«Der Staat ist eine Institution, die von Banden geführt wird, die aus Mördern, Plünderern und Dieben besteht, umgeben von willfährigen Handlangern, Propagandisten, Speichelleckern, Gaunern, Lügnern, Clowns, Scharlatanen, Blendern und nützlichen Idioten - eine Institution, die alles verdreckt und verdunkelt, was sie berührt.» (– Prof. Hans-Hermann Hoppe).
ANF NEWS (Firatnews Agency) - kurdische Nachrichtenagentur
Grabbesuch bei Dilîşan Îbiş und Hogir Mihemed
In der Autonomieregion Nord- und Ostsyriens ist am Sonntag der im Jahr 2017 getöteten Journalist:innen Dilîşan Îbiş und Hogir Mihemed gedacht worden. Anlässlich des achten Jahrestags ihres Todes versammelten sich Familienangehörige, Freund:innen und Kolleg:innen an ihren Gräbern in Kobanê und Qamişlo, um ihr Leben und Wirken zu würdigen.
Dilîşan Îbiş und Hogir Mihemed waren als Reporter:innen für die Nachrichtenagentur Hawarnews (ANHA) tätig und dokumentierten die Offensive „Gewittersturm Cizîrê“ der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Am 12. Oktober 2017 explodierte zwischen Deir ez-Zor und Hesekê inmitten einer Ansammlung vertriebener Zivilist:innen eine Autobombe des IS.
Îbiş und acht weitere Menschen waren auf der Stelle tot, über 40 weitere wurden teils schwer verletzt. Mihemed starb drei Tage später in einem Krankenhaus. Ein weiterer ANHA-Journalist, Rizgar Deniz Adanmış, der die Offensive und die Evakuierung der Zivilbevölkerung ebenfalls beobachtete, erlag rund zwei Monate nach dem Anschlag seinen schweren Verletzungen.
„Stimmen der Wahrheit gegen Krieg und Gewalt“
Die Grabbesuch bei Dilîşan Îbiş in Kobanê begann mit einer Schweigeminute für alle getöteten Medienschaffenden. Anschließend erinnerte Dicle Ehmed, Mitglied des Frauenmedienverbands YRJ, an Îbiş’ Einsatz für Wahrheit und journalistische Integrität unter Kriegsbedingungen.
„Dilîşan war eine mutige Stimme der Wahrheit. Sie dokumentierte die Verbrechen und Angriffe auf die Zivilbevölkerung – besonders jene durch den türkischen Staat und dschihadistische Milizen“, sagte Ehmed. Sie nannte Dilîşan Îbiş, Hogir Mihemed, Rizgar Deniz Adanmış und alle anderen ermordeten Medienschaffenden als „Stimmen der Wahrheit gegen Krieg und Gewalt“.
Die freie kurdische Presse habe sich dem Ziel verschrieben, „mit Kamera und Stift die Realität sichtbar zu machen, bis ein demokratisches und dezentralisiertes Syrien Wirklichkeit wird“, so Ehmed weiter.
Angehörige am Grab von Hogir Mihemed
Familie ruft zur Fortsetzung ihres Weges auf
Auch Semşe Mihemed Elî, die Mutter von Dilîşan Îbiş, sprach auf der Zeremonie. Sie betonte die Opferbereitschaft ihrer Tochter im Einsatz für die Wahrheit. „Dilîşan hat mit großer Entschlossenheit berichtet. Ihre Kolleg:innen sollten ihrem Weg folgen“, sagte Elî. Der Grabbesuch bei Hogir Mihemed fand auf dem Gefallenenfriedhof in Qamişlo statt.
https://deutsch.anf-news.com/pressefreiheit/dfg-erinnert-an-journalisten-vedat-erdemci-48332 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/grabbesuch-beim-journalisten-rizgar-deniz-40260 https://deutsch.anf-news.com/pressefreiheit/rojava-kurdischer-journalismus-auf-den-spuren-der-wahrheit-18689 https://deutsch.anf-news.com/pressefreiheit/medienverbande-fordern-un-einsatz-gegen-angriffe-auf-journalist-innen-45346
„Pilot-Gefängnis“ für Rechtsbruch – Schwere Vorwürfe gegen Frauengefängnis Sincan
Im Frauengefängnis Sincan bei Ankara wird politischen Gefangenen nach Angaben von Menschenrechtler:innen weiterhin systematisch die bedingte Entlassung verweigert – selbst dann, wenn alle gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Seit der Einführung einer Gesetzesänderung im Jahr 2021 ist keine einzige weibliche Inhaftierte auf Bewährung freigelassen worden, erklärte die Rechtsanwältin Sipan Cizreli von der Vereinigung freiheitlicher Jurist:innen (ÖHD) gegenüber ANF.
Aktuell betrifft das mindestens zwölf Frauen, deren Anträge trotz positiver Haftverläufe abgelehnt wurden, darunter mehrere, die bereits seit über 30 Jahren im Gefängnis sitzen – unter ihnen die Kurdin Sermin Demirdağ, deren Haftzeit bereits seit über 33 Jahren andauert. Die Jurist:innen sprechen von einem systematischen Vorgehen, das rechtsstaatliche Grundsätze untergrabe.
Sipan Cizreli
„Pilotgefängnis“ für politische Gefangene
Cizreli bezeichnete die Frauenvollzugsanstalt im Gefängniskomplex Sincan als eine Art „Pilotgefängnis“, in dem gezielt restriktive Standards gegen politische Gefangene erprobt würden. Während in anderen Gefängnissen gelegentlich Entlassungen verzögert, aber letztlich gewährt werden, wurde in Sincan seit über vier Jahren kein einziger Fall positiv entschieden. Von 24 überprüften Fällen politischer Gefangener sind13 Frauen erst nach vollständiger Verbüßung ihrer Strafe freigekommen. Bei den übrigen elf ist die Entlassung teils mehrfach – in Einzelfällen bis zu sechs Mal – verweigert worden.
Serienhafte Ablehnungen ohne individuelle Begründung
Besonders schwer wiegt aus Sicht Cizrelis die Art der Entscheidungspraxis. Die Begründungen des Beobachtungsausschusses, der für die Entlassung zuständig ist, seien „copy & paste“-Texte, so die Juristin. Die Einschätzungen zum Verhalten der Inhaftierten würden standardisiert und ohne individuelle Bewertung wiederholt. Die Praxis geht auf eine Gesetzesänderung im Jahr 2020 zurück, durch die die Entscheidung über bedingte Entlassungen der Einschätzung sogenannter „Verwaltungs- und Beobachtungskommissionen“ unterstellt wurde.
Kritik richtet sich auch gegen das Kriterium der „guten Führung“ als Voraussetzung für eine vorzeitige Entlassung. Dieses werde in der Praxis als unausgesprochene Aufforderung zur Reue oder Distanzierung zur politischen Einstellung verstanden – eine Anforderung, die politische Gefangene vielfach nicht erfüllen wollen oder können.
Langzeithaft als gesundheitliche Belastung
Die langen Haftzeiten hätten auch gravierende gesundheitliche Folgen, betont Cizreli. Viele der betroffenen Frauen litten unter körperlichen und psychischen Beschwerden, deren Behandlung durch die Verweigerung der Entlassung zusätzlich erschwert werde.
Die Rechtsanwältin kündigte an, den Fall auch rechtlich auf nationaler und internationaler Ebene weiter zu verfolgen. Menschenrechtsorganisationen hatten in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen, dass politische Gefangene in der Türkei – insbesondere Frauen – gezielten Sonderbehandlungen und struktureller Benachteiligung unterliegen.
https://deutsch.anf-news.com/frauen/tja-frauen-protestieren-vor-sincan-gefangnis-fur-recht-auf-hoffnung-48266 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/bericht-systematische-menschenrechtsverletzungen-in-turkischen-gefangnissen-48175 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/protest-gegen-verweigerte-haftentlassungen-in-sincan-48067 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/sincan-bedingte-entlassung-von-zwolf-gefangenen-seit-jahren-verweigert-48026
Zukunftspartei Syriens erinnert mit Festival an Hevrîn Xelef
Mit einem Kultur- und Gedenkfestival unter dem Titel „Hevrîn für den Frieden“ hat die Zukunftspartei Syriens am Sonntag in Raqqa an den sechsten Todestag ihrer früheren Vorsitzenden Hevrîn Xelef erinnert. An der Veranstaltung nahmen Vertreter:innen der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES), der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) sowie zivilgesellschaftlicher, politischer und feministischer Organisationen teil.
Das Festival begann mit einer Schweigeminute für die Gefallenen Nord- und Ostsyriens. In einer anschließenden Begrüßungsrede wurde Hevrîn Xelef als „Symbol für den Kampf um Frieden, Gleichheit und ein demokratisches Syrien“ gewürdigt.
Im weiteren Verlauf des Festivals wurden mehrere Reden gehalten, unter anderem von Suad Mustafa, der Mutter von Hevrîn Xelef, der Ko-Vorsitzenden der syrischen Zukunftspartei Kawthar Doko, Layla Qaraman vom Demokratischen Syrienrat (MSD) sowie von Vertreterinnen der QSD, des Syrischen Frauenrats und des Rates der Gefallenenfamilien.
In ihrer Ansprache betonte Kawthar Doko, dass Xelefs Engagement für einen pluralistischen und friedlichen syrischen Staat weiterhin Richtschnur für die Parteiarbeit sei. „Sie glaubte an ein Syrien für alle – frei von Extremismus, Sexismus und ethnischer Spaltung“, so Doko.
Friedenspreis und Poesie zum Abschluss
Im Rahmen des Festivals verlieh die Partei den neu geschaffenen „Hevrîn-Xelef-Friedenspreis“ an den kurdischen Religionsgelehrten Şêx Murşîd Xeznewî, der sich um Versöhnung und den Aufbau friedlicher Strukturen in der Region verdient gemacht habe. Zum Abschluss rezitierte der Dichter Thamer al-Shammari zwei Gedichte – eines zu Ehren von Hevrîn Xelef, das andere als poetisches Plädoyer für ein „blühendes, vielfältiges Syrien trotz aller Herausforderungen“.
Hoffnungsträgerin eines vielfältigen, demokratischen Syriens
Hevrîn Xelef (auch Khalaf) war die erste Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens. Sie wurde am 12. Oktober 2019, wenige Tage nach Beginn der türkischen Invasion in Serêkaniyê und Girê Spî, auf einer Autobahn nahe Qamişlo von einem Kommando der Dschihadistenmiliz „Ahrar al-Shariya“ überfallen und hingerichtet. Die Söldner misshandelten Xelef und verstümmelten ihren Körper, bevor sie erschossen wurde. Menschenrechtsorganisationen, darunter die Vereinten Nationen, sprachen von einer gezielten Exekution.
Laut Obduktionsbericht wies die Leiche der damals 34-Jährigen unter anderem Schusswunden, Brüche an Beinen, Gesicht und Schädel auf. Ihre Kopfhaut war teilweise abgelöst, weil man sie an den Haaren gezerrt hatte. Bei dem Überfall wurden neben Xelef noch weitere sieben Zivilist:innen ermordet, darunter ihr Fahrer. Der für die Morde verantwortliche Milizführer Ahmad Ihsan Fayyad Al-Hayes alias „Abu Hatem Shaqra“ ist heute Kommandeur der 86. Division der sogenannten Armee der selbsternannten syrischen Übergangsregierung unter dem HTS-Anführer Ahmed al-Scharaa.
https://deutsch.anf-news.com/frauen/frauenmorder-gehoren-nicht-nach-damaskus-sondern-nach-den-haag-45184 https://deutsch.anf-news.com/frauen/msd-fordert-gerechtigkeit-fur-hevrin-xelef-39392 https://deutsch.anf-news.com/Oekologie/baumschule-hevrin-xelef-in-qamislo-eroffnet-31094
Bafel Talabanî trifft irakischen Präsidenten Raschid
Der Vorsitzende der Patriotischen Union Kurdistans (YNK), Bafel Talabanî, hat am Sonntag in Bagdad den irakischen Präsidenten Abdul Latif Raschid getroffen. Bei dem Gespräch, an dem auch Nizar Amidi, Mitglied des Politbüros der YNK, und Khalid Shwani, Justizminister des Irak, teilnahmen, bekräftigten beide Seiten die Notwendigkeit eines fortgesetzten nationalen Dialogs zwischen allen politischen Kräften.
