Viele Familien in Deutschland ärmer als bislang bekannt

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Viele Familien in Deutschland ärmer als bislang bekannt
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Viele Familien in Deutschland ärmer als bislang bekannt

Deutschland ist bereits jetzt eines der sozial ungleichsten Länder in Europa.

Von Juliet Hermien

Am 7. Februar 2018 veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung eine Studie, die aufzeigt, dass die Einkommenssituation vieler Familien in Deutschland wesentlich schlechter ist als bislang angenommen. Vor allem die armen Familien seien „bisher reicher gerechnet“ worden, „als sie tatsächlich sind“, heißt es in einem Artikel zur Studie auf der Webseite der Stiftung.

Zu diesen Ergebnissen führte an erster Stelle die Anwendung einer neuen Methodik. Für Berechnungen von Einkommenssituationen wurde bislang die OECD-Skala verwendet. Allerdings wurde von den an der Studie beteiligten Forschern durch vergleichende Berechnungen festgestellt, dass diese „die Einkommen armer Haushalte systematisch über- und jene reicher Haushalte unterschätzt“. Auch in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung wurde die OECD-Skala bisher verwendet.

Familie-Kinderbetreuung-Kinderarmut-Kinderrechte-Kleinkinder-Grundrechte-Wuerde-Menschenwuerde-Kritisches-Netzwerk-Familienarmut-Minderjaehrige-Minderwertige

Die Skala arbeitet mit sogenannten Äquivalenzgewichten. Dabei wird davon ausgegangen, dass jedes Kind unter 14 Jahren 0,3 Mal so viel Einkommen benötigt wie ein alleinstehender Erwachsener. Jedes weitere Haushaltsmitglied das über 14 Jahre alt ist, also sowohl ein Jugendlicher als auch ein Ehepartner, erhält den Faktor 0,5. Eine Familie bestehend aus Eltern und zwei kleinen Kindern würde diesen Berechnungen nach also auf einen Faktor von 2,1 kommen und demnach das 2,1-fache Einkommen eines alleinlebenden Erwachsenen benötigen.

Laut den Forschern der Ruhr-Universität in Bochum geht das an der Realität vorbei. Zusätzliche „hohe Fixkosten, etwa für ein Kinderzimmer, Schulsachen oder Kleidung […] fallen bei niedrigen Einkommen stärker ins Gewicht als bei vergleichsweise wohlhabenden Familien“, stellen sie fest. Eine wohlhabende Familie müsste zum Beispiel bei der Geburt eines weiteren Kindes wahrscheinlich nicht in eine geräumigere Wohnung umziehen, da sie höchstwahrscheinlich schon in einer großen Wohnung lebt. Bei einer ärmeren Familie wäre allerdings eher das Gegenteil der Fall. Die OECD-Skala bezieht derartige Unterschiede nicht mit ein und steht dafür nun in der Kritik.

Die an der Studie beteiligten Forscher Jan Marvin Garbuszus, Notburga Ott, Sebastian Pehle u. Martin Werding entwickelten deshalb einkommensabhängige Äquivalenzgewichte, denen Verbraucherdaten des Statistischen Bundesamtes zugrunde liegen, und berechneten mithilfe derer Armutsrisikoquoten für verschiedene Familienkonstellationen, welche deutlich über den bisher geltenden liegen.

Für Familien mit alleinerziehenden Eltern erhöhte sich das Armutsrisiko demnach von 46 Prozent auf 68 Prozent. Diese seien besonders betroffen, da sie aufgrund der zeitaufwendigen Kinderbetreuung nicht die Möglichkeit hätten, bei Geldknappheit einfach mehr zu arbeiten. Für Paarfamilien liegt das Armutsrisiko mit einem Kind nun aktuell bei 13 Prozent, mit zwei Kindern bei 16 Prozent und mit drei Kindern bei 18 Prozent. Diese Werte liegen jeweils ungefähr drei Prozent über dem bislang angenommenen Wert und zeigen auf, dass das Armutsrisiko einer Familie mit jedem weiteren Kind steigt. Ein Haushalt gilt dann als armutsgefährdet, wenn er weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens aller Haushalte zur Verfügung hat.

