschaften und Betriebsräte.

Ein Beispiel: der persönliche Algorithmus – Lifelogging nimmt an Bedeutung zu. Das Digitalarmband erfasst den Puls, die Brille macht Fotos. „Wir Menschen haben schon immer alle möglichen Kennzahlen gemessen, mit dem Spiegel, der Waage oder per Kilometeranzeige im Auto“, erläutert der Soziologe Prof. Dr. Stefan Selke. „Bei Lifelogging wird diese Obsession auf die nächste Ebene gehoben: Wir erfassen alle möglichen Daten um unsere Person digital, kombinieren diese Zahlen und suchen Muster, um eine Art Lebensprotokoll zu erstellen.“ (⇒ s. Artikel)

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Da der nächste Firmenmarathon ansteht, haben Beschäftigte auch schon den ebenfalls mittrainierenden Vorgesetzten freigeschaltet – der dann auswerten kann, wieviel Tiefschlafphasen der Kollege in den Nächten vor dem wichtigen Termin mit dem neuen Kunden hatte.

Dies ist keineswegs eine „digitale Spielerei“: Krankenkassen interessieren sich zunehmend für diese Daten. Menschen seien „offenbar immer anfälliger für Rankings und Vergleiche. Deshalb gibt es Hitparaden im Radio und Evaluierungen an Unis. Für mich ist bedenklich, dass es vielen nur mehr um die Daten und den Vergleich geht und nicht mehr um die Sache selbst. Oder anders: Ich weiß doch selbst, dass ich nach dem Sechs-Kilometer-Lauf erschöpft bin. Dafür brauche ich keine App“, so der Soziologe Selke. (Selkes Webseite und Blog)

Das wirkt auch im Betrieb. Manche Unternehmen entwickeln betriebliche „Benchmarks“, wie schnell Kunden durch das neue Workflow-System betreut werden. Will der Betriebsrat dieses in Konkurrenz-Setzen von Teams verhindern, kann dies auf Protest von Beschäftigten stoßen, die derartigen Wettbewerb normal finden.

Eine weitere Entwicklung: Cloudworking [s. Lesetipps, Anm. ADMIN] ermöglicht ein Arbeiten unabhängig von Zeit und Raum. Oft lautet das Motto, was möglich ist, wird auch getan – Erreichbarkeit jederzeit, auch am Wochenende und im Urlaub. Oft sehen Angestellte eine scheinbare Erleichterung darin: Hintergrund ist die zunehmende Arbeitsbelastung im Berufsleben allgemein. Das Motiv ist subjektiv nachvollziehbar. Es wird als Entlastung gesehen, weil den Betroffenen nach dem Urlaub nicht ein E-Mail-Berg erwarte.

Gewerkschafter und Betriebsräte, die gegen ständige Verfügbarkeit der Beschäftigten agieren, müssen deshalb aber nicht nur dem Unternehmen, sondern auch den Beschäftigten gegenüber agieren. Die Belegschaft muss für das Problem sensibilisiert werden – und es muss verdeutlicht werden, dass es kein individuelles Problem ist, sondern durch die Unternehmenssteuerung und Personalplanung bedingt ist. 

marcus_schwarzbach_work_around_the_clock_zukunft_arbeit_gewerkschaften_kritisches_netzwerk_arbeitsrecht_crowdworking_digitalisierung_flexibilisierung_mobile_staendige_erreichbarkeit_arbeitsdruck.jpgEin betriebliches Beispiel zeigt (siehe Marcus Schwarzbach, “Work around the clock? - Industrie 4.0, die Zukunft der Arbeit und die Gewerkschaften“, Seite 43): Durch Flugblätter, Infos per Email und eine Betriebsversammlung zum Thema wurde verdeutlicht, dass es sich bei den Problemen nicht um Einzelfälle handelt. Ursache seien vielmehr die Arbeitsbedingungen, so die Position, die der Betriebsrat in einem Belegschaftsinfo deutlich machte.

Es wird aber nicht nur das Problem „Erreichbarkeit“ angesprochen, sondern auch Lösungsansätze etwa durch eine Betriebsvereinbarung benannt, so dass der Belegschaft klar wird, kollektiv ist eine Veränderung möglich. Über Mitbestimmungsrechte ist Gegenwehr möglich – der Unternehmer muss über eine Betriebsvereinbarung verhandeln. Technisch können die Server so eingestellt werden, dass nach Feierabend oder an den Wochenenden keine E-Mails mehr an die persönlichen Postfächer der Beschäftigten weitergeleitet werden.