Wie die YNK mitteilte, standen Sicherheit, Stabilität und die Vorbereitung transparenter Wahlen im Mittelpunkt des Treffens. Talabanî und Raschid sprachen sich für eine verstärkte Zusammenarbeit „im Interesse des Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger“ aus.
Ein weiterer Schwerpunkt war das Verhältnis zwischen der Regierung der Kurdistan-Region des Irak (KRI) in Hewlêr (Erbil) und der irakischen Zentralregierung. Beide Politiker betonten die Bedeutung kontinuierlicher Gespräche, um bestehende Differenzen auszuräumen und eine verfassungskonforme Lösung offener Fragen zu finden – insbesondere im Hinblick auf Haushaltsfragen, Gehaltszahlungen und finanzielle Ansprüche der Bevölkerung in der kurdischen Autonomieregion.
Foto: YNK-Pressebüro
Talabanî dankte Präsident Raschid für dessen Rolle bei der Vermittlung zwischen den politischen Lagern und erklärte, die YNK bleibe dem Dialog verpflichtet: „Das Wohl unseres Volkes liegt in beständigem Konsens und echter Partnerschaft. Bagdad ist der strategische Mittelpunkt unserer politischen Ausrichtung“, sagte Talabani laut Mitteilung.
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/talabani-nun-vorsitzender-der-sozialdemokratischen-allianz-der-arabischen-welt-47744 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/turkei-hebt-flugverbot-fur-flughafen-in-silemani-auf-48318 https://deutsch.anf-news.com/weltweit/irak-ernennt-abdul-latif-raschid-zum-neuen-prasidenten-34427Bafel Talabanî trifft irakischen Präsidenten Raschid
Der Vorsitzende der Patriotischen Union Kurdistans (YNK), Bafel Talabanî, hat am Sonntag in Bagdad den irakischen Präsidenten Abdul Latif Raschid getroffen. Bei dem Gespräch, an dem auch Nizar Amidi, Mitglied des Politbüros der YNK, und Khalid Shwani, Justizminister des Irak, teilnahmen, bekräftigten beide Seiten die Notwendigkeit eines fortgesetzten nationalen Dialogs zwischen allen politischen Kräften.
Wie die YNK mitteilte, standen Sicherheit, Stabilität und die Vorbereitung transparenter Wahlen im Mittelpunkt des Treffens. Talabanî und Raschid sprachen sich für eine verstärkte Zusammenarbeit „im Interesse des Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger“ aus.
Ein weiterer Schwerpunkt war das Verhältnis zwischen der Regierung der Kurdistan-Region des Irak (KRI) in Hewlêr (Erbil) und der irakischen Zentralregierung. Beide Politiker betonten die Bedeutung kontinuierlicher Gespräche, um bestehende Differenzen auszuräumen und eine verfassungskonforme Lösung offener Fragen zu finden – insbesondere im Hinblick auf Haushaltsfragen, Gehaltszahlungen und finanzielle Ansprüche der Bevölkerung in der kurdischen Autonomieregion.
Foto: YNK-Pressebüro
Talabanî dankte Präsident Raschid für dessen Rolle bei der Vermittlung zwischen den politischen Lagern und erklärte, die YNK bleibe dem Dialog verpflichtet: „Das Wohl unseres Volkes liegt in beständigem Konsens und echter Partnerschaft. Bagdad ist der strategische Mittelpunkt unserer politischen Ausrichtung“, sagte Talabani laut Mitteilung.
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/talabani-nun-vorsitzender-der-sozialdemokratischen-allianz-der-arabischen-welt-47744 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/turkei-hebt-flugverbot-fur-flughafen-in-silemani-auf-48318 https://deutsch.anf-news.com/weltweit/irak-ernennt-abdul-latif-raschid-zum-neuen-prasidenten-34427Fall Rojin Kabaiş: Juristin fordert Verfahren wegen sexualisierter Gewalt
Im Fall des verdächtigen Todes der 21-jährigen Studentin Rojin Kabaiş mehren sich die Vorwürfe gegen die zuständigen Ermittlungsbehörden. Die Anwaltskammern von Amed (tr. Diyarbakır) und Wan (Van) hatten am Samstag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz schwere Versäumnisse kritisiert und ein separates Ermittlungsverfahren wegen möglicher sexualisierter Gewalt gefordert.
Die Kammern stellten dabei Einzelheiten eines forensischen Gutachtens vor, das der Akte seit Kurzem offiziell beigelegt ist. Die Analyse des Instituts für Rechtsmedizin, die laut Angaben der Anwält:innen erst nach neunmonatigen Verzögerungen übermittelt wurde, enthält Hinweise auf zwei unterschiedliche männliche DNA-Spuren – eine davon im inneren Vaginalbereich der Verstorbenen.
„Erste greifbare Hinweise auf sexualisierte Gewalt“
Die Juristin Cansel Talay, die zum Verteidigungsteam der Familie Kabaiş gehört und Mitglied des Frauenrechtszentrums der Anwaltskammer Amed ist, erklärte, der Befund sei der erste konkrete Anhaltspunkt für eine mögliche sexualisierte Gewalttat. Dennoch sei das Gutachten selbst unzureichend und lasse wesentliche Fragen offen – etwa zur Art der DNA-Spuren.
„Es handelt sich um einen einseitigen Bericht mit gerade einmal zwei Zeilen relevanter Information. Das ist angesichts der Tragweite des Falls völlig inakzeptabel“, sagte Talay. Ihre Kammer habe bereits eine Detaillierung des Berichts sowie eine Ausweitung der DNA-Analyse beantragt. Nach Angaben der Juristin wurden bislang DNA-Proben von nur rund 200 Personen zum Vergleich genommen. Talay hält diese Zahl angesichts des öffentlichen Umfelds für unzureichend und fordert eine Erweiterung der Entnahmen von Genmaterial. Zudem hatte es zuvor von Behördenseite geheißen, fremde DNA-Spuren seien lediglich am Mobiltelefon der Studentin gefunden worden.
Massive Kritik am Institut für Rechtsmedizin
Dass das dem Justizministerium unterstellte Institut für Rechtsmedizin, ansässig in Istanbul, den Bericht überhaupt übermittelte, erfolgte erst nach einer formellen Strafanzeige der Familie von Rojin Kabaiş. Talay wirft der Behörde eine systematische Verzögerungstaktik vor und stellte ihren bisherigen Umgang mit dem Fall grundsätzlich infrage.
Versäumnisse bei Ermittlungen und Beweissicherung
Die Anwaltskammern sprachen außerdem von einem „Kette institutioneller Versäumnisse“, die schon kurz nach dem Verschwinden der Studentin im Oktober 2024 begonnen habe. So seien etwa Kameraaufnahmen des Wohnheims unvollständig, Aufzeichnungen zu früh gelöscht, Sicherheitsvorkehrungen auf dem Campus mangelhaft gewesen.
Zudem habe es weder Warnhinweise zu saisonalen Wasserständen am Wan-See, an dessen Ufer Rojins Leiche gefunden wurde, noch eine physische Abgrenzung zwischen Universitätsgelände und umliegenden Dörfern gegeben. Die Kammern kündigten an, strafrechtliche Schritte gegen alle Verantwortlichen einzuleiten, die durch Unterlassung zur möglichen Verschleierung des Falls beigetragen hätten.
Staatsanwaltschaft soll neuen Tatverdacht prüfen
Die Anwält:innen fordern nun, dass die Staatsanwaltschaft den Fall nicht länger unter dem Verdacht eines Suizids führt, sondern als mutmaßliche sexualisierte Gewalttat mit Todesfolge neu bewertet. „Die vorliegenden Beweise reichen aus, um ein gesondertes Verfahren einzuleiten“, sagte Talay. Man erwarte, dass die Ermittlungen entsprechend ausgeweitet und transparent geführt würden.
Hintergrund: Ein Jahr ohne Aufklärung
Rojin Kabaiş war Erstsemesterstudentin im Fachbereich Kindheitspädagogik an der Universität Yüzüncü Yıl in Wan. Sie wurde im Oktober 2024 – 18 Tage nach ihrem Verschwinden aus einem Wohnheim – tot am Ufer des Wan-Sees aufgefunden. Die Todesursache blieb ungeklärt. Die Ermittlungsbehörden hatten frühzeitig von Suizid gesprochen – eine Einschätzung, die Familie und Unterstützer:innen von Anfang an bezweifelten.
https://deutsch.anf-news.com/frauen/rojin-kabais-dna-funde-erharten-verdacht-auf-sexualisierte-gewalt-48336 https://deutsch.anf-news.com/frauen/elf-monate-nach-tod-von-studentin-rojin-kabais-familie-klagt-uber-vertuschung-47628 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/vater-von-rojin-kabais-stellt-antrag-bei-justizministerium-48032 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/anwaltskammer-gerichtsmedizin-blockiert-aufklarung-im-fall-rojin-kabais-48142 https://deutsch.anf-news.com/frauen/gedenkmarsch-in-wan-fordert-gerechtigkeit-fur-rojin-kabais-48140
„Şeva Hunerê“ in Marburg: Ein Abend voller Kunst, Erinnerung und Gemeinschaft
Mit „Şeva Hunerê“ – dem „Abend der Kunst“ – haben der Freundschaftsverein Marburg–Kurdistan, die Studierendengruppe Xwendekarên Marburg und die Jugendinitiative Ciwanên Marburg-Gießen einen eindrucksvollen Kulturabend gestaltet. Die Veranstaltung verband Musik, politische Reden und gemeinschaftliche Rituale und wurde zu einem bewegenden Ausdruck kurdischer Identität und Erinnerung im Exil.
Der Abend begann mit einer Schweigeminute für die gefallenen Kämpferinnen und Kämpfer Kurdistans. Ein stiller, würdevoller Moment, der Trauer, Stolz und Verbundenheit zum Ausdruck brachte. In anschließenden Begrüßungsreden erinnerten die Veranstaltenden an die Bedeutung von Sprache, Kultur und Zugehörigkeit – auch fernab der Heimat. Sie riefen dazu auf, die eigenen Wurzeln nicht zu vergessen und kulturelles Erbe lebendig zu halten.
Ein besonderes Zeichen setzte Marburgs Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies (SPD), der die Schirmherrschaft übernahm. In seiner Rede würdigte er die kurdische Community als wichtigen Teil des kulturellen Lebens der Stadt und betonte die Bedeutung von Respekt, Vielfalt und solidarischem Zusammenleben. Auch Dominik Osman, Vertreter der Partei Die Linke, sprach zu den Gästen und stellte die Veranstaltung in einen größeren Kontext: als Zeichen des gemeinsamen Engagements für Gerechtigkeit, Frieden und kulturelle Selbstbestimmung.
Musikalisch wurde „Şeva Hunerê“ von bekannten kurdischen Kunstschaffenden getragen. Fatoş Erekli, Hozan Comert und Koma Hezex sorgten mit ihren Liedern für emotionale Höhepunkte – mit Texten über Liebe, Heimat, Verlust und Widerstand. Ihre Stimmen füllten den Saal, ließen Erinnerungen aufleben und stifteten Gemeinschaft im Hier und Jetzt.
