Das Leben als Tafel-„Kunde“
Über die konkrete Lebenssituation armer Menschen in der Großstadt
von Laurenz Nurk, Dortmund
Die Idee der Tafeln ist ein fester Bestandteil der neoliberalen Politik und gleichzeitig ein billiges Konzept für die Abfallbeseitigung, denn schwerpunktmäßig sind die Produkte der Tafeln Waren, deren Verfallsdatum erreicht oder überschritten ist und die deshalb nicht mehr verkauft werden dürfen. Da ist die Entsorgung durch Abgabe an die Tafeln billiger als eine kostenpflichtige Entsorgung auf den Müll. Nicht einmal Transportkosten entstehen, weil die Tafeln die Lebensmittel [1] abholen.
Die Zahl der Menschen, die sich Lebensmittel bei den 940 Tafeln in Deutschland abholen, steigt seit Jahren kontinuierlich an. Im Jahr 2019 ist sie um 10 Prozent auf 1,65 Millionen Menschen angestiegen, zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Seit Beginn der „Tafelbewegung“, die durch die großen weltweit tätigen Unternehmensberatungen ins Leben gerufen wurde, haben die staatlichen Stellen die Institutionalisierung der Tafeln kräftig gefördert, auch um die Leistungsbemessung für die Zahlungen gemäß dem Sozialgesetzbuch II / Hartz-IV möglichst gering halten zu können.
McKinsey, die weltweite Unternehmensberatung, hat mittlerweile sehr viel Erfahrung mit dem Sozialsystem in Deutschland. Sie ist auch für die Entlassung Hunderttausender verantwortlich, die in dem von ihr beratenden Unternehmen beschäftigt waren. Auch hat McKinsey maßgeblich am Hartz-Konzept mitgewirkt und war Mitglied der Hartz-Kommission.
Der Leitspruch lautet dabei immer, dass Sozialleistungen und Unternehmenssteuern abgebaut werden müssen.
► Tafeln als Ergebnis einer verfehlten Sozialpolitik
Sozialpolitisch gesehen ist dieses flächendeckende Tafelangebot äußerst problematisch, da
• mit der Ausgabe von Lebensmitteln Armut gelindert werden kann, aber die Armut und deren Ursachen können so nicht beseitigt werden,
• die Tafeln als Nothilfe den Druck auf die Politik reduzieren, die Ursachen der Armut zu reduzieren,
• es verhindert, dass eine armutsfreie, bedarfsgerechte und existenzsichernde Mindestsicherung gewährleistet ist, die die Tafeln und andere mildtätige Angebote in Zukunft überflüssig macht,
• sie nur reine Überlebenshilfe und Notversorgung leisten, verhindern sie eine Befähigung, den Bedürftigen verfügbare Handlungsperspektiven zu eröffnen, die über die Linderung der akuten Not hinauswirken,
• die Tafelarbeit in der Medienberichterstattung und Öffentlichkeit als genügende Absicherung gegen Armut erscheint, ihre flächendeckende Ausbreitung den Eindruck eines kompletten und ausreichenden Hilfsangebots vermittelt, das in der Realität aber nur einen Bruchteil der Bedürftigen erreicht und die eigentliche Armutsbekämpfung in den Hintergrund treten lässt,
• es die Menschen bremst, für Bedingungen einzutreten, die den „Befähigungsgedanken“‘ in den Mittelpunkt stellen und den Anspruch des Sozialgesetzbuches auf „selbstbestimmte Teilhabe“ unterstützt,
• das eingetreten ist, was Vordenker der Tafelbewegung sich wünschten, nämlich, dass sich der Staat mit Hinweis auf die Bürgergesellschaft aus der Daseinsvorsorge seiner Bürger sukzessive zurückgezogen hat und sich weiter zurückziehen wird,
• der Staat als Reaktion auf die Hilfe durch die Tafeln seine Mittel kürzt, weil z.B. § 9 SGB I sagt: „Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert. Hierbei müssen Leistungsberechtigte nach ihren Kräften mitwirken“,