Dieser Fall zeigt anschaulich, welche Möglichkeiten bestehen – es erfordert aber auch ein entschlossenes Vorgehen von Betriebsräten und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten beim Thema „Ständige Verfügbarkeit“. Die regelmäßige Information der Belegschaft, der Einbezug der Beschäftigten sollte gerade beim zunehmenden Leistungsdruck im Betrieb fester Bestandteil der Betriebsratsarbeit sein. In der digitalen Arbeitswelt wird das wichtiger denn je.

Marcus Schwarzbach, Berater für Betriebsräte

Nähere Informationen bieten:

„Ausgeträumt? Demokratie & Internet“, report 105 >> weiter.

„Digitale Arbeit und Industrie 4.0“, report 106 >> weiter.

pin_green.gifLesetipps:

„Cloudworker - ein Modell mit Risiken und Nebenwirkungen“, 16.07.2014 von Prof. Dr. Christian Scholz und Dr. Stefanie  Müller >> weiter.

„Crowdsourcing und Cloudworking: Schöne neue Arbeitswelt“, 13. August 2012 von Tomasz Konicz >> weiter.

„Cloudworking und die Zukunft der Arbeit - Kritische Analysen am Beispiel der Strategie „Generation Open“ von IBM, Studie >> weiter. (PDF)

„Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus“ von Simon Schaupp; Verlag Graswurzelrevolution >> weiter.



Quelle: Erstveröffentlicht am 22.08.2017 bei isw-München >> Artikel.

Mehr Informationen und Fragen zur isw:

isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.

Johann-von-Werth-Straße 3, 80639 München

Fon 089 – 13 00 41
Fax 089 – 16 89 415

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www.isw-muenchen.de  /  https://www.facebook.com/iswmuenchen



Infos über Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. :

Im Juni 1990 haben kritische Wirtschafts- und SozialwissenschaftlerInnen zusammen mit GewerkschafterInnen in München das isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. gegründet. Seitdem haben wir fast zweihundert Studien und Berichte veröffentlicht.

 Das isw versteht sich als Wirtschaftsforschungs-Institut, das alternativ zum neoliberalen Mainstream Analysen, Argumente und Fakten für die wissenschaftliche und soziale Auseinandersetzung anbietet. Unsere Themen und Forschungen beziehen sich deshalb in besonderem Maß auf die "Bedürfnisse" von Gewerkschaften und von sozialen, ökologischen und Friedensbewegungen. Unser Anspruch ist, Wissenschaft in verständlicher Form darzustellen und anschaulich aufzubereiten. Deshalb sind isw-Ausarbeitungen auch besonders geeignet für Unterricht und Schulungsarbeit und als Grundlage für Referate und Diskussionen. Die Mehrheit unserer LeserInnen, AbonnentInnen und Förder-Mitglieder sind Menschen, die sich in Bewegungen und Gewerkschaften engagieren.

  • Im Zentrum unserer wissenschaftlichen Analysen und Forschungsarbeit stehen Fragen und Probleme der Globalisierung, der Bewegung des transnationalen Kapitals, der Rolle und Wirkungen der Multis und transnationalen Institutionen (IWF, WTO, OECD, G7, etc).
  • Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt bilden Verteilungsfragen: Einkommens- und Vermögensverteilung, Interdependenz von privatem / gesellschaftlichem Reichtum und Armut.
  • Im Rahmen der Friedensforschung befassen wir uns mit Aspekten der Rüstungsökonomie (z.B. Konzentration in der Rüstungsindustrie), der Militärstrategie und Auswirkungen von Rüstung und Krieg.
  • Im ökologischen Bereich konzentrieren wir uns auf Fragen der Energiewirtschaft und -konzerne.
  • Schließlich beschäftigen wir uns kontinuierlich mit Untersuchungen zur Entwicklung der Sozialsysteme, der Konjunktur- und zyklischen Entwicklung der Weltwirtschaft.

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Bild- u. Grafikquellen:

1. Technology: Die Digitalisierung verändert das Denken. Das Internet verändert unseren Alltag – manche Zeitgenossen sind gar nicht mehr offline. Grafik: jejimenezlc / Jesus, Monterrey/Mexico. Quelle: Pixabay. Alle bereitgestellten Bilder und Videos auf Pixabay sind gemeinfrei (Public Domain) entsprechend der Verzichtserklärung Creative Commons CC0. Das Bild unterliegt damit keinem Kopierrecht und kann - verändert oder unverändert - kostenlos für kommerzielle und nicht kommerzielle Anwendungen in digitaler oder gedruckter Form ohne Bildnachweis oder Quellenangabe verwendet werden. 