Der Abend fand seinen Abschluss im gemeinsamen Gesang des Liedes „Cerxa Sorê“ – ein Moment, der viele im Publikum tief berührte. Die vereinten Stimmen wurden zu einem Klang der Hoffnung, der über den Raum hinausreichte: ein Symbol für ein lebendiges Miteinander, für Erinnerung und Zukunft. So endete „Şeva Hunerê“ als ein Zeichen: dafür, dass kulturelle Identität auch im Exil Ausdruck findet, dass Erinnerung verbindet und dass Kunst eine Brücke bauen kann – zwischen Generationen, Sprachen und Lebensrealitäten.
[album=21542]
https://deutsch.anf-news.com/kultur/kurdisch-internationalistisches-kulturzentrum-in-marburg-eroffnet-34219
Journalist Hakan Tosun schwer verletzt am Straßenrand gefunden
Der seit Tagen vermisste Journalist und Dokumentarfilmer Hakan Tosun ist in Istanbul schwer verletzt am Straßenrand gefunden worden. Nach ersten Erkenntnissen wurde er brutal zusammengeschlagen. Tosun erlitt eine Gehirnblutung und wird auf der Intensivstation einer Klinik im Bezirk Başakşehir behandelt. Sein Zustand gilt als kritisch.
Die Polizei hat Ermittlungen aufgenommen. Wer hinter dem Angriff steckt, ist derzeit unklar.
Tosun war zuletzt am späten Abend des 10. Oktober gesehen worden. Seitdem fehlte von ihm jede Spur. Angehörige hatten daraufhin eine Vermisstenanzeige erstattet.
Dokumentarfilmer mit Fokus auf soziale Bewegungen
Hakan Tosun wurde 1975 in Istanbul geboren. In den frühen 1990er-Jahren stieg er mit dem Aufkommen privater Radiosender als technischer Berater ins Mediengeschäft ein. Ab 1998 arbeitete er in Izmir für verschiedene Fernsehsender als Schnitttechniker. Seit 2009 widmet er sich vor allem der Produktion unabhängiger Dokumentarfilme über Umwelt, Stadtentwicklung und soziale Proteste.
Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen Çatılara Doğru („Hinauf zu den Dächern“), Tekel İşçileri („Tekel-Arbeiter“), Büyük Anadolu Yürüyüşü („Der Große Anatolien-Marsch“), Dönüşüm („Gentrifizierung“) und Validebağ Direnişi („Der Widerstand von Validebağ“). Tosun ist Mitgründer der Firma „Dokumentarfilmproduktion Natur und Stadtaktivismus“ und dort als Regisseur tätig.
Konferenz in Mêrdîn ruft zu demokratischem Aufbruch in Mesopotamien auf
Die Initiative für Demokratische Einheit hat in der kurdischen Stadt Mêrdîn (tr. Mardin) die Abschlusserklärung ihrer Konferenz unter dem Titel „Völker, Glaubensgemeinschaften und das demokratische Zusammenleben in Mesopotamien“ vorgestellt. Die Veranstaltung, die unter reger Beteiligung in der historisch geprägten Region stattfand, stand im Zeichen von Erinnerung, politischer Analyse und dem Ruf nach einem demokratischen, pluralistischen Zusammenleben.
Das Abschlusspapier wurde auf dem zentralen Cumhuriyet-Platz in Mêrdîn auf Kurdisch und Türkisch vorgestellt. Die Konferenz sei, so heißt es in der Erklärung, ein Ort der kollektiven Erinnerung, aber auch der kritischen Auseinandersetzung mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen gewesen. Sie habe historische Brüche, kollektive Traumata und die bis heute anhaltenden Folgen von Verfolgung und Assimilation thematisiert – vor allem im Hinblick auf die kurdische Bevölkerung und andere Gemeinschaften in Mesopotamien.
„Kultureller Genozid“ an Völkern Mesopotamiens
In der Abschlusserklärung wird von einem „über ein Jahrhundert andauernden kulturellen Genozid“ an den Völkern und Glaubensgemeinschaften Kurdistans gesprochen. Die Region sei systematisch entvölkert und ihre kulturelle Vielfalt durch Vertreibung, Zwangsassimilation und Unterdrückung zerstört worden.
Die Ko-Sprecher:innen der Initiative, Gülcan Kaçmaz Sayyiğit und Mehmet Kamaç, sprachen allen Teilnehmenden ihren Dank aus
Die Konferenz betont, dass diese historischen Traumata tiefgreifende soziale Wunden hinterlassen haben – doch zugleich könnten sie auch Ausgangspunkt für eine neue demokratische Zukunft sein. „Die Antwort auf unsere heutigen gesellschaftlichen Krisen liegt in der Geschichte Mesopotamiens selbst“, heißt es in der Erklärung.
Ein zentrales Motiv der Konferenz war die Möglichkeit, auf Grundlage der kulturellen und religiösen Vielfalt ein gleichberechtigtes, solidarisches und partizipatives Gemeinwesen jenseits nationalistischer Einheitsideologien aufzubauen.
Plädoyer für ein neues Gesellschaftsmodell
Die Organisator:innen übten scharfe Kritik am bestehenden Nationalstaatsmodell in der Türkei, das als Erbe der Ideologie des jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ beschrieben wird. Dieses Modell, das auf eine ethnisch und religiös homogene Gesellschaft zielte, habe weder Frieden noch Stabilität gebracht. Vielmehr seien Sprachen, Religionen und Kulturen, die nicht in die „Türkisch-Islamische Synthese“ passen, systematisch marginalisiert worden. Auch religiöse Einrichtungen wie Moscheen und alevitische Cemhäuser seien politisch instrumentalisiert und ihrer gesellschaftlichen Rolle beraubt worden, heißt es in der Erklärung.
Die Konferenz stellte dem ein alternatives Gesellschaftsmodell entgegen: Die „Demokratische Nation“, ein Konzept, das auf Pluralismus, Frauenemanzipation, Ökologie und Basisdemokratie setzt. Sie wurde als Gegenentwurf zur kapitalistischen Moderne bezeichnet – mit dem Potenzial, nicht nur Kurdistan, sondern die gesamte Region zu transformieren.
Rojava als Beispiel
In diesem Kontext wurde die Demokratische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (DAANES) als Beispiel für ein funktionierendes, multiethnisches Gesellschaftsmodell hervorgehoben. Gleichzeitig verurteilte die Konferenz die jüngsten militärischen Angriffe der aus der Islamistenallianz „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS) hervorgegangenen syrischen Übergangsregierung in den kurdischen Stadtteilen Şêxmeqsûd und Eşrefiyê in Aleppo sowie die Massaker an den alawitischen und drusischen Minderheiten im Westen und Süden des Landes. Die Teilnehmenden warfen zudem der Übergangsregierung vor, durch vermeintliche Wahlen ohne repräsentative Beteiligung legitime politische Entwicklungen zu blockieren.
Die kurdische Fassung der Erklärung trug Menice Rümeysa Gülmez, stellvertretende Vorsitzende der Menschen- und Freiheitspartei (PÎA), vor
Öcalans Friedensappell als zentraler Bezugspunkt
Ein zentrales Element der Erklärung war der Bezug auf die am 27. Februar dieses Jahres veröffentlichte Botschaft des auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Begründers Abdullah Öcalan, in der er zu Frieden und einer demokratischen Gesellschaft aufruft. Die Konferenz bezeichnete diesen Appell als „wegweisend“ – sowohl für den innerstaatlichen Frieden als auch für die gesamte Region. Sein Paradigma des „Demokratischen Konföderalismus“ wurde als moralisch-politisches Gesellschaftsmodell beschrieben, das auf Frauenbefreiung, ökologischer Verantwortung und gemeinschaftlichem Leben basiert. Besonders hervorgehoben wurde dabei die Rolle der kurdischen Frauenbewegung als treibende Kraft sozialer Veränderung.
Politik der Ausgrenzung am Ende
In der Abschlusserklärung wurde außerdem festgestellt, dass die über Jahrzehnte verfolgte Politik des „Verlierens auf allen Seiten“ – eine Anspielung auf den repressiven Kurs gegenüber Minderheiten – ihr Ende finden müsse. Notwendig sei nun eine „Win-win-Politik“, die auf gleichberechtigter Teilhabe aller Gesellschaftsgruppen beruhe. Die demokratische Nation, so das Fazit, könne in Kurdistan konkrete Form annehmen – mit überregionaler Strahlkraft. Dies gelte auch im Kontext aktueller Konflikte im Nahen Osten, etwa in Israel, Palästina und Syrien. Der Weg zu Frieden führe über ein pluralistisches Gesellschaftsmodell, so der Konsens.
Ruf nach Einheit – Hoffnung auf Wandel
Zum Abschluss rief die Konferenz alle politischen, zivilgesellschaftlichen und traditionellen Akteure Kurdistans – darunter Parteien, NGOs, religiöse Autoritäten und Stammesstrukturen – zu nationaler Einheit auf. Der Friedensappell Abdullah Öcalans sei eine historische Chance, die nicht verspielt werden dürfe. Kritisiert wurde in dem Zusammenhang auch das Ausbleiben konkreter Schritte im türkischen Parlament zur Umsetzung des Friedensprozesses. Der Konferenz zufolge besteht die Gefahr, dass das Recht auf Hoffnung – die Möglichkeit auf eine Haftüberprüfung lebenslänglich Inhaftierter – durch politische Verzögerungspolitik ausgehöhlt werde. Die Konferenz fordert das Parlament auf, politische, rechtliche und gesetzliche Rahmenbedingungen für Frieden und eine nachhaltige Lösung der kurdischen Frage zu erarbeiten.
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/konferenz-uber-wege-zum-demokratischen-zusammenleben-in-mesopotamien-48335 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/videobotschaft-von-abdullah-Ocalan-47007 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/buldan-Ocalan-erwartet-besuch-der-parlamentskommission-48326
PKAN hält Kongress ab und wählt neue Spitze
Die Plattform der Kurdinnen und Kurden aus Zentralanatolien (PKAN) hat am Samstag ihren 6. ordentlichen Kongress im nordrhein-westfälischen Grevenbroich abgehalten. An der Veranstaltung nahmen Delegierte aus Deutschland, Dänemark, Schweden, Norwegen, den Niederlanden, der Schweiz und Kanada teil.
Eröffnet wurde die Versammlung mit einer Schweigeminute für die Gefallenen des kurdischen Befreiungskampfes. Anschließend wählte die Versammlung ihr Präsidium. Zur Vorsitzenden wurde die in Norwegen lebende Kardiologin Zeynep Binici gewählt, unterstützt von Abdullah Kaya und Muzaffer Küçükyıldız.
In seiner Begrüßung verwies Kaya auf das zehnjährige Bestehen der Plattform. „Wir verdanken unsere heutige Zusammenkunft jenen, die Sprache, Kultur und Identität trotz aller Widrigkeiten bewahrt haben“, sagte er.
Erhalt kultureller Vielfalt und demokratische Zukunft als Leitmotiv
Zentrale Themen des Kongresses waren der Schutz der kurdischen Sprache und Kultur, die Rolle der zentralanatolischen Diaspora sowie politische Selbstbestimmung. Die frühere HDP-Abgeordnete Fatma Kurtulan, die als Gastrednerin eingeladen war, betonte in ihrer Ansprache die Bedeutung demokratischer Teilhabe und erinnerte an prominente Persönlichkeiten wie die Jineolojî-Forscherin Nagihan Akarsel, den früheren HADEP-Vorsitzenden Murat Bozlak und die inhaftierte Politikerin Leyla Güven. „In Rojava wurde ein Modell des friedlichen Zusammenlebens geschaffen“, sagte Kurtulan. „Dieses Beispiel für Demokratie, Toleranz und Vielfalt müssen wir auch in der Türkei ermöglichen – gemeinsam, im Geiste des gegenseitigen Respekts.“
Der Ko-Vorsitzende des Nationalkongress Kurdistan (KNK), Ahmet Karamus, lobte den Widerstandswillen der zentralanatolischen Kurd:innen: „Trotz Zwangsansiedlungen, Entfremdung und Assimilationsdruck habt ihr eure Sprache, Kunst und Identität bewahrt. Das ist keine Selbstverständlichkeit – sondern ein kultureller Akt der Selbstbehauptung.“ Karamus sprach von einer neuen politischen Phase, in der es um das Recht auf Selbstbestimmung gehe. Das demokratische Gesellschaftsmodell Rojavas, so Karamus, sei inzwischen international anerkannt und weise über die Region hinaus.
