Fast 200 Abgeordnete „stocken“ ihre Diäten mit Zusatzverdiensten auf
OBS-Studie bilanziert MdB-Nebentätigkeiten in der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages
von Sven Osterberg / Otto Brenner Stiftung
+++ OBS-Studie analysiert MdB-Zusatzjobs und schätzt Hinzuverdienste auf insgesamt knapp 38 Mio. Euro +++ „Aufstocker“ sind eine privilegierte Minderheit und ein besonderes Thema für die Union +++ Rechtsanwälte und Selbstständige verbinden häufig Mandat und Job +++ Stiftung sieht kein Transparenzproblem, sondern identifiziert ein Handlungsdefizit +++
Frankfurt am Main, den 2. August 2017 - Nebeneinkünfte, so ein zentraler Befund der aktuellen OBS-Untersuchung über „Aufstocker“ im Bundestag, sind das Problem einer privilegierten Minderheit von Abgeordneten, die überproportional aus der Unionsfraktion kommen. 193 von 655 Bundestagsabgeordneten der zu Ende gehenden 18. Wahlperiode geben an, „entgeltliche Tätigkeiten neben dem Mandat“ auszuüben.
OBS-Autor Sven Osterberg legt in der innovativen Expertise dar, dass die geschätzten 37,6 Millionen Euro Nebeneinkünfte, die in der 18. Wahlperiode erzielt wurden, zu etwa 80 Prozent von Mitgliedern der Union generiert wurden. Anwälte, so ein weiteres Ergebnis des soeben online veröffentlichten Arbeitspapieres der OBS, sind nicht nur die im Parlament überrepräsentierteste Berufsgruppe. Auch unter den „Aufstockern“, so eine weitere Erkenntnis der Untersuchung, bilden sie die größte Teilgruppe. Die vielfach aufgestellte Behauptung, Nebeneinkünfte seien ein Übergangsproblem, das sich im Laufe einer Legislaturperiode minimiere, wird durch einen Vergleich der Daten zu Beginn und am Ende der 18. Wahlperiode nicht bestätigt.
Im Gegenteil: Es zeigt sich, dass es einerseits vor allem Selbstständige und Anwälte sind, die auch als MdB neben dem Mandat diese Tätigkeiten fortsetzen. Und andererseits findet die These durch die OBS-Studie empirische Bestätigung, dass erst das Mandat neue Nebentätigkeiten und dann auch Nebeneinkünfte mit sich bringt. Autor und Stiftung stellen beim Vergleich mehrerer Legislaturperioden allerdings auch fest, dass die Zahl der Nebentätigkeiten und Funktionen neben dem Parlament insgesamt (gegen Entgelt oder ehrenamtlich) relativ konstant bleibt. Gleichzeitig konnte mit der vergleichenden Auswertung der Daten aber ebenfalls gezeigt werden, dass sich die Tätigkeitsfelder ändern: Die Zahl der Funktionen in Unternehmen hat zugenommen und geht zu Lasten der Vernetzung mit Vereinen, Verbänden und Stiftungen.
Diese Ergebnisse, die mittelfristige Trends bestätigen und eine relative Stabilität in der Entwicklung der beiden letzten Wahlperioden belegen, werfen für Autor Sven Osterberg die Frage auf, ob über neuerliche und wiederholte Forderungen nach mehr Transparenz weitere Erkenntnisse zu erzielen sind. Er ist mit der Stiftung der Auffassung, dass es inzwischen mit Blick auf Nebenverdienste und Nebeneinkünfte kein wirkliches Erkenntnisdefizit mehr gibt, sondern dass ein fundamentales Handlungsdefizit den eigentlichen Kern des Problems darstellt. „Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte der Abgeordneten“, so Jupp Legrand, Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung, „könnten längst enger gefasst sein und müssen endlich strenger reguliert werden“
Schon seit Jahren, so Autor und Stiftung, stellten sich die gleichen Fragen: Was sind gewünschte und zulässige Nebentätigkeiten? Was stellt ein Einfallstor für Lobbyisten dar? Warum gibt es keine Karenzzeiten für die verpflichtende Aufgabe von Beschäftigungsverhältnissen nach Eintritt in den deutschen Bundestag? Obwohl die Regelungen in einzelnen Punkten inzwischen verschärft wurden, verhindern sie aus Sicht von Osterberg nicht den Eindruck, „dass Parlament könne käuflich sein".