2. Buchcover: "Work around the clock? Industrie 4.0, die Zukunft der Arbeit und die Gewerkschaften" von Marcus Schwarzbach; PapyRossa Verlag, Feb. 2016; 978-3-89438-610-8;

Digitale Arbeit bestimmt zunehmend die Unternehmensstrategien. Crowdworking, mobile Arbeit und ständige Erreichbarkeit setzen die Beschäftigten unter Druck. Industrie 4.0 ist keine ­Science-Fiction aus dem Labor. Sie hält längst Einzug in die Betriebe. Großunternehmen haben sich mit der Wissenschaft zusammengeschlossen, die Bundesregierung fördert dies mit Millionenbeträgen. Ziel ist die Flexibilisierung der Produktion auf Basis neuester Informationstechnologien: Die Fertigungsketten sollen in kleine, wie Bausteine kombinierbare Einheiten aufgeteilt werden, die alle über ein Netzwerk miteinander verbunden sind.

In Sekundenbruchteilen tauschen sie Daten über aktuelle Aufgaben, anstehende Aufträge und vorhandene Kapazitäten aus. Technik kann zur Vorbereitung, Ausführung und Entscheidungsunterstützung dienen - sie kann aber auch vorbestimmte Arbeitsweisen aufzwingen und Anpassung einfordern. Letztendlich stellt sich die Frage: Entscheidet der Roboter oder der Mensch? Um welche Herausforderungen es hier geht, zeigt dieser Band. (Klappentext)

Marcus Schwarzbach, Berater für Betriebsräte in Kassel, führt Schulungen für Betriebsräte durch, schreibt für Fachzeitschriften wie Arbeitsrecht im Betrieb oder Computer und Arbeit, Autor verschiedener Ratgeber für Betriebsräte. >> Kontakt:

 
br-beratung-schwarzbach@web.de

Inhalt:

Wir nannten es Freizeit? - Vorbemerkungen . . . . . . . . . . 7

1. Arbeiten im digitalen Zeitalter - Bisherige Erfahrungen . . . . . . . . . . 11

1.1 Industrie 4.0 . . . . . . . . . . 16

1.2 Die Nutzung mobiler Kommunikationstechnik im Betrieb wird zunehmen . . . . . . . . . . 25

1.3 Digitale Arbeit . . . . . . . . . . 27

1.4 Erste Einschätzung: Was bedeutet digitales Arbeiten für die Beschäftigten? . . . . . . . . . . 33

2. Die Zukunft ist heute - Die digitale Arbeit aus Sicht der Beschäftigten . . . . . . . . . . 39

2.1 Trennung von Arbeit und Privatleben in Gefahr . . . . . . . . . . 39

2.2 Cloud Computing . . . . . . . . . . 40

2.3 Praxisbeispiel: Betriebsrat geht gegen grenzenloses Arbeiten vor . . . . . . . . . . 43

2.4 Schlussfolgerungen: Einbeziehung der Arbeitnehmer bei digitaler Arbeit besonders wichtig . . . . . . . . . . 48

2.5 Der flexible Mensch – Unternehmenssteuerung der Zukunft . . . . . . . . . . 49

2.6 Wie stellen sich Unternehmen die digitale Arbeit vor? . . . . . . . . . . 57

3. Forderungen an die Zukunft - Wie kann die Arbeit 4.0 gestaltet werden? . . . . . . . . . . 63

3.1 Crowdsourcing – die modernen Clickarbeiter . . . . . . . . . . 64

3.2 Gute digitale Arbeit – Regelungen durch Betriebsräte und Gewerkschaften . . . . . . . . . . 68

3.3 Arbeitsplatzsicherung – Maschine statt Mensch? . . . . . . . . . . 72

3.4 Arbeitszeit – Pflicht zu »Arbeit on demand«? . . . . . . . . . . 78

3.5 Arbeitsbedingungen – Maschine steuert Mensch? . . . . . . . . . . 86

3.6 Lebenslanges Lernen – Wie wird qualifiziert für die digitale Arbeit? . . . . . . . . . . 98

4. Fight for your Rights - Wie können Gegenstrategien erfolgreich sein? . . . . . . . . . . 105

4.1 Strategien des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat . . . . . . . . . . 105

4.2 Wie erkennt der Betriebsrat Industrie 4.0? . . . . . . . . . . 106

4.3 Bildschirmarbeit als Teil digitaler Arbeit . . . . . . . . . . 107

4.4 Die vorausschauende Gefährdungsbeurteilung . . . . . . . . . . 110

4.5 Gewerkschaften, Betriebsräte und digitale Arbeit . . . . . . . . . . 112

4.6 Beteiligung der Arbeitnehmer durch Organizing . . . . . . . . . . 113

4.7 Tarifverträge zu digitaler Arbeit . . . . . . . . . . 118

4.8 Arbeitsbedingungen und digitale Arbeit . . . . . . . . . . 120

5. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . 123

6. Glossar . . . . . . . . . . 126

Quellennachweise . . . . . . . . . . 130

Literatur . . . . . . . . . . 137