Größte kurdische Diaspora Europas
Für Aufmerksamkeit sorgte auch der kurdische Diplomat Selahattin Soro. Er bezeichnete die Exil-Gemeinschaft der zentralanatolischen Kurd:innen mit rund 700.000 Menschen als „die größte kurdische Diaspora Europas“. Diese verfüge über eine erhebliche gesellschaftliche Präsenz – mit Akademiker:innen, Autor:innen, politischen Mandatsträger:innen sowie engagierten Menschen in Wirtschaft und Kultur. „PKAN muss dieses Potenzial besser bündeln“, sagte Soro. „Wenn diese Menschen gemeinsam agieren, kann daraus eine ernstzunehmende gesellschaftliche Kraft entstehen.“
Wahlen und Rechenschaftsberichte
Im weiteren Verlauf des Kongresses wurden der Rechenschaftsbericht über die vergangene Amtszeit sowie Finanzberichte und die Berichte der Landesvertretungen vorgestellt. Neben dem zentralen Gremium unterhält PKAN lokale Strukturen in mehreren europäischen Ländern, darunter Dänemark, Schweden, Norwegen, Deutschland, die Niederlande und die Schweiz. Weitere Vertretungen bestehen in Kanada, Frankreich und Belgien.
Zum Abschluss wählten die Delegierten eine neue Doppelspitze. Hasan Bozlak (Schweden) und Çiğdem Akbina (Deutschland) wurden als neue Ko-Vorsitzende bestimmt. Zudem wurde ein 27-köpfiges zentrales Leitungsgremium gewählt.
[album=21540]
https://deutsch.anf-news.com/kultur/anatolische-kurd-innen-bewahren-ihre-sprache-47801
Journalist Hakan Tosun schwer verletzt am Straßenrand gefunden
Der seit Tagen vermisste Journalist und Dokumentarfilmer Hakan Tosun ist in Istanbul schwer verletzt am Straßenrand gefunden worden. Nach ersten Erkenntnissen wurde er brutal zusammengeschlagen. Tosun erlitt eine Gehirnblutung und wird auf der Intensivstation einer Klinik im Bezirk Başakşehir behandelt. Sein Zustand gilt als kritisch.
Die Polizei hat Ermittlungen aufgenommen. Wer hinter dem Angriff steckt, ist derzeit unklar.
Tosun war zuletzt am späten Abend des 10. Oktober gesehen worden. Seitdem fehlte von ihm jede Spur. Angehörige hatten daraufhin eine Vermisstenanzeige erstattet.
Dokumentarfilmer mit Fokus auf soziale Bewegungen
Hakan Tosun wurde 1975 in Istanbul geboren. In den frühen 1990er-Jahren stieg er mit dem Aufkommen privater Radiosender als technischer Berater ins Mediengeschäft ein. Ab 1998 arbeitete er in Izmir für verschiedene Fernsehsender als Schnitttechniker. Seit 2009 widmet er sich vor allem der Produktion unabhängiger Dokumentarfilme über Umwelt, Stadtentwicklung und soziale Proteste.
Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen Çatılara Doğru („Hinauf zu den Dächern“), Tekel İşçileri („Tekel-Arbeiter“), Büyük Anadolu Yürüyüşü („Der Große Anatolien-Marsch“), Dönüşüm („Gentrifizierung“) und Validebağ Direnişi („Der Widerstand von Validebağ“). Tosun ist Mitgründer der Firma „Dokumentarfilmproduktion Natur und Stadtaktivismus“ und dort als Regisseur tätig.
Dokumentarserie „Vejîna Kurd“ geht mit Staffel-Finale in kurze Pause
Die Dokumentarserie „Ji qirkirinê ber bi jiyana azad ve – Vejîna Kurd“ (dt.: „Vom Völkermord zum freien Leben – Die kurdische Auferstehung“) geht mit ihrer 28. Folge in das Finale der ersten Staffel. Die auf Stêrk TV und Medya Haber ausgestrahlte Serie wurde von der Dokumentations-Kommune Gulistan Tara konzipiert und in drei Staffeln angelegt.
Die Doku-Reihe verfolgt die politische und ideologische Entwicklung der kurdischen Freiheitsbewegung, insbesondere anhand des Lebenswegs von Abdullah Öcalan – Schritt für Schritt, von den Anfängen in Ankara bis zum Aufbau eines organisierten Widerstands.
Eine Geschichte des Aufbruchs – Staffel 1 als „Erste Geburt“
Seit der Erstausstrahlung hat Vejîna Kurd große Resonanz beim Publikum gefunden. In bisher 27 Episoden beleuchtet die Serie zentrale Wendepunkte der kurdischen Geschichte und stellt das kollektive Gedächtnis unter das Licht der „Führungsfrage“ – also der Rolle Abdullah Öcalans als politischer Akteur, Ideengeber und Stratege.
Die Serie dokumentiert, wie sich aus einer kleinen ideologischen Gruppe in Ankara eine wachsende Bewegung formte, die mit dem Beschluss zur Parteigründung den bewaffneten Kampf in Kurdistan aufnahm. Zeitzeug:innen schildern dabei eindrücklich die Umbrüche im Nahen Osten, den Widerstand in den Gefängnissen in Amed (tr. Diyarbakır) und die strategische Entscheidung zur Rückkehr in die Heimat und zum bewaffneten Kampf.
Finale widmet sich dem 15. August 1984
Am Mittwoch wird mit der Folge „Mit dem ersten Schuss“ das Staffelfinale ausgestrahlt. Im Mittelpunkt steht der 15. August 1984 – das Datum, an dem die PKK mit zwei koordinierten Angriffen erstmals militärisch in Erscheinung trat.
Die Folge verfolgt die Spuren des Guerillakommandanten Mahsum „Egîd“ Korkmaz, einem der führenden Köpfe dieser Etappe, und beleuchtet die Auswirkungen dieses Aufbruchs auf die vier Teile Kurdistans, innerhalb der PKK, aber auch in den Gefängnissen und unter der Bevölkerung.
Berichte von Zeitzeug:innen und bislang wenig bekannte Archivaufnahmen geben Einblicke in die Dynamik dieses historischen Moments.
Fortsetzung mit „Zweiter Geburt“ geplant
Nach einer kurzen Pause wird die Serie mit der zweiten Staffel unter dem Titel „Die zweite Geburt“ fortgesetzt. Thematisch soll der Zeitraum vom 15. August 1984 bis zum 15. Februar 1999 – dem Tag der völkerrechtswidrigen Verschleppung Abdullah Öcalans – abgedeckt werden.
https://deutsch.anf-news.com/kultur/dokumentarserie-vejina-kurd-von-burg-beaufort-nach-kurdistan-48090 https://deutsch.anf-news.com/kultur/dokumentarserie-vejina-kurd-beleuchtet-gefangnis-von-diyarbakir-47557 https://deutsch.anf-news.com/kultur/dokumentarserie-vejina-kurd-jetzt-auf-eigener-website-verfugbar-46401 https://deutsch.anf-news.com/kultur/dokumentations-kommune-gulistan-tara-gegrundet-45481
„Ein neuer Mensch muss entstehen“
Die politische Philosophie Abdullah Öcalans hat sich über die Grenzen Kurdistans hinaus zu einem internationalen Referenzrahmen für gesellschaftliche Transformation entwickelt. Der Journalist, Autor und ehemalige Funktionär der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP), Ömer Ağın, nähert sich dem Paradigma aus marxistischer und soziologischer Perspektive. Im Zentrum seiner Analyse stehen die Konzepte von Frieden, demokratischer Konföderalismus, Integration ohne Assimilation und die Notwendigkeit eines „neuen Menschen“. Ağın plädiert für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Öcalans Denken – nicht nur als Theorie, sondern als gesellschaftlich wirksame Praxis mit globaler Relevanz.
Paradigma als gesellschaftliche Realität
Ağın unterstreicht, dass Öcalans Paradigma besonders von sozialistischen Bewegungen verstanden werden müsse: „Meines Erachtens ist es entscheidend, sich mit den zentralen Bezugspunkten der kurdischen Freiheitsbewegung auseinanderzusetzen – einer Bewegung, die über verschiedene methodische Ansätze und detaillierte historische Analysen einen eigenständigen Zugang zum historischen und gesellschaftlichen Materialismus entwickelt hat. Abdullah Öcalan hat dieses Paradigma mit philosophischen Methoden weiterentwickelt.“
Entscheidend sei, dass diese Gedanken nicht nur wiederholt, sondern tatsächlich gesellschaftlich verstanden und verinnerlicht würden. „Die Beteiligung der Bevölkerung, der Intellektuellen und der demokratischen Kräfte ist zentral. Eine Theorie wird erst dann zur materiellen Kraft, wenn sie von den Massen verinnerlicht wird. Die kurdische Bevölkerung hat diese Theorie, besonders durch 50 Jahre Kampftradition, internalisiert und sie in eine kollektive Kraft übersetzt.“
Ağın sieht darin eine wichtige Lehre – nicht nur für die kurdische Bewegung, sondern für alle revolutionären und demokratischen Kräfte in der Türkei: „Diesen Punkt zu erkennen, ist fundamental. Es geht um einen Bezugspunkt für alle, die sich für soziale Transformation und demokratische Alternativen zum Status quo interessieren.“
Sozialistische Erfahrung und post-sowjetische Lehren
In seiner Analyse verknüpft Ağın auch persönliche Erfahrungen mit strukturellen Einschätzungen. „Ich glaube, dass wir Sozialisten zu jenen gehören, die Öcalans Paradigma am besten verstehen können – nicht zuletzt aufgrund unserer Erfahrungen mit dem Zerfall des real existierenden Sozialismus.“
Ağın verweist auf seine Ausbildung an marxistischen Instituten in der Sowjetunion ab 1977, seine Beobachtungen des Systems, sowohl in Bezug auf Errungenschaften als auch auf Missstände. „Ich habe nicht nur die kollektiven Errungenschaften der Bevölkerung erlebt, sondern auch die Schwächen – etwa als wir erfuhren, dass der Schwiegersohn von Generalsekretär Breschnew in Diamantenschmuggel verwickelt war.“
Gerade weil man selbst unter dem „Trümmerhaufen des real existierenden Sozialismus“ gestanden habe, sei das Verständnis für alternative Modelle, wie jenes der kurdischen Bewegung, gewachsen. „Wir gehören zu jenen Kräften, die unter den Trümmern dieser Geschichte lagen. Deshalb glaube ich, dass wir die historische und gesellschaftliche Entwicklung des kurdischen Paradigmas zumindest ansatzweise verstehen.“
Globaler Diskurs und historische Tiefe
Öcalans Paradigma sei längst nicht mehr auf Kurdistan beschränkt, so Ağın, sondern Teil eines globalen Diskurses: „Wissenschaftler diskutieren es, Nobelpreisträger unterstützen es, Künstler greifen es auf. Es hat sich zu einer politischen Agenda entwickelt – auch international.“
Wer dieses Paradigma verstehen wolle, müsse jedoch den Blick tief in die Geschichte richten. Die kurdische Freiheitsbewegung unterscheide sich darin grundlegend von klassisch-marxistischen Narrativen. „Die Bewegung beginnt nicht mit der Herausbildung von Klassengesellschaften. Sie berücksichtigt bereits die vor-klassischen Gesellschaften – vom Urkommunismus bis zur Entwicklung von sozialer Organisation ohne Klassen.“
Dabei würden nicht nur dialektischer und historischer Materialismus reflektiert, sondern auch idealistische Denksysteme berücksichtigt, betont Ağın. „Idealismus ist nichts anderes als ein Reflex des Materialismus – Gedanken sind eine Form, ein Ausdruck von Materie. Aber selbst bevor materialistische Theorien vollständig formuliert wurden, existierten bereits psychologische und soziale Strukturen im Menschen. Öcalan analysiert diese Entwicklungen ausgehend von den sumerischen Priestergesellschaften bis zur Gegenwart.“
Die vier Grundpfeiler des Paradigmas und die Philosophie des Friedens
Ömer Ağın bezeichnet das Paradigma der kurdischen Befreiungsbewegung als ein System, das sich auf die Begriffe Frieden, demokratische Gesellschaft und demokratische Integration gründet.