Angesichts verschärfter gesellschaftlicher Bedingungen im postfaktischen Zeitalter und vor dem Hintergrund rechtspopulistischer Enthemmungen, so OBS-Geschäftsführer Legrand, „ist dies ein Umstand, den sich weder eine kritische Zivilgesellschaft länger leisten kann noch auf Dauer ein verantwortungsvolles Parlament ertragen darf“.
Sven Osterberg / Otto Brenner Stiftung, 02. August 2017.
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Sven Osterberg, geboren 1971, arbeitet als Sozialwissenschaftler und Publizist in Berlin. Ausbildung zum Industrieelektroniker. Anschließend Studium der Soziologie, Politischen Wissenschaften und Sozialwissenschaften an der FU Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin. Gründungsmitglied und von 2006 bis 2015 Mitglied der Geschäftsführung des Netzwerks Nautilus Politikberatung. Tätig vor allem auf dem Gebiet der quantitativen und qualitativen Diskursanalyse.
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Quelle: Webseite der Otto Brenner Stiftung
"Aufstocker im Bundestag II – Bilanz der Nebenverdienste der Abgeordneten in der 18. Wahlperiode"
Das OBS- Arbeitspapier Nr. 26 lesen auf www.otto-brenner-stiftung.de oder downloaden im Pressebereich der OBS - weiter. (PDF)
Aufstocker im Bundestag II
► Vorwort:
Bundestagsabgeordnete mit Nebenjobs und Zusatzeinkünften – das ist schon in normalen Zeiten ein heikles Thema mit Empörungspotenzial. Besonders krasse Fälle extrem hoher Nebeneinkünfte – wie seinerzeit bei Kanzlerkandidat Peer Steinbrück – erregen viel Aufmerksamkeit, können der Reputation des Parlamentes schaden, Vertrauen kosten und die Glaubwürdigkeit der Volksvertreter in Zweifel ziehen. Aber in Zeiten, die zu pauschalisierenden Urteilen („die Medien“, „die politische Klasse“) und zu emotions- statt faktenbasierten Meinungsäußerungen in den Echokammern der sozialen Netzwerke neigen, kann sich das Thema zu einem medialen Sprengsatz entwickeln.
Vor knapp vier Jahren hat die Otto Brenner Stiftung mit der Untersuchung „Die sechste Fraktion“ von Herbert Hönigsberger den Grundstein für eine Reihe von Studien über die Nebeneinkünfte und Nebentätigkeiten der Abgeordneten des Deutschen Bundestages gelegt. Unser Anspruch war damals wie heute: Nicht die Skandalisierung von Einzelfällen, sondern das Aufdecken von Strukturen und das Erkennen von Zusammenhängen ins Zentrum zu stellen. Systematische Erkenntnisse sollen nach unserer Ansicht kritische Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Abgeordneten und die politisch Verantwortlichen in die Lage versetzen, fehlerhafte Entwicklungen als Problem zu identifizieren und Lösungen anzustreben.
Im April 2014, rund ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl 2013, legten wir der Öffentlichkeit mit „Aufstocker im Bundestag“ eine „Eröffnungsbilanz“ zu Beginn der 18. Wahlperiode vor. Darin verglich unser Autor die Zahlen der 17. Wahlperiode mit den Angaben zu Beginn der neuen Legislaturperiode und entwickelte Thesen, die am Ende der Wahlperiode einer weiteren Prüfung unterzogen werden sollten. Leider blieb es Herbert Hönigsberger, unserem geschätzten OBS-Autor, durch seinen viel zu frühen Tod im August 2015 verwehrt, diese Arbeit mit uns fortzusetzen. Die Otto Brenner Stiftung dankt ganz herzlich Sven Osterberg für seine Bereitschaft, mit der nun dritten Studie an die bisherigen Untersuchungen anzuknüpfen und die verdienstvolle Arbeit von Herbert Hönigsberger mit uns angemessen fortzuführen.
