Kein Wohlstand für alle!? - Rezension des Buches von Ulrich Schneider

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Kein Wohlstand für alle!? - Rezension des Buches von Ulrich Schneider
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„Kein Wohlstand für alle!?“

Rezension des Buches von Ulrich Schneider (Der Paritätische)

von Thomas Trares

ulrich_schneider_kein_wohlstand_fuer_alle_wie_sich_deutschland_selber_zerlegt_kritisches_netzwerk_armut_neoliberalismus_paritaetischer_wohlfahrtsverband_soziale_gerechtigkeit.jpgWohlstand für Alle“ heißt Ludwig Erhards 1957 erschienenes Buch. Dass es mit dieser Leitidee des früheren Bundeswirtschaftsministers 60 Jahre später nicht so weit her ist, kann man nun in Ulrich Schneiders neuem Buch „Kein Wohlstand für alle!?Wie sich Deutschland zerlegt und was wir dagegen tun können“ nachlesen . Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes beschäftigt sich darin einmal mehr mit der sozialen Spaltung in Deutschland, er zeigt Ausmaß und Ursachen auf und skizziert Lösungsvorschläge. Das Buch ist nun beim Westend Verlag erschienen, die Vorstellung fand bereits Ende Januar in dem kleinen, aber feinen Buchhändlerkeller in Berlin-Charlottenburg statt.

Präsentiert hat das Werk der Kölner Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge [weiterführende KN-Artikel hier und hier], der in diesem Jahr auf Vorschlag der Linken für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert[e]. „Das Buch kontrastiert zu Merkels ´Deutschland geht es gut´. Es trägt dazu bei, die Augen zu öffnen“, sagte Butterwegge. In Schneider sieht er einen „Anwalt der sozial Benachteiligten und Unterprivilegierten“. Wichtig sei, dass jemand Partei für die Armen ergreift, da diese dies in der Regel nicht selbst tun könnten.

Liest man das Buch, dann merkt man sehr schnell, dass es Schneider nicht nur um die gut 15 Prozent der Bevölkerung geht, die in Deutschland als arm gelten, sondern auch um jene rund 40 Prozent der Bevölkerung, die von der „Hand in den Mund“ leben, weil sie keine Ersparnisse bilden können, um die Leiharbeiter mit befristeten Arbeitsverträgen oder all jene mit brüchiger Erwerbsbiographie, die später einmal von Altersarmut bedroht sind. Schneider sieht das Land aber nicht nur sozial, sondern auch regional gespalten. „Es gibt mittlerweile Regionen wie Bremerhaven oder Gelsenkirchen mit Hartz-IV-Quoten unter den Kindern von über 40 Prozent – eigentlich unvorstellbar“, schreibt er.

Die zunehmende soziale Ungleichheit ist freilich kein Zufall, sondern „ins Werk gesetzt von Lobbyisten“. Diese hätten den „sukzessiven Rückzug des Staates aus seiner sozialstaatlichen Verantwortung“ vorangetrieben. Den Startpunkt dieser Entwicklung sieht Schneider Anfang der 80er Jahre in der Angebotspolitik des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, die 1998 von SPD und Grünen nicht nur nahtlos fortgesetzt, sondern sogar noch forciert werden sollte. „Die Antwort der rot-grünen Bundesregierung fiel nach mittlerweile bekanntem angebotspolitischem Muster aus – nur viel brachialer als unter Helmut Kohl“, schreibt Schneider. Er zählt auf: die Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 42 Prozent, die Senkung der Körperschaftsteuer, die Steuerbefreiung beim Verkauf von Unternehmensbeteiligungen, die Demontage der gesetzlichen Rente, die Agenda 2010.

Es ist keine Übertreibung, sondern eine ganz nüchterne Feststellung: Es war der wohl radikalste und enthemmteste Eingriff in die bundesdeutsche Sozialstaatlichkeit seit Bestehen der Bundesrepublik. Tradierte sozialstaatliche Prinzipen wurden einfach beendet“, stellt Schneider fest. Auch unter den nachfolgenden Regierungen hat sich an dieser Politik nichts Grundlegendes geändert. Unter dem Strich wandelte sich so im Laufe der Jahre eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, wie sie der Soziologe Helmut Schelsky für die sechziger Jahre der Bundesrepublik feststellte, in eine sozial gespaltene.

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Verantwortlich für all dies macht Schneider den Siegeszug der neoliberalen Ideologie. „Neoliberale Denkschablonen und A-priori-Gewissheiten haben sich durchgesetzt“, konstatiert er. Von dem neoliberalen Virus wurden freilich auch die Sozialdemokraten infiziert. „Es gibt keine rechte oder linke Wirtschaftspolitik, sondern nur noch eine richtige oder falsche!“, verkündete Altbundeskanzler Gerhard Schröder Anfang dereinst. Schneider sieht darin einen „Schlüsselsatz“ jener Zeit: „Das neoliberale Argument, wonach sich Interessengegensätze bei rationaler ökonomischer Betrachtung ohnehin im gemeinsamen Trachten nach größtmöglicher Rendite deutscher Unternehmen weitestgehend auflösen müssten, fand in Schröders radikalem Pragmatismus die perfekte politische Vermarktung.