Der erste und zentrale Pfeiler sei der Begriff des Friedens. Um diesen zu verstehen, müsse man erkennen, dass hier nicht von klassischen Friedensverträgen wie zwischen den Hethitern und Ägyptern oder zwischen Timur und Bayezid I. (1402) die Rede sei. Vielmehr handle es sich um eine Form gesellschaftlicher Einigung, die es verschiedenen demokratischen Strukturen ermögliche, ihre Eigenständigkeit zu bewahren und zugleich gemeinsame soziale Produktion und Weiterentwicklung zu ermöglichen.
„Frieden in diesem Verständnis ist kein Zustand der Kapitulation oder einseitigen Unterwerfung. Er ist ein Prozess gegenseitiger Anerkennung, ein Mechanismus, der den Beteiligten erlaubt, sich in einem demokratischen Rahmen fortzuentwickeln“, so Ağın.
Frieden sei demnach eine Methode, innerhalb antagonistischer oder nicht‑antagonistischer Widersprüche ein neues Verhältnis der wechselseitigen Selbstentfaltung zu schaffen. Diese Auffassung unterscheide sich deutlich von traditionellen Modellen, die auf Machtbalance oder hegemonialer Kontrolle beruhen. „Frieden ist keine bloße Beendigung des Konflikts, sondern die Schaffung der Bedingungen, unter denen gerechte, demokratische und inklusive Lösungen möglich werden.“
Ağın erweitert diesen Begriff auf ökologische und geschlechterpolitische Dimensionen. Frieden bedeute zugleich die Versöhnung der Gesellschaft mit der Natur sowie die Überwindung patriarchaler Herrschaftsstrukturen. „Frieden impliziert, dass die männliche Dominanz aufgehoben wird und die in frühen kommunalen Gesellschaften existierenden egalitären Beziehungen wieder zum Ausdruck kommen. Er ist keine temporäre Verständigung zwischen Herrschenden, sondern ein Prinzip dauerhafter gesellschaftlicher Erneuerung.“
Ağın veranschaulicht dies mit einem technischen Bild: Frieden sei wie das Zusammenspiel einer Schraube mit ihrer Mutter – nur wenn beide präzise aufeinander abgestimmt seien, entstehe eine stabile Verbindung. Ebenso könne gesellschaftlicher Frieden nur auf der Grundlage von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt entstehen.
Demokratischer Konföderalismus als politische Form des Friedens
Frieden könne, so Ağın, nur auf Basis einer demokratischen Struktur verwirklicht werden – und diese Struktur werde im Paradigma Öcalans als Demokratischer Konföderalismus bezeichnet. Diese Idee sei nicht als Variante des föderalen oder autonomen Staatsmodells zu verstehen, das aus der Logik kapitalistischer Staatlichkeit hervorgegangen sei.
„Der demokratische Konföderalismus ist kein Abkömmling des Nationalstaats, sondern sein Gegenentwurf. Der Nationalstaat entstand im Schoß des Kapitalismus, seine Varianten – Föderationen, Autonomien, sogar konföderale Modelle – sind allesamt Ausdruck der kapitalistischen Herrschaftsordnung.“
Das kurdische Paradigma breche mit dieser Tradition. Es ziele auf eine dezentralisierte, partizipative Struktur, in der jede Gemeinschaft die Fähigkeit besitze, sich selbst zu verwalten und in Kooperation mit anderen neue Werte zu schaffen. „Diese Form der Selbstverwaltung ist nicht nur ein institutionelles, sondern auch ein ökonomisches Konzept – sie setzt eine neue materielle Basis voraus“, erklärt Ağın.
Demokratischer Konföderalismus bedeute also eine Neustrukturierung der Gesellschaft von unten nach oben, auf Grundlage lokaler Selbstorganisation, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit.
Gesellschaftliches Bewusstsein und ökologische Perspektive
Zur Erläuterung der Wechselbeziehung zwischen Produktionsverhältnissen und Bewusstsein greift Ağın auf eine soziologische Metapher zurück: „Man kann die Gesellschaft mit einem Baum vergleichen. Die Wurzeln repräsentieren die Produktion selbst – das Fundament, das von den arbeitenden Klassen gebildet wird. Der Stamm steht für das durchschnittliche gesellschaftliche Bewusstsein.“
Dieses Bewusstsein sei jedoch nicht statisch. In Gesellschaften mit einem hohen Reflexionsniveau entstünden neue Formen der sozialen Organisation – symbolisiert durch Äste und Blätter des Baums. Nur wer diese Dynamik verstehe, könne dialektischen und historischen Materialismus in Verbindung mit demokratischen und ökologischen Konzepten begreifen.
Ağın sieht in Öcalans Denken genau diesen erweiterten Ansatz: „Öcalan betrachtet die Geschichte nicht in einem grob materialistischen Sinne. Er entwickelt eine ökologische und ganzheitliche Sichtweise, die natürliche und gesellschaftliche Entwicklung gemeinsam analysiert.“
Diese Perspektive ermögliche es, soziale Widersprüche – etwa jene zwischen Patriarchat und Eigentumsgesellschaft – historisch zu verorten. Die vielzitierte Formel „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit) sei Ausdruck dieser Analyse. Dass er weltweit aufgegriffen werde, zeige, dass die Erforschung der Ursprünge weiblicher Unterdrückung und ihre philosophische, ökonomische und kulturelle Einbettung ein universelles Thema geworden sei.
Demokratische Integration
Der dritte Grundpfeiler des kurdischen Paradigmas ist laut Ağın die demokratische Integration. Integration dürfe nicht mit Assimilation verwechselt werden. Während Assimilation auf Zwang, Anpassung und die Auslöschung kultureller Unterschiede abziele, basiere Integration auf gegenseitiger Anerkennung und der Schaffung gemeinsamer Werte.
„Demokratische Integration bedeutet, dass verschiedene Identitäten ihre Eigenheiten bewahren, gemeinsam aber neue Werte hervorbringen und diese mittels demokratischer Methoden in die Zukunft tragen.“ Eine solche Integration könne nur in einem demokratischen Umfeld stattfinden. Ohne Frieden und ohne demokratische konföderale Struktur bleibe sie unmöglich.
„Solange der Nationalstaat – als Produkt des Kapitalismus – fortbesteht, kann Integration nicht erreicht werden. Erst die Demokratisierung des Staates und der Abbau autoritärer Strukturen eröffnen die Möglichkeit, dass gesellschaftliche Unterschiede sich in einem gemeinsamen System reproduzieren können.“
Der neue Mensch: Anthropologische Grundlage des Paradigmas
Eine der zentralen Voraussetzungen für die Verwirklichung des von der kurdischen Freiheitsbewegung vertretenen Gesellschaftsmodells ist laut Ömer Ağın die Herausbildung eines neuen Menschentyps. „All diese Prozesse können nur dann verwirklicht werden, wenn ein neuer Mensch entsteht“, betont er.
Dieser neue Mensch sei nicht kompatibel mit den durch Kapitalismus, Feudalismus oder autoritäre sozialistische Strukturen geprägten Subjektformen. Wer in einem Denken verhaftet sei, das auf Kontrolle, Bürokratie oder ideologischer Dogmatik beruhe, sei nicht in der Lage, das Neue zu gestalten. „Ein Mensch, der sich aus den Werten des Kapitalismus, des Halb-Feudalismus oder eines dogmatischen Sozialismus speist, kann nicht Träger dieser Transformation sein.“
Die kurdische Bewegung strebe daher eine bewusste, pädagogisch begleitete Transformation an – durch Bildungsarbeit, durch Praxis, durch politische Selbstreflexion. „Die kurdische Freiheitsbewegung betreibt intensive Arbeit, um diesen neuen Menschen hervorzubringen – durch Schulungen, politische Auseinandersetzung und soziale Erfahrung. In Kurdistan, der Türkei und dem Mittleren Osten wird kontinuierlich daran gearbeitet, das Bewusstsein der Massen in diesem Sinne zu verändern.“
Die philosophische Grundlage dieses Ansatzes finde sich in den Schriften und Denkweisen Abdullah Öcalans, dessen konzeptioneller Zugriff auf Anthropologie, Geschichte und Ethik das Fundament bilde.
Neue Begriffe für eine neue Praxis – und die Notwendigkeit der Dezentralisierung
Wie jede neue gesellschaftliche Theorie bringe auch das kurdische Paradigma eigene Begriffe hervor, so Ağın. „Ein neues Denken muss zwangsläufig neue Begriffe schaffen. Doch diese Begriffe entstehen nicht über Nacht – sie benötigen Zeit, gesellschaftlichen Prozess und kollektive Erfahrung.“
Solange diese neuen Kategorien noch in Entwicklung seien, greife die Bewegung – notwendigerweise – auf ältere Begrifflichkeiten zurück. Doch das bringe Herausforderungen mit sich: „Mit alten Begriffen neue Gedanken zu erklären, ist ein schwieriges Unterfangen. Deshalb ist die Debatte über dezentrale, also anti-zentralistische Strukturen unausweichlich.“
Demokratisierung dürfe jedoch nicht auf staatliche Institutionen begrenzt bleiben. Die Gesellschaft selbst müsse durchdrungen und aktiviert werden. „Neben der Demokratisierung des Staates braucht es die Verankerung demokratischer Werte in der Bevölkerung. Die Menschen müssen lernen, sich selbst zu organisieren und zu verwalten.“
Ağın fordert, dass kommunale Strukturen wie Städte und Gemeinden sich im Sinne des demokratischen Konföderalismus neu erfinden – und dass Basisbewegungen als Träger dieser Struktur fungieren. Diese müssten alternative Organisationsformen gegenüber dem nationalstaatlichen Föderalismus oder autonomistischen Modellen aufbauen.
Zwei Wege zur Nationsbildung – und ein demokratischer Ausweg
Abschließend verweist Ağın auf zwei historisch dominante Modelle der Nationsbildung: Das preußische Modell, wie es in Deutschland vollzogen wurde – eine Form, die auf ethnischer Homogenität basiert. Und das amerikanische Modell, das sich stärker an territorialer Zugehörigkeit orientiert. Letzteres sei zwar fortschrittlicher, beide jedoch seien letztlich Produkte des Kapitalismus und führten zum Nationalstaat als dessen Organisationsform. „Beide Wege münden in den kapitalistischen Nationalstaat. Sie sind also keine Alternativen im Sinne demokratischer Emanzipation.“
Das Paradigma der kurdischen Bewegung lehne daher sämtliche staatszentrierten Modelle ab. Stattdessen werde eine dezentralisierte, nicht-hegemoniale Ordnung angestrebt, die auf lokaler Autonomie und gegenseitiger Kooperation beruht. „Statt auf Machtkonzentration zielt der demokratische Konföderalismus auf Selbstverwaltung von unten. Ziel ist eine Gesellschaft, die sich selbst organisiert, auf gegenseitiger Unterstützung beruht und gemeinsam neue soziale Werte hervorbringt.“
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/videobotschaft-von-abdullah-Ocalan-47007 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/das-beharren-auf-menschsein-48330 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/theorie-als-verantwortung-hakan-Ozturk-uber-Ocalans-politisches-denken-46797 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/serxwebun-veroffentlicht-Ocalans-perspektiven-zum-pkk-kongress-46554 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/soydan-akay-gesellschaftliches-sein-ist-sozialistisch-47054
Weitere Proteste für eine politische Lösung der kurdischen Frage
Anlässlich des 27. Jahrestags der erzwungenen Ausreise Abdullah Öcalans aus Syrien am 9. Oktober 1998 und zwei Jahre nach dem Start der internationalen Kampagne „Freiheit für Abdullah Öcalan – Für eine politische Lösung der kurdischen Frage“ ist es in zahlreichen europäischen Städten am Samstag zu Demonstrationen, Kundgebungen und Solidaritätsaktionen gekommen.