Kernbefund der ersten Aufarbeitung war die Feststellung, dass es sich bei den Nebenverdienern im Bundestag um eine privilegierte Minderheit von Abgeordneten handelt, die zum Ende der 17. Legislaturperiode vor allem den Regierungsfraktionen von Union und FDP angehörten. Auch in der Folgestudie zu Beginn der 18. Wahlperiode stellte Hönigsberger fest, dass es sich bei den „Aufstockern“ im Bundestag weiterhin um eine Minderheit handelte. Jedoch übten nun viele neue Abgeordnete, insbesondere der SPD und der Grünen, mehr Nebentätigkeiten aus als ihre schon länger im Bundestag tätigen Kolleginnen und Kollegen. Dies warf die Frage auf, ob hier der Prozess des Übergangs vom ehemaligen Beruf zum neuen Mandat nur noch nicht abgeschlossen war. Auch deutete sich an, dass das Mandat neue Nebeneinkünfte und -tätigkeiten generierte.
Weil die Offenlegungspflichten zwischenzeitlich verschärft wurden, konnten wir bei unserer neuesten Studie auf noch detailliertere Daten zurückgreifen. Sie erlauben es, eine Schlussbilanz“ zum Ende der 18. Wahlperiode vorzulegen, die viele Fragen beantwortet, einige Hypothesen klärt und manche Vermutungen widerlegt:
• Nebeneinkünfte waren und sind das Problem einer privilegierten Minderheit von Abgeordneten, die überproportional aus der Unionsfraktion kommen. Die geschätzten 37,6 Millionen Euro Nebeneinkünfte der 18. Wahlperiode wurden zu 80 Prozent von Mitgliedern der Union generiert.
• Anwälte sind die im Parlament am stärksten überrepräsentierte Berufsgruppe, bilden auch unter den Aufstockern die größte Teilgruppe. Nebeneinkünfte sind kein Übergangsproblem. Vor allem Selbstständige und Anwälte setzen diese Tätigkeiten als MdB fort.
• Die These, dass das Mandat neue Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte mit sich bringt, lässt sich in einigen Fällen erhärten. Die Zahl der Nebentätigkeiten und Funktionen bleibt jedoch relativ konstant. Es ändern sich Tätigkeiten: Funktionen in Unternehmen haben zulasten der Vernetzung mit Vereinen, Verbänden und Stiftungen zugenommen.
Diese Ergebnisse, die mittelfristige Trends bestätigen und eine relative Stabilität der Entwicklung feststellen, führen Autor und Stiftung zu der Auffassung, dass mit Blick auf Nebenverdienste und -einkünfte primär kein Transparenzdefizit, sondern ein Handlungsproblem besteht: Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte der Abgeordneten könnten längst enger gefasst sein und müssen endlich strenger reguliert werden.
Es sind die gleichen Fragen, die sich seit Jahren immer wieder stellen: Was sind gewünschte und zulässige Nebentätigkeiten, was stellt ein Einfallstor für Lobbyisten dar? Warum gibt es keine Karenzzeiten für die verpflichtende Aufgabe von Beschäftigungsverhältnissen nach Eintritt in den Deutschen Bundestag? Könnten bezahlte Nebentätigkeiten zumindest stark eingeschränkt werden, wenn Honorare gespendet werden müssten?
Schon 2013 hieß es im Vorwort der Stiftung: „Wir hoffen, dass der Deutsche Bundestag [...] das Thema wieder aufgreift und ernsthaft Lösungen anstrebt, die über das hinausgehen, was in den vergangenen Jahren von ihm geregelt worden ist.“ Weil die bestehenden Regelungen nicht ausreichen, erneuern wir schon jetzt diesen Appell und richten ihn auch an den nächsten Bundestag, der sich im Herbst konstituieren wird. Diese Studie veröffentlichen wir auch im Gedenken an Herbert Hönigsberger, der einmal schrieb: „Das Parlament ist töricht genug zu suggerieren, es könne käuflich sein.“ Angesichts verschärfter gesellschaftlicher Bedingungen und vor dem Hintergrund rechtspopulistischer Enthemmungen ist dies ein Umstand, den sich weder eine kritische Zivilgesellschaft noch ein verantwortungsvolles Parlament länger leisten kann.
Jupp Legrand, Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung - Frankfurt am Main, im Juli 2017.
https://www.otto-brenner-stiftung.de/ .
Link zum kompletten Arbeitspapier >> https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/Aktuelles/AP26/AP26_Osterberg_Aufstocker.pdf