• der Bestand und Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme und die Etablierung der beruflichen, fachlich qualifizierten Sozialen Arbeit die Abschaffung von mildtätigen, auf Zufall beruhenden Gaben und einhergehenden Abhängigkeiten für bedürftige Menschen voraussetzt. Den zufälligen möglichen Hilfeleistungen müssen individuelle Rechte entgegengestellt werden, die die Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder sichern,
• dadurch, dass Kosten für Lebensmittel eingespart werden können, ermöglichen Tafeln Bedürftigen den entgeltlichen Konsum von Waren, die eigentlich im Warenkorb berücksichtigt sein müssten. Der sog. Warenkorb wird für die Bestimmung der Regelsatzhöhe herangezogen,
• laut dem Bundesverband Deutsche Tafel e.V. von den ca. 9 Millionen Menschen, die in Deutschland auf Sozialleistungen angewiesen sind, rund 1 Million zur Tafel gehen. Die Tafeln sehen diese 8 Millionen Menschen als „unausgeschöpftes Potenzial“ an und betreiben entsprechende Akquise. Die „Kundenbindung“ bei Tafeln dient alleine der Aufrechterhaltung der Bedürftigkeit und ist das Gegenteil von einer strukturellen Armutsbekämpfung,
• anstelle an einer Abschaffung der Armut mitzuarbeiten, beteiligen sich die Tafeln an einer Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Arme, die langen Schlange vor den Ausgabestellen signalisieren allen Menschen, dass unser Sozialsystem so etwas zulässt und man selbst schnell zum Tafelnutzer werden kann und dann zu „denen“ gehört
und der große Zulauf zu den Tafeln das Zeichen einer verfehlten Sozialpolitik überhaupt ist. Eine Sozialpolitik, die es zu verantworten hat, dass große Teile unserer Gesellschaft von einer gleichberechtigten Teilhabe ausschlossen werden, diese Menschen materiell kurzhält und dann noch mit dem Sozialgesetzbuch II permanent bevormundet, erniedrigt und sanktioniert.
► Leben als Tafel-„Kunde“
Einen Einblick in die Praxis der Tafelarbeit bekommt man aber, wenn die Nutzer der Tafel zu Wort kommen. Dann ist zu hören, dass
• es etwas ganz Anderes ist, als im Supermarkt einkaufen zu gehen,
• die Menschen meistens in der Warteschlange anstehen müssen, mal eine halbe Stunde, mal bis zu zweieinhalb Stunden lang, dabei kann es vorkommen, dass sie im Regen stehen oder zur Toilette müssen,
• die Reihenfolge mit Nummern geregelt wird,
• wenn die Tafel-Besucher dann an die Reihe kommen, sie nicht selbst auswählen dürfen, sondern sie von den Helfern Nahrungsmittel in die Tasche gepackt bekommen,
• die Ware wird in die Tasche reingeworfen wird, man kann sie nicht anschauen oder Fragen stellen,
• manchmal Waren dabei sind, die die Kunden aus gesundheitlichen Gründen nicht essen können,
• es oft 3 Wochen lang nur die gleiche Gemüsesorte gibt,
• die ehrenamtlichen Tafelhelfer oft als reserviert und unfreundlich beschrieben werden,
• die Helfer auch bestimmen können, wer wie viele Lebensmittel erhält,
• von den Nutzern „Bescheidenheit und Demut“ erwartet wird,
• sie in eine passive und ohnmächtige Rolle hineinkommen,
• sie sich beschämt fühlen,
• die „Bedürftigkeitsprüfung“ schamvoll ist, die Nutzer müssen ihren Hartz-IV- oder Rentenbescheid vorlegen, um Essen zu bekommen
und dass jeder sich darüber im Klaren ist, dass es sich dabei um eine freundliche Gabe handelt, die auch ausbleiben kann.
Erstaunlich ist, dass so eine Bewegung wie die Tafelbewegung mithilfe einer Unternehmensberatungsfirma flächendeckend gewachsen ist. Über die Medien hochgejubelt, wurde auch suggeriert, dass jedem, dem es nicht gut geht, zur Not doch die Tafel nutzen kann und er mit „durchgefüttert“ wird. Die hohe Akzeptanz der Tafeln in der Bevölkerung ist das Ergebnis einer Mission, die den Sozialstaat vorführen wollte um „Sozialromantiker“, die für den Sozialstaat eintreten, zu diskreditieren.