Die Proteste richteten sich gegen die fortgesetzte Geiselhaft des kurdischen Vordenkers auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali und verbanden die Forderung nach seiner Freilassung mit dem Ruf nach einem demokratischen Friedensprozess in der Türkei und im Nahen Osten.
Veranstaltung in Wien
In Wien begann eine der zentralen Kundgebungen auf dem Christian-Broda-Platz unter dem Motto „Freiheit für Öcalan“. In Redebeiträgen verurteilten die Teilnehmenden die internationale Verwicklung in das Öcalan-Komplott, das 1998 zur erzwungenen Ausreise des PKK-Begründers und später zu seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung führte.
Trotz 26 Jahren Haft unter schwersten Bedingungen sei Öcalans politischer Einfluss ungebrochen, hieß es. Besonders betont wurde sein Beitrag zur Entwicklung des „Prozesses für Frieden und demokratische Gesellschaft“, der heute von vielen als Grundlage für eine Lösung der kurdischen Frage gesehen wird. Die Demonstration endete mit einer kraftvollen Kundgebung vor dem Demokratischen Kurdischen Gesellschaftszentrum Wien.
Demonstration in Frankfurt
In Frankfurt führten kurdische Jugendgruppen und der Frauenrat Amara eine Demonstration vom Hauptbahnhof bis zum Goetheplatz an. In Reden wurde betont, dass Öcalans am 27. Februar veröffentlichter Friedensaufruf ein „klarer Fahrplan für eine politische Lösung“ sei. Viele trugen Porträts Öcalans sowie Plakate mit Aufschriften wie „Freiheit für Öcalan“. Am Ende des Marschs wurde zu einer Großdemonstration am 8. November in Köln mobilisiert.
Protest in Marseille
In Marseille versammelten sich Tausende unter der Leitung der Kurdischen Jugendbewegung und des Frauenrats Arîn Mîrkan. Die Demonstration, an der sich auch solidarische französische Gruppen beteiligten, zog durch die Innenstadt bis zum Alten Hafen. Transparente forderten in mehreren Sprachen „Freiheit für Öcalan – Frieden für Kurdistan“.
In Redebeiträgen wurde die Isolation Öcalans als „Teil eines umfassenden Angriffs auf die kurdische Identität“ bezeichnet. Der Ko-Vorsitzende der Föderation demokratischer kurdischer Gemeinden in Südfrankreich, Yılmaz Serhad, erklärte: „Der kurdische Widerstand hat dieses Komplott durchbrochen. Die Forderung nach Öcalans Freiheit ist heute eine Forderung der Völker.“
Der Jugendsprecher Tolhildan Azad nannte die Inhaftierung einen „international koordinierten Akt unter Führung der USA, Israels und Großbritanniens“ und versprach, Öcalans Ideen weiterzutragen: „Wir, die Jugend, setzen diese Gedanken in die Tat um.“
[album=21538]
Straßburg, Den Haag, Freiburg
In Straßburg zogen Demonstrierende vom Place Dauphine bis zum zentralen Place Kléber. Auf Bannern stand „Liberté pour Öcalan“ und „Stop Isolation“. In einer Schweigeminute wurde der revolutionären Gefallenen Kurdistans gedacht. In den Reden wurde der 9. Oktober als ein Tag bezeichnet, an dem „die Freiheit eines Volkes angegriffen wurde“. Die Teilnehmenden forderten von der internationalen Gemeinschaft, ihre Verantwortung nicht länger zu ignorieren.
Auch in Den Haag, vor dem internationalen Gerichtshof im Vredepaleis, fand eine Protestaktion statt. Kurdische Aktivist:innen verteilten Flugblätter und riefen Parolen wie „Isolationshaft ist Folter“ und „Lang lebe Apo“. Die Aktion endete mit einem Aufruf zur internationalen Solidarität.
In Freiburg organisierten der Frauenrat und der Volksrat eine Gedenkveranstaltung mit Redebeiträgen und Musik. Hier wurde insbesondere die Rolle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und anderer Institutionen Europas kritisiert, da diese aus Sicht der Teilnehmenden „zum Schweigen der internationalen Gemeinschaft beiträgt“.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/globaler-Ocalan-aktionstag-kon-med-ruft-zur-beteiligung-auf-48086 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/von-berlin-bis-sao-paulo-freiheit-fur-abdullah-Ocalan-aktionen-48331 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/hamburg-unterstutzung-fur-friedensprozess-gefordert-48327 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/fotoaktion-freiheit-fur-Ocalan-in-celle-48325 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/globaler-Ocalan-aktionstag-kon-med-ruft-zur-beteiligung-auf-48086
Tülay Hatimoğulları in Berlin: Frieden und Demokratie gemeinsam erkämpfen
Die Ko-Vorsitzende der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM), Tülay Hatimoğulları, hat sich auf einer Friedenskonferenz in Berlin für einen umfassenden demokratischen Neuanfang in der Türkei ausgesprochen. In ihrer Rede warnte sie vor zunehmendem Autoritarismus und warb zugleich für konkrete gesetzliche Schritte zur Demokratisierung und Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen.
Die „Friedenskonferenz Türkei“, organisiert von der Alevitischen Gemeinde zu Berlin, brachte am Samstag zahlreiche Vertreter:innen aus Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und verschiedenen Diasporagemeinschaften zusammen. Im Mittelpunkt standen Perspektiven auf Frieden und Koexistenz in der Türkei, Syrien und der weiteren Region.
„Eine demokratische Türkei ist Voraussetzung für Frieden“
Tülay Hatimoğulları betonte, dass der Frieden in der Türkei untrennbar mit dem Frieden in Syrien, Rojava und im Nahen Osten verbunden sei. „Wir setzen uns für einen kurdischen Frieden ein – aber das allein reicht nicht. Wir müssen eine demokratische Türkei aufbauen“, sagte sie.
Angesichts global wachsender Spannungen, autoritärer Tendenzen und der Eskalation in der Region sei es umso wichtiger, jetzt konkrete Schritte einzuleiten. „Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um eine demokratische Republik und eine demokratisierte Gesellschaft zu ermöglichen.“
„Der Staat versucht, Alevitentum zu kontrollieren“
Ein zentrales Thema ihrer Rede war die aktuelle Politik gegenüber der alevitischen Glaubensgemeinschaft. Hatimoğulları, die selbst Alawitin ist, warf der Regierung in Ankara vor, Alevitentum innerhalb staatlicher Grenzen „neu erschaffen und kontrollieren“ zu wollen.
„Die AKP-Regierung versucht nicht nur, Kurd:innen zu assimilieren. Sie verfolgt eine einheitliche, zentralistische Politik gegenüber allen ethnischen und religiösen Gruppen. Das betrifft sowohl Herkunft als auch Glauben und Bekenntnis“, sagte die Politikerin. Alevit:innen beziehungsweise Alawit:innen würden sowohl in der Türkei als auch in Syrien immer wieder Ziel von Gewalt und Diskriminierung.
„Der Staat unternimmt gezielte Schritte, um Alevitentum unter seine Kontrolle zu bringen. Dagegen stellen wir uns mit aller Entschiedenheit“, so Hatimoğulları.
Gleichheit für alle, nicht nur für die Mehrheit
Der Frieden, den die DEM-Partei anstrebe, sei nicht auf eine ethnische Gruppe beschränkt, sondern umfasse alle: „Unser Ziel ist eine demokratische Ordnung, in der Alevit:innen, Kurd:innen, Araber:innen, Türk:innen, Muslime, christliche Gläubige, Ezid:innen – alle – als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger leben können.“
Hatimoğulları erinnerte daran, dass die DEM-Partei seit Beginn des vom kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan angestoßenen Prozesses für Frieden und demokratische Gesellschaft den Austausch mit mehr als 100 alevitischen Organisationen geführt habe. Der Dialog solle weitergeführt und vertieft werden.
„Es braucht konkrete Gesetze, keine leeren Versprechen“
Mit Blick auf die politische Zukunft der Türkei forderte Hatimoğulları konkrete rechtliche Schritte zur Demokratisierung. „Was wir brauchen, sind Gesetze für Freiheit und Gleichstellung – keine symbolischen Maßnahmen, sondern verbindliche, überprüfbare Regelungen.“ Zudem verlangte sie die sofortige Freilassung politischer Gefangener, darunter Selahattin Demirtaş, Figen Yüksekdağ und die Kobanê-Gefangenen.
„Es war Selahattin Demirtaş, an den der erste Brief Abdullah Öcalans im Friedensprozess adressiert war – ebenso wie an Figen Yüksekdağ. Sie stehen für einen politischen Weg des Dialogs“, sagte sie. Gegen eine derzeit stattfindende staatlich gelenkte „Meinungsmache“ und Versuche, einen Widerspruch zwischen Öcalan und Demirtaş herzustellen, müsse eine breite zivilgesellschaftliche Front aufgebaut werden.
„Den Frieden trotz allem erreichen“
Zum Abschluss ihrer Rede rief Hatimoğulları alle demokratischen Kräfte, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften sowie Frauen- und Jugendbewegungen dazu auf, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. „Wir sind bereit, diesen Prozess gemeinsam zu organisieren. Wir werden gewinnen – wir werden den Frieden trotz allem erreichen. Wir werden das Blutvergießen beenden – in der Türkei, in Syrien und in der ganzen Region.“
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/hatimogullari-gesprache-mit-Ocalan-waren-politisch-wichtiger-schritt-48282 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/alevit-innen-fordern-gleichberechtigung-im-friedensprozess-47676 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/alevitische-verbande-wir-sind-konstitutive-kraft-fur-frieden-und-wandel-47363
Rojin Kabaiş: DNA-Funde erhärten Verdacht auf sexualisierte Gewalt
Im Fall der verdächtigen Todesumstände der Studentin Rojin Kabaiş gibt es eine neue Entwicklung: Ein aktuelles forensisches Gutachten enthält erstmals konkrete Hinweise auf mögliche sexualisierte Gewalt. Die Familie und deren Verteidigungsteam werfen den Behörden massive Versäumnisse bei der Ermittlungsarbeit vor – insbesondere dem an das Justizministerium angebundene Institut für Rechtsmedizin. Die Rechtsanwaltskammern von Wan (tr. Van) und Amed (Diyarbakır) kündigten am Samstag rechtliche Schritte gegen die Institution an.
Die 21-jährige Rojin Kabaiş, Erstsemesterstudentin im Fachbereich Kindheitspädagogik an der Universität Yüzüncü Yıl, war im Oktober 2024 – 18 Tage nach ihrem Verschwinden aus einem Studentinnenwohnheim – am Ufer des Wan-Sees tot aufgefunden worden. Die Umstände ihres Todes waren von Beginn an unklar. Die Ermittlungsbehörden stellten frühzeitig die These eines Suizids in den Raum – eine Deutung, die von der Familie und ihrer anwaltlichen Vertretung entschieden in Zweifel gezogen wird. Sie fordern seit Monaten eine lückenlose und transparente Aufklärung.