Die Studie analysiert des Weiteren die Einkommensentwicklungen im Zeitraum von 1992 bis 2015 und kommt zu dem Schluss, dass die Ungleichheit zwischen wohlhabenden und armen Familien stärker zugenommen hat, als bisher geglaubt. So seien „die äquivalenzgewichteten Einkommen bei praktisch allen Haushaltstypen am unteren Rand der jeweiligen Verteilungen im Zeitablauf mindestens phasenweise deutlich weniger angestiegen als beim Median oder bei höheren Einkommen“. Die in diesem Zeitraum „erfolgten Änderungen finanzieller Instrumente der Familienpolitik, etwa die Integration von Kindergeld und Kinderfreibeträgen sowie ihre weiteren Anhebungen“ hätten „nur geringe Effekte auf die Wohlstandspositionen von Familien“ gehabt.

Während SPD und CDU/CSU die nächste Große Koalition und eine neue Runde sozialer Angriffe vorbereiten, hatte bereits im Januar eine Studie des "Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung" (DIW) darauf hingewiesen, dass Deutschland insgesamt noch viel ungleicher ist als bisher angenommen. Laut der Studie, die im Gegensatz zu anderen Studien die horrenden Vermögen der Superreichen berücksichtigt, besitzen die 45 reichsten Haushalte des Landes mit 214 Milliarden Euro Vermögen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung.

Deutschland ist damit bereits jetzt eines der sozial ungleichsten Länder in Europa.

Juliet Hermien
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pin_green.gif  Lesetipps von Helmut Schnug (KN):

ANONYMOUS: "Bertelsmann Stiftung: Machtpolitik unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit" >> anonymousnews >> Artikel v. 12. Februar 2018.

Bertelsmann Stiftung: "Viele Familien ärmer als bislang gedacht" >> Artikel / Pressemeldung v. 07.02.2018.

Die OECD-Skala (benannt nach ihrem Urheber, der Organisation for Economic Co-operation and Development) ist ein Gewichtungsfaktor zur internationalen und regionalen Vergleichbarkeit von Einkommensberechnungen. >> informative Webseite der OECD-Skala Inequality.

COPE: The OECD Centre for Opportunity and Equality (COPE) is a platform for promoting and conducting policy-oriented research on the trends, causes and consequences of inequalities in society and the economy, and a forum to discuss how policies can best address such inequalities. >> weiter.

Diverse Studien / Berichte zum Thema >> siehe PDFs im Anhang (bitte bis Seitenende runterscrollen).

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Privathaushalte und Haushaltsmitglieder

nach Haushaltsgröße und Gebietsstand im Jahr 2016

Haushaltsgröße Haushalte Haushalts­mitglieder
1 000 % 1 000 %
 
Ergebnisse des Mikrozensus – Bevölkerung in Privathaushalten am Haupt- und Nebenwohnsitz.
Deutschland
Insgesamt  40 960 100,0 82 342 100,0
Einpersonenhaushalte                                              16 832 41,1 16 832 20,4
2 - Personenhaushalte                                            13 915 34,0 27 830 33,8
3 - Personenhaushalte   5 028 12,3 15 085 18,3
4 - Personenhaushalte   3 807 9,3 15 227 18,5
Haushalte mit 5 Personen und mehr                                   1 377 3,4 7 368 8,9
 
Früheres Bundesgebiet ohne Berlin
Insgesamt  32 447 100,0 66 263 100,0
Einpersonenhaushalte                                              13 118 40,4 13 118 19,8
2 - Personenhaushalte                                            10 872 33,5 21 744 32,8
3 - Personenhaushalte   4 033 12,4 12 098 18,3
4 - Personenhaushalte   3 231 10,0 12 923 19,5
Haushalte mit 5 Personen und mehr                                   1 193 3,7 6 380 9,6
 
Neue Länder einschließlich Berlin
Insgesamt  8 512 100,0 16 079 100,0
Einpersonenhaushalte                                              3 714 43,6 3 714 23,1
2 - Personenhaushalte                                            3 043 35,7 6 086 37,9
3 - Personenhaushalte   996 11,7 2 987 18,6
4 - Personenhaushalte   576 6,8 2 304 14,3
Haushalte mit 5 Personen und mehr                                   184 2,2 988 6,1


Quelle:  WSWS.org > WSWS.org/de > Erstveröffentlicht am 13. Februar 2018 >> Artikel. Die Bilder im Artikel sind nicht Bestandteil des Originalartikels und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. andere Lizenzen, s.u..

Dank an Redakteur Ludwig Niethammer für die Freigabe zur Veröffentlichung.

► Bild- und Grafikquellen:

1. Kinder- und Familienarmut: Viele Familien in Deutschland ärmer als bislang bekannt. Deutschland ist bereits jetzt eines der sozial ungleichsten Länder in Europa. Foto: Pexels.

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