Schneider will nun die neoliberalen Denkmuster aufbrechen und fordert eine Restauration des Sozialstaats, dessen Kernelement die Wiederbelebung der gesetzlichen Rente sein soll. „Ist das Herzstück des deutschen Sozialstaates seine Sozialversicherung, so ist das Herzstück der Sozialversicherung die gesetzliche Rente. Die Konsequenz kann nur sein: Abschaffung der Riester-Förderung und der Förderung der betrieblichen Altersversorgung, stattdessen die Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung.“ Als Vorbild dient ihm dabei die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) der Schweiz.

Ferner fordert er, die Altersgrundsicherung auszubauen, die Arbeitslosenversicherung „armutsfest“ zu machen, die Regelsätze bei Hartz IV zu erhöhen und gleichzeitig die Sanktionen abzuschaffen, das Kindergeld zu erhöhen und die kommunale Infrastruktur auszubauen. Denn die „erschwinglichen oder sogar kostenfreien Angebote der Kommunen und der vielen Verbände, Vereine und Initiativen sind von ganz enormer Bedeutung für die Lebensqualität und Teilhabe“.

Flankiert werden soll all dies von einer solidarischen und gerechten Steuerpolitik, die die notwendigen Mittel für die geforderte Restauration des Sozialstaats beschafft.

Dem bedingungslosen Grundeinkommen steht Schneider hingegen skeptisch gegenüber. Zwar hält er die Idee für sympathisch, weil sie „ganz anders als das misanthropische Hartz IV, von einem sehr positiven Menschenbild ausgeht“, allerdings sieht er in dem Ganzen derzeit nicht mehr als ein „Modell vom Reißbrett“.

Vieles von dem, was Ulrich Schneider in seinem Buch vorträgt, wird dem Leser bereits aus der allgemeinen öffentlichen Diskussion bekannt vorkommen. Der Verdienst Schneiders ist es jedoch, all die einzelnen Punkte zusammenzufügen und die Grundlinien der Entwicklung dem Leser noch einmal vor Augen zu führen. Zudem macht Schneider deutlich, dass eine andere Sozialpolitik jenseits des neoliberalen Dogmas möglich und machbar ist.

Auch ist das Buch in einer klaren und deutlichen Sprache gehalten. Oder wie sagte Christoph Butterwegge noch einmal bei der Präsentation? „Das Buch ist verständlich und leicht lesbar, populärwissenschaftlich und informativ.“ Recht hat der Mann!

Thomas Trares
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Thomas Trares ist Diplom-Volkswirt. Studiert hat er an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Danach war er Redakteur bei der Nachrichtenagentur vwd. Seit über zehn Jahren arbeitet er als freier Wirtschaftsjournalist in Berlin.



Quelle: Dieser Text erschien zuerst am 07. Februar 2017 auf den „NachDenkSeiten – die kritische Website“ > Artikel.

Der Text ist für nichtkommerzielle Zwecke nutzbar, wenn die Quelle genannt wird. Er steht unter Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial.

Lesetipp: 

"Kein Wohlstand für alle!? Wie sich Deutschland selber zerlegt und was wir dagegen tun können" von Ulrich Schneider. ISBN 978-3-86489-161-8. Westend Verlag. VK 18,00 €. Erscheinungstermin: 01.02.2017. Auch als eBook erhältlich.

Deutschland fällt auseinander

„Wohlstand für alle“ lautet seit Ludwig Erhard das zentrale Versprechen aller Regierungen. Tatsächlich jedoch werden seit Jahrzehnten die Reichen immer reicher, während immer größere Teile der Mittelschicht abgehängt werden und von der Hand in den Mund leben müssen. Deutschland fällt auseinander – sozial, regional und politisch. Von gleichwertigen Lebensverhältnissen für alle kann längst keine Rede mehr sein. Das ist weder Zufall noch Schicksal, sondern das Ergebnis einer Politik, die sich immer stärker einem modernen Neoliberalismus verpflichtet sieht.

Als Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes weiß Ulrich Schneider genau wovon er spricht. Schonungslos dokumentiert er, wie es um die soziale Gerechtigkeit und den gesellschaftlichen Konsens in Deutschland wirklich bestellt ist. Und er stellt die wesentlichen Fragen: Wie es möglich ist, dass in einer Demokratie eine Politik Mehrheiten finden konnte, die wenige Reiche privilegiert, aber breite Bevölkerungsschichten benachteiligt, und die damit für immer größere Ungleichheit und Ungerechtigkeit sorgt? Schneider ist überzeugt: Es geht auch anders. Er zeigt, wo Sozial- und Steuerreformen ansetzen müssen, um den Wohlstand gerecht zu verteilen und die soziale Einheit dieses Land wieder herzustellen. (Klappentext)

Einleitung: Worum es geht  . . . . . . . . . . . .  9

Teil 1:

Wie sich Deutschland zerlegt . . . . . . . . . . . . 17

Ein kalter Wind – von der Vereinigung zum Neoliberalismus  . . . . . . . . . . . . 17