Jurist: Von Beginn an einseitige Ermittlungen
Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Amed kritisierte Sinan Özaraz, Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer Wan, das Vorgehen der Behörden: „Seit dem Tag von Rojins Verschwindens kämpfen wir um Gerechtigkeit. Doch die Ermittlungen wurden von Anfang an nicht wirksam geführt – stattdessen wurde einseitig auf Suizid fokussiert.“
Die Anwält:innen hätten weder am Obduktionsverfahren teilnehmen dürfen, noch sei eine offene Akteneinsicht ermöglicht worden. „Wir wissen deshalb bis heute nicht, wie intensiv die Ermittlungen tatsächlich geführt wurden“, sagte Özaraz. Die neuen Erkenntnisse seien nicht zuletzt dem juristischen Einsatz der Familie und der Anwaltskammern zu verdanken. „Wir sind heute hier, um den forensischen Bericht vom 10. Oktober öffentlich zu machen – ein Dokument, das zentrale Fragen aufwirft.“
DNA-Spuren an sensiblen Körperstellen festgestellt
Die Anwältin Zeynep Demir vom Frauenrechtszentrum der Anwaltskammer Wan machte deutlich, dass die bislang zurückgehaltenen Informationen den Fall in einem neuen Licht erscheinen lassen. In dem aktuellen Bericht des Zentrums für biologische Untersuchungen der Istanbuler Rechtsmedizin sei erstmals konkret angegeben worden, an welchen Stellen am Körper von Rojin Kabaiş DNA-Spuren festgestellt wurden. „Eine Spur befindet sich im Bereich des Brustbeins. Die zweite – und das ist entscheidend – wurde im inneren Vaginalbereich nachgewiesen“, erklärte Demir. Beide Spuren stammen demnach von zwei männlichen Personen. Der Verdacht auf sexualisierte Gewalt, so Demir, könne damit nicht länger ausgeblendet werden.
Die Jursitin kritisierte scharf, dass das Institut für Rechtsmedizin diese Informationen über ein Jahr lang zurückgehalten habe – obwohl es sich dabei um zentrale Erkenntnisse für die Bewertung des Falls handle. „Die Möglichkeit einer sexualisierten Gewalttat ist damit aktenkundig – und die Ermittlungen müssen ab sofort in diese Richtung geführt werden.“ Demir gab bekannt, dass die Anwaltskammern von Wan und Amed Strafanzeige gegen die Gerichtsmedizin gestellt haben – wegen des mutmaßlich rechtswidrigen Zurückhaltens wesentlicher Beweise.
Juristische Aufarbeitung gefordert
Auch der Anwalt Nahit Eren sprach von einem gravierenden Versagen der forensischen und strafverfolgenden Behörden. Bereits früh sei bekannt gewesen, dass es zwei männliche DNA-Spuren gab – doch deren genaue Fundorte seien zunächst verschwiegen worden. „Juristisch wie medizinisch ist das nicht haltbar“, sagte Eren. Hinzu komme, dass eine Videoaufnahme aus an einer Überwachungskamera, auf der zwei Personen zu sehen seien, nicht zur Identifizierung genutzt wurde – mit der Begründung, das Bildmaterial sei zu dunkel. „Dabei zeigen die Aufnahmen deutlich erkennbar beleuchtete Bereiche. Hier wird offenbar bewusst nicht hingeschaut“, sagte Eren.
Die Anwältin Cansel Talay sprach von einem strukturellen Problem: „Der Fall Kabaiş ist kein Einzelfall. Immer wieder erleben wir, dass Beweise nicht gesichert, Spuren ignoriert, Ermittlungen verschleppt werden. Deshalb bleiben so viele Fälle von Feminiziden ohne Konsequenzen – für die Täter wie für die Behörden.“ Die Ermittlungen müssten nun vollständig neu aufgerollt werden, sagte Talay – auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Fall eine politische Dimension habe. „Dass bis heute nicht geklärt ist, um welche Art von DNA-Material es sich handelt, zeigt die mangelnde Sorgfalt.“
Vater Kabaiş: „Wer immer es war, soll gefunden werden“
Sichtlich bewegt wandte sich Nizamettin Kabaiş, der Vater von Rojin, an die Öffentlichkeit. Er dankte den Anwaltskammern für ihre Unterstützung und forderte erneut Gerechtigkeit: „Seit einem Jahr tragen wir diesen Schmerz. Dank der Arbeit der Kammern kommen wir der Wahrheit näher. Wer immer dieses Verbrechen begangen hat – er soll gefunden werden.“
https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/anwaltskammer-gerichtsmedizin-blockiert-aufklarung-im-fall-rojin-kabais-48142 https://deutsch.anf-news.com/frauen/gedenkmarsch-in-wan-fordert-gerechtigkeit-fur-rojin-kabais-48140 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/vater-von-rojin-kabais-stellt-antrag-bei-justizministerium-48032 https://deutsch.anf-news.com/frauen/elf-monate-nach-tod-von-studentin-rojin-kabais-familie-klagt-uber-vertuschung-47628 https://deutsch.anf-news.com/frauen/frauen-widersprechen-selbstmordtheorie-im-fall-rojin-kabais-43957
Konferenz über Wege zum demokratischen Zusammenleben in Mesopotamien
In der kurdischen Stadt Mêrdîn (tr. Mardin) hat am Samstag eine mehrsprachige Konferenz der Initiative für Demokratische Einheit begonnen. Unter dem Titel „Völker, Glaubensgemeinschaften und das demokratische Zusammenleben in Mesopotamien“ versammelten sich Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Zivilgesellschaft und verschiedenen ethnisch-religiösen Gruppen, um über Perspektiven eines gemeinsamen, demokratischen Lebens in der Region zu beraten.
Die Veranstaltung wurde mit Grußworten in Türkisch, Kurdisch, Arabisch, Syrisch-Aramäisch und Armenisch eröffnet – ein symbolischer Auftakt für den Anspruch auf kulturelle und sprachliche Vielfalt, der die Konferenz prägt. Die Reden betonten die Bedeutung eines gemeinsamen demokratischen Zusammenlebens, die Notwendigkeit kurdischer Einheit und die zentrale Rolle eines friedlichen politischen Prozesses im Nahen Osten.
„Ein neues, demokratisches Zusammenleben ist möglich“
Die Ko-Sprecherin der Initiative, Gülcan Kaçmaz Sayyiğit, verwies auf den „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“, den Abdullah Öcalan am 27. Februar veröffentlicht hatte. Dieser Aufruf sei nicht nur an die Türkei oder das kurdische Volk gerichtet, sondern an die gesamte Region und Welt. „Er zeigt, dass ein neues Leben, ein demokratisches Zusammenleben, möglich ist“, so Sayyiğit. Die Initiative verstehe sich als Teil dieses gesellschaftlichen Aufbaus. Trotz Assimilations- und Verdrängungspolitiken sei es möglich gewesen, in Mêrdîn eine Kultur des gemeinsamen Widerstands und der Koexistenz aufrechtzuerhalten. „Wir verfügen über das Wissen, die Erfahrung und die Stärke, diesen historischen Prozess gemeinsam zu gestalten“, erklärte sie.
Kamaç: Für ein Zusammenleben aller Völker und Glaubensgemeinschaften
Mehmet Kamaç, ebenfals Sprecher der Initiative, betonte, dass die Arbeit für ein gleichberechtigtes Miteinander über Jahre hinweg gewachsen sei. „Heute werden Menschen mal als Armenier, mal als Kurden oder als Aleviten zur Zielscheibe – das zeigt, wie wichtig ein gemeinsames Leben aller Gemeinschaften ist.“ Ziel sei eine Gesellschaft, in der ethnische und religiöse Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Stärke begriffen werde. Er zeigte sich überzeugt, dass die Initiative wachsen und sich zu einem landesweiten Kongress entwickeln werde. „Wir stehen an der Schwelle eines Wandels im Nahen Osten, und dieser Wandel kann friedliches, gleichberechtigtes Zusammenleben ermöglichen“, sagte Kamaç.
Türk: Souveränität der Kurden in Syrien darf nicht an Islamisten fallen
Der abgesetzte Bürgermeister von Mêrdîn, Ahmet Türk, richtete in seinem Redebeitrag scharfe Worte an die türkische Regierung und äußerte sich mit Nachdruck zur politischen Lage in Syrien. Die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) bezeichnete er als „rote Linie“, deren Schutz nicht nur im Interesse der Kurd:innen, sondern der gesamten Region liege.
Mit Blick auf die Entwicklungen im Nachbarland warnte Türk eindringlich vor einem Erstarken islamistischer Gruppen: „Statt kurdischer Selbstverwaltung soll nun ‚Hayat Tahrir al-Sham‘ (HTS) an der Grenze zur Türkei stehen – eine Gruppierung, aus der sich die sogenannte Übergangsregierung in Syrien gebildet hat. Doch HTS ist nichts anderes als ein radikal-islamistisches Bündnis ohne demokratische Legitimität, ohne Polizei, ohne Armee, ohne irgendeine zivile Struktur. Wer soll die Sicherheit der Bevölkerung garantieren, wenn nicht sie selbst?“
Die türkische Forderung nach Entwaffnung der Militärverbände in der DAANES sei unter diesen Umständen realitätsfern, so Türk. „Die Kurd:innen haben nicht zum Angriff, sondern zur Verteidigung gegriffen. Sie haben keine Armee aufgestellt, sondern sich vor Vertreibung und Angriffen geschützt. Es ist absurd, von ihnen jetzt Entwaffnung zu verlangen, während gleichzeitig radikale Islamisten freie Hand bekommen“, sagte er und richtete einen Appell an die Regierung in Ankara: „Wenn es darum geht, wer an der Grenze zur Türkei stehen soll – dann lieber die Kurd:innen als HTS. Wovor hat man Angst? Wird die Welt untergehen, wenn die Kurd:innen ihre eigene Zukunft gestalten?“
Aufruf zur kurdischen Einheitsfront
Türk betonte zudem die Notwendigkeit einer politischen und organisatorischen Einheit aller kurdischen Kräfte in der Region – über Parteigrenzen und Landesgrenzen hinweg. „Wir brauchen einen gemeinsamen Weg – zwischen Parteien in allen vier Teilen Kurdistans. Nur wenn wir gemeinsam handeln, können wir historische Chancen nutzen.“
Dabei richtete Türk auch deutliche Worte an die demokratischen Kräfte in der Türkei: „Zivilgesellschaft, politische Bewegungen und lokale Führungsstrukturen – ob Intellektuelle, Älteste oder Glaubensvertreter:innen – sie alle müssen jetzt Verantwortung übernehmen. Es reicht nicht, am Rand zu stehen. Es geht um die Zukunft der gesamten Region.“
Die aktuelle Phase sei historisch: „Solche Gelegenheiten kommen vielleicht einmal in hundert Jahren. Wenn wir sie nicht nutzen, hinterlassen wir unseren Kindern Dunkelheit statt Perspektiven“, sagte Türk.
Konferenz als Plattform für Vielfalt und Friedensimpulse
Auch weitere Redner:innen betonten die Bedeutung gemeinsamer politischer Prozesse. Pakrat Estukyan, Redakteur der armenischsprachigen Seiten der Zeitung Agos, verwies auf die historische Verfolgung der Armenier:innen und die andauernde Politik der kulturellen Verleugnung. Ein friedliches Zusammenleben sei nur durch ein Ende des „Einheitsdenkens“ möglich. Der Aufruf zu Frieden und Demokratie Öcalans sei daher auch für Armenier:innen, Suryoye, Araber:innen und andere Minderheiten von Bedeutung.
Eyüp Burç, Chefredakteur des oppositionellen Senders Ilke TV und Angehöriger der ezidischen Gemeinschaft, kritisierte die Rolle nationalstaatlicher Ideologien in der Region. Er plädierte dafür, dass sich verschiedene Gemeinschaften aus ihrer eigenen Perspektive kennenlernen sollten, statt nur aus der Sicht Dritter. „Nur durch gegenseitiges Verstehen kann eine demokratische Gesellschaft entstehen“, sagte er.
Der Sprachwissenschaftler Ömer Gültekin betonte die zentrale Bedeutung der Muttersprache im Friedensprozess. „Wir sind keine farbigen Elemente eines Landes, sondern Menschen mit Herkunft und Sprache. Wenn es Frieden geben soll, muss er auch in der Muttersprache stattfinden können.“
Yüksel Genç, Koordinatorin des Zentrums für soziopolitische Feldforschung, analysierte die komplexen Krisen in der Region: ethnische Konflikte, religiöse Spannungen, ungleiche Verteilung von Ressourcen. Eine Rückkehr zu gesellschaftlicher Pluralität sei der Weg aus dieser Spirale. „Wir müssen dorthin zurück, wo wir unser gemeinsames Leben verloren haben“, sagte Genç. Dabei verwies sie auf das von Abdullah Öcalan formulierte Konzept einer „demokratischen Nation“, das Alternativen zur herrschenden Staatslogik biete.
Ausblick
Die Konferenz in Mêrdîn wird mit thematischen Panels und Arbeitsgruppen fortgesetzt, auch am Sonntag. Die Initiative kündigte an, aus der Veranstaltung konkrete politische Handlungsperspektiven für ein breiteres gesellschaftliches Bündnis in der Türkei und der Region ableiten zu wollen. Ein entsprechendes Positionspapier soll nach Abschluss der Zusammenkunft veröffentlicht werden.
https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/buldan-Ocalan-erwartet-besuch-der-parlamentskommission-48326 https://deutsch.anf-news.com/hintergrund/hisyar-Ozsoy-friedensprozesse-brauchen-Offentlichkeit-und-politische-reformen-48169 https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/konferenz-zur-kurdischen-einheit-in-bazid-eroffnet-47263 https://deutsch.anf-news.com/frauen/konferenz-in-amed-kurdische-frauen-formulieren-zukunftsplan-46785 https://deutsch.anf-news.com/aktuelles/temelli-demokratische-verhandlungen-gestalten-gegenwart-und-zukunft-48317
Ex-Bürgermeister Zeynel Taş nach neun Jahren aus türkischer Haft entlassen
Der frühere Ko-Bürgermeister der Kreisstadt Hewag (auch Hewenc, tr. Bozova) in der nordkurdischen Provinz Riha (Urfa), Zeynel Taş, ist nach neun Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen worden. Taş war 2016 festgenommen und später zu einer Freiheitsstrafe von mehr als elf Jahren verurteilt worden. Am Samstag konnte er das Hochsicherheitsgefängnis im zentralanatolischen Yozgat verlassen.
Zur Begrüßung vor dem Gefängnis versammelten sich Angehörige, Mitglieder der Anwaltsvereinigung ÖHD, Aktive des Kreisverbands der DEM-Partei in Hewag sowie die amtierende Ko-Bürgermeisterin Aygül Kapıkayalı. „Wir werden unseren Kampf gemeinsam mit unserem Volk für eine bessere Zukunft fortsetzen“, sagte Taş nach seiner Freilassung. Anschließend machte er sich auf den Weg zurück in seine Heimatstadt.
Taş war bei der Kommunalwahl 2014 für die Partei der Demokratischen Regionen (DBP) angetreten und zum Ko-Bürgermeister der Stadt gewählt worden. Im Zuge einer größeren Verhaftungswelle wurde er 2016 festgenommen und zwei Jahre später wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer „Terrororganisation“ verurteilt.
Das Gericht warf Taş seine Delegiertentätigkeit im Demokratischen Gesellschaftskongress (KCD) sowie politische Reden, Beiträge in sozialen Medien sowie die Teilnahme an Beerdigungen von Guerillakämpfer:innen vor. Die Entlassung erfolgte vorzeitig nach drei Viertel der Haftstrafe.
https://deutsch.anf-news.com/kurdistan/riha-hohe-haftstrafen-fuer-22-hdp-aktivist-innen-5662
Wo sind die Knochen von Cemil Kırbayır?
Die Initiative der Samstagsmütter hat bei ihrer 1072. wöchentlichen Mahnwache in Istanbul erneut Aufklärung über das Schicksal von in staatlichem Gewahrsam verschwundenen Menschen gefordert. Im Mittelpunkt der Kundgebung am Samstag auf dem Galatasaray-Platz stand der Fall von Cemil Kırbayır, der einen Tag nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 in der Provinz Qers (tr. Kars) festgenommen wurde und als erstes Opfer des „Verschwindenlassens“ durch die Militärjunta gilt.
Die Mahnwache der Samstagsmütter wurde neben Angehörigen von Verschwundenen auch von Menschenrechtsaktivist:innen begleitet. Viele der Teilnehmenden trugen Porträts von Vermissten und rote Nelken. Die Vorstellung des Falls Kırbayır übernahm Ikbal Eren, deren Bruder Hayrettin Eren ebenfalls nach der Festnahme verschwunden ist.
Cemil Kırbayır, damals 26-jähriger Student der Pädagogischen Hochschule in Qers, wurde am 13. September 1980 von Sicherheitskräften aus dem Haus seiner Familie im Landkreis Erdexan (Ardahan) abgeführt. Zunächst wurde er in einem Militärstützpunkt festgehalten, später überstellte man ihn über das Polizeipräsidium in Qers in das als Gefängnis genutzte Gebäude der Pädagogischen Hochschule. Seine Familie konnte ihn während dieser Zeit mit dem Nötigsten versorgen. Doch am 8. Oktober 1980 teilte die Polizei mit: „Eurer Sohn ist geflohen – kommt nicht mehr her.“
Berfo Kırbayırs letzter Wunsch
Etliche Strafanzeigen von Vater Ismail Kırbayır und der Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Türkei (TBB) blieben ohne Ergebnis – Cemil Kırbayır tauchte nie wieder auf. Seine Mutter Berfo Kırbayır kämpfte jahrzehntelang um Aufklärung des Schicksal ihres Sohnes. 2011 traf sie sich im Alter von 103 Jahren im Dolmabahçe-Palast mit dem damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Sie forderte: „Findet meinen Sohn, bevor ich sterbe.“ Daraufhin wurde eine parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt, die einen 350-seitigen Bericht vorlegte. Demnach starb Kırbayır unter Folter in Polizeigewahrsam, seine Leiche wurde von staatlichen Akteuren beseitigt.
Trotz dieser Feststellungen kam es zu keiner strafrechtlichen Aufarbeitung. „Zwar wurde das Verfahren nach Veröffentlichung des Berichts erneut eröffnet, doch letztlich hat die Regierung den politischen Willen zur Aufklärung vermissen lassen“, sagte Eren. Im Februar 2020 beantragte das Justizministerium beim Kassationsgerichtshof, das Verfahren wegen Verjährung einzustellen. Der Antrag wurde angenommen – eine juristische Aufarbeitung damit faktisch ausgeschlossen. Eren kritisierte die systematische Straflosigkeit bei Fällen des Verschwindenlassens scharf und bezeichnete die Einstellung entsprechender Verfahren aufgrund von Verjährung als Ausdruck einer staatlichen Politik der Straflosigkeit.
Appell an das Gewissen
Zum Abschluss der Mahnwache wurde ein Brief von Mikail Kırbayır verlesen, dem Bruder von Cemil Kırbayır, der aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend sein konnte. Er schilderte darin, wie er seinen Bruder zuletzt am 7. Oktober 1980 lebend im Militärgewahrsam gesehen habe. „Einen Tag später wurde Cemil gemeinsam mit weiteren Gefangenen an einen anderen Haftort verbracht. Die drei Mitgefangenen kamen anschließend mit verbundenen Augen und gefesselt in die örtliche Polizeistation. Von Cemil hat man behauptet, er sei aus dem Fenster gesprungen und geflohen.“
Mikail Kırbayır wandte sich in dem Schreiben auch direkt an die Angehörigen der damaligen Sicherheitskräfte und Geheimdienstmitarbeiter. Sie sollten ihre Ehemänner oder Väter fragen, wo Cemil Kırbayır begraben wurde – und sich bei der Familie melden, um Licht in das Dunkel dieses Menschheitsverbrechens zu bringen und mögliche Hinweise über seine letzte Ruhestätte weiterzugeben.
Die Kundgebung endete mit dem stillen Niederlegen von roten Nelken auf dem Pflaster des Galatasaray-Platzes.
https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/mordakte-cemil-kirbayir-wegen-verjahrung-geschlossen-26114 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/samstagmutter-erinnern-an-cemil-kirbayir-43592 https://deutsch.anf-news.com/menschenrechte/samstagsmutter-fordern-aufklarung-im-fall-turgut-yenisoy-48230
DFG erinnert an Journalisten Vedat Erdemci
Zum sechsten Todestag des bei einem türkischen Luftangriff in Rojava getöteten Reporters und Fotografen Vedat Erdemci hat der in Amed (tr. Diyarbakir) ansässige Journalistenverein Dicle Firat (DFG) an dessen Leben und Wirken erinnert. In einer Erklärung würdigte die Organisation Erdemcis Einsatz für eine wahrheitsorientierte Berichterstattung unter schwierigsten Bedingungen und erklärte, sein Kampf lebe in der heutigen Generation weiter.
„Erdemci war ein Journalist, der die Geschehnisse in Rojava mit seiner Kamera in Echtzeit dokumentierte und in die Welt trug. Seine Arbeit war der Wahrheit verpflichtet – und deshalb wurde er zur Zielscheibe“, so die DFG. „Sein Kampf lebt in Nazım Daştan, Cihan Bilgin und Egîd Roj weiter – und auch wir werden ihn fortführen.“
Beim Einsatz für die Wahrheit ermordet
Vedat Erdemci wurde am 11. Oktober 2019 während der türkischen Invasion in Nord- und Ostsyrien bei einem Luftangriff auf die Grenzstadt Serêkaniyê (Ras al-Ain) getötet. Er dokumentierte zu diesem Zeitpunkt den Beginn des Angriffskrieges und die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung.
Wer war Vedat Erdemci?
Erdemci, der zum Zeitpunkt seines Todes 27 Jahre alt war, stammte aus Wêranşar (Viranşehir) in der nordkurdischen Provinz Riha (Urfa), nahe der syrischen Grenze. Der Vater zweier Kinder arbeitete zunächst für kulturelle Einrichtungen und im Pressebüro der Stadtverwaltung seiner Heimatstadt. Nach einer Inhaftierung und einer darauf folgenden Verurteilung zu einer langjährigen Haftstrafe wegen „Terrorvorwürfen“ ging er nach Rojava, wo er seine journalistische Arbeit unter anderem für die Nachrichtenagentur Hawarnews (ANHA) und den Fernsehsender Ronahî TV fortsetzte.
Bevor er an die Front von Serêkaniyê wechselte, um die Invasion zu dokumentieren, arbeitete Erdemci an einer Dokumentation über ezidische Frauen und Kinder, die aus der Gefangenschaft der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) während der Anti-IS-Offensive in Baghuz von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) befreit worden waren.
Todesumstände lange unklar
Lange Zeit war unklar, was nach dem Angriff mit Erdemci geschehen war. Kolleg:innen aus Europa versuchten wiederholt, ihn zu kontaktieren. Erst rund drei Wochen später bestätigte sich der Verdacht: Bei einem Anruf auf sein Mobiltelefon meldete sich ein Söldner der Türkei-treuen Dschihadistentruppe „Syrische Nationalarmee“ (SNA) mit den Worten: „Der Besitzer dieses Telefons ist tot.“ Kurz darauf erhielt die Familie verstörende Videoaufnahmen (Achtung: Video beinhaltet verstörende Szenen), die Erdemcis Leichnam zeigten. Sie deuten auf schwere Misshandlungen hin. Bis heute wurde seine Leiche nicht an die Familie übergeben.
[album=10493]
https://deutsch.anf-news.com/pressefreiheit/wo-ist-der-leichnam-von-vedat-erdemci-15929 https://deutsch.anf-news.com/pressefreiheit/yrd-pressemitarbeiter-vedat-erdemci-in-serekaniye-gefallen-15075 https://deutsch.anf-news.com/pressefreiheit/medienverbande-fordern-un-einsatz-gegen-angriffe-auf-journalist-innen-45346