Würde der Staat, vertreten durch die Parlamente im Bund und in den Bundesländern das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ernst nehmen, müsste er durch seine Gesetzgebung dafür sorgen, dass es Lebensmittelspenden an Bedürftige durch zivilgesellschaftliche Organisationen und Wohlfahrtsverbände nicht geben muss.
Laurenz Nurk, Dortmund (Quellen: WAZ, WDR, Tafel Deutschland e. V., SGB)
[1] Anmerkung von Helmut Schnug: Der Begriff "Lebensmitteltafeln" ist in allg. Gebrauch und man denkt, man verteile dort nur Lebensmittel an Bedürftige. In Wirklichkeit sind die meisten dort ausgegebenen Produkte aber gesundheitsschädliche, zuckerhaltige, palmfetthaltige oder mit minderwertigen Auszugsmehlen industriell hergestellte "Nahrungsmittel", KEINE echten "Lebensmittel". Wer denkt, die Unterscheidung sei reine Wortglauberei, sollte diesen Artikel lesen: "Nahrungsmittel = Lebensmittel ?" >> weiter.
► Quelle: Erstveröffentlicht am 18. Juli 2020 auf gewerkschaftsforum-do.de >> Artikel. Die Texte (nicht aber Grafiken und Bilder) auf gewerkschaftsforum-do.de unterliegen der Creative Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 3.0 DE), soweit nicht anders vermerkt.
ACHTUNG: Die Bilder und Grafiken sind nicht Bestandteil der Originalveröffentlichung und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. folgende Kriterien oder Lizenzen, s.u.. Grünfärbung von Zitaten im Artikel und einige zusätzliche Verlinkungen wurden ebenfalls von H.S. als Anreicherung gesetzt.
► Bild- und Grafikquellen:
1. Warnung: Leute, kauft Euch dringend solche Kämme. Uns stehen verdammt lausige Zeiten bevor! Foto ohne Textinlet: J. Gerndt - pixelio.de. Bildbearbeitung (Text): Helmut Schnug, Illerich.
2. Buchcover: "Leitfaden Alg II / Sozialhilfe von A-Z". 30. Auflage, Februar 2019, Herausgeber: Harald Thomé u.a.; Verlag: Digitaler Vervielfältigungs- und VerlagsService, Frankfurt/M. (DVS); Kt., 798 Seiten, ISBN 978-3-932246-67-8; Preis: 16,50 € inkl. Versandkosten. >> http://www.dvs-buch.de/ .
3. Butterwegge-Zitat: "Als Hartz IV am 1. Januar 2005 in Kraft trat, da schossen die Tafeln wie Pilze aus dem Boden. Die Lebensmitteltafeln sind ursprünglich entstanden in den 90er-Jahren, um Obdachlose zu verpflegen. Nun haben wir inzwischen 860.000 Wohnungslose und 52.000 Obdachlose in Deutschland. Wir haben aber eben auch immer noch sechs Millionen Hartz-IV-Betroffene." (Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und Armutsforscher). Foto o. Textinlet: © Christoph Butterwegge. Quelle: www.christophbutterwegge.de/ . >> Originalfoto. Bildbearbeitung: Wilfried Kahrs nach einer Idee von KN-ADMIN Helmut Schnug.
4. "SPD - WIR haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt" - Gerhard Schröder, ex Bundeskanzler. Grafik: Elias Schwerdtfeger. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-NC-SA 2.0).
5. Die verzichten müssen, die Obdachlosen, gehören zu den Stigmatisierten der Gesellschaft, zu den Outcasts, den absoluten Verlierern. Die tiefe Inhumanität einer Gesellschaft dokumentiert sich an ihnen. Obdachlosigkeit ist also nicht zu verwalten sondern schlicht abzuschaffen. Auch Nutzer der Tafeln kennen das Gefühl der Ausgrenzung, Stigmatisierung, Entwürdigung und empfinden das neoliberal-verseuchte Agenda als paternalistischen Übergriff und Re-Feudalisierung. Foto: Jackie_Chance. Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.