Einmal arm, immer arm – das Neue an der Armut  . . . . . . . . . . . .  21

Soziale Zerrissenheit – die Opfer des Neoliberalismus  . . . . . . . . . . . .  29

Die tief zerklüftete Republik – regionale Zerrissenheit  . . . . . . . . . . . .  36

Wer hat, dem wird gegeben – neoliberale Armutsbekämpfung  . . . . . . . . . . . .  40

1980 bis 2017 – vom Rückzug des Staates aus der »Gleichheitspolitik«  . . . . . . . . . . . .  45

Widersprüche – von den Mühen der Ebenen und dem Schweiß der Edlen  . . . . . . . . . . . .  54

Abgehängt und abgehoben – die Superreichen und der Rest  . . . . . . . . . . . .  63

Unsicherheiten – von Staatsreligionen, Häretikern und schlichtem Unglauben  . . . . . . . . . . . .  70

Teil 2:

Warum wir es zulassen  . . . . . . . . . . . .  81

Homo oeconomicus – von der Universalität des Neoliberalismus  . . . . . . . . . . . .  83

Die Gunst der Stunde – von neoliberalen Frontmännern und einer rührigen Initiative  . . . . . . . . . . . .  89

Alle einer Meinung – vom Turnaround der Sozialdemokratie und dem Verschwinden der Opposition  . . . . . . . . . . . .  95

Totalitäre Argumente – von neuer Sachlichkeit und alternativloser Politik  . . . . . . . . . . . .  99

Die Natur der Dinge – von Gepflogenheiten und Selbstverständlichkeiten  . . . . . . . . . . . .  106

Wörter sind wichtig – von Ideologen, Gutmenschen und Sozialneidern  . . . . . . . . . . . .  109

Gleichwürdigkeit – von Leistungslügen und dem Recht auf Rechtfertigung  . . . . . . . . . . . .  117

Teil 3:

Was wir dagegen tun können  . . . . . . . . . . . .  127

Das Schuldendogma – von schuldigen Gläubigern und schuldlosen Schuldnern  . . . . . . . . . . . .  127

Das Wettbewerbsdogma – von Gewinnern, Verlierern und Analneurotikern  . . . . . . . . . . . .  134

Schröder lag falsch – von linker und von rechter Politik  . . . . . . . . . . . .  143

Versuchen wir das Unmögliche, aber bleiben wir realistisch – von Mentalitäten und der Restauration unseres Sicherungssystems  . . . . . . . . . . . .  149

Eine Kasse für alle – für eine starke gesetzliche Rentenversicherung  . . . . . . . . . . . .  157

»Alles aus einer Hand« – für eine würdige Grundsicherung im Alter  . . . . . . . . . . . .  165

Damit Beiträge Sinn ergeben – für eine armutsfeste Arbeitslosenversicherung  . . . . . . . . . . . .  168

Wie viel braucht der Mensch? – für eine neues, transparentes Verfahren zur Bestimmung der Regelsätze  . . . . . . . . . . . .  172

Weil es ein Recht auf Arbeit gibt – Hilfe statt Sanktionen  . . . . . . . . . . . .  178

Weil jedes Kind gleich viel wert ist – für einen solidarischen Familienlastenausgleich  . . . . . . . . . . . .  184

Lebensstandort statt Wirtschaftsstandort – für eine gute kommunale Infrastruktur  . . . . . . . . . . . .  188

Umverteilen geht – für eine solidarische und gerechte Steuerpolitik  . . . . . . . . . . . .  192

Dann lasst uns mal drehen – die Steuerschrauben  . . . . . . . . . . . .  199

Gier hat keinerlei Nutzen – für nichts und niemanden  . . . . . . . . . . . .  213

Anmerkungen  . . . . . . . . . . . .  215



Bild- und Grafikquellen:

1. "Kein Wohlstand für alle!? Wie sich Deutschland selber zerlegt und was wir dagegen tun können" von Ulrich Schneider. ISBN 978-3-86489-161-8. Westend Verlag. VK 18,00 €. Erscheinungstermin: 01.02.2017. Auch als eBook erhältlich.

2. NEOLIBERALIMUS - Die räuberischste asoziale Phase unmenschlicher Entwicklung. NEOLIBERALISM - the predatory phase of (un)human development!  Turbokapitalismus, Raubtierkapitalismus, Killerkapitalismus, Casino-Kapitalismus etc. - alles letztlich verwirrende und nicht zielführende Versuche, das zu beschreiben, was längst einen Namen hat: Neoliberalismus - bzw. Marktradikalismus. Grafik: Wilfried Kahrs (WiKa).

3. Gerhard Schröder - SPD-Wahlplakat 2005, leicht modifiziert mit Protest gegen die Hartz-IV-Gesetze. Fotograf: © Diplomsoziologe / Dr. phil. Michael Westdickenberg, Berlin. Danke für die ausdrückliche Freigabe zur Veröffentlichung im KN. Die Bildrechte verbleiben beim Bildautor. Quelle: Flickr.

4. SPD-Würfel. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de.