6. Buchcover: "Leitfaden Alg II / Sozialhilfe von A-Z". 30. Auflage, Februar 2019, Herausgeber: Harald Thomé u.a.; Verlag: Digitaler Vervielfältigungs- und VerlagsService, Frankfurt/M. (DVS); 798 Seiten, ISBN 978-3-932246-67-8; Preis: 16,50 € inkl. Versandk. >> http://www.dvs-buch.de/ .
Inhalt:
Die 30. Auflage des bekannten "Standardwerks für Arbeitslosengeld II-Empfänger" (Spiegel 43/2005) ist im Februar 2019 erschienen. Der Leitfaden wird vom Autorenteam rund um Harald Thomé vom Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles e.V. in Wuppertal herausgegeben. Der Verein Tacheles hat das Ratgeberprojekt für Leistungsbeziehende, Berater/-innen und Mitarbeiter/-innen in sozialen Berufen aufgrund der Pensionierung von Prof. Rainer Roth von der AG TuWas übernommen.
Der Ratgeber beruht auf vielen Jahren Beratungs- und Schulungspraxis und einem bewährten Konzept, das im Laufe von 35 Jahren "Leitfadenarbeit" entwickelt wurde. Er stellt zugleich mit den Regelungen des Arbeitslosengelds II auch die Regelungen der Sozialhilfe und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung dar. Als einziger umfassender Ratgeber für das SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) und das SGB XII (Sozialhilfe) ist er deswegen für Beratungszwecke und als Nachschlagewerk sowohl für Rechtsanwender als auch für Laien besonders geeignet.
Im ersten Teil werden in 91 Stichworten alle Leistungen ausführlich in übersichtlicher und bewährt verständlicher Form erläutert. Der zweite Teil behandelt in 34 Stichworten, wie Betroffene ihre Ansprüche durchsetzen und sich erfolgreich gegen die Behörde wehren können.
Die Rechtsprechung und Gesetzgebung sind mit Stand vom Februar 2019 eingearbeitet und kritisch kommentiert. Auch der Blick auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit, ihre sozialen und wirtschaftlichen Ursachen und die Zielsetzung aktueller Sozialgesetzgebung fehlt nicht.
Die Autoren wollen mit diesem Leitfaden BezieherInnen von Sozialleistungen dazu ermutigen, ihre Rechte offensiv durchzusetzen und sich gegen die fortschreitende Entrechtung und die Zumutungen der Alg II-Behörden zu wehren. Sie wollen dazu beitragen, dass sie bei SozialberaterInnen, MitarbeiterInnen der Sozial- und Wohlfahrtsverbände sowie Anwältinnen und Anwälten fachliche und parteiische Unterstützung für die rechtliche Gegenwehr erhalten, die dringend benötigt wird. Jäger und Thomé empfehlen Erwerbslosen, sich lokal zu organisieren und gemeinsam ihre Interessen zu vertreten. Um dem zunehmenden Abbau der sozialen Sicherung und der damit einhergehenden Ausweitung von Niedriglohn und schlechten Arbeitsbedingungen zu begegnen, treten sie dafür ein, dass solidarische Bündnisse zwischen Erwerbslosen, Beschäftigten und anderen vom Sozialabbau betroffenen Gruppen geschmiedet werden, die dem Sozialabbau und Lohndumping den Kampf ansagen.
Die Autoren üben detaillierte Kritik an der Höhe des Existenzminimums oder der rechtswidrigen Ausdehnung von Unterhaltsverpflichtungen. Sie decken die leeren Versprechungen der Politik auf, die vorgeben, die Verschärfung des Sozialrechts würde Langzeitarbeitslosen bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt verschaffen.
Gerade weil sich die Behörden immer rigider über geltendes Recht hinwegsetzen, ist dieser Leitfaden nötiger denn je. (Quelle: Verlagstext! >> http://www.dvs-buch